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An einem Abend im August entdecken zwei Spaziergänger am Ufer des Rheins den Kopf einer Frau. Die seit Tagen vermisste, hochschwangere Daniela Keller wurde brutal ermordet und in der Badewanne zerstückelt. Die bewegende Darstellung von diesem und sieben weiteren spektakulären Fällen gibt einen außergewöhnlich tiefen Einblick in kaum vorstellbare Abgründe der menschlichen Psyche. Sie vermittelt aber auch auf realistische Weise die schwierige und verantwortungsvolle Arbeit der Kriminalpolizei. Der Autor schildert aufwühlend -weit über einen nüchternen Polizeibericht hinausgehend- das meist furchtbare Geschehen und fängt darüber hinaus die vielfältigen Emotionen der Beteiligten ein.
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Seitenzahl: 259
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Die Maske des
Samariters
7 authentische Kriminalfälle
Impressum:
Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency
Foto: fotolia.de
© 110th / Chichili Agency 2014
EPUB ISBN 978-3-95865-111-1
MOBI ISBN 978-3-95865-112-8
Urheberrechtshinweis:
Seit es Menschen gibt, gibt es auch Verbrechen. Ob es nun Kain war, der mit dem Mord an seinem Bruder Abel den Anfang machte, sei dahingestellt. Fest steht, dass es schon bei den ersten Menschen Hass und Neid, Gier und Lust gab, Gefühle und Triebe, die unter bestimmten Umständen zu Verbrechen führen können. Diese Anlagen wurden über alle Generationen hinweg vererbt und sind bei den Menschen aller Kontinente, Länder und Schichten bis in die heutige Zeit wirksam.
Als ich die ersten Bilder des Balkankrieges sah, war ich fassungslos. Bis dahin hatte ich die naive Vorstellung, dass die Judenvernichtung im Dritten Reich der letzte große barbarische Akt der westlichen Zivilisation gewesen war und dass die ganze zivilisierte Welt durch dieses abschreckende Beispiel für immer von solchen Gräueltaten befreit wäre. Nie habe ich mir träumen lassen, dass es in Europa oder der übrigen westlichen Welt jemals wieder Menschen geben würde, die unschuldige, wehrlose kleine Kinder und ihre Mütter zusammentreiben, um sie vor einem mit Baggern ausgehobenen Massengrab zu erschießen oder anderweitig niederzumetzeln.
Durch diese Bilder und auch durch die Ereignisse des 11. September 2001 musste ich einmal mehr begreifen, dass Menschen nach wie vor zu extremen Grausamkeiten fähig sind, obwohl doch gerade der Mensch mit seinem Verstand weit darüber stehen müsste, Probleme mit Mord und Totschlag zu lösen. Die schärfste Logik und noch so fundierte Geistes- und Naturwissenschaft vermögen sich diesem Phänomen, wenn überhaupt, nur anzunähern.
Seit es Verbrechen gibt, muss es auch zwangsläufig Menschen geben, die sie bekämpfen. Wie sonst könnte die Menschheit überleben. Ein demokratischer Staat überträgt diese Aufgabe in der heutigen Zeit unter anderem auf Polizisten, Staatsanwälte und Richter.
Ich bin selbst Polizist, Kriminalbeamter im Range eines Kriminalhauptkommissars, der auch heute noch, nach 26 Dienstjahren, an „vorderster Front“ kämpft. Seit 1985 bin ich Mitglied der Mordkommission Karlsruhe und seit 1996 Angehöriger der Verhandlungsgruppe, die bei Geiselnahmen und Erpressungen eingesetzt wird. Hauptsächlich bin ich aber im normalen Arbeitsalltag als Sachbearbeiter für so genannte Leichensachen, Brand-, Gewalt, Sexual- und Betrugsdelikte tätig. Meinen Job mache ich gern. Ich bin mit Leib und Seele Polizist. Die Energie, die man dazu braucht, um mit viel Engagement seine Polizeiarbeit einigermaßen gut zu machen, schöpfe ich aus der Überzeugung, dass ich nicht für meinen Chef, für den Staatsanwalt oder für das Gericht arbeite, sondern ganz allein für mich. Ob es nun ein großer oder auch nur ein ganz kleiner Fall ist, bin ich stets bestrebt, meine bescheidenen Fähigkeiten so einzusetzen, dass ich das Maximum an Gerechtigkeit heraushole, weil mir das ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit gibt. Dabei achte ich darauf, nicht selbstgerecht zu sein und vor allem beim Seiltanz von Recht und Unrecht, nicht auf die falsche Seite zu rutschen, was oft gar nicht so einfach ist.
Sternstunden für mich sind immer wieder die Gelegenheiten, in denen ich Menschen eine Hilfe sein kann. Meistens betrifft das die Opfer von Straftaten, in besonderen Fällen aber auch Straftäter.
Meinem obersten Gebot, dass auch der schlimmste Straftäter immer noch ein Mensch ist und als solcher auch behandelt werden muss, ist allerdings dann nur sehr schwer zu folgen, wenn es um Täter geht, die sich an Kindern vergangen haben oder um solche, die permanent extrem Menschen verachtende Verhaltensweise an den Tag legen. Der Umgang mit solchen Individuen erfordert ein hohes Maß an Beherrschung und Konzentration.
