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Es gibt nicht nur "das Meer in mir", wie der Titel eines spanischen Films besagt, sondern viele verschiedene "Meere" in jedem von uns. In diesem Buch nimmt Sie der Autor mit auf eine Entdeckungsreise in unterschiedliche maritime Felder wie Literatur, Geschichte, Tiefen- und Geopsychologie, immer auf der Suche nach Spuren, die das spannungsreiche und sich ständig wandelnde Verhältnis der Menschen zum Meer thematisieren. Anschließend taucht man in die maritimen Bedeutungsräume der 44 Versuchspersonen seiner Studie ein, 12 Kategorien wie "Ruhe-Ort", "Heilquelle" oder "unkontrollierbare Gefahr", die anhand eindrucksvoller Zitate dargestellt werden. Aus dieser theoretischen und empirischen Annäherung sucht der Autor eine Synthese, in der das ambivalente Erleben und Verhalten gegenüber der See beleuchtet wird. Die abschließende Betrachtung der psychomaritimen Vorgänge vor und nach der Flutkatastrophe in Südostasien deutet an, wie dieses Buch zu einem besseren Verständnis dieser und ähnlicher Prozesse der Menschen im Umgang mit dem Meer beitragen kann.
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Seitenzahl: 238
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Florian Schmid-Höhne
Die Meere in uns
Eine psychologische Untersuchung über das Meer als Bedeutungsraum
© 2019 Florian Schmid-Höhne
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7497-5167-9
Hardcover:
978-3-7497-5168-6
e-Book:
978-3-7497-5169-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für meine Schwester Verónica
Mientras las olas del mar siguen rompiendo, yo siempre te amaré
Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Herausgebers.
Teil I: Wege zum Meer – eine theoretische Annäherung
Die persönliche Perspektive
Die literarische Perspektive
Die tiefenpsychologische Perspektive
Die geopsychologische Perspektive
Die geotouristische Perspektive
Die historische Perspektive
Zusammenfassung
Teil II: Das Meer als subjektiver Bedeutungsraum
Methodik
Inhalte subjektiver Meereskategorien
1. Das Meer als Urlaubsort
2. Das Meer als Verursacher von Glück und Freude
3. Das Meer als Ort der Ruhe und Entspannung
4. Das Meer als Heil- und Energiequelle
5. Das Meer als landschaftlicher Sinneseindruck
6. Das Meer als Ort der Selbstwahrnehmung und Reflexion
7. Das Meer als Ort der Sehnsucht und Romantik
8. Das Meer als Symbol für Freiheit, Abenteuer und Entdeckung
9. Das Meer als Heimat und Geborgenheit
10. Das Meer als kraftvolle Naturgewalt
11. Das bedrohliche und beängstigende Meer
12. Das durch den Menschen bedrohte Meer
Rangordnung der Meereskategorien
Gruppenunterschiede
Aufbau und Unterscheidungsmerkmale in den Beiträgen
Zusammenfassung
Teil III: Psychomaritime Perspektiven
Zusammenhänge zwischen der theoretischen und der empirischen Annäherung
Die Entstehung und Abänderung maritimer Bedeutungsräume
1. Der Einfluss der sozialen Interaktion
2. „Meereserziehung“ durch Mythen, Märchen und Medien
3. Der Einfluss der direkten Auseinandersetzung mit dem Meer
4. Der Einfluss soziodemographischer Daten
5. Der Einfluss der Projektion
Ein psychomaritimes Modell
Darstellung der Funktionsweise des Modells
Innere Wirkungen im psychomaritimen Blickpunkt
a. Ruhe und Entspannung
b. Angst und Bedrohung
Reflexionen im psychomaritimen Blickpunkt
a. Selbstreflexion und Bewusstmachung
b. Gedankliche Anregung und Inspiration
Die Auswirkungen auf das Verhalten
Die Flutkatastrophe in Südostasien
Die Reaktionen unmittelbar vor der Flutwelle
Auswirkungen der Flutkatastrophe auf die Betroffenen
Auswirkungen der Flutkatastrophe auf die medialen Zuschauer
Zusammenfassung
Teil IV: Ausblick mit Meerblick
Von der terranen zur psychomaritimen Perspektive
Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis
Psychomaritime Forschungsfragen
Psychomaritime Praxisfragen
Burnout Coachings am Meer
Persönliche Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
Vorwort des Herausgebers
Gestützt auf sein Engagement, seine Unbeirrbarkeit und seine intellektuelle Neugier hat Florian Schmid-Höhne ein ganz neues psychologisches Feld eröffnet, das er als „psychomaritime Perspektive“ bezeichnet. Die Relevanz des von ihm vorgelegten Buches hat auch durch die Tsunami-Katastrophe in Südostasien gewonnen, in der wunderschöne Urlaubsstrände zu Todesfallen wurden. Innerhalb von wenigen Minuten hat das Meer seine Bedeutung verändert: Von einem Ort der Menschen magisch anzieht, ist es zu einem lebenszerstörenden Ungeheuer geworden. Die von Florian Schmid-Höhne durchgeführte eigene Empirie ist genau in diese Zeit gefallen und hat so einen ungeplanten Vorher-Nachher-Vergleich ermöglicht.
