Die Meergeborenen - Thomas Hoffmann - E-Book

Die Meergeborenen E-Book

Thomas Hoffmann

0,0

Beschreibung

"Damals ahnten wir nicht, welchen Fluch wir in der unterirdischen Grabanlage lostraten. Drachenschiffe sind an der Küste gelandet. Die Toten kehren zurück. Und ich habe keine Ahnung, wie wir den Fluch noch aufhalten könnten..." Kurz vor Wintereinbruch sendet der Burgherr von Dwarfencast Leif Brogsohn, seinen besten Freund Sven und die von beiden leidenschaftlich geliebte Katrina zusammen mit Lyana, der Waldläuferin, erneut aus. Ihr Auftrag: ein mächtiges magisches Artefakt aus einer Ruinenstadt im Norden zu bergen. Leifs Lehrmeisterin Ligeia warnt sie vor dämonischen Schattenmächten, die ihnen unterwegs auflauern werden. Doch die schlimmste Gefahr für das Leben der Gefährten sind nicht die Dämonen. Es ist die schwarze Hexe Ligeia. Ligeias dunkler Blick lag auf mir. Ich wollte mich wehren gegen den Zauber, den sie über meinen Verstand legte, aber ich konnte ihren schönen, schwarzen Augen nicht widerstehen. Ich liebte sie. Ich wollte mich nicht verteidigen. Ein Funkeln trat in ihre Augen. "Du glaubst," flüsterte sie, "du könntest irgendwann stark genug werden, um gegen mich zu kämpfen. Dazu wird es niemals kommen, Leif." "Ich will nicht gegen dich kämpfen, Ligeia," sagte ich kläglich. "Ich bin dein Schüler..." Ihre Stimme war nur noch ein Raunen. "Das bist du. Es ist Teil unserer Abmachung, Leif. Ich schenke dir meine Liebe, lehre dich Magie und führe dich in die schwarze Kunst ein. Und du..." Mir war nur zu klar, was ich ihr versprochen hatte: mein Leben. "Ja, Ligeia." Meine Stimme wurde brüchig. "Wirst du mir helfen, die alte Gralsmagie wiederzuentdecken?" "Ich tue alles für dich, Ligeia..."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 993

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Hoffmann

Die Meergeborenen

Roman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

Quellenverzeichnis

Impressum neobooks

1.

Regenschauer peitschten über die Steilküste, als wir aus den Wetterbergen in die Küstenebene herabkamen. Durch den Regen drangen Todesschreie an mein Ohr. Todesschreie von Seeleuten, deren Schiffe ich mit den Männern meines Heimatdorfs auf Klippen gelockt, gekapert und versenkt hatte. Sie mischten sich mit den Schreien verbrennender Mönche, dem Brüllen der Flammen in einem einstürzendem Kloster.

Du bist entkommen. Du bist ihnen allen entkommen. Selbst ihr...

Ich blieb stehen. Die Gefährten gingen voraus dem dunkel aufragenden Turm entgegen, dessen Silhouette auf einer der Steilküste vorgelagerten Klippe stand. Meine Wolljacke war schwer vom Regen, Wasser rann mir übers Gesicht. Es war egal. Die Stimmen und Bilder in meinem Kopf wurden übermächtig.

Eine blutige Hand reckt sich mir aus einem Kuttenärmel entgegen. Jemand schreit um Erbarmen. Das Geräusch von Stahl, der in Fleisch schlägt. Beißender Rauch in meinen rasselnden Lungen, mein Arm schmerzt vom Parieren der Schwertschläge von allen Seiten. Die hastige Flucht den Felsenbach hinauf, Lyanas verheultes Gesicht im Nachtdämmer.

„Nur ein Buch klauen hatten wir uns vorgenommen,“ hatte sie geschrien, „ohne dass jemand dabei zu Schaden kommt!“

Das niederbrennende Kloster unter uns. Der plötzliche Angriff im Dunkeln, der Blutschwall aus Lyanas Stiefel, mein verzweifelter Hilferuf, dann sie, Ligeia:

„Ich kann ihr kein Leben geben, Leif, ich habe selbst nicht genug davon... Es sei denn, du...“

Blut und Flammen. Geruch von Opferkräutern. Der Geruch der schwarzen Magie. Blut rinnt Lyana über die Lippen: mein Blut. Und mit einem Mal alle Eindrücke übertönend Wielands Stimme:

„Seht zu, dass ihr von ihr loskommt. Andernfalls geb' ich keinen Viertelkreuzer mehr für euer Leben.“

Ligeia. Noch gestern hatte ich geglaubt, sie würde uns töten. So, wie ich es in jener Vollmondnacht geglaubt hatte, in der sie mich auf ihren Opferhügel gerufen hatte, mir das Blut des Ziegenbocks zu trinken gab, um dann mein eigenes zu trinken. Sie hatte uns gehen lassen – mit dem Buch, um dessentwillen wir in den Nordbergen unser Leben aufs Spiel gesetzt hatten, das sie unbedingt ausgeliefert haben wollte. Nun brachten wir es unserem Auftraggeber, dem Herrn von Dwarfencast, der Turmburg auf der Klippe.