Ich habe es mir zum Prinzip gemacht, jedem Straftäter im frühestmöglichen Stadium seiner Befragung das Angebot zu machen, fair miteinander umzugehen und bin damit bislang sehr gut gefahren. Das Spiel mit offenen Karten hat oft einen größeren Reiz als jenes mit verdeckten. Meinem Gegenüber mache ich klar, dass ich nicht gern gelinkt werde und darauf äußerst sauer reagieren würde. Im Gegenzug biete ich ihm an, fair mit ihm umzugehen. Das ist ein einfaches Prinzip, das auch in der Unterwelt praktiziert und anerkannt wird. Spielt einer falsch, ist er draußen, so einfach ist das. Im Klartext heißt das, dass ich alle meine rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfe, einem Straftäter zur Höchststrafe zu verhelfen, wenn er meint, er könne mich aufs Glatteis führen. Im Gegensatz dazu habe ich auch schon vielen Straftätern geholfen, das Unausweichliche, das auf sie zukommt, besser verarbeiten und bewältigen zu können. Nicht selten kommt es vor, dass man versucht, hierbei die Angehörigen des Täters mit einzubinden, was in der Regel sehr positiv aufgenommen wird.
Ich kann mich an einen Berufs- und Gewohnheitsverbrecher erinnern, den ich nach tage- und nächtelanger Observation dingfest machen konnte, nachdem er versucht hatte, in ein Warenhaus einzubrechen. Als er festgenommen wurde, hatte er schon 16 Jahre seines Lebens wegen diverser Einbruchsdiebstähle in verschiedenen Gefängnissen Deutschlands verbracht. Allerdings lag dieses Mal nur ein Einbruchsversuch vor und die Beweislage für die anderen, ihm zur Last gelegte Taten war relativ dürftig. Ausnahmslos alle meine Kollegen waren der Meinung, dass dieser mit allen Wassern gewaschene Ganove nie im Leben ein Geständnis ablegen würde.
Gleich zu Beginn seiner Vernehmung gelang es mir, ein Klima von gegenseitigem Respekt aufzubauen, das sich als sehr hilfreich erwies. Es dauerte nur relativ kurze Zeit, bis dieser hart gesottene Gewohnheitsverbrecher mit der Beichte seines Lebens begann und mir insgesamt 28 schwere Einbruchsdiebstähle gestand, von denen ich größtenteils noch gar nichts wusste. Obwohl es sicherlich etwas unwahrscheinlich klingt, entstand fast eine Art Freundschaft zwischen uns. So war es am Ende für mich selbstverständlich, mich dafür einzusetzen, dass er zur Verbüßung seiner hohen Freiheitsstrafe schnellstmöglich in einer Strafanstalt untergebracht wurde, die sich ganz in der Nähe des Wohnortes seiner Angehörigen befand. Das war nicht einfach, da diese in einem anderen Bundesland wohnten.
Die Geständnisbereitschaft rettete ihn übrigens auch vor der drohenden Sicherungsverwahrung. Ganz aus freien Stücken bot er sich in der Folgezeit an, aus dem Gefängnis heraus Informationen zu liefern, mit denen einer großen Einbrecher- und Rauschgiftbande das Handwerk gelegt werden konnte.
Nun könnte man meinen, dass bei Vernehmungen von Mördern ein solcher Handlungsspielraum nicht mehr zur Verfügung steht. Dem ist jedoch nicht so. Im Gegenteil, gerade bei Mord geht es ja um sehr viel, sowohl für die Kriminalbeamten, die sich mit dem Täter befassen müssen, als auch für den Täter selbst. Hier zeigt sich, welcher Kriminalist die hohe Kunst der Vernehmungstaktik wirklich beherrscht und welcher nicht. Dazu sind unter anderem fundierte Gesetzeskenntnisse nötig. Ebenso muss man wissen, welche technischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, einen Täter zu überführen. Schließlich und vor allem ist sehr viel Fingerspitzengefühl notwendig, denn ist erst einmal der oft sehr dünne Draht zum Täter gerissen, besteht in vielen Fällen keine Chance mehr, an ihn heranzukommen. Bringt man es jedoch fertig, sich vorsichtig in die Psyche des Straftäters hinein zu tasten und ihm dabei das Gefühl zu geben, dass man ihm, bei allem Schlimmen, was passiert ist, in gewisser Weise noch Achtung und vielleicht sogar ein wenig Verständnis entgegenbringt, wird man in nahezu allen Fällen auch einen Weg zur Kommunikation finden. Zu einem Geständnis ist es dann nicht mehr all zu weit.
Von Bekannten werde ich oft gefragt, welche Druckmittel die Polizei bei Vernehmungen von Beschuldigten anwendet. Die Zeit von Folter und ähnlichen Zwangsmitteln gehört in Deutschland Gott sei Dank der Vergangenheit an. Jeder, der sich zur Bekämpfung von Verbrechen die alten Zeiten herbeiwünscht, sollte sich vor Augen halten, dass durch Folterung nur eines mit absoluter Sicherheit erreicht werden kann: Jede Menge Fehlurteile, die jedoch in keinem Verhältnis dazu stehen, dass in einem freiheitlich-demokratischen Staat einige Täter durch die engen Netze unserer Gesetzgebung schlüpfen.
