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Nur widerwillig beginnt der Stuttgarter Kriminalhauptkommissar Jürgen Nawrod, den scheinbar lapidaren Vermisstenfall Heinrich von Kampen zu bearbeiten. Doch bald schon erhärtet sich sein Verdacht, dass mehr hinter dessen Verschwinden steckt. Kann es Zufall sein, dass unter mysteriösen Umständen bereits drei Mitglieder der Familie von Kampen ums Leben gekommen sind? Droht Manuel, dem einzigen Überlebenden der Familie, ebenfalls Gefahr? Ein weiterer Todesfall führt zu einer überraschenden Wendung …
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Seitenzahl: 473
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Toni Feller
Tödliches Spiel
Kriminalroman
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (3. Auflage Mai 2014)
© 2010 by ars vivendi verlag
GmbH & Co. KG, Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Lektorat: Johanna Cattus
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung von BookaBook, der Literarischen Agentur Elmar Klupsch, Stuttgart
Umschlaggestaltung: Daniela Schniegler, unter Verwendung eines Fotos von Kalinka/photocase
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-86913-289-1
Ich danke allen, die mich beim Schreiben dieses Werkes unterstützt haben. Ganz besonders möchte ich Peter Niegel danken, der mir mit seinen Stuttgarter Ortskenntnissen viel Recherchearbeit abgenommen hat.
Toni Feller
1
An jenem zweiten Weihnachtsfeiertag im Jahr 1990 war es klirrend kalt. Der Wetterdienst zählte den dritten Tag, an dem es richtigen Frost gab. In der Nacht sank die Quecksilbersäule auf minus fünfzehn Grad. Die Landschaft war mit einer dünnen Schneedecke überzogen. An den Stellen, an denen sie von der aufgehenden Sonne aus spitzem Winkel gestreift wurde, glitzerte sie wie ein riesiges Diamantenfeld. Die nur teilweise mit Schnee bedeckten Bäume warfen lange Schatten und unterbrachen so die märchenhafte Reflexion der Sonnenstrahlen. Gelegentlich war das zaghafte Piepsen einer Kohlmeise zu hören. Ansonsten absolute Stille in dem fast dreißig Ar großen Garten, der schon eher als kleiner und überaus schön angelegter Park an der nordöstlichen Peripherie von Stuttgart bezeichnet werden konnte.
Die beiden Jungs hinterließen an diesem Morgen in dem unberührten, pulvrigen Schnee die ersten Spuren. Ohne sich dessen bewusst zu sein, verspürten sie dabei ein Gefühl von Macht und Überlegenheit. Waren sie es doch, die der Unberührtheit der Natur zumindest an dieser Stelle ein Ende setzten. Deshalb waren sie zeitweise bemüht, besonders tiefe Spuren in den Schnee zu stampfen oder einen Fuß nachzuziehen, sodass man eine richtige Schleifspur sehen konnte, bei der das grüne Gras darunter zum Vorschein kam.
Der Größere der beiden bückte sich, griff mit seinen Händen in den Schnee, um einen Schneeball zu formen. Er trug keine Handschuhe, die eisige Kälte machte ihm aber nichts aus. Vielmehr wollte er den ersten Schnee mit bloßen Händen spüren. Doch der Schneeball gelang nicht so richtig, weil es zu kalt und der Schnee zu pulvrig war. Als er ihn in Richtung des kleineren Jungen warf, zerstieb er, noch bevor er sein Ziel traf.
»Ich verrate es Papa, dass du mich mit Schnee beworfen hast«, rief der Kleinere mit schriller Stimme, die noch gehässiger klang als sonst.
»Dann sage ich, dass du damit angefangen hast«, antwortete der andere.
»Papa glaubt mir mehr als dir«, kam es giftig zurück. »Vorgestern, als die Weihnachtskugel zu Bruch ging, hast du die Ohrfeige dafür bekommen, nicht ich.«
»Du warst aber schuld daran, dass sie herunterfiel.«
»Papa kann mich eben besser leiden. Deshalb habe ich zu Weihnachten vom Christkind auch ein Taschenmesser und eine Mütze des FC Bayern bekommen.«
»Na und? Dafür habe ich eine Flöte und ein Schulmäppchen bekommen. Das sind auch zwei Sachen.«
»Das Taschenmesser hat aber bestimmt viel mehr gekostet als deine Flöte.«
»Blödsinn! Das Christkind muss doch kein Geld für die Geschenke bezahlen.«
»Ich habe aber gehört, wie Mama geschimpft hat, weil das Taschenmesser so teuer war und weil nicht du, sondern ich es vom Christkind bekommen habe. Und Papa hat gesagt, mir steht so etwas eher zu als dir. Ätsch!«
»Du bist ja noch viel zu klein für ein Taschenmesser. Gehst nicht mal zur Schule und kannst es allein nicht mal aufklappen, oder? Ich kann es, und ich kann auch schon lesen. Ätsch, ätsch!«
»Papa hat gesagt, er hilft mir immer dabei. Er findet es wichtig, dass ich erst einmal eins habe. Ein richtiger Mann muss ein Taschenmesser haben, hat er gesagt. Er wird mir auch zeigen, wie man damit schöne Dinge schnitzt.«
»Pah, du und ein Mann!«
»Bist ja nur neidisch, weil du keins hast.«
»Zeig mal her, ich mache es auf!«
»Nein, Papa hat gesagt, ich soll es niemandem geben.«
»Ich bin doch dein Bruder, mir kannst du es zeigen.«
»Nein, du bekommst es nicht! Nie bekommst du es!«
»Das werden wir ja sehen. Komm, gib schon her!«
»Nein!«
»Dann hole ich es mir eben. Gib es mir lieber freiwillig. Ich bin stärker als du.«
»Dann verrate ich es Papa, und du bekommst dafür Prügel, so wie letztes Mal.«
»Gib es mir!«
»Nein!«
Der Größere stellte sich drohend vor den ein Jahr Jüngeren. Für einen kurzen Moment schien er zu überlegen, was zu tun sei. Dann sprang er seinen Bruder mit einem Satz an und nahm ihn sofort in den Schwitzkasten.