Zunächst fasst der Autor unter dem Titel „Wege zum Meer“ den Ertrag seiner Literaturrecherche zusammen. Bevor er damit beginnt, entfaltet er erst einmal seine persönliche Perspektive und dabei wird deutlich, woher die Energie stammt, mit der Florian Schmid-Höhne sein Thema bearbeitet hat. Im weiteren nimmt er seine LeserInnen mit auf seine Entdeckungsreise durch unterschiedliche Diskursfelder, immer auf der Suche nach Spuren, die die spannungsreichen Verhältnisse der Menschen zum Meer thematisieren. Es geht von der literarischen Szene, über die Symbolinterpretation der Tiefenpsychologie, zu der fast vergessenen „geopsychischen“ Theorie eines Willy Hellpach, zu einer „geotouristischen Perspektive“ und die Tour landet schließlich bei einer historischen Perspektive, in der vor allem die Wandlungsfähigkeit des Bedeutungsraumes Meer sichtbar wird. Aufgezeigt wird die „rasterfeindliche Wandlungsfreude“ der Themenvielfalt, die mit dem Meer assoziiert ist.
Im Zuge dieser Entdeckungsreise wird der Blick des Autors immer mehr durch seine psychologische Perspektive bestimmt. Einerseits wird das Meer als eine ideale Projektionsfläche für positive wie auch negative Affekte thematisiert und andererseits auch die durch zivilisatorische Eingriffe sich verändernden Affekte und Wünsche angesprochen, die sich auf das Meer als Natur und Nicht-Natur zugleich beziehen. Hier liegt eine Ursache für die insgesamt ambivalenten Beziehung der Menschen zum Meer. Am Ende dieses ersten Literatursurveys steht die Überzeugung, dass sich Menschen subjektiv in eine Beziehung zu ihrer Umwelt setzen. Die dabei entstehenden Meeresbilder sind das Resultat der individuellen und kultuellen Auseinandersetzung mit der jeweiligen maritimen Umgebung. Auf Grund biographisch höchst unterschiedlicher Erfahrungen mit dem Meer oder und auch individuell spezifischer kultureller Kodierungen oder auch dem kulturellen kollektiven Gedächtnis entstehen höchst unterschiedliche subjektive Konstruktionen des Meeres. Diesen wendet sich der zweite Teil des Buches zu.
Diese Einsicht motivierte den Autor dazu, eine sehr heterogene Gruppe von Menschen zu ermutigen, ihm ihre Meeresbilder aufzuschreiben. Angeregt durch die methodische Idee von Beate Mitzscherlich hat Florian Schmid-Höhne im direkten persönlichen Kontakt und über das Internet 44 Personen dazu motivieren können auf folgende erzähl- bzw. schreibgenerierende Frage zu antworten: „Welche Gedanken, Gefühle, Bilder und Assoziationen verbinden Sie mit dem Meer?“ Die in der Beantwortung dieser Frage entstandenen Texten bilden das primäre Datenmaterial, das dann in der methodischen Tradition der „grounded theory“ ausgewetet wurde. Im Endergebnis kommt Florian Schmid-Höhne zu 12 relativ trennscharfen Kategorien. Über die durch Literaturrecherchen erlangte Bedeutungsvielvalt kommt durch diese methodische Vorgehensweise noch ein bedeutend größeres Spektrum zustande, das einen deutlich ins Positive gehenden Schwerpunkt aufweist, aber auch die bedrohlichen und ängstigenden Seiten des Meeres haben ihren Ort. So entsteht eine eindrucksvolle Variationsbreite an Wahrnehmungsmustern und Bedeutungskonstruktionen für das, was das Meer für Subjekte bedeuten kann. Das gilt nicht nur für interindividuelle Unterschiede, sondern auch für innere Bedeutungspluralität bei ein und derselben Person.
Im dritten Teil sucht jetzt Florian Schmid-Höhne eine theoretische Synthese, die die Beziehung zwischen der menschlichen Psyche und dem Meer zu erklären versucht. Ins Zentrum wird eine symbolischinteraktionistische Bedeutungstheorie gerückt, die deutlich machen kann, dass es keine statische Relation zwischen Menschen und dem Meer geben kann. In den Bildern vom Meer spiegeln sich das kulturelle Selbstverständnis einer Zivilisation, die sich über die Natur stellt und sie zu bändigen versucht, aber gleichzeitig immer wieder in diesem Selbstverständnis scheitert. Das ist die „Dialektik der Aufklärung“. Das jeweilige Selbstverständnismuster erweist sich immer dann als illusionär, wenn die Natur sich in ihrer elementaren Gewalt zeigt, aber auch dann taucht meist die Frage auf, ob nicht Eingriffe des Menschen in die Natur zugleich für deren katastrophale Potentiale mitverantwortlich sind. Aus diesen zirkulären und ambivalenten Relationen gibt es keinen Ausweg. Wie das vorliegende Buch aufzeigt, lässt sich eine überdeterminierte Mensch-Natur-Beziehung in den subjektiven Meeresbildern rekonstruieren.