Bei dem Fall Jakob von Metzler aus Frankfurt wurde allerdings unbestreitbar Folter angedroht. Zu Recht, wie ich meine. Dazu muss jedoch ausgeführt werden, dass zum Zeitpunkt der Androhung bereits ein ohne jegliche Folter abgelegtes Geständnis des Jurastudenten Magnus G. sowie mehrere andere, schwerwiegende Beweise für seine Täterschaft vorlagen und es lediglich nur noch darum ging, das Leben des Kindes zu retten. Magnus G. wollte den Aufenthalt des kleinen Jakob aber auf keinen Fall preisgeben. Im Nachhinein weiß man, er wollte damit verhindern, dass man die Leiche findet, deren Todesursache feststellt und er dann als brutaler Kindesmörder an den Pranger gestellt wird.
Die Ermittler ließ er jedoch in dem Glauben, Jakob von Metzler lebe noch und in diesem Glauben drohten die Beamten dem Täter an, ihm Schmerzen beizufügen, bis er den Aufenthaltsort seiner Geisel preisgibt. Ziel der Ermittler und des Frankfurter Polizeipräsidenten war nicht, den Tatverdacht gegen Magnus G. zu erhärten, sondern einzig und allein das Leben des kleinen Jakob zu retten, so lange noch eine Chance besteht. Richtigerweise beriefen sie sich dabei auf den „Rechtfertigenden Notstand“, der im § 34 des Strafgesetzbuches verankert ist.
Für die Presse war dieser Vorgang natürlich ein gefundenes Fressen. FOLTER IN DEUTSCHLAND! ZURÜCK INS MITTELALTER1 So oder ähnlich konnte man in den Medien lesen und hören. Keiner der Reporter machte sich die Mühe, einmal die wirklichen Hintergründe und vor allem der Zeitpunkt der Folterandrohung zu beleuchten. Das gab einfach zu wenig her. Einmal mehr der Beweis dafür, dass in unserer heutigen Mediengesellschaft einseitig, parteiisch und oft stümperhaft berichtet wird.
Ich bin sicher, jeder normal denkende Mensch hätte ähnlich wie die Kollegen aus Frankfurt gehandelt, wenn er vor dieser außerordentlich schwierigen Situation gestanden wäre und zu welchem Zweck sonst, wenn nicht gerade in solchen Fällen, gibt es die Bestimmung des Rechtfertigenden Notstandes?
Der Vergleich hinkt zwar ein wenig, jedoch sollten sich die Schreihälse einmal klar machen, dass die Polizei zum Beispiel einen Geiselnehmer in einer Bank jederzeit mit einem gezielten Schuss töten kann und sich darüber wohl niemand sonderlich echauffiert. Zumindest würde diese Begebenheit nicht tagelang in der Presse herumgeschmiert werden. Soviel zur Folter in Deutschland.
Mit dem Buch möchte ich die Leser ein wenig sensibilisieren, Verbrechen vielleicht schon im Anfangsstadium zu erkennen, um rechtzeitig entgegenwirken zu können. Und vielleicht dient es im einen oder anderen Fall auch dazu, potentiellen Straftätern vor Augen zu führen, dass das Verbrechen auf lange Sicht nur geringe Chancen hat und dass ihnen eine gut ausgerüstete, in aller Regel hochmotivierte und professionell arbeitende Polizei gegenübersteht.
Letztlich könnte das Buch auch solchen Polizeibeamten nützlich sein, die nicht für sich in Anspruch nehmen können, alles was mit schweren Verbrechen zu tun hat, als Topermittler schon längst erlebt zu haben.
Ausnahmslos alle Fälle sind authentisch, jedoch wurden sämtliche Namen, auch die der Täter, sowie zum Teil die Orte und Tatzeiten aus datenschutzrechtlichen Gründen, insbesondere aber auch aus Rücksicht auf die Opfer sowie deren Verwandten und Bekannten geändert.
Als Grundlage für das Schreiben dieses Buches dienten in erster Linie Polizeiakten. Doch als Kriminalbeamter konnte ich selbstverständlich auch eigene Erfahrungen und Erinnerungen mit einfließen lassen, wobei ich mich bemüht habe, das trockene Amtsdeutsch in einen für jedermann lesenswerten Text umzuformen.
Als der Mann am Morgen des 3. November 1995 auf dem Polizeirevier Karlsruhe-Oststadt erschien, um seine junge Frau vermisst zu melden, atmete der diensthabende Beamte erst einmal tief und hörbar durch. Seinen Unmut konnte der ältere und wegen seiner Leibesfülle behäbig wirkende Polizist nicht verbergen, als er dem Anzeigeerstatter die ersten Fragen stellte. „Schon wieder einer, dem die Alte abgehauen ist und der die Polizei einspannen will, um sie wieder einzufangen“, dachte er. Aus polizeilicher Sicht kann man ihm diese Denkweise nicht verübeln, denn von hundert ähnlichen Vermisstenanzeigen enden neunundneunzig mit dem gleichen Ergebnis: Die Vermisste kommt nach ein paar Tagen reumütig mit einer erfundenen Geschichte zurück oder es stellt sich heraus, dass sie von langer Hand geplant hat, ihren Mann zu verlassen, um mit einem anderen zu leben. „Wer weiß, was diesmal dahinter steckt“, dachte der Beamte.