Ich blickte über die grasbewachsene Ebene. Der Küstenwald im Süden war kahl. Graue Äste schwankten im stürmischen Herbstwind. Von dort aus wanderte mein Blick die Hügelreihe im Landesinneren entlang. Im Norden wurden die Hügel höher und zerklüfteter. Dort verdienten sie den Namen „Wetterberge“ noch am ehesten. Ich dachte an das Moor hinter den Wetterbergen – ihr Moor – und die schneebedeckten Gipfel der Nordberge jenseits davon.

Einsames, von Geistern heimgesuchtes Land. Land versunkener Königreiche, verschollener vorzeitlicher Heiligtümer. Land der Schatten, in denen der Fluch vergangener Kriegswirren lauert. Land dunkler Prophezeiungen von der Wiederkunft alten Unheils, wo Hexen und Alchimisten den Mythen vergangener Macht auf der Spur sind...

Es war das Land meiner Träume. Vor Jahren schon hatte ich von diesem Land geträumt, wenn ich in dem alten, von Schimmel und Feuchtigkeitsflecken befallenen Reisebericht las, den ich in der Hütte meines Vaters aufgestöbert hatte. Und noch heute frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wenn mein Vater mich nicht gezwungen hätte, lesen zu lernen. Wahrscheinlich hätte ich mein achtzehntes Lebensjahr nicht überlebt, in welchem Sven und ich mit Katrina, dem fremden Mädchen, das zuvor lange unter den Soldaten gelebt hatte, aus Brögesand fortgingen. Nicht lange nach unserem Auszug wurde unser Dorf wie alle Siedlungen längs der Küste zwischen Torglund und Wedderhaven von den Soldaten der Torglunder Kriegsschiffe geschleift. Ich weiß nur deshalb davon, weil ich damals meiner Mutter versprochen hatte, sie einmal wieder zu besuchen. Ich sah sie nie wieder.

Katrina war vom Zufall getrieben in unser Dorf gelangt, nachdem der Mann, der für wenige Monate ihre große Liebe gewesen war, sie für eine andere Frau verlassen hatte: Andreas Amselfeld, Armeearzt und Universitätslehrer. In der Expeditionsarmee des General Wolfart auf dem Marsch in das Grenzfürstentum Greifenhorst war Katrina ihm begegnet. Die Monate mit ihm waren vielleicht die glücklichsten ihres Lebens gewesen. Jetzt, zweieinhalb Monate nach unserem gemeinsamen Aufbruch aus Brögesand, befanden wir uns im Land meiner Abenteuerträume. Aber ich fand es nicht so, wie ich davon geträumt hatte.

Lyana blieb stehen und schaute zu mir zurück. Sie wusste, was mir durch den Kopf ging. Seit Ligeia ihr oben in den Nordbergen mit schwarzer Magie und meinem Blut das Leben gerettet hatte, hatte sie Teil an meinen Gedanken. Das in Lederwams, Lederhosen und Stiefel gekleidete Mädchen kam zurück und legte mir die Hand auf die Brust. Ihr dunkelblondes, vom Stirnband gehaltenes Haar trug sie offen im Regen. Den Bogen hatte sie abgespannt auf die große Ledertasche geschnallt, die sie am Riemen über die Schulter gehängt trug. Ihr Schwert in der versilberten, mit Ornamenten versehenen Scheide trug sie an der Seite. Ihre Waldläuferkleidung war dunkel vor Nässe.

Nichts an ihrem Äußeren deutete auf ihre jüngere Vergangenheit hin. In der Hafenstadt Torglund war die siebzehnjährige Hafendirne uns über den Weg gelaufen. Katrina rettete sie vor einem wütenden Freier, den sie bestohlen hatte und überredete sie, mit uns zu kommen. Aufgewachsen war Lyana in den Urwäldern des Südens. Ihr Vater war Fallensteller gewesen. Ihre Irrfahrt über die Landstraßen, durch die Gossen und Barrackensiedlungen der Vorstädte des Reichs hatte nach dem Tod ihres Vaters begonnen. Eine alte Frau rettete sie vor dem Verkommen in der Gosse, indem sie ihr den Wahrspruch mit auf den Weg gab, was ihr Herz suche, werde sie erst weit im Norden finden. Seitdem war sie unterwegs nach Norden. Und seit wir beim Abstieg aus dem Gebirge weiter nördlich große Urwälder erblickt hatten, wusste ich, dass diese Wälder ihr Ziel waren. Ich hatte ihr versprochen, nach der Schneeschmelze mit ihr dorthin zu gehen. Fall es mir gelang, Ligeia zu entkommen...

Lyana sah mich still an. „Wir finden einen Weg. Zusammen kommen wir durch.“

Es war unser Wahlspruch, seit wir vier gemeinsam unterwegs waren. Wir folgten Katrina und Sven, die dem Turm entgegengingen.

Über die Pferdekoppel und das angrenzende Stallgebäude gegenüber der Turmburg peitschte der Regen. Das Koppelgatter und der Zaun des kleinen Kräutergartens waren schwarz vom Regen. Am Gatter der Koppel standen aneinander gedrängt zwei Ponys. Ihre Felle trieften vor Nässe.