Abschließend unternimmt Florian Schmid-Höhne den Versuch der Konstruktion eines „psychomaritimen Modells der Meereswahrnehmung und -wirkung“ und es gelingt ihm, die Vielzahl der gefundenen Dimensionen und Variablen, den psychologischen im engeren Sinne und den kulturellen Kontextfaktoren, in einem komplexen Systemzusammenhang darzustellen. Wenn man bedenkt, wie unbeackert der Autor das psychomaritime Forschungsfeld vorgefunden hat, es war ja noch nicht einmal begrifflich richtig ausgeflaggt, dann wird erst deutlich, was er hier für eine Pionierleistung erbracht hat. Florian Schmid-Höhne hat mit Leidenschaft und einem untrüglichen Selbstwirksamkeitsgefühl seinen eigenen Weg gesucht und gefunden. Dafür hat er meinen vollen Respekt, der auch noch dadurch gewachsen ist, dass ich die vorliegende Arbeit immer in dem Bewusstsein gelesen habe, dass der Autor, während er dieses Buch schrieb, seine Schwester durch einen tragisch Unfall verloren hat. Doch dieser Schmerz hat ihn nicht gelähmt, sondern „Flügel verliehen“.
München, im März 2006
Heiner Keupp
Vorwort des Autors
“Er war auf der Suche nach jener perfekten Welle, die ihm eines Tages zeigen würde, worin der wahre Sinn des Lebens lag” (Bambaren 2000, S. 29).
Auch ich war lange Zeit auf der Suche: Ich suchte nach der perfekten Quelle. Sie sollte mir zwar nicht gleich den Sinn des Lebens zeigen, aber ich erhoffte mir von ihr zumindest Auskunft über den Sinn, den die Menschen mit dem Meer verbinden. Welche Bedeutung hat diese riesige Wasserfläche für uns?
Während meiner monatelangen Odyssee durchstöberte ich die abgelegensten Bereiche europäischer Bibliotheken, surfte tagelang im Internet und musste viele abenteuerliche Begegnungen mit deutschen Psychologen und französischen Bibliothekaren bestehen, um mich meinem Thema theoretisch anzunähern. Bisweilen drohte ich in meinem angesammelten Papiermeer unterzugehen, die Vielzahl unterschiedlicher Quellen schwappte über mich hinweg und ich sehnte mich nach einem konkreten Anhaltspunkt, nach festem Boden unter meinem so frei fließenden und scheinbar unendlichen Thema…
In diesen Phasen erwiesen sich die Beiträge meiner empirischen Untersuchung als eine große Hilfe. Sie erlaubten mir psychomaritime Zusammenhänge, d.h. die Beziehungen zwischen der menschlichen Seele und dem Meer, anhand gezielt gesammelter Daten zu untersuchen. Auf diese Weise war ich nicht mehr gänzlich von meinen theoretischen Quellen abhängig.
Mit einer Kombination aus psychomaritimer Theorie und empirischer Erdung will ich in diesem Buch einen Bereich erkunden, der bisher weitestgehend psychologisches "Neuland" dargestellt hat: Das Meer.
Teil I: Wege zum Meer - eine theoretische Annäherung
Die persönliche Perspektive: Mein Zugang zum Meer
Warum beschäftigt sich ein Psychologe mit dem Meer? Warum überlasse ich diesen Natur- und Forschungsraum nicht den Ozeanographen und Meeresbiologen und widme mich nicht "psychologischeren" Themen, wie Depression oder Angststörungen?
Solche und ähnliche Fragen musste ich mir in den vergangenen Jahren öfters anhören, oder zumindest rief die Nennung meines Buch-Themas zunächst überwiegend verblüffte Blicke hervor.
Und allmählich spüre ich selbst den Drang, mir darüber klar zu werden, warum gerade das Meer?…
"Gegen Abend, es war kühl, und ich zitterte ein wenig; teils weil es kühl war, teils aus Erregung. Wir standen am Strand. Ich, etwa fünf Jahre, an der Hand meines Vaters, und mein kleiner Bruder Michael, vierjährig. Wir schauten aufs Meer hinaus - das erste Mal in unserem Leben.
Mein Vater war sehr stolz, uns das Meer zu zeigen. Er war immer sehr stolz auf sein Meer: die Ostsee bei Travemünde. Kurz ehe wir die lange Reise von München ans Meer antraten, erzählte er uns, wie er als kleiner Junge dem neuen Kindermädchen, das aus Sachsen kam, mit Stolz sein Meer gezeigt hatte. Und sie stand da, auf breiten Beinen, schaute hinaus und sagte: '´s is hibsch, aber ich hätt mers hibscher gedacht.' Das muß eine furchtbare Enttäuschung oder sogar Beleidigung für meinen Vater gewesen sein, die er der Sächsin nie verziehen hat.