»Gib es mir!«, presste er drohend zwischen den Lippen hervor.
»Nein, ich verrate es Papa!«, keuchte der andere. Der Ältere verstärkte den Druck am Hals seines Bruders und schrie laut: »Gib es her, oder ich drücke noch fester zu, du kleine Kröte!«
Der Kleinere griff in die rechte Hosentasche und holte das Messer heraus. Mit der anderen Hand wollte er sich aus der Umklammerung befreien. Als das nicht gelang, versuchte er unter Aufbietung aller Kräfte, das Taschenmesser mit beiden Händen zu öffnen. Doch die Feder, die die Klinge in Ruhestellung hielt, war für die kleinen Finger noch zu stark, um sie zu überwinden.
Mit dem zusammengeklappten Taschenmesser in der Faust schlug er wild um sich, in der Hoffnung, seinen Bruder zu treffen, sodass dieser ihn endlich losließ. Als ihm tatsächlich ein harmloser Treffer gelang, reagierte der andere blitzschnell und brachte den Kleinen mit einem Hüftschwung zu Fall. Noch bevor der Unterlegene den eiskalten Schnee an der blanken Stelle seines Genicks spürte, hatte sich der andere auf seinen Brustkorb gesetzt und hielt mit beiden Knien seine Oberarme fest. Der Jüngere hatte keine Chance zur Gegenwehr. Krampfhaft hielt er sein Taschenmesser in der rechten Hand.
»So, jetzt hab ich dich. Ergib dich und rück das Messer raus!«
»Nein, das sage ich Papa! Der schlägt dich dafür tot!«
»Das wirst du nicht tun, du Kröte!«
In diesem Moment sah der Ältere das Taschenmesser in der Hand seines Bruders. Mit dem Knie den Druck auf den Oberarm des Unterlegenen verstärkend, war es ein Leichtes, seine Hand zu öffnen und das Messer an sich zu nehmen.
Seines offensichtlich wertvollsten Besitzes beraubt, fing der Kleinere nun an, laut zu schreien und zu weinen, worauf der Ältere ihm fest eine Hand auf den Mund presste.
»Hör auf zu schreien!«, zischte er. »Und wenn du es Papa verrätst, kannst du was erleben. Ist das klar?« Er drückte seine Hand noch fester auf den Mund des kleinen Bruders. Dabei bemerkte er nicht, dass er auch dessen Nasenlöcher abdeckte. Das Gesicht des Jüngeren lief sofort blaurot an. Er versuchte, sich weiter zu wehren, aber vergebens. Sein Bruder war zu stark. Schließlich erlahmte seine Gegenwehr, worauf der Ältere von ihm abließ und aufstand. Das Messer steckte er sofort in seine Hosentasche.
Schwer nach Atem ringend blieb der Besiegte noch eine Weile im kalten Schnee liegen. Als er sich schließlich aufrappelte, weinte er leise und voller Wut vor sich hin. Seinen älteren Bruder schaute er hasserfüllt an. Dieser konnte seinen Triumph nicht verbergen und sagte im überlegenen Ton des Siegers: »Hättest du es mir gleich gegeben, hätte ich dich nicht in den Schwitzkasten genommen.«
»Papa wird dich im Keller mit dem Stock schlagen, bis du tot bist!«, antwortete der andere voller Hass. »Gib mir sofort mein Messer zurück!«
»Später vielleicht. Jetzt gehe ich erst mal zum Teich und schaue, ob es da einen Stecken gibt, den man schnitzen kann. Wenn du mitkommst, schnitze ich dir auch einen.«
Immer noch leise vor sich hinweinend, bückte sich der Jüngere nach seiner im Schnee liegenden Wollmütze. Bevor er sie aufsetzte, strich er den Schnee aus seinem zerzausten, halblangen Blondschopf. Dann folgte er, trotzig und fest in den Schnee stampfend, seinem Bruder in Richtung Teich.
Der Teich war im Sommer ein wunderschönes Biotop. Außer Sichtweite des feudalen Wohnhauses waren mit viel Liebe zum Detail am Ufer des Teiches Schilfgräser und Blumen verschiedener Art angepflanzt worden. Äste einer halb hohen Trauerweide hingen ins Wasser. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein kleiner, künstlich geschaffener Wasserfall, in dessen Innern eine Pumpe mit Filter installiert war, damit das Wasser immer in Bewegung blieb und sich weniger Algen bildeten. Gleich daneben stand ein kleiner, im barocken Stil erbauter Pavillon mit einer Tischgruppe. Wilder Wein rankte sich bis zum Dach hoch, der im August und September einen süßlichen und etwas mediterranen Duft verströmte.