Wenige Möwen segelten hoch oben um die Zinnen Dwarfencasts. In den Dachfenstern des obersten Turmgeschosses leuchtete gespenstisches blaues Licht auf. Es leuchtete um so heller, je näher wir der schmalen, geländerlosen Steinbrücke kamen, die zum Turm hinüberführte. Ich spürte das vertraute Knistern in den Haaren und wider Erwarten fühlte ich Wiedersehensfreude in mir hochsteigen.

„Dwarfencast begrüßt uns.“

Die Ponys hoben die Köpfe und sahen uns schnaubend entgegen. Katrina ging zu ihnen und öffnete das Gatter. Lyana betrat mit ihr die Koppel.

„Wartet einen Moment, wir bringen die Ponys in den Stall. Der fette Koch und der altersschwache Turmverwalter können sich wohl nicht einigen, wer von den beiden sich um die Ponys kümmern soll und drücken sich beide davor.“

Kat sprach tröstend auf das graue Pony des Kochs ein, während sie es in den Stall führte. Ihr flachsblondes Haar hatte sie unter der Kapuze des Lodenmantels verborgen, den ich ihr vor unserer Expedition auf dem Markt von Grobenfelde gekauft hatte. Ihre hohen Stiefel glänzten vor Nässe. Lichthüter, ihr magisches Schwert, baumelte an ihrer Hüfte.

Sven und ich warteten am Gatter, während die Frauen sich um die Ponys kümmerten. Ich blickte zum Kräutergarten hinüber. In der Mitte des Gartens ragte eine Holzstele aus einem mit jungen Eibensträuchern umpflanzten Beet. Die Grabstele stellte eine stark stilisierte Frau dar.

„Zosimo hat seiner Mutter die letzte Ehre erwiesen,“ meinte ich zu Sven.

Er nickte schweigend. Regenwasser troff ihm vom Helm und rann ihm über Nase und Kinn. Sven zog durch die Nase hoch und wischte sie sich mit dem Ärmel seiner nassen Wolljacke ab.

Sven Bredursohn, der Sohn des Dorfschmieds von Brögesand, war mein bester Freund. In Dwarfencast war er Schüler der Waffenmagie bei unserem Dienstherrn Zosimo Trismegisto geworden. Lichthüter war sein Gesellenstück, die kostbarste Waffe, die er je geschmiedet hatte. Er hatte sie Kat zum Geschenk gemacht. Oben in den Bergen hatte Wieland ihn tiefer in die Geheimnisse der Waffenmagie eingeführt. Sven war ein Jahr älter als ich. Seine Statur war zugegebenermaßen diejenige eines Helden. Seine wilde, dunkle Haarmähne trotzte jeder Zähmung durch Kämme oder Bürsten. Wie ich selbst trug er eine wollene Schlupfjacke, Hanfhosen und lederne Mokassins. An der Seite seines Rucksacks glänzte der magische Zweihänder, den Wieland ihm überlassen hatte, bevor wir den Waffenmagier in einer vorzeitlichen Grabanlage aus den Augen verloren. Oben auf den Rucksack geschnallt trug Sven in Leder gehüllt den Folianten, den zu holen wir vor eineinhalb Monaten losgezogen waren, um dessentwillen ein Kloster abgebrannt war, wir Verletzungen und Lebensgefahr durchlitten hatten und noch gestern im Moor nur knapp dem Ertrinken entronnen waren – zur Strafe dafür, dass wir versucht hatten, ihr das Buch vorzuenthalten.

Die jungen Frauen kamen aus der Stalltür. Kat trat zu Sven und mir und stellte sich uns gegenüber. Die Strapazen der vergangenen Wochen standen der Zwanzigjährigen ins Gesicht geschrieben. Doch über ihre Lippen huschte ein Lächeln.

„Dwarfencast hat uns wieder, Jungs.“ Es klang wie eine zärtliche Herausforderung, als sie anfügte: „Freut ihr euch auch so auf ein weiches Bett, wie ich?“

Sie blickte abwechselnd von Sven zu mir. Hätte sie mich allein gefragt, ich hätte sie an mich gezogen und geküsst – lange geküsst, trotz des Regens. Aber neben Sven fühlte ich mich unbehaglich. Ich wusste, dass es ihm genauso ging. Er liebte sie, wie ich auch.

Bald nachdem sie in Brögesand erschienen war, hatten Sven und ich uns in Katrina verliebt. In den vergangenen Monaten hatte sie seine und kurz darauf auch meine Liebe rückhaltlos erwidert und zugleich erklärt, sich an keinen von uns binden zu wollen. Insgeheim, darüber war ich mir sicher, liebte sie Andreas Amselfeld noch immer. Ich hatte ihr versprochen, mit ihr zu gehen, wohin auch immer sie ging. Und dennoch hatte ich die vergangene Nacht auf Ligeias Lager verbracht. Wir hatten uns bis zur Erschöpfung geliebt. Ich wollte es mir nicht eingestehen – doch ich war süchtig nach Ligeias Liebe, nach dem Rausch ihrer Blutopferrituale.