Unter keinen Umständen wollte ich ihm eine ähnliche Enttäuschung bereiten! Doch dazu bedurfte es keinerlei Anstrengung, denn ich war einfach benommen vom Anblick des Meeres: seine Farbe, das Plätschern der Wellen, der Salzgeruch… " (Mann Borgese 1999, S.17).
In diesem ersten Kontakt sieht die Tochter von Thomas Mann den emotionalen Ursprung für ihre lebenslange Beschäftigung mit dem Meer. Leider verlief meine erste Begegnung mit dem Meer weit weniger spektakulär, bzw. habe ich keinerlei Erinnerung daran: Ich war nicht einmal ein Jahr alt, als ich auf Elba zum ersten Mal am Strand saß. Ein Film zeigt mich damals nicht allzu begeistert: Ich schrie viel und versuchte den Sand zu essen, der mir jedoch wenig schmeckte. Trotz dieser negativen Ersterfahrung scheine ich jedoch auf den "Geschmack" gekommen zu sein. Denn ich kann mich nicht erinnern, dass ich bei einem ersten Blick, den ich nach längerer Abwesenheit auf das Meer werfen konnte – sei es in einem chilenischen Bus sitzend, eine holländische Stranddüne erklimmend oder auf Teneriffa aus dem Flugzeug steigend - jemals von diesem Anblick enttäuscht gewesen wäre. Egal, wie stark ich mich während meiner kontinentalen Daseinsphasen nach dem Meer gesehnt und mir in meinem Inneren ein maritimes Idealgebilde konstruiert habe, das bei einer Konfrontation mit der Realität förmlich nach Enttäuschung schrie, sobald ich mich leibhaftig wieder vor dieser gewaltigen Wassermasse befand, spürte ich einfach nur Benommenheit, Erregung und Glück….
Bewusst beeindruckt hat mich das Meer zum ersten Mal mit sechs Jahren, als wir meine Tante in Indonesien besucht haben. Wir saßen am Strand, aßen Erdnüsse und beobachteten den Sonnenuntergang im Meer. Die großen Wellen des indischen Ozeans waren schon etwas ganz anderes als das meist friedliche Geplätscher des Mittelmeers, das für mich in meinen bisherigen Urlauben vor allem einen überdimensionalen Sandkasten nebst Pool dargestellt hatte. Einige Tage später fuhren wir mit einem Boot zu einem Korallenriff zum Schnorcheln. Die bunte Vielfalt, die sich meinen Augen darbot, faszinierte mich, aber am intensivsten erinnere ich mich an die Stelle, wo das Riff urplötzlich abfiel und sich eine riesige, dunkle Tiefe auftat. Mehrmals schwamm ich einige Meter in diese dunkelblaue Welt hinein, wurde aber bald von einer unbestimmten Angst erfasst und kehrte schnell zum "sicheren" Korallenriff zurück.
Ein Jahr darauf zogen wir nach Teneriffa, wo ich fünf Jahre, und somit einen Großteil meiner bewussten Kindheit, lebte. Der entfesselte Atlantik rund um diese Lavainsel hat mein Bild vom Meer bis heute wohl am stärksten geprägt. Meist fuhren wir zum Baden an einen Strand, dessen heller Sand extra aus der Sahara angeschifft worden war und den eine künstliche Mole vor der Brandung des offenen Meeres schützte. Wenn ich heute an diesen Strand komme, sitze ich am liebsten auf einem großen Felsen dieser Mole, vor mir das weite, wilde Meer, in meinem Rücken sein "gezähmtes" Gegenstück.
Aber wir fuhren auch an ungeschützte Strände, deren schwarzer Lavasand dem Meer eine tiefblaue und bisweilen bräunliche Farbe verlieh. Dort machte ich auf einem kleinen Styroporbrett liegend oder einfach nur "bodysurfend" erstmalig hautnah Bekanntschaft mit der Gewalt der Wellen und spürte den Sog der Meeresströmung. Diese Erfahrungen, die ich meist in der schützenden Nähe meines Vaters machte, und die Geschichte von Bekannten, die an einem dieser Strände von einer Strömung erfasst worden waren und im offenen Meer um ihr Leben schwimmen mussten, haben mir schon früh die Gefahren des Meeres gezeigt.