Im Wasser tummelten sich einige Frösche, aber insbesondere auch Kois, die nur deshalb überwintern konnten, weil der Teich eine Wassertiefe von bis zu 1,70 Meter hatte. Um die Fische im klaren Wasser besser beobachten zu können, zog sich ein Steg bis fast zur Mitte des im Durchmesser etwa fünfzehn Meter großen Gewässers.
Die Jungs hätten an heißen Sommertagen gern darin gebadet. Aber die Eltern erlaubten es nicht. Während sich die Mutter hauptsächlich um das Wohl ihrer beiden Buben sowie der achtjährigen Tochter sorgte und sie immer wieder vor der Tiefe des Teiches warnte, hatte der Vater weniger Angst, ihnen könnte etwas geschehen. Aber ihm war es wichtig, dass die wertvollen Kois nicht gestört wurden.
Am Teich angekommen, schaute sich der Ältere kurz um. Dann entschied er sich, von der Trauerweide einen dünnen, weit herabhängenden Ast abzuschneiden, mit dem er sich bis zur Mitte des Holzsteges begab. Dort fing er an, die Rinde des Steckens abzuschälen.
Von außerhalb des Gartens schaute aus einiger Entfernung ein anderer Junge zu. Er hielt sich hinter einer großen, immergrünen Hecke versteckt. Er wagte es nie, sich näher an das Grundstück heranzuschleichen, weil er instinktiv wusste, dass das große, wunderschöne Haus und der Garten Leuten gehörte, zu denen er nicht passte und die einen kleinen Hund besaßen, der ihn durch lautes Kläffen sofort verraten hätte.
Er kam aus dem Hallschlag, einem sozial schwachen Randbezirk Stuttgarts, und streunte gern und manchmal auch sehr weit herum. Dort, wo er wohnte, gab es viel Schmutz auf den Straßen, und von den Hausfassaden fiel der Putz herunter. Im Innern rochen die Gebäude allesamt nach Mief und manchmal auch penetrant nach Urin, Hunde- oder Katzenkot. Die Geländer in den Treppenhäusern klebten so sehr, dass es der kleine Junge stets vermied, den Handlauf zu berühren. Passierte es doch einmal, hatte er das Gefühl, seine Hand würde für immer kleben bleiben.
Im ersten Jahr der Grundschule suchte ihn seine Mutter oft stundenlang, um mit ihm die Hausaufgaben zu machen. Doch bald gab sie es auf und widmete sich wieder verstärkt ihrem besten Freund, dem Alkohol. Der Junge war eben einfach nicht zu halten. Er war ein Streuner, der es trotz seiner erst sieben Jahre verstand, sich allein durchs Leben zu schlagen.
Jetzt, im zweiten Schuljahr, hatte seine Mutter schon nicht mehr den Überblick, wie weit ihr Bub schulisch gediehen war. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt. Die Mutter wusste selbst nicht genau, wer der Erzeuger des Kleinen war.
Der Junge hatte gesehen, wie sich die beiden stritten und wie der Größere den Kleinen zu Boden rang. Jetzt war er gespannt, wie lange es dauern würde, bis sie sich wieder in den Haaren hatten. Zu gern hätte er gewusst, weshalb sich die beiden prügelten. Aus der Entfernung konnte er das jedoch nicht erkennen. Er sah aber, dass die Sache offensichtlich noch nicht ganz geklärt war.
Er selbst hatte sich unzählige Male schon in ähnlichen Situationen befunden. Ob in der Schule oder danach. Es ging immer darum, wer sich gegen wen durchsetzen konnte. Oft zog er den Kürzeren, weil er zwar zäh, aber nicht besonders kräftig war. In letzter Zeit aber bekam er immer mehr das Gefühl und Geschick dafür, sich auch gegen vermeintlich Stärkere zu behaupten.
Richtige Freunde hatte er keine. Die Jungs aus seinem Viertel konnte er nicht leiden, und die aus den besseren Wohnbezirken mieden ihn, weil er aus dem Hallschlag kam. So wurde er ein Außenseiter und streunte trotz seines kindlichen Alters schon wie ein einsamer, wenn auch junger Wolf durch die Gegend. Und wie ein Wolf entwickelte er einen Instinkt dafür, Gefahren aus dem Weg zu gehen und sich möglichst unbehelligt im Menschendschungel zu bewegen.
Im Umkreis von fünf Kilometern kannte er jede Ecke, jeden Baum, jedes Haus und schon viele Gesichter. Sobald er lesen gelernt hatte, versuchte er, sich die Straßennamen einzuprägen. Er wollte wissen, wo er sich gerade aufhielt und wo er hin konnte. Denn er wollte nichts dem Zufall überlassen. Vor allem wollte er nicht, dass andere Jungs ihm auflauerten und ihn verprügelten, wenn er aus Versehen in deren Gebiet eingedrungen war.