Obwohl Klaus Dekant, der Mann, der die Anzeige erstatten wollte, sehr aufgeregt war, blieb ihm die Einstellung des Polizisten nicht verborgen. Am liebsten hätte er deswegen einen Rückzieher gemacht und die Suche nach seiner Frau allein fortgesetzt. Doch wo sollte er noch suchen? Seit gestern Abend und die ganze Nacht hindurch hatte er alle in Frage kommenden Orte aufgesucht, alle Freunde und Bekannten und alle Krankenhäuser angerufen. Nichts, nicht einmal den kleinsten Hinweis erhielt er. Dagegen bekam er von seinen Freunden genügend gute und witzig gemeinte Ratschläge, wie man eine Frau zu behandeln habe, damit sie einem nicht durchbrennt. Hin und wieder rang er sich ein bittersüßes Lachen ab, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumute war. Aber vielleicht hatten sie Recht. Vielleicht war Claudia, seine 25-jährige, überaus attraktive Frau tatsächlich mit einem anderen durchgebrannt. Doch so sehr er auch nachdachte, aus seiner Sicht gab es dafür keinerlei Anhaltspunkte.
Klaus Dekant erklärte dem Beamten, dass seine Frau gestern Abend nicht von der Arbeit nach Hause gekommen war und dass er von ihrem Chef telefonisch erfahren habe, sie wäre überhaupt nicht im Büro erschienen. Daraufhin meinte der Beamte lakonisch, wenn er nicht mehr vorbringen könne, würde es sich im vorliegenden Fall nicht um eine Vermisstensache im Sinne der Vorschriften handeln. Erwachsene dürfen jederzeit überall hingehen, ohne sich vorher abmelden zu müssen. Er könne deswegen auch keine Fahndung einleiten, es sei denn, die Vermisste hätte vor ihrem Verschwinden Selbstmordabsichten geäußert oder er - Klaus Dekant - hätte den begründeten Verdacht, dass seine Frau einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei. Ein weiteres Kriterium für die Einleitung einer Vermisstenfahndung wäre auch die vermutete Hilflosigkeit einer Person. Aber das würde wohl in diesem Fall auch nicht zutreffen.
Einem Verbrechen zum Opfer gefallen, hallte es in Klaus Dekants Ohren nach. In diesem Augenblick wurde ihm zum ersten Mal vollständig bewusst, dass seiner Frau wirklich etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte. Während der Suche nach ihr hatte er nicht genügend Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen. Erst als er nun aus dem Munde des Polizisten das Wort Verbrechen hörte, bekam er es mit der Angst zu tun. Plötzlich wurde ihm klar, dass er den Beamten dazu bringen musste, die Vermisstenanzeige aufzunehmen, damit schnellstmöglich die Fahndung nach Claudia eingeleitet würde.
Er erzählte in eindringlichen, fast flehenden Worten, seine Frau sei in allem immer sehr zuverlässig gewesen und auch stets pünktlich von der Arbeit nach Hause gekommen. Es gäbe nicht die geringsten Anzeichen dafür, dass sie einen Liebhaber hätte. Sie seien erst seit knapp zwei Jahren verheiratet und würden sich sehr lieben. Er sei sich deswegen absolut sicher, dass ihr etwas passiert sein müsse. „Und warum kommen Sie dann jetzt erst?“, fragte der Polizeibeamte nach wie vor missmutig und nun auch vorwurfsvoll. „Immerhin sind mindestens 15 Stunden und eine ganze Nacht vergangen.“ „Ich hatte noch nie etwas mit der Polizei zu tun, verstehen Sie? Deswegen wollte ich zuerst selbst alle Möglichkeiten überprüfen, bevor ich die Polizei bemühe. Aber jetzt, Herr Wachtmeister, jetzt weiß ich mir nicht mehr zu helfen.“
Auf die Frage, ob es zwischen ihm und seiner Frau gelegentlich auch Streit gegeben habe, räumte Klaus Dekant ein, dass sie am Abend vor dem Verschwinden seiner Frau einen kleinen Disput hatten. Es sei darum gegangen, dass er gerne ein Kind wolle, sie dies aber aus beruflichen Gründen immer wieder hinausschob. Bei dieser Aussage runzelte der Beamte die Stirn. Er atmete noch einmal tief und vernehmlich durch. „Na, da haben wir es ja! Aber meinetwegen, brummte er, dann leiten wir mal die Vermisstenfahndung ein. Vielleicht ist ihr doch etwas passiert oder sie irrt irgendwo umher und will sich etwas antun.“
Klaus Dekant erschien die nun folgende Fragerei nach Aussehen, Kleidung und Gewohnheiten seiner Frau endlos. Er hatte das Gefühl, als müsse er gleich platzen. Wann würde endlich etwas passieren, wann würden sämtliche Streifenwagen der Stadt und vielleicht auch noch ein Polizeihubschrauber zur Fahndung nach seiner Frau eingesetzt werden?