Zurück in Deutschland vermisste ich vor allem meine Freunde. Mit dem Meer und seinen Stränden war für mich eher ein riesiges Spiel- und Bewegungsareal verloren gegangen, für das ich in staubigen Basketballhallen Ersatz suchte. Bewusste Sehnsucht nach dem Meer erlebte ich erst einige Jahre später. Ausschlaggebend waren dafür zwei konkrete Glücksmomente: An der französischen Atlantikküste stand ich mit 19 Jahren zum ersten Mal einige Sekunden auf einem Surfbrett und erlebte das unbeschreibliche Gefühl von einer Welle getragen zu werden. Wenige Monate später fühlte ich mich während eines Segeltörns mit der Schulklasse vollkommen frei und schwerelos, als ich in dem Netz unter dem Bugspriet lag und über das Meer "flog". Es war als hätten diese zwei Augenblicke ein lange in mir schlummerndes Bedürfnis nach diesem nassen Element meiner Kindheit geweckt, und zu meinen guten Vorsätzen für jedes neue Jahr gehört seitdem, mindestens zweimal ans Meer zu fahren. Interessanterweise beschlich mich bei diesen Reisen immer öfter ein heimatliches Gefühl. Ich war landschaftlich hin- und hergerissen zwischen den saftig-grünen Allgäuer Hügeln meiner frühen Kindheit, den schroffen, kakteenbewachsenen Lavabergen und Schluchten Teneriffas und der flachen Schotterebene des Münchener Umlandes und dass führte zunehmend dazu, dass ich das Meer, und speziell den Atlantik, zumindest landschaftlich und emotional zu einer variablen Wahlheimat erklärte. Auch in komplizierten Lebenssituationen oder vor schwierigen Entscheidungen diente mir diese unendliche, sich fast immer bewegende Fläche vermehrt als eine Art Refugium und gleichzeitig als Katalysator um meine ländlich-erstarrten Gedanken wieder in kreative Wallung zu bringen.
Nachdenken musste ich nicht lange, als ich mich nach dem Vordiplom dazu entschied, zwei Auslandssemester an der "Universidad de La Laguna" auf Teneriffa zu studieren. In diesen zehn Monaten hatte ich den bis dato wohl intensivsten Kontakt mit dem Meer. Hierbei ist mein maritimes Bild vor allem differenzierter geworden. Drei bis viermal in der Woche fuhr ich im Morgengrauen mit dem Bus an einen felsigen Küstenabschnitt, wo ich in der direkten Auseinandersetzung mit den oft stürmischen Wellen des Atlantiks mühsam das Wellenreiten erlernte. In dieser langen Zeit gab es keine zwei Tage, an denen das Meer auch nur annähernd identisch war. Ständig veränderten sich seine Farbe, die Höhe der Wellen, die Richtung, aus der sie kamen, wie sie brachen (je nach Ebbe- oder Flutzeitpunkt), die Strömungen, der Wind… Ich erkannte, dass das Meer mit seinen wetter- und wellenabhängigen “Stimmungsschwankungen” eine ideale Projektionsfläche für das eigene Innenleben darstellt. Egal ob im Einklang mit oder als Kontrast zu meinem Inneren kann es mir mein jeweiliges Befinden vor Augen führen.
Bei meiner Rückkehr nach München fehlte mir das Meer nicht nur als "Stimmungslandschaft", sondern ich fühlte mich vor allem in den Straßenschluchten dieser flachen Stadt eingeengt. Keinerlei Fernblick und kein beruhigender Horizont war meinen inselgewöhnten Augen mehr gegönnt, und allein der Anblick von vereinzelten Flächen wie der der Theresienwiese war ein schwacher Trost. In dieser Zeit des "Meeresentzugs" fing ich auch an, mich mit dem Meer und seiner Wirkung auf meine Psyche gedanklich und wissenschaftlich auseinanderzusetzen.
Bei meiner nächsten körperlichen Auseinandersetzung mit dem marokkanischen Ozean war ich von einer eben erst auskurierten Lungenentzündung stark geschwächt und spürte zudem eine aufkommende Grippe. Ich stürzte mich trotzdem mit meinem Surfbrett in die langersehnten Wellen, ließ mich von ihnen innerlich (vor allem die Nebenhöhlen) und äußerlich durchspülen und fühlte mich nach drei Tagen wieder erstaunlich gesund und voller Energie. Dass diese maritime "Heilung" gewisse psychosomatische Züge hatte, halte ich für sehr wahrscheinlich.
Neben meinen direkten Erfahrungen haben auch Medienberichte mein Meeresbild geprägt. Dazu gehören Umweltkatastrophen, wie nach dem Untergang des Öltankers Prestige vor der galizischen Küste, und natürlich die Flutwelle am 26.12.2004 in Südostasien. Die erschreckenden Bilder aus Asien bewirken bei mir zwar keine allgemeine Angst vor dem Meer, verstärken aber meinen Respekt: Respekt vor der Gewalt, die dort unter der Meeresoberfläche schlummert und sich unserer Kontrolle entzieht.
Während ich dieses Buch schrieb, hat ein tragisches Ereignis meine Beziehung zum Meer noch einmal intensiviert. Meine Schwester Verónica, die die letzten sechs Jahre am Meer gelebt hatte und es ähnlich liebte wie ich, verstarb an den Folgen eines Autounfalls in Kenia. Seitdem vollziehe ich an jeder neuen Küste, an die ich komme, ein maritimes Blumenritual, wie es auch in Hawaii zu Gedenken an die Toten begangen wird. Ich flechte eine Blumenkette, begebe mich auf das Meer (meist mit Hilfe eines Surfbretts) und überlasse sie dort der blauen Weite. Auf diese Weise gedenke ich meiner geliebten Schwester und trage sie symbolisch in alle Ozeane und Meere dieser Welt.