In den Stadtteilen Münster, Hofen und Steinhaldenfeld kannte er sich schon sehr gut aus. Er wusste auch, wo es dort Kleingärten gab, in denen er in den Sommermonaten immer etwas Essbares fand.
Gelegentlich wagte er sich bis in die Innenstadt Stuttgarts, denn sehr bald hatte er herausgefunden, dass er mit dem Schulranzen auf dem Rücken einen Freifahrtschein für Busse und Straßenbahnen hatte. Von einem Mitschüler erfuhr er, dass man mit dem Linienbus 56 bis zur Rosensteinbrücke in Bad Cannstatt fahren und dort in die Stadtbahn Linie 14 steigen musste, um direkt in die City zu gelangen. In der Stadt kamen ihm die Häuser riesengroß und der Trubel ungeheuer lebhaft, ja fast beängstigend, vor.
Als er zum ersten Mal an der Haltestelle Hauptbahnhof ausstieg, kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Menschen liefen wie Ameisen durcheinander, verschwanden in Kaufhaustüren, Nebenstraßen, Bussen oder Straßenbahnen. Manche warteten auch auf irgendetwas. Aber niemand schien so wie er die Gelegenheit zu nutzen, alles zu beobachten und in sich aufzusaugen.
Seine Hausaufgaben bereiteten ihm inzwischen keine Probleme mehr. Er machte sie zwischen seinen Ausflügen, manchmal auf einer Parkbank, manchmal auch einfach irgendwo im Schneidersitz, die Hefte und Bücher auf seinen Knien abgelegt. Zu Hause wollte er keine Schularbeiten machen. Das Stöhnen und Röcheln der auf dem Sofa schlafenden Mutter, ihre Hustenanfälle, die sie nach dem Anzünden der Zigarette hatte, und das Gluckern, wenn sie trank, störten ihn zu sehr. Dennoch kümmerte er sich um sie, wenn es ihr schlecht ging und sie nicht mehr aufstehen konnte. Dann machte er der Mutter ein Brot und blieb so lange bei ihr stehen, bis sie es aufgegessen hatte.
»Ich möchte auch so einen Stecken!«, rief der Kleinere patzig.
»Warte, bis ich meinen fertig habe.«
»Nein, ich möchte gleich einen Stecken. Einen großen, größer als deiner!«
»Du wartest jetzt! Wenn nicht, bekommst du gar keinen.«
»Dann verrate ich Papa, dass du mich geschlagen und mir mein Taschenmesser abgenommen hast.«
»Das machst du nicht!«
»Doch, das mache ich. Und ich erzähle auch, dass du Papa einen Dummkopf genannt hast.«
»Das habe ich doch gar nicht.«
»Aber ich erzähle es trotzdem, dann geht Papa mit dir in den Keller, wo er seinen Stock hat.«
Der Ältere schaute seinen Bruder für einen kurzen Moment strafend und verächtlich an. Plötzlich riss er ihm mit einer schnellen Bewegung die neue Mütze vom Kopf und warf sie auf das zugefrorene Eis des Teiches. Überrascht schaute der Jüngere seiner Mütze hinterher. Da fing er wieder an zu weinen und zu schreien.
»Heulsuse! Verrätst du das jetzt auch dem Papa?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, lachend: »Bevor du aber beim Haus angekommen bist, sind dir ohne Mütze die Ohren abgefroren.«
»Hol sofort meine Mütze wieder, sonst verrate ich, dass du auch über Mama schlimme Sachen gesagt hast.«
»Habe ich nicht!«
»Ich sage einfach, du hast sie ›blöde Mama‹ genannt, wenn du meine Mütze nicht holst.«
»Hol sie doch selbst, du Zwerg! Beeil dich, sonst frieren dir tatsächlich noch die Ohren ab!«
Immer noch mehr aus Wut und Zorn weinend, setzte sich der Kleinere auf die Kante des Stegs und ließ sich langsam auf das Eis hinab. Seine Stiefelchen versanken knöcheltief im Schnee. Unsicher machte er zwei kleine Schritte. Dann blieb er stehen und sah sich nach seinem Bruder um.
»Na los, auf was wartest du?«
Voller Trotz, die Tränen und die Rotznase mit dem Handrücken abwischend, rief er seinem Bruder zu: »Das sage ich Papa! Der haut dich dafür, bis du auch weinst und tot bist!«
Dann machte er wieder einen kleinen, vorsichtigen Schritt. Als das Eis schließlich im Bruchteil einer Sekunde nachgab und mit einem seltsam klirrenden Krachen einbrach, schaute der Ältere scheinbar teilnahmslos zu. Er hörte lediglich auf, an seinem Stecken zu schnitzen. Für einen kurzen Moment tauchte noch einmal die obere Kopfhälfte des kleinen Bruders auf, dann war es still. Es gab kein Geheule, keine Drohungen mehr. Und das Taschenmesser gehörte endgültig ihm.
2
»Zebra 1 für Zebra 2!«, quäkte es aus dem Handfunksprechgerät.