***

Mittag war vorüber, als wir im strömenden Regen die Steinbrücke überquerten. Ich versuchte, nicht in den Abgrund zu schauen, wo sich zweihundert Fuß unter mir die Wellen an den Felsen brachen. Kat sah zu dem verwitterten Wappenschild über dem Torbogen des kleinen Vorwerks auf. Es zeigte eine Flamme, umgeben von Weinreben.

„Das verrottete Schild wird noch abfallen, wenn der Herr Trismegisto sich nicht bald um sein Wappen kümmert.“

Wir mussten lange klopfen, bis sich die Luke in der Torpforte öffnete und das verkniffene Greisengesicht des Turmverwalters in der Öffnung erschien. Stumm öffnete er und ließ uns ein.

Während wir in den Tordurchgang traten, rief er in die Halle: „Smut! Die jungen Herrschaften, die in des gnädigen Herrn Auftrag unterwegs waren, sind wieder da! Man wird hungrig sein, nach der langen Reise - und der Herr wird wünschen, dass sie Speise vorgesetzt bekommen!“

Er drehte uns sein kränklich gelbes, von grauem Haar umstandenes Gesicht zu.

„Es sei denn,“ grinste er listig, „die jungen Leute haben nicht gefunden, wofür sie ausgesandt wurden...?“

„Mach dir keine Sorgen,“ erwiderte Kat. „Wir haben den Auftrag erfüllt - und Dinge herausgefunden, die den Herrn Trismegisto brennend interessieren werden.“

Maßlose Enttäuschung spiegelte sich im Gesicht des Greises.

„Nur herein, junge Herrschaften,“ murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Der Herr wird hocherfreut sein.“

Beim Anblick der von Fackeln erhellten Halle überkam mich eine Flut von Empfindungen. Erschöpfung, Erleichterung und Triumph überwältigten mich gleichzeitig. Kat betrat neben mir die kahle, von vier Mittelsäulen getragene Halle. Unsere Blicke begegneten sich. Kats Augen glänzten. Ein Lächeln zuckte um ihre Lippen.

Wir haben es geschafft, Leif! sagte ihr Blick.

In der Tür zur Küche stand der breitschultrige Koch im schmutzigen, gestreiften Hemd und speckigen Leinenhosen. Der ehemalige Schiffskoch, der sich im abgelegenen Dwarfencast eine Auszeit von seinen Piratenfahrten gab, kratzte sich den Bauch. Sein Gesicht spiegelte Erstaunen und verhaltene Wiedersehensfreude.

„He, Smut!“ Kat streifte die Kapuze vom Kopf und trat hoch aufgerichtet auf ihn zu.

Die beiden musterten sich mit zusammengekniffenen Augen. Ich hatte den Eindruck, beiden spielte ein unterdrücktes Grinsen um die Lippen.

„Bist du auch hübsch artig gewesen, solange ich weg war?“

Der riesige Seeräuber legte sich die Hand auf die Brust und sah Kat mit Hundeaugen an. „Immer! Ich bin immer artig, kleines Fräulein. Ich hab das Mädchen von der Stolka nicht angefasst, Ehrenwort. Nicht mal von hinten auf den kleinen Arsch geguckt hab ich ihr!“

Kat sah ihn misstrauisch an. „Wenn doch - ich bekomm's raus. Du weißt, was ich dir versprochen hab!“

„Ich war kein einziges Mal in Stolkas Wirtschaft! Das können dir alle in Lüdersdorf bestätigen.“ Smut grinste Kat unanständig an. „Es gibt da 'ne Witwe in Lüdersdorf, so in meinem Alter, weißt du? Vielleicht nicht so süß wie die Kleine in der Wirtschaft - aber sei's drum. Die freut sich, wenn ich zu ihr komme, ehrlich!“

Kat verzog den Mund. Mit gespieltem Widerwillen sah sie ihn an.

Smut grinste ironisch. „Stolkas Kleine wird noch zur Nonne werden, so wie die Stolka sie jetzt hält. Die darf ja den Männern nicht mal mehr den Schnaps bringen. Bald wird sie überhaupt nicht mehr wissen, was an einem Mann dran ist. Dann bist du schuld, wenn keiner sie zur Frau nehmen will!“

Kat drehte sich um und ließ Smut in der Küchentür stehen.

„Vielleicht will sie später gar nicht unter die Fuchtel irgendeines Kerls geraten, sondern ihr eigenes Leben leben,“ sagte sie über die Schulter.

„Mannweibergewäsch,“ brummte Smut.

Dann hellte sein Gesicht sich auf.

„So,“ rief er fröhlich, „jetzt geht mal nach oben in den Saal und macht's euch gemütlich. Ich will sehen, was ich auf die Schnelle zaubern kann. Ein richtig gutes Essen bekomm' ich aber erst zum Abend hin!“

***

Wir gingen hinauf in den Saal im ersten Stock, in dessen Mitte umgeben von einem Kreis schlanker Säulen die runde Tafel stand. Hier hatten wir bei unserem vorherigen Aufenthalt gegessen. Wir stapelten das Marschgepäck in einem der Seitengemächer, die den Saal rings umgaben. Gegen die Glasscheiben der hoch gelegenen Bogenfenster trommelte der Regen. Ein kalter Luftzug strömte durch die dämmerige Säulenhalle.