„Das ist alles“, meinte der Beamte, als die Formalitäten schließlich erledigt waren. „Ich werde jetzt über Funk eine Fahndung nach ihrer Frau herausgeben, mehr können wir im Moment nicht tun. Anschließend werde ich den Vorgang an die Kripo weiterleiten. Die sind für Vermisstenfälle eigentlich zuständig. Ich denke, dass sich morgen einer der Kollegen mit Ihnen in Verbindung setzt.“
Als Klaus Dekant das Polizeirevier verließ, fühlte er sich ausgehöhlt, leer und vor allem hilflos wie ein kleines Kind. Er ging nach Hause, legte sich unweit des Telefons auf das Sofa im Wohnzimmer und fiel bald in einen unruhigen Schlaf. Nachmittags wurde er durch das schrille Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen. Ein Bekannter war dran und erkundigte sich, ob Claudia wieder zurückgekehrt sei. Bis zum späten Abend wurde er aus dem gleichen Grund noch von fünf weiteren Personen angerufen. Schließlich bat er seinen besten Freund, ihm in der Wohnung Beistand zu leisten. Er hatte Angst, er würde vor Erschöpfung in einen Tiefschlaf fallen und dann das Telefon nicht mehr hören. Bertram Mangold kam und gemeinsam verbrachten sie die Nacht neben dem Telefon, ohne dass jedoch der erlösende Anruf von Claudia oder die Nachricht kam, sie sei wohlbehalten gefunden worden.
Am zweiten Tag nach ihrem Verschwinden meldete sich dann der zuständige Sachbearbeiter der Kriminalpolizei bei Herrn Dekant. In einem persönlichen Gespräch stellte er noch einmal ähnliche Fragen wie tags zuvor der Polizist auf dem Revier. Dieses Mal hatte Herr Dekant aber das Gefühl, dass es der Kriminalbeamte in Zivil mit seiner Arbeit genauer nahm als sein uniformierter Kollege. Aber Frau Dekant war nun schon seit zwei Tagen spurlos verschwunden, was dazu zwang, den Fall ernst zu nehmen. Zumal Klaus Dekant dem Kripobeamten noch einmal eindringlich vermittelte, dass es für das Fernbleiben seiner Frau keinen einzigen plausiblen Grund gäbe. Der Kriminalbeamte ließ sich nun alle Zimmer der Wohnung zeigen. Dabei schaute er sich einzelne Dinge - wie die Schreibtischschubladen - genauer an. „Als ob Claudia da hineingekrochen wäre“, dachte Klaus Dekant ärgerlich. Anschließend ließ er sich den Dachboden, den Keller und die Garage zeigen. Dort fragte der Beamte, wie Frau Dekant gewöhnlich zur Arbeit komme. Als Herr Dekant darauf antwortete, sie würde mit der Straßenbahn zum Bahnhof und von dort mit dem Zug weiter nach Baden-Baden fahren, fiel ihm erstmals auf, dass das Fahrrad seiner Frau fehlte. Sie musste also mit dem Fahrrad zum Bahnhof gefahren sein, was sie nur selten tat, wenn sie spät dran war oder ihr der gemeinsame Pkw nicht zur Verfügung stand. Das Auto hatte an dem Morgen ihres Verschwindens einen platten Reifen. Eilig fuhren sie daraufhin zum Bahnhof und sehr schnell fanden sie dort das ordnungsgemäß abgeschlossene Fahrrad Claudia Dekants.
Der Kriminalbeamte intensivierte nun seine Ermittlungen. Er setzte sich mit der Bahnpolizei in Verbindung und ließ die fragliche Strecke absuchen, da es schon vorgekommen ist, dass sich Selbstmörder aus einem fahrenden Zug geworfen haben oder Mörder ihre Opfer an Bahnlinien „entsorgten“. Die Suche verlief jedoch negativ. Des Weiteren befragte er den Chef und die Arbeitskollegen von Frau Dekant. Als sich immer mehr herauskristallisierte, dass es sich bei der Vermissten tatsächlich um eine äußerst zuverlässige Person handelte, die niemals einfach so verschwinden würde, übergab man den Fall Claudia Dekant vier Tage nach deren Verschwinden an die Mordkommission.
Die Mordkommission (MOKO) des Polizeipräsidiums Karlsruhe setzt sich aus qualifizierten Beamten der verschiedensten Dezernate zusammen, die immer dann zusammengerufen werden, wenn ein Kapitalverbrechen vorliegt oder der dringende Verdacht eines Kapitalverbrechens gegeben ist. Die Gesamtstärke der MOKO beträgt 25 Beamte. Je nach Art und Schwere des Falls kann die Personalstärke weiter aufgestockt oder reduziert werden. Im Fall Dekant begann die Mordkommission ihre Ermittlungen zunächst in verminderter Stärke.