»Zebra 1 hört.«
»Hier Zebra 2! Wenn die Typen nicht bald erscheinen, können wir den Einsatz abblasen. Habe keine Lust, mir die ganze Nacht um die Ohren zu schlagen.«
»Hier Zebra 1! Ruhig Blut, Kleiner. Die kommen schon noch. Auf Charly ist Verlass, das weißt du doch, Wolfgang.«
Die beiden Kriminalbeamten schauten hochkonzentriert in ihre Nachtsichtgeräte. Sie saßen nun schon geschlagene zwei Stunden auf der Lauer. Während es sich Kriminalhauptkommissar Jürgen Nawrod hinter einem riesigen Betonpfeiler der Mercedes-Benz Arena, soweit es ging, gemütlich gemacht hatte, stand sein Kollege Wolfgang Prestel etwa dreißig Meter von ihm entfernt hinter einem dichten Gebüsch. Beide waren dunkel gekleidet. Etwa dreißig Meter vor ihnen lag die Mercedesstraße, eine breite Hauptstraße, die vom Cannstatter Tor an der Mercedes-Benz Arena vorbei zur Stuttgarter City und nach Bad Cannstatt führte.
Über die Mercedesstraße hinweg konnten die beiden von ihren Standorten aus die Parkplätze entlang der Straße vor dem Stadion einsehen. Kein idealer Platz für einen Zugriff, da es dort viele Bäume und Sträucher gab. Die Sicht war alles andere als gut, und bei einem möglichen Schusswechsel gab es jede Menge Deckung für den Gegner. Der Parkplatz selbst war zudem noch an drei Seiten durch hohe Hecken eingesäumt. Das brachte jedoch auch Vorteile. Die zur Festnahme der hochkarätigen Dealer eingesetzten Beamten des Mobilen Einsatzkommandos hatten dieses Mal keine Probleme, sich zwischen den Hecken und dem Gestrüpp so perfekt zu tarnen, dass sie nicht einmal von den Augen einer Eule wahrgenommen werden konnten.
Kriminalhauptkommissar Nawrod konnte auf die Jungs zählen, das wusste er. Auch in kritischen Situationen behielten diese stahlhart ausgebildeten Kollegen die Nerven. Mehrfach schon hatte er sich verwundert die Augen gerieben, wenn diese Sondereinheit einen Zugriff blitzschnell über die Bühne brachte und ihm die Ganoven dann ebenso schnell, schön in Hand- und Fußfesseln verpackt, auf einem silbernen Tablett servierte. Natürlich lagen die dann nicht auf edlem Metall gebettet, sondern in aller Regel auf dem Boden, das Gesicht in den Dreck gedrückt und so gefesselt, dass sie nicht die geringste Chance einer Gegenwehr hatten. Und oft gab es anschließend Probleme beim Abtransport der Festgenommenen, weil keiner der Kollegen eine Person ins Fahrzeug nehmen wollte, die sich sowohl eingenässt als auch buchstäblich in die Hose geschissen hatte. Die rochen dann nicht wie einer, der halt mal Durchfall hatte und dem etwas verrutscht war. Nein, die Angst dieser Kriminellen war es, die dem Ganzen stets einen eigentümlichen und im Innern eines Fahrzeuges kaum auszuhaltenden Geruch verlieh.
Selbst den Hartgesottensten war das schon passiert. »Ich dachte, das Jüngste Gericht bricht über mich herein, und schon war es geschehen«, gab einmal ein Hüne von einem Zuhälter und Menschenhändler nach seiner Festnahme durch das MEK zu Protokoll.
»Bin gespannt, wie die Sache dieses Mal über die Bühne geht«, brummte Nawrod und ertappte sich dabei, wie er wieder mit sich selbst sprach. Das tat er oft, wenn seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. Er dachte an die letzte Aktion mit Charly, seinem besten Freund und Undercoveragenten. Charly hatte den gewissen Riecher und geradezu ein unnachahmliches Talent, immer die größten Fische an Land zu ziehen. Niemand wusste, wie er das machte. Keiner fragte danach. Unterm Strich zählte das Ergebnis und sonst nichts. Fünf Kilo hochprozentiges Heroin sollten heute Nacht den Besitzer wechseln. Kein Pappenstiel, denn der Kilopreis in dieser Charge lag zurzeit bei zirka 50 000 Euro.
Als Nawrod seinen Freund dann doch einmal fragte, wie er es schaffe, mit Großdealern in Kontakt zu treten, lächelte Charly nur vielsagend und meinte: »Bei diesem Spiel machst du deinen Job, und ich mache meinen. Wichtig ist nur, dass sich jeder auf den anderen verlassen kann.« Nach einer kleinen Pause dann fast beiläufig: »Es ist auch gut, wenn du nicht alles weißt.«
»Verstehe«, nickte Nawrod, und damit war das Thema erledigt. Nawrod nahm es Charly nicht übel, dass er von ihm nicht alles erfuhr. Er wusste, dass das nichts mit Misstrauen zu tun hatte. Ganz im Gegenteil! Es ging einzig und allein darum, Verbrechen so effizient wie möglich zu bekämpfen und dabei das Risiko auf ein Minimum zu reduzieren. Das funktionierte nur, wenn alle gewisse Regeln einhielten und sich jeder auf den anderen verlassen konnte.