Kat streifte ihren Mantel ab, lehnte ihr Schwert an die Wand und warf sich in einen der gepolsterten Lehnstühle vor dem Kamin. Staub stieg auf, aber sie wedelte ihn weg, als seien verstaubte Sessel das Selbstverständlichste der Welt.

„Endlich,“ seufzte sie zufrieden. „Anderthalb Monate Regen und Sturm und Widerwärtigkeit!“

Sie streckte ihre Füße in den schmutzigen Stiefeln aus und räkelte sich.

„Ich glaube, diesen Winter werde ich nur essen und schlafen und lesen. Wir haben es doch gut erwischt als Auftragsleute dieses Zosimo Trismegisto, was?“

Lyana und ich holten weitere Lehnstühle aus dem nächsten Seitengemach. Sven stapelte Feuerholz im Kamin und entfachte ein prasselndes Feuer. Als die Wärme durch meine nassen Kleider drang, beschlich mich ein Gefühl von Unwirklichkeit. Hier saßen wir in den staubigen Polsterstühlen am Kamin - wir hatten es tatsächlich überstanden. Wie oft hatte ich mich nach diesem Moment gesehnt. Und doch kam es mir so vor, als täuschten wir uns in der Vorstellung, den Gefahren entronnen, in den Mauern Dwarfencasts in Sicherheit zu sein. Zu lebendig stand mir das Erlebte vor Augen.

Wir verfielen in Schweigen. Lyana berührte meine Hand, wie um mich von meinen trüben Gedanken abzubringen. Wir tauschten einen Blick miteinander.

Kat rückte ihren Lehnstuhl zwischen Svens und meinen und betrachtete stumm die Flammen im Kamin.

„Zur Wintersonnenwende endet das Jahrtausend,“ bemerkte sie. „Einen würdigeren Ort als Burg Dwarfencast, die Jahrtausendwende zu feiern, hätten wir kaum finden können.“

Der Gedanke an die Jahrtausendwende verstärkte meine unguten Gefühle.

„Zur Sonnenwende „erwacht das Auge der Weisheit“, warf ich ein, „und wird alle Sünder mit Feuer verbrennen“ – das behaupteten jedenfalls die Mönche.“

Kat zuckte mit den Schultern. „Sie waren ja selber die ersten, die sich das Hirn verbrannt haben, wenn sie durch ihr magisches Vergrößerungsglas nach ihrem „Weisheitsauge“ im Norden starrten.“

„Können wir von was anderem reden?“ fuhr Sven auf. „Dieses brennende Auge kotzt mich an! Ich will nichts mehr davon hören.“

Er hatte im Kloster selbst durch die magische Linse geschaut. Die folgenden Nächte hatten Alpträume ihn gequält. Etwas starre ihn an, hatte er behauptet.

Kat strich ihm mit der Hand über den Oberschenkel. „Wir haben die Scheiße hinter uns!“

Auf der gegenüberliegenden Seite ächzte die Tür zu den oberen Stockwerken. Stiefeltritte hallten durch den Saal. Zosimo Trismegisto, Burgherr von Dwarfencast und letzter Spross eines alten Rittergeschlechts aus Karrakadar, kam uns im fleckigen Leinenwams und abgetragenen Hosen entgegen. Seine Vorfahren hatten den Turm vor Jahrhunderten über den Ruinen eines labyrinthischen Kultorts errichtet, in dessen unterirdischen Gängen und Gewölben sie einen gestohlenen Kultgegenstand des Zwergenvolks vermuteten: den Karrak. Zosimo Trismegisto nannte ihn den „heiligen Gral“. Der Burgherr glaubte zu wissen, wo das Gewölbe sich befand, welches den Gral beherbergte, aber vor unserer Fahrt in die Nordberge war es ihm nicht gelungen, den verborgenen Zugang zu öffnen.

Der graue Haarkranz stand wirr um das breite, narbenversehrte Gesicht unseres Dienstherrn. Der verfilzte Bart, der ihm bis auf die Brust reichte, war von Brandflecken durchsetzt. Wir erhoben uns, um Zosimo Trismegisto zu begrüßen. Er blinzelte uns aus geröteten Augen entgegen, als sei er eben aus dem Schlaf gerissen worden.

Ich machte eine Verbeugung und legte mir eine höfliche Begrüßung zurecht, aber er fuhr uns an: „...und? Habt ihr das Buch?“

Wir vier wechselten befremdete Blicke. Sven ging zu seinem Rucksack, band den in Leder eingeschlagenen Folianten los und trug ihn wortlos zum Tisch in der Saalmitte. Zosimo lief neben ihm her, als müsse er vor Spannung platzen.

Ein dumpfer Knall hallte zwischen den Säulen, als Sven das Buch auf den Tisch fallen ließ. „Bitte sehr. Auftrag ausgeführt!“

Zosimo schnürte mit zitternden Händen den Lederpacken auf. Mit angehaltenem Atem schlug er das Leder zur Seite. Kat und ich wechselten einen Blick.

Genauso fasziniert hat gestern Ligeia auf das Buch gestarrt.

„Bei allen Göttern, das ist es,“ flüsterte Zosimo.

Vorsichtig schlug er den metallbeschlagenen Buchdeckel auf und wendete mehrere der brüchigen Buchseiten um. Dann blickte er auf. Seine Augen blinkten feucht.