Die Arbeit einer MOKO zeichnet sich insbesondere durch akribische Feinarbeit aus. Jedem noch so kleinsten Hinweis wird nachgegangen. Jede Spur wird so lange verfolgt, bis sie entweder zum Täter führt oder als abgeklärt zu den Akten gelegt werden kann. Alle zur Verfügung stehenden und im gesetzlichen Rahmen erlaubten Mittel und Methoden werden eingesetzt. Nur so ist es möglich, dass die Mordkommission Karlsruhe nun schon über Jahrzehnte eine überdurchschnittlich hohe Aufklärungsquote von über 90 Prozent vorweisen kann.
Obwohl also dem oder den Tätern eine zahlenmäßig beachtliche Gruppe von geschulten, in allen Belangen erfahrenen und hoch motivierten Beamten gegenübersteht, können nicht alle Fälle geklärt, nicht alle Täter überführt werden. Auch im Fall Dekant löste sich die eingesetzte MOKO nach etwa drei Wochen auf, ohne dass es auch nur einen brauchbaren Hinweis auf das Verschwinden der Frau gab.
Knapp drei Monate später wurde in einem Wald, zwanzig Kilometer von Karlsruhe entfernt, eine Frauenleiche gefunden. Ein Förster hatte sie in einer Kuhle unter Laub und Zweigen entdeckt. Die Leiche war schon stark verwest und es war Tierfraß zu vermuten, da sich Teile der Leiche auch außerhalb der Kuhle befanden. Bereits am Leichenfundort stellte der Gerichtsmediziner fest, dass eine massive Gewalteinwirkung auf den Kopf des Opfers stattgefunden hatte. Die Schädeldecke war an mehreren Stellen eingeschlagen. Außerdem befand sich in der Vagina des Opfers ein Kunstpenis, was auf einen Sexualmord hindeutete. Anhand des Gebissbefundes stand schnell fest, dass es sich bei der Leiche um Claudia Dekant handelte. Die Mordkommission wurde wieder zusammengerufen, diesmal in ihrer vollen Stärke mit 25 Mann.
Trotzdem reichten die jahrelangen Erfahrungen und die speziellen Schulungen der MOKO-Mitglieder und die eingesetzte Technik auch jetzt nicht aus, um den Fall zu klären. In Wochen zähester Arbeit, in denen den Beamten alles abverlangt wurde und sie so gut wie kein Privatleben mehr hatten, trat man immer wieder auf der Stelle. Unzählige Theorien wurden aufgestellt und wieder verworfen. Sämtliche in Frage kommende Sexualtäter, die irgendwann einmal polizeilich in Erscheinung getreten waren, wurden überprüft. Natürlich nahmen die Beamten auch die Verwandten und Bekannten der Ermordeten unter die Lupe. Das war außerordentlich zeitaufwendig, da die Familie von Frau Dekant im Raum Duisburg wohnte. Sogar Herr Dekant selbst geriet aufgrund verschiedener Zeugenaussagen in Tatverdacht. Auch dessen besten Freund Bertram Mangold durchleuchteten die Ermittler. Es stellte sich heraus, dass er homosexuell veranlagt war. Die Annahme, einer von ihnen könnte Claudia Dekant beseitigt haben, weil sie der Männerfreundschaft im Wege stand, fand letztlich keine Bestätigung. Ohne den Täter ermittelt zu haben, wurde die MOKO-Dekant nach Wochen harter, aber erfolgloser Ermittlungsarbeit wieder aufgelöst.
Nun konnte nur noch der vielzitierte Kommissar Zufall oder ein Fehler des Täters die Aufklärung des Falles erneut ins Rollen bringen.
Fast auf den Tag genau ein Jahr später musste die Kripo Duisburg einen Vermisstenfall bearbeiten. Rafael Belling, der 25-jährige Bruder von Frau Dekant, meldete seinen Vater Friedhelm als abgängig. Bei den Eltern von Claudia und Rafael handelte es sich um eine angesehene und gut situierte Familie aus einem kleinen Vorort von Duisburg. Das Ehepaar Belling konnte keine Kinder bekommen und so hatten sie vor langen Jahren zuerst Rafael und danach Claudia adoptiert. Die Kinder wuchsen in geordneten Verhältnissen auf. Dann erkrankte Frau Belling an Krebs und verstarb alsbald. Einen Tag nach ihrem Tod verschwand ihr 64-jähriger Ehemann spurlos. Zuerst nahm man an, Herr Belling hätte den Tod seiner Frau nicht verkraftet und sei deshalb in Selbstmordabsicht verschwunden. Das war auch die einzige Erklärung, die Rafael Belling für das Verschwinden seines Adoptivvaters hatte.
Nach Friedhelm Belling wurden von der Kripo Duisburg die üblichen Fahndungsmaßnahmen eingeleitet. Der mit dem Fall beauftragte Sachbearbeiter setzte ganz auf die Beerdigung von Frau Belling. Er hoffte, Herr Belling würde zu dem Begräbnis erscheinen, falls er noch lebt. Der Kriminalbeamte befragte unmittelbar vor der Beerdigung enge Verwandte und Bekannte nach dem eventuellen Verbleib des Vermissten. Die Befragungen verliefen jedoch ergebnislos. Keiner konnte sachdienliche Angaben machen.