Wie Nawrod und Charly war auch jeder einzelne Beamte des Mobilen Einsatzkommandos ein wichtiges Zahnrad im Getriebe eines solchen Einsatzes. Die kleinste Unachtsamkeit, der lapidarste Fehler eines Einzelnen konnte das ganze Unternehmen, ja sogar das Leben von Kollegen gefährden. Jedem war das bewusst. Immer und immer wieder wurde das den Spezialisten des MEK im Training und vor den Einsätzen eingebläut.
Knut Deckert, der Leiter des MEK, war unerbittlich, wenn es darum ging, die Disziplin in seiner Truppe hochzuhalten. Obwohl seine Beamten allesamt die nicht gerade lasche Ausbildung bei der Polizei durchlaufen hatten, war diese ein Zuckerlecken gegen den Drill, der beim ständigen Training der Spezialeinheit vorherrschte. Doch die Jungs waren mit Herz und Seele dabei. Keiner beschwerte sich, weil jeder wusste, dass Disziplin im Ernstfall das Überleben sicherte.
Deckert hatte in dieser Nacht das gesamte MEK mobilisiert. Nur so konnte er einigermaßen sicherstellen, dass die Dealer keine Gelegenheit hatten, beim Zugriff zu fliehen oder um sich zu schießen. Denn eines war klar: Dealer dieser Kategorie waren bewaffnet, und zwar mit großkalibrigen Pistolen oder Revolvern, manchmal sogar mit kleinen, handlichen Maschinenpistolen. Einmal hatte die Einsatztruppe im Schulterhalfter eines Türken eine israelische Maschinenpistole der Marke Uzi und in seinen Hosentaschen noch zwei russische Handgranaten gefunden. Sichere Belege dafür, dass in Dealerkreisen mit immer härteren Bandagen gekämpft wurde und dass einem Händler, der im Kilobereich dealte, bewusst war, dass er für Jahre in der Versenkung, sprich im Knast, verschwand, wenn er geschnappt wurde.
Hinzu kam, dass die Dealer meist aus Ländern stammten, in denen ein Menschenleben sehr wenig bedeutete, wenn es um Profit ging. In hochkarätigen Verbrecherkreisen hatte die Brutalität in den letzten Jahren fast unbeschreibliche Ausmaße angenommen. Nur durch ständiges, knallhartes Training und durch ebenso ständiges Aufrüsten der neuesten technischen Einsatzmittel konnten die Mobilen Einsatzkommandos der Polizeidirektionen und die Sondereinsatzkommandos der Bundesländer mit den Verbrechern einigermaßen Schritt halten.
Es war 1.17 Uhr, als der amerikanische Van langsam auf den Parkplatz fuhr. Der Fahrer hielt unter einem großen Baum so an, dass er jederzeit nach vorn wegfahren und flüchten konnte. Durch sein hochauflösendes Nachtsichtgerät konnte Nawrod ganz deutlich sehen, dass es ein schwarzer Chevrolet mit abgedunkelten Scheiben war. Aus München kommen die also, dachte er, als er das Kennzeichen ablas und sofort über Funk den Auftrag gab, es zu checken.
»Zebra 1 an Zebra 2!«
»Zebra 2 hört.«
»Hast du gesehen, die kommen aus München. Kannst du ausmachen, wie viele es sind?«
»Nun mal langsam, Kumpel, ist vielleicht nur ein Liebespärchen.«
Wolfgang lachte leise, als er über Funk mit gedämpfter Stimme die Order gab: »Hier Zebra 2 an alle, hier Zebra 2 an alle! Nicht schießen, ich wiederhole, nicht schießen, wenn der Van plötzlich zu wackeln beginnt und Stöhnen aus dem Fahrzeug zu hören ist!«
»Hier spricht der Einsatzleiter! Hört nicht auf den Quatsch, Kollegen. Die Sache ist zu ernst, um jetzt Späße zu machen.«
An Nawrods schnarrender Stimme merkte jeder, dass der Einsatzleiter hochkonzentriert war und keine Mätzchen mehr zuließ.
»Ich fresse einen Besen, wenn das nicht unsere Zielpersonen sind! Also Jungs, höchste Alarmstufe!«, presste Nawrod eindringlich zwischen den Zähnen hervor.
Jetzt fehlt nur noch Charly, das Speckstückchen, und die Mausefalle schnappt zu. Dieses Mal seid ihr dran, ihr Drecksdealer, das garantiere ich euch, hämmerte es in Nawrods Kopf.
Ohne dass sich die Innenbeleuchtung einschaltete, wurden die vorderen Türen des Vans fast gleichzeitig geöffnet. Auf der Fahrerseite stieg ein kräftiger, fast korpulenter Mann aus. Nawrod schätzte ihn auf höchstens dreißig Jahre, so weit er das durch das Nachtsichtgerät beurteilen konnte. Der Mann trug Jeans und eine schwarze Lederjacke. Besonders auffallend an ihm waren sein runder Schädel und seine nur millimeterlangen Haare.
»Hier Zebra 9! Habe den Dicken als Ziel erfasst.«
»Hier Zebra 8! Habe ebenfalls auf den Dicken freie Schussbahn.«
»Hier Zebra 11! Der lange Dürre gehört mir. Warte auf Feuerbefehl.«
»Hier Zebra 9! Bist du sicher, dass du diese Bohnenstange triffst, oder soll ich dir helfen?«
»Hier Zebra 11! So dünn kann der gar nicht sein, dass ich den nicht mit einem Schuss in die Hölle schicke.«
»Da gehört das Schwein auch hin«, war eine Stimme zu hören, die sich nicht zu erkennen gab.