„Wie habt ihr es aus dem Kloster herausbekommen?“ Seine Stimme klang belegt.

Kat sah ihm fest in die Augen. „Wir sind hineingegangen, haben die Hälfte der Mönche erschlagen, das Kloster niedergebrannt und das Buch mitgenommen.“

Ich wollte protestieren, aber ich biss mir auf die Lippen. Letzten Endes war unser Versuch, das Buch zu stehlen, genau darauf hinausgelaufen.

In Zosimos Gesicht mischten sich Bewunderung und verhaltener Abscheu. „Das wäre ja nun vielleicht auch nicht nötig gewesen.“

„Und die gesprengte Einsiedelei? Die zu Tode gefolterten Mönche? War das nötig?“ gab Kat zurück.

Der Zwerg sah sie wütend an. „Das war nötig! Sie wollten mich nicht hineinlassen, und sie wollten mir auch keine Auskunft geben.“

„Jedenfalls,“ lenkte ich ab, „habt Ihr jetzt zwei der heiligen Bücher und könnt mit Euren Forschungen fortfahren.“

„So ist es,“ knurrte Zosimo. „Und hätte Sören Zoltan nicht das „Buch der Alchymie“ gestohlen, wären es drei der vier Bücher.“

Ich musste an die Grabstele im Kräutergarten denken. Es war Zosimos Mutter gewesen, die dem vermeintlichen Hausfreund Zugang zur Bibliothek verschafft hatte. Der Vater des jetzigen Burgherrn mauerte die junge Frau lebendig ein, als er den Diebstahl entdeckte. Vor unserem Aufbruch in die Nordberge hatten wir das Tagebuch der Unglücklichen gefunden. In einer Nacht- und Nebelaktion brachen wir ihr Gefängnis auf und begruben ihre sterblichen Überreste in dem Kräutergarten, den sie zu ihren Lebzeiten angelegt hatte.

Smut kam mit einem Tablett voller Schinken, Käse und Töpfen mit Schmalz und Butter in den Saal. Zosimo räumte den Folianten beiseite. Wir setzten uns und langten zu. Unser Auftraggeber aß kaum etwas. Statt dessen ließ er sich von unserer Expedition berichten. Smut kam zum zweiten Mal herein und brachte eine Terrine mit klarer Fleischbrühe. Daneben stellte er eine brutzelnde Pfanne auf den Tisch.

„Bisschen Rührei von Lüdersdorfer Hühnern,“ brummte er.

Er stieß Kat von der Seite an. „Du magst doch Eier, was?“

„Smut,“ rief Kat mit vollem Mund, „eins muss ich zugeben - deine Küche hab ich vermisst!“

Der große Koch grinste. „Ich weiß nicht, ob ich dich vermisst hab, Mädchen. Aber ohne deine freche Gusche hat hier doch was gefehlt.“ Er sah in die Runde. „Jetzt bring ich noch Wein und dann muss es erst mal reichen bis zum Abend.“

Zosimo hörte unseren Reisebericht schweigend an. Kat trug ihm eine geschönte Darstellung unserer Erlebnisse vor. Von Ligeia und von Wieland sprach sie nicht. Dass Sven Wielands magischen Zweihänder Herodin aufgenommen hatte, spielte sie herunter. Auch den Drachentöter, das archaische Schwert, hinter dem Wieland her war, erwähnte sie nicht. Als sie von dem Meergeborenengrab berichtete, das wir in den Ahnenhügeln entdeckt hatten, behauptete sie, dort hätten wir das Rätsel gelöst, dessen Lösung gestern erst Ligeia gefunden hatte: Ihr war klargeworden, wie der Zugang zum verborgenen Gralsgewölbe unter dem Turm zu öffnen war.

Zosimo starrte Kat über den Tisch hinweg an.

„Und?“ keuchte er. „Wie funktioniert es?“

Kat und Lyana sahen sich verschwörerisch an. Lyana ging ins Seitengemach und holte ihr Schwert an den Tisch. Wir hatten es in einem vorzeitlichen Kultort an der Küste gefunden. Zosimo hatten wir davon nie erzählt.

„Grugar: „Zeichen der Priester“,“ erklärte sie. „Die Schwertscheide ist magisch. Nach allem, was wir wissen, öffnet sie den Zugang zum Kultraum.“

Zosimo schnappte nach Luft. Kat verbiss sich ein Grinsen.

„Gleich quellen ihm die Augen aus den Höhlen!“ flüsterte sie mir ins Ohr.

„Und das ist noch nicht alles,“ rief ich dem Dienstherrn zu. „Wir haben noch mehr entdeckt.“

„So?“ Zosimo hielt sich am Tisch fest. „Was denn noch?“

Als er von dem zerstörten Zwergentempel im Taleinschnitt unterhalb der Ahnenhügel hörte, sprang der Zwergenkrieger auf. Dem Bericht von dem magischen Tor lauschte er atemlos im Stehen, die Arme auf die Tischplatte gestützt. Als wir geendet hatten, ließ er sich ächzend auf den Stuhl zurückfallen.