Nach meinem Studium bin ich an die deutsche Küste nach Sylt gezogen und habe dort als Psychologe in einer Fachklinik gearbeitet. In dieser Zeit fing ich auch an, erste Stress-Coachings an einer Strandsauna anzubieten. Die Ergebnisse meiner empirischen Studie waren dabei eine große Hilfe, um mein lange in mir schlummerndes Konzept („Coaching am Meer“) umzusetzen.
Während ich mein Buches für die zweite Auflage überarbeite sitze ich in einer abgelegenen Bucht im Südwesten Portugals, wo ich mittlerweile den Großteil meiner Burnout Coachings durchführe. Es ist immer wieder schön zu beobachten, wie sich viele der in diesem Buch gesammelten Erkenntnisse in der Praxis bestätigen, sowohl bei meinen Coaching Teilnehmern als auch nach wie vor bei mir.
Stehe ich heute vor dem Meer und betrachte die Wellen oder den gewölbten Horizont, spielen all meine biographischen Meereserfahrungen zusammen. Was ich wahrnehme, fühle und denke und sogar wie ich mich gegenüber dieser Wasserfläche verhalte, hängt von der Bedeutung ab, die das Meer im Laufe meines Lebens für mich erlangt hat. Ich erlebe nicht nur einen geographischen Ort, wie er in Büchern der Ozeanographie beschrieben wird, oder einen Lebensraum für Tiere und Pflanzen, mit denen sich die Meeresbiologen beschäftigen. Das Meer, wie es in den Köpfen der Menschen existiert, lässt sich nicht innerhalb geographischer, geologischer oder biologischer Koordinaten fixieren. Es wird zu einer subjektiven und individuellen Konstruktion, in die jeweils die persönlichen Erfahrungen sowie gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten mit eingehen. Der Naturraum ist zu einem Bedeutungsraum geworden und das Meer zu einem sozialpsychologisch relevanten Thema.
Aus meinem persönlichen Meereszugang ergibt sich auch die für mich relevante Fragestellung: Warum definieren die Menschen das Meer so, wie sie es tun und welchen Sinn und welche Wirkung hat diese Definition?
Mich interessiert genau diese subjektive Dimension vom Meer. Ich möchte erfahren, was das Meer für die jeweiligen Menschen bedeutet und wie diese Bedeutung von ihnen "gemacht" wird. Und ich will wissen, welche Konsequenzen das für sie und andere hat: Führt es zu positiven oder negativen Emotionen angesichts seiner Wassermassen, zu einem umweltbewussten Umgang mit dem Meer oder zu bloßem Konsum, zu Respekt vor den Gewalten des Meeres oder zu einem allzu sorglosen Badeverhalten, zu einer thalassotherapeutischen1 Aufgeschlossenheit oder Scheu, zur maritimen Anregung der Phantasie oder zum bloßen Faulenzen am Strand…?
Die Flutwelle in Asien hat meiner Arbeit eine tragische Aktualität verliehen. Inwieweit haben diese Katastrophe und die damit verbundene mediale Bilderflut den maritimen Bedeutungsraum der Betroffenen vor Ort aber auch der Zuschauer und Leser in ihren Wohnzimmern verändert?
Ausgerüstet mit psychologischen Methoden der Analyse und Interpretation werde ich versuchen in den maritimen Bedeutungsraum der Menschen einzutauchen, um ihn in seiner ganzen Weite und Tiefe zu beschreiben, zu interpretieren und hoffentlich etwas dazu beizutragen, dass wir ihn besser verstehen können.
1 Thalassotherapie: Umfassende medizinische Kur, bei der die Heilkraft des Meeres und seiner Bestandteile (z.B. Salzwasser, Algen, Meerschlamm…) genutzt wird.
Die literarische Perspektive: Das Meer als Inspiration und Metapher
Inwieweit hat sich die Psychologie bisher mit dem Meer auseinandergesetzt?
Gibt man die Begriffe "Meer" und "Psychologie" in eine Internetsuchmaschine ein, erscheinen neben zahllosen Verweisen auf die Berliner Psychologieprofessorin Erika van der Meer lediglich einige Seiten, die Entspannungskassetten mit Meeresgeräuschen anbieten.
Über die Begriffe "marine" und "psychology" gelangt man immerhin auf die Webside eines amerikanischen Psychologiedozenten, der in Erwägung zieht, irgendwann ein Seminar namens "Marine Psychology" anzubieten. Ein Mailkontakt ergibt allerdings, dass sein Seminarprojekt, in dem er neben Wahrnehmungsexperimenten mit Fischen auch auf das psychologische Verhältnis der Menschen zum Meer eingehen wollte, wegen fehlender Fachliteratur zu diesem Thema mittlerweile wieder gestorben ist.