»Hier Zebra 1, hier Zebra 1 an alle Scharfschützen: Zu-griffstrupp hat absoluten Vorrang. Es wird nur im äußersten Notfall und nur auf meinen Befehl geschossen. Dass das klar ist!«
Nawrods Tonfall ließ keinen Zweifel zu. Er war der Einsatzleiter, und es ging ihm gegen den Strich, wenn er in einer solchen Situation derartige Äußerungen hörte. Gleichwohl wusste er, dass die Jungs an den Präzisionsgewehren manchmal so reden mussten, um die ungeheure Verantwortung und die daraus resultierende Anspannung irgendwie kompensieren zu können.
»Zebra 1 an Zebra 2! Hey, hab ich’s nicht gesagt, auf Charly ist Verlass?! Schau mal nach rechts. Ist das nicht Charlys roter Mustang?«
»Hast recht, Kumpel, das ist er. Der Tanz kann beginnen.«
Der Mustang fuhr direkt auf den Van zu. In Höhe der beiden Dealer hielt er kurz an. Charly wollte sich wohl vergewissern, dass er es mit den richtigen Typen zu tun hatte. Danach parkte er neben dem Van und stieg aus seinem Fahrzeug.
Durch das Nachtsichtgerät sah Nawrod, wie der Greiftrupp sich in Position brachte. Gut getarnt und lautlos wie Raubkatzen schlichen sich die Beamten heran, bis Nawrod die Stimme des Greiftruppführers am Funk vernahm.
»Hier Falke 1! Greiftrupp in Position. Warte auf Befehl.«
»Hier Zebra 1! Okay, Jungs, wir schlagen erst zu, wenn der Deal perfekt ist, verstanden?«
»Hier Falke 1! Habe verstanden.«
»Deine Nerven möchte ich haben, Jürgen!«
»Halt die Klappe, Wolfgang, und pass auf!«
Wie immer erschien Charly im typischen Outfit eines Drogendealers, und wie ein solcher bewegte er sich auch. Vorsichtig umherschauend, jede Bewegung seines Gegenübers registrierend und ständig bereit, auf Unvorhergesehenes zu reagieren. Dennoch vermittelte er den Eindruck von Coolness und Überlegenheit.
Er arbeitete nun schon seit fünf Jahren als Undercoveragent im Rauschgiftgeschäft. Länger als die meisten seiner Kollegen. Viele fragten sich, wie er das schaffte, ohne inzwischen aufgeflogen oder getötet worden zu sein. Charly war halt eben eine Klasse für sich.
Am Anfang zählte er noch die Menge des Rauschgiftes zusammen, das mit seiner Hilfe beschlagnahmt worden war. Zunächst war er regelrecht glücklich über jedes Gramm Heroin, das durch ihn nicht in den Handel gelangte. Eine Cousine von ihm war an Leberzirrhose gestorben, weil sie sich an der Nadel eines Fixers mit Hepatitis C infiziert hatte. Die Krankheit kam ein halbes Jahr danach zum Ausbruch und ließ dem jungen Mädchen keine Chance. Innerhalb von wenigen Wochen war die Leber zerfallen. Die Cousine war gerade mal siebzehn Jahre alt. Das prägte Charly, und deshalb packte er die Gelegenheit gleich beim Schopfe, als man ihm ein halbes Jahr später die Chance gab, undercover zu arbeiten.
Es dauerte nicht lange, da ließ er schon den ersten großen Dealer auffliegen. Weitere folgten. Bei 54,5 Kilogramm hörte er mit dem Zählen des beschlagnahmten Rauschgiftes auf. Da war er erst im zweiten Jahr Undercover.
Jürgen Nawrod und er mochten sich einfach. Sie hatten sich auf der Polizeischule kennengelernt. Eine dicke Freundschaft war entstanden. Obwohl sie in unterschiedlichen Abteilungen arbeiteten, hatten sie sich nie aus den Augen verloren. Während Nawrod das Dezernat für Rauschgiftbekämpfung beim Polizeipräsidium Stuttgart leitete, war Charly direkt dem Landeskriminalamt unterstellt. Er benutzte mehrere Identitäten und war ständig und überall unterwegs. Gelegentlich auch im Ausland.
Natürlich kamen die beiden auch privat zusammen. Man flog sogar gemeinsam in Urlaub, da sich die Ehefrauen ebenfalls prima verstanden. Nur die Kids stritten sich regelmäßig. Nawrods zwölfjährige Tochter konnte so gar nichts mit dem gleichaltrigen Sohn Charlys anfangen. Daraus ergaben sich die üblichen Probleme, von denen sich die Erwachsenen jedoch nicht anstecken ließen.
Charly blieb etwa drei Meter vor den beiden Dealern stehen. Nawrod sah, dass sich die drei Männer begrüßten und sich anschließend unterhielten. Der Deal hatte begonnen. Wie aus dem Nichts tauchte hinter Charly ein Mann auf, der mit ausgestreckten Armen eine großkalibrige Pistole mit beiden Händen hielt und auf Charly zielte.