Zwei Tage nach der Beerdigung meldete sich eine Schwägerin des Vermissten und gab zu Protokoll, sie habe den Verdacht, dass Rafael Belling mit dem Verschwinden seines Vaters etwas zu tun haben könnte. Ihren Verdacht begründete sie damit, dass die beiden in letzter Zeit mehrfach Streit miteinander hatten und Herr Belling Senior geäußert hatte, er werde sein Testament zu Ungunsten seines Sohnes ändern. Bei einer erneuten Befragung bestätigten mehrere Verwandte die Aussage der Schwägerin. Außerdem sagte ein Angehöriger aus, dass es in Karlsruhe ähnlich gewesen sei: Erst sei die Schwester Rafael Bellings spurlos verschwunden und dann sei sie ermordet aufgefunden worden.
Diese Aussage war der Anlass, dass sich der Kriminalbeamte mit seinen Kollegen von der Kripo Karlsruhe in Verbindung setzte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte weder die Kriminalpolizei Karlsruhe etwas von dem neuen Vermisstenfall in Duisburg, noch die Kriminalpolizei Duisburg von dem Mordfall Claudia Dekant in Karlsruhe erfahren. Einen überregionalen Informationsaustausch zwischen den Dienststellen gab es nicht. In Karlsruhe schrillten natürlich sofort alle Alarmglocken. Allerdings stellte sich sehr schnell heraus, dass Rafael Belling für die ermittelte Tatzeit des Mordes an seiner Adoptivschwester ein wasserdichtes Alibi hatte. Zur fraglichen Zeit hielt er sich nachweislich zusammen mit seinem Freund Dietmar Seidel in Portugal auf. Den Beamten lagen entsprechende Ansichtskarten der Urlaubsreise und auch die glaubhaften Angaben des Freundes vor. Auch für die Zeit des Verschwindens seines Adoptivvaters hatte Rafael Belling ein Alibi. Er gab an, bei einem Bekannten gewesen zu sein, was dieser auch bestätigte. Der Tatverdacht gegen ihn konnte also nicht aufrechterhalten werden. Doch die Kriminalbeamten ließen nicht locker. Sie ermittelten fieberhaft und fanden bald heraus, dass Francesca Taglieri, die ehemalige Freundin Rafaels, zwei Monate zuvor ebenfalls spurlos verschwunden war.
Francesca, eine in Deutschland geborene Italienerin, wollte unmittelbar nach einer Italienreise ihre Mutter in Hamburg besuchen, kam dort aber nie an. Die junge Frau war Rafael Bellings langjährige Freundin. Ein paar Wochen vor ihrem Verschwinden hätten sie sich - nach Rafaels Aussage - allerdings getrennt. Über den Verbleib seiner Exfreundin konnte Herr Belling keine sachdienlichen Angaben machen. Er gab zwar zu, sie kurz vor ihrem Verschwinden noch in Heidelberg getroffen zu haben. Danach hätte er aber nichts mehr von Francesca gehört. Es konnte nicht einmal ein genauer Zeitpunkt des Verschwindens der jungen Frau recherchiert werden, so dass sich eine diesbezügliche Alibiüberprüfung Rafaels erübrigte.
Die Informationen reichten der Kripo Duisburg aber aus, um eine Mordkommission zu bilden, der 20 Beamte angehörten. In den folgenden Tagen wurde Rafael Belling mehrfach vernommen. Die Polizisten hofften, dass er sich irgendwann eine Blöße geben oder dem Druck nicht mehr standhalten würde. Sie spekulierten auf ein Geständnis. Zudem wurde er rund um die Uhr observiert. Seine wichtigsten Bezugspersonen sowie die Alibizeugen befragte die Kriminalpolizei noch mal eingehend. Letztlich lief alles darauf hinaus, dass Rafael Belling als einziger Überlebende der Familie gut eine Million DM an Barvermögen plus Immobilienbesitz erbte. Nachzuweisen war ihm aber nicht das Geringste, zumal er sich bei den Vernehmungen äußerst geschickt verhielt. Die Ermittlungen drohten, sich festzufahren.
In diesem Stadium meldete sich plötzlich die 23-jährige Annabell Reiser, die neue Freundin Rafael Bellings, telefonisch bei der Mordkommission Duisburg. Auch sie war einige Tage zuvor schon zu der Vermisstensache Friedhelm Belling befragt worden. Sie deutete in dem Telefonat an, zumindest über eine der verschwundenen Personen etwas zu wissen. Aus ihren Äußerungen konnte auch entnommen werden, dass sie inzwischen Angst vor Belling hatte. Der Zeugin wurde Vertraulichkeit sowie die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm in Aussicht gestellt, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorlägen und es die Lage erfordern würde. In einer erneuten Vernehmung gab sie an, Rafael Belling habe ihr vor kurzem, während eines Spazierganges am Rhein, erzählt, dass er für die Ermordung seines Adoptivvaters, seiner Schwester und auch seiner Exfreundin verantwortlich sei. Annabell Reiser studierte mit Leib und Seele Psychologie und hatte nach ihrer ersten polizeilichen Vernehmung begonnen, das Verhalten ihres Freundes bei jeder sich bietenden Gelegenheit genau zu beobachten und ihn auch geschickt auszufragen. Schließlich konnte sie ihn so weit bringen, sich ihr zu offenbaren. Das Gespräch mit ihm sei ziemlich diffus gewesen. Er hätte erzählt, er wolle Deutschland verlassen und sich in Neuseeland eine neue Existenz aufbauen. Zusammen mit seinem Freund Dietmar Seidel und dessen Freundin gehöre er einer terroristischen Vereinigung an (was jedoch zu keiner Zeit zutraf). Er und Dietmar hätten anderen Mitgliedern der Vereinigung Autos beschafft und Einbruchsdiebstähle begangen. Da er an das Geld der Eltern rankommen wollte, musste erst seine Schwester Claudia sterben und dann seine Freundin Francesca, da sie über die kriminellen Aktivitäten der beiden Bescheid wusste und allmählich zum Risiko wurde. Zuletzt sei der Adoptivvater umgebracht worden. Der Mord an der Mutter habe sich erübrigt, da sie zuvor an Krebs gestorben war.