„Zweitausend Jahre!“ stieß er hervor. „Zweitausend Jahre vergessene und verschüttete Geschichte. Zweitausend Jahre lang suchen die besten Forschungsreisenden Karrakadars vergeblich nach den verschollenenen heiligen Stätten, und diese da latschen mal eben so durch die Landschaft und stoßen mit der Nase dagegen!“

Mühsam erhob er sich. „Ich muss mir das selbst ansehen. Bei den Ahnenhügeln, sagt ihr - das ist ein Tagesritt von hier. Morgen früh breche ich auf. Übermorgen Abend bin ich zurück. Wenn ihr dort tatsächlich einen der alten, heiligen Tempel gefunden habt...“

Er sprach den Satz nicht zu Ende.

„Und wie ist es mit der Bezahlung?“ wollte Kat wissen.

Zosimo sah sie an, als hätte er sie nicht verstanden. „Was?“

„Unsere Bezahlung. Der vereinbarte Lohn!“

„Wieso Lohn?“ Der Zwerg sah sie verblüfft an.

Kat explodierte. „Was soll das heißen, wieso Lohn? Wir haben unser Leben aufs Spiel gesetzt für Euch und Eure Forschungen und Ihr fragt, was Lohn bedeuten soll? Ihr habt einen Vertrag mit uns gemacht!“

Der stämmige Krieger lief dunkelrot an.

Er fasste sich an die Stirn. „Euer Lohn - natürlich bekommt ihr euren Lohn. Aber das hat ja wohl noch ein, zwei Tage Zeit, bis ich wieder zurück bin.“

Wir standen auf und sahen den Zwerg schweigend an.

„Nun ja, wenn ihr gleich etwas benötigt, könnt ihr euch von Totter etwas aus meiner Kasse auszahlen lassen,“ brummte Zosimo.

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Aber ich verlange, dass ihr mir zur Verfügung steht, wenn ich zurück bin! Der heilige Gral muss aus dem unterirdischen Labyrinth geborgen werden. Wir werden in den verborgenen Kultraum vordringen und den Karrak heraufholen. Anschließend bekommt ihr eure Bezahlung.“

„Selbstverständlich, Herr, wir bleiben hier,“ fauchte Kat wütend.

„Aber jetzt,“ knurrte der Zwerg, „müsst ihr mich entschuldigen. Ich möchte nicht gestört werden, solange ich im heiligen Buch der Historien studiere.“

Er griff sich den Folianten, blickte uns mit zusammengekniffenen Augen an und stiefelte zur Treppe.

„Seltsam,“ murmelte Kat, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. „Genauso hat sie gestern auch reagiert.“

***

Wir aßen uns satt. Anschließend nahmen wir unsere Weinbecher und setzten uns zurück vors Kaminfeuer. Ich dämmerte müde vor mich hin. Der Wein stieg mir in den Kopf und ich spürte deutlich, dass ich vergangene Nacht auf Ligeias Lager so gut wie nicht geschlafen hatte. Vom Wein gelöst alberten Kat und Sven herum und lachten über Ereignisse unserer Fahrt, die ihnen mit einem Mal irrsinnig komisch vorkamen. Lyana warf nur hier und da ein Wort ein.

Der Turmverwalter kam durch den Saal geschlurft und erklärte missmutig, auf Geheiß des Turmherrn habe er die Gästezimmer im zweiten Stock hergerichtet. Wenn wir es wünschten, könnten wir unsere Zimmer beziehen.

„Was - kein Staub, keine Spinnweben diesmal?“ zog Kat ihn auf.

Der Alte grummelte etwas von ungezogener Jugend und humpelte die Wendeltreppe hinunter.

Ich stand auf. „Bringen wir unsere Sachen auf die Zimmer?“

Ich spürte übermächtige Sehnsucht nach einem Bett, nach Schlaf.

Im runden Raum im zweiten Stock, auf den rings die Zimmertüren mit den verschiedenfarbigen Wappen mündeten, setzten wir unser Gepäck ab und sahen uns an.

„Also - gleiche Zimmeraufteilung wie letztes Mal?“ fragte Sven.

Lyana schüttelte den Kopf. „Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich gern ins „kahle Zimmer“ ziehen.“

„Wieso du?“ fragte Kat erstaunt.

Bei unserem vorherigen Aufenthalt hatte Kat das karg eingerichtete Zimmer genutzt – sofern sie die Nacht nicht mit Sven im „weißem“ oder mit mir im „blauen Zimmer“ verbrachte.

„Ach,“ Lyana zuckte mit den Schultern. „Mir ist gerade nicht nach breiten und opulenten Betten.“

„Meinetwegen,“ meinte Kat.

Sie schaute Sven und mich zögernd an. „Sagt mal, Jungs, braucht ihr wirklich jeder ein eigenes Zimmer? Ich meine...“

„Was?“ Sven blickte verständnislos zurück. „Wieso sollen Leif und ich in einem Zimmer schlafen?“

Kat blickte vorsichtig von ihm zu mir. „Also, ich mein' ja nicht, ihr beide allein...“

Sven wurde rot. „Was?“

„Jungs!“ rief sie. „Können wir nicht alle drei zusammen schlafen? Ich hab keine Lust mehr darauf, dass jedes Mal einer von euch sich betrinkt, wenn ich mit dem anderen zusammen bin.“

Es verschlug mir den Atem. „Kat!“

Svens Gesicht wurde dunkelrot. „Wir sollen was? Zu dritt in einem Bett?“

„Warum denn nicht, du Einfaltspinsel!“ schnappte Kat. „Lass es uns doch wenigstens versuchen!“

Lyana nahm schweigend ihre Ledertasche und verschwand in ihrem Zimmer.