»Hier Zebra 1! Scheiße, was ist denn das für eine Figur? Wo kommt denn der her?«
»Hier Zebra 9! Muss sich wohl die ganze Zeit in der großen Hecke versteckt haben. Den hätten wir sehen müssen, wenn er nach uns gekommen wäre.«
»Hier Zebra 2! Jürgen, pass auf! Der legt Charly um! Tu was!«
»Behalt mal die Nerven, Kleiner. Warum sollte der Charly umlegen?«
»Weil unser Mann einen Koffer voller Scheine bei sich hat, genau deshalb!«, stieß Prestel hervor. Seine Stimme klang ängstlich und besorgt.
Der Pistolenschütze war jetzt etwa drei Meter hinter Charly. Lautlos und mit kleinen Schritten schlich er sich weiter an den Undercoveragenten heran.
Über Funk meldete sich eine ruhige, fast monotone Stimme: »Hier Zebra 10! Habe die dritte Person im Visier und freie Schussbahn. Warte auf Feuerbefehl.«
»Hier Zebra 8! Der Dicke ist weiterhin mein Part.«
»Hier Zebra 11! Und ich habe den langen Dürren im Visier.«
Und danach fast panikartig: »Hier Zebra 2! Jürgen, mach doch was!«
Kriminaloberkommissar Wolfgang Prestel war schon einiges gewohnt. Aber diese Situation zehrte offensichtlich gewaltig an seinen Nerven.
»Hier Zebra 1! Ohne den abgewickelten Deal kriegen wir die Dreckärsche nicht in den Bau, das weißt du doch. Wir brauchen den Stoff. Wenn der nicht über den Tisch geht, bleibt an den Wichsern nichts hängen. Wer weiß, vielleicht haben sie ihn gar nicht dabei.«
»Scheiß drauf, Jürgen! Der legt Charly um!«
»Schieb keine Panik, Wolfgang. Der Typ sichert den Deal nur ab, mehr nicht.«
»Hier Zebra 1 an alle! Bitte Meldung, ob Zugriffstrupp bereit und freies Schussfeld vorhanden!«
»Hier Falke 1! Männer und Blendgranaten in Position.«
»Hier Zebra 9, freies Schussfeld.«
»Zebra 11 ebenfalls.«
»Zebra 10 für finalen Rettungsschuss bereit.«
»Zebra 1 an Zebra 8! Wechseln Sie Ihr Ziel und gehen Sie ebenfalls auf den Pistolenschützen!«
»Zebra 8 hat verstanden.« Und schon im nächsten Augenblick: »Habe Ziel aufgenommen.«
»Hier Zebra 1 an alle! Aktionen nur auf meinen Befehl! Ist das klar?«
Und nun spielte sich alles in nur wenigen Sekunden ab. Es sollte aber allen Beamten dieses Einsatzes auf immer und ewig im Gedächtnis haften bleiben und bei manchen immer wieder in unwirklich erscheinenden Bildern vor dem geistigen Auge ablaufen.
Als der Pistolenschütze etwa einen Meter hinter Charly endlich stehen blieb, machten der Dicke und der andere jeweils einen kleinen Schritt zur Seite. Gleichzeitig führten sie ihre rechten Hände zu ihren Jackeninnentaschen. Charly war wohl so in die Verhandlung vertieft oder einfach nur ein einziges Mal unaufmerksam, dass ihm das entging.
»Jürgen, du kannst doch nicht … nein!«, schrie Prestel ins Funkgerät.
Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis Nawrod reagierte, aber es war zu spät.
»Feuer frei!«
Nawrod nahm nicht mehr wahr, ob ein oder mehrere Schüsse fielen. Prestel meinte später, es habe sich wie ein einziger Schuss aus einer großen Kanone angehört.
Nawrod schaute die ganze Zeit durch das Nachtsichtgerät. Bereits bevor der laute Knall an seine Ohren drang, sah er das Mündungsfeuer, dessen feiner Strahl direkt auf Charlys Hinterkopf zeigte. Dann sah er nur noch, wie alle vier Personen fast gleichzeitig zusammensackten.
3
Nachdem die Schüsse verhallt waren, saß Nawrod wie gelähmt in seinem Versteck. Das Nachtsichtgerät baumelte an seinem Hals. Tränen schossen ihm in die Augen, sodass er nichts mehr sehen konnte. Er nahm auch sonst nichts mehr wahr. Es umgab ihn nur noch eine Hülle des Schreckens, die ihn bewegungsunfähig machte, ihn vollständig von der Außenwelt, von deren Geräuschen und Bildern trennte. Es schien kein Entrinnen daraus zu geben. Und in dieser übergroßen, trüben Blase des Grauens war die Last des Geschehens drauf und dran, ihn zu erdrücken.
Wolfgang Prestel ging es ähnlich. Immer und immer wieder stammelte er: »Das darf doch nicht wahr sein! Ich habe es kommen sehen! Nein, das kann nicht wahr sein. Charly, Charly!«
Obwohl beide noch ihr Funkgerät eingeschaltet hatten, hörten sie nicht mehr die schnarrende Stimme des MEK-Leiters.
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