Die Aussage der Zeugin reichte aus, gegen Rafael Belling einen Haftbefehl zu erwirken. Der der Mittäterschaft dringend verdächtige Dietmar Seidel setzte sich mit seiner Freundin noch rechtzeitig ab, da er davon Wind bekommen hatte, dass er festgenommen werden sollte. Gegen die beiden Flüchtigen wurde ein internationaler Haftbefehl erlassen.
In der Untersuchungshaft leugnete Belling zunächst hartnäckig. Doch ebenso hartnäckig blieben die Kriminalbeamten an ihm dran. Schließlich brach er unter der Last der gegen ihn erhobenen Vorwürfe und den fundierten Angaben seiner Freundin zusammen. Er gestand, zusammen mit Dietmar Seidel die drei Morde begangen zu haben.
Nach dem ersten Geständnis, bei dem zunächst nur im Groben der Hergang der Taten abgesteckt werden konnte, beging Belling in der darauf folgenden Nacht einen Selbstmordversuch. Er schnitt sich mit einer Blattfeder, die er aus dem Spülkasten einer Toilette ausgebaut hatte, die Pulsadern auf. Wie die meisten Selbstmörder brachte er sich die Schnitte nicht längs der Adern, sondern quer dazu bei, was in aller Regel nicht zum Tod führt, weil sich die Adern von selbst zumindest soweit verschließen, dass es nicht zu einem lebensbedrohlichen Blutverlust kommt. Belling wurde gerettet und soweit ärztlich versorgt, dass er wieder vernehmungsfähig war. Bei den anschließenden Verhören schilderte er in aller Ausführlichkeit, wie es zu den Morden gekommen war.
Seidel lernte er etwa vor zehn Jahren in der Berufsschule kennen. Ihm gefiel die unkonventionelle Art und die freiheitlich orientierte Lebensweise des Gleichaltrigen. Sie wurden sehr bald dicke Freunde, was der Familie Belling größtenteils verborgen blieb. Rafael Belling führte ab dieser Zeit ein Doppelleben. Zu Hause den anständigen Sohn mimend, ließ er sich immer mehr in die kriminellen Ziele und Machenschaften Dietmar Seidels hineinziehen. Sie verübten Einbruchsdiebstähle und klauten Autos, deren Fahrgestellnummern sie geschickt nach den Kfz-Briefen billig aufgekaufter Schrottfahrzeuge umänderten. Die gestohlenen Autos verkauften die beiden Männer zwar nur mit mäßigen Gewinnen weiter, doch das Geld war bei ihrem nicht allzu hohen sonstigen Monatseinkommen ein willkommenes Zubrot. Obwohl Rafael Belling vermögende Adoptiveltern hatte, wurde er von ihnen finanziell nicht unterstützt. Sein Lohn als Kunstschmied war nicht besonders hoch. Dietmar Seidel verdiente als Kfz-Mechaniker auch nicht besonders viel, obwohl er als sehr guter Fachmann galt. Mit den höheren Einnahmen aus den Straftaten wuchsen aber auch ihre Ansprüche an ein angenehmeres Leben. Sie leisteten sich nun das eine oder andere, so dass das Geld immer schnell wieder weg war.
Schon zu der Zeit waren sowohl die Freundin Seidels als auch die von Belling in die Unternehmungen eingeweiht. Seidel war stets die treibende Kraft. Er hatte die Ideen und setzte Belling geschickt als Mittäter ein. Da beide Täter über eine beachtliche Intelligenz verfügten und ihren Straftaten meistens eine gute Planung vorausging, gerieten sie nie in das Visier der Polizei. Durch ihre Erfolge bauten sich bei Seidel und Belling die Hemmschwellen zu immer schwereren Taten mehr und mehr ab. Die Erlöse aus den Diebstählen erschienen ihnen bald zu gering, zumal sie große Pläne zum Auswandern schmiedeten. Dem Leben in Deutschland aus politischen und sonstigen Gründen überdrüssig, wollten sie nach Neuseeland übersiedeln und sich dort eine ganz neue Existenz aufbauen. Wenn möglich wollte man sich sogar eine eigene kleine Insel kaufen. Dazu benötigte man aber Geld und zwar viel Geld.