Auf den ersten Blick scheint das Meer demnach wirklich psychologisches "Neuland" zu sein.
Dass es das Erleben der Menschen aber immer schon beschäftigt hat und auch heute noch beschäftigt, zeigt die Vielzahl an Sagen, Romanen, Liedern und Gedichten, in denen die See eine Hauptrolle spielt. Sie zeugen nicht nur von der zeitlosen Aktualität meines Themas, sondern vor allem auch davon, dass der Ozean schon immer Geschichtenerzähler, Sänger und Schriftsteller inspiriert hat: "Es ist kein Wunder, daß die Annalen der Literatur von den Ozeanen ebenso voll sind wie die der Malerei und Musik - von Homer und den griechischen Tragödiendichtern bis hin zu Joseph Conrad, Baudelaire, Verlaine, Melville, Thomas Mann und späteren Autoren. Religionen waren die größte Inspiration für die Künste. Und der Ozean liefert religiöse Inspiration" (Mann Borgese 1999, S. 79).
Gleichzeitig lässt sich in den unterschiedlichen Werken auch die Subjektivität der Meereserfahrung erkennen. In der Belletristik stellt das Meer weit mehr als einen landschaftlichen Hintergrund dar, vor dem sich die Handlung entfaltet. Es wird zu einer Metapher für das Chaos, die Freiheit, das Leben etc. und spiegelt dadurch den subjektiven Bedeutungsraum wider, den das Meer für den jeweiligen Autor einnimmt.
Ein frühes Beispiel hierfür ist Homers Odyssee. Im Zentrum dieses ca. 800 v.Chr. geschaffenen Meisterwerks stehen die märchenhaften Abenteuer, die der während seiner Heimkehr aus Troja zehn Jahre auf den Meeren umherirrende Odysseus erlebt.
Indem Homer von Odysseus' Seereise erzählt, spricht er letztlich auch vom Leben und von der Welt als eine Art metaphysische Herausforderung, der sich der Mensch auf seiner "Lebensfahrt auf dem Meer der Welt" (Hönig 2000, Titel) stellen muss. Laut Christoph Hönig findet sich dieser Topos der Lebensfahrt in der Literatur immer wieder. Das Meer ist darin ein Bild der Welt: unüberschaubar, von trügerischer Glätte, aufgewühlt von Stürmen, den Schicksalsschlägen, voller verborgen lauernder Gefahren und Ungeheuern, den Fährnissen des Lebens (vgl. Hönig 2000, S. 29f).
Auch das homerische Meer ist voller mythischer Bedrohungen, die sich Odysseus ein ums andere Mal entgegen werfen und an denen er im Laufe seiner "Lebensfahrt" langsam wächst.
Besonders deutlich wird dies, wenn der Held in einen der zahllosen Meeresstürme gerät. Poseidon, Herr über die Meere und Feind des Odysseus, da dieser seinen Sohn Polyphem geblendet hat, schickt eine "fürchterlich strudelnde Brandung" (Homer 1975, S. 78) nach der nächsten, um sich an ihm zu rächen:
"Also sprach er, versammelte Wolken und regte das Meer auf
Mit dem erhobenen Dreizack; rief itzt allen Orkanen,
Aller Enden zu toben […] und wälzte gewaltige Wogen.
Und dem edlen Odysseus erzitterten Herz und Knie" (Homer 1975, S. 75).
Das Weltmeer, dem der Mensch scheinbar ausgeliefert ist, erscheint hier als ein göttliches Instrument der Rache und der Strafe. Und dennoch überlebt Odysseus den göttlichen Zorn, indem er die "Gewalt des Meeres" (Homer 1975, S. 77) als Herausforderung annimmt und nicht aufgibt:
"Also zerstreute die Flut ihm die Balken. Aber Odysseus
Schwang sich auf einen und saß wie auf dem Rosse der Reiter" (Homer 1975, S. 77).
In dem Kampf mit der übermächtigen Brandung des Meeres gewinnt der Held zunehmend an Stärke und Selbstvertrauen.
Neben den Stürmen wartet noch eine weitere, von göttlicher Hand gesteuerte Bedrohung im Meer:
"Oder ein Himmlischer reizt auch ein Ungeheuer des Abgrunds
Wider mich auf, aus den Scharen der furchtbaren Amphitritie, Denn ich weiß es, mir zürnt der gewaltige Küstenerschüttrer!" (Homer 1975, S. 79).
Charybdis, ein wassereinsaugender Schlund, und Szylla, ein sechsköpfiges menschenfressendes Monster, sind zwei dieser Meeresbestien, gegen die der Held während seiner Odyssee bestehen muss (vgl. Homer 1975, S. 173f).
Wesentlich reizvoller, aber nicht minder gefährlich sind die Sirenen, an denen Odysseus vorbeisegelt. Aufgrund ihres süßen Gesangs, mit dem sie ihre Opfer anlocken, könnten sie die Verlockungen verkörpern, die das Meer für uns bereithält. Der Held erfasst jedoch die Übermacht dieser maritimen Sehnsucht und entgeht der Unwiderstehlichkeit der Meeresgeschöpfe durch eine List:
"Hierauf ging ich umher und verkleibte die Ohren der Freunde.
Jene banden mich jetzo an Händen und Füßen im Schiffe,
Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen" (Homer 1975, S. 175).
Von seinen Kameraden an den Mast gefesselt, kann er den Sirenen zuhören und sogar der Verlockung nachgeben, ohne in reale Gefahr zu geraten. Er hat dadurch nicht nur die mythischen Wasserwesen, sondern auch seine eigene "Meeressehnsucht" überlistet.
Fasst man das in der Odyssee dargestellte Meer und seine mythischen Gefahren als göttliche Herausforderungen auf, dann kann die Irrfahrt symbolisch für das ganze Leben stehen. Die Meeresmetapher hat es Homer erlaubt, die Sehnsüchte, Gefahren und Bewährungsmöglichkeiten im Lebenskampf des Menschen kunstvoll darzustellen.
Von einer langen Seefahrt handelt auch ein anderer Klassiker der Weltliteratur:
"Nennt mich Ismael. Ein paar Jahre ist´s her – unwichtig, wie lange genau -, da hatte ich wenig bis gar kein Geld im Beutel, und an Land reizte mich nichts Besonderes, und so dachte ich mir, ich wollte ein wenig herumsegeln und mir den wässerigen Teil der Welt besehen. Das ist so meine Art, mir die Milzsucht zu vertreiben und den Kreislauf in Schwung zu bringen. Immer wenn ich merke, daß ich um den Mund herum grimmig werde, immer wenn in meiner Seele nasser, niesliger November herrscht; immer wenn ich merke, daß ich vor Sarglagern stehenbleibe und jedem Leichenzug hinterhertrotte, der mir begegnet; und besonders immer dann, wenn meine schwarze Galle so sehr überhandnimmt, dass nur starke moralische Grundsätze mich davon abhalten können, mit Vorsatz auf die Straße zu treten und den Leuten mit Bedacht die Hüte vom Kopf zu hauen - dann ist es höchste Zeit für mich, so bald ich kann auf See zu kommen. Das ist mein Ersatz für Pistole und Kugel. Mit einer stoischen Sentenz stürtzt Cato sich in sein Schwert; ich gehe still an Bord. Daran ist nichts Überraschendes. Von Zeit zu Zeit hegen fast alle Menschen, ob sie´s wissen oder nicht, in etwa dieselben Gefühle für das Weltmeer wie ich" (Melville 2003, S. 33).
Mit diesen Sätzen beginnt Herman Melvilles weltberühmter Roman um den sagenumwobenen weißen Wal "Moby-Dick". Seine Handlung spielt hauptsächlich auf hoher See, fern jeglicher Zivilisation. Das Meer erscheint als eine fast grenzenlose, ebenso großartige wie gefährliche Gegenwelt zum leichteren Leben an Land. Der Erzähler Ismael bedarf dieser Gefahr und Herausforderung der See wie einer Therapie, um die Melancholie, die er nach einiger Zeit an Land verspürt, zu überwinden. Das Meer bedeutet für ihn vor allem gedankliche Freiheit, die Möglichkeit zu grenzenloser Spekulation. Er macht die Erfahrung, "daß alles tiefe, ernste Denken nur der Seele unverzagtes Mühen ist, ihr Meer sich weit und unabhängig zu bewahren, derweil des Himmels und der Erden ungestüme Winde sich verschwören, um sie am trügerischen Sklavenufer an den Strand zu werfen" (Melville 2003, S. 189).
Trotz dieser Vorzüge, bleibt die See in diesem Roman, der 1851 erschien, gleichzeitig "der Erbfeind des Menschen, des Fremden in ihrem Reich" (Melville 2003, S. 441), dem sie sich auch niemals unterwerfen wird: "Gnade kennt sie nicht und keine fremde Macht, die sie beherrschen könnte. Schnaubend und schäumend wie ein zügelloses Schlachtroß, das seinen Reiter abgeworfen, überrennt der herrenlose Ozean den Erdenball" (Melville 2003, S. 442).
Der Mensch, dessen Wissen und Können immer mehr anwächst, ist sich dieser maritimen Gefahr jedoch immer weniger bewusst, denn er hat "das Gespür für den ehrfurchtgebietenden Schrecken der See verloren, der ihr seit Urzeiten anhaftet" (Melville 2003, S.441).
Dieses Bild vom Meer hängt stark mit Herman Melvilles persönlichen Erfahrungen zusammen. Als 21jähriger heuerte er auf einem Walfänger an und verdiente sich knapp vier Jahre lang als einfacher Seemann mühsam sein Brot.