Sven rang nach Luft. „Was ist das denn für eine bescheuerte Idee? So ein ausgemachter Schwachsinn! Du - du...“ er verschluckte das Wort, das ihm auf der Zunge lag.

Dann brüllte er: „So was mache ich nicht mit, hörst du? Nur weil du dich nicht entscheiden kannst! Das ist ja wohl das letzte!“

Kat schossen Tränen in die Augen. „Du dämlicher, prüder Dorfochse!“ heulte sie. „Schlaf doch allein in deinem Zimmer, wenn du unbedingt willst!“

Sie nahm Rucksack und Schwert und stieß die Tür zum „blauen Zimmer“ auf.

„Komm, Leif,“ fauchte sie. „Wenn der sture Esel unbedingt sein eigenes Zimmer will, ist mir das auch scheißegal!“

Ich sah hilflos zwischen ihr und Sven hin und her. „Hört mal, ihr beiden...“

Sven würdigte mich keines Blicks. Er warf seinen Rucksack ins „weiße Zimmer“.

„Macht was ihr wollt!“ Er knallte die Zimmertür von innen zu.

„Machen wir auch,“ schrie Kat ihm hinterher. „Wenn's dir zu langweilig wird, kannst du ja dazukommen!“

Sie stellte ihren Rucksack neben das große Baldachinbett, setzte sich auf die blauen Decken und weinte Wuttränen. Langsam trug ich meinen eigenen Rucksack ins Zimmer und setzte mich ihr gegenüber auf einen der beiden blau gepolsterten Stühle.

„Das... das kam einfach zu überraschend, weißt du.“

„Ach was überraschend! Er ist einfach ein sturer Hornochse, das ist alles!“

„Kat, aber mal ehrlich - wie hast du dir das denn vorgestellt...?“

„Ach!“ sie sah mich wütend an. „Fängst du jetzt auch so an?“

„Nein - nein,“ beeilte ich mich zu sagen, „ich meine ja nur... ich wollte nur sagen...“

Mir fiel nichts mehr ein. Ich ging zum Bett und setzte mich neben sie. Vorsichtig nahm ich ihre Hand. Kat seufzte. Sie verbarg ihr Gesicht in meiner Nackenbeuge und weinte still.

Endlich schniefte sie: „Warum muss alles immer so kompliziert sein?“

Ich legte meinen Arm um sie. „Wir finden einen Weg. Irgendwie wird es schon werden.“

Dabei war mir ganz und gar nicht klar, wie wir aus dieser Zwickmühle herauskommen sollten.

Kat wischte sich die Tränen aus den Augen und stand auf. „Na gut, dann eben nicht. Aber wir beide machen es uns hier gemütlich, nicht wahr?“

Ich streifte meine Mokassins von den Füßen, hob die Beine aufs Bett und lehnte mich in die Kissen. Erschöpfung überkam mich. Neben dem Bett packte Kat ihren Rucksack aus. Sie faltete ihre drei Kleider und mehrere Leinenhemden auseinander und hängte sie rings herum an die Vorhangstangen des Himmelbetts.

„Die Sachen müssen lüften. Ein Glück, dass ich im Bergdorf zum Waschen gekommen bin, sonst hätte ich nur noch Dreckwäsche im Rucksack.“

Binnen kurzem hatte sie ihre Sachen im Zimmer verteilt. Auf dem Tisch, auf dem Fensterbrett, an den Bettstangen, über den Stuhllehnen: es gab nicht einen Platz mehr, der nicht von ihren Sachen belegt war.

Ob es das ist, was sie mit „gemütlich machen“ meint? Ich werde um eine Ecke kämpfen müssen, in die ich meinen Rucksack stellen kann.

Kat beschwerte sich, dass es in diesem „nur von Kerlen bewirtschafteten Gemäuer“ keine Kleidertruhen gäbe. Schließlich nahm sie sich ein Kleid und ein Hemd, holte ein Handtuch, Seife, einen Kamm und einen kleinen Messingspiegel hervor -

was Frauen auf Reisen auch alles dabei haben!

- und meinte, sie wolle Lyana überreden, mit ihr nach unten zu gehen und den Koch dazu zu bringen, zwei Eimer heißes Wasser in den Brunnenraum zu stellen.

„Macht das,“ meinte ich. „Ich ruh' mich einen Moment aus. Ich bin entsetzlich müde.“

Bevor sie aus dem Zimmer ging, schaute sie zu mir zurück, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, kam zum Bett und küsste mich lange und zärtlich. Dann ging sie hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.

***

„Leif, du Schlafmütze! Willst du nicht zum Abendessen kommen? Unser Koch hat sich mächtig ins Zeug gelegt!“

Kat schüttelte mich sanft an den Schultern. Gähnend setzte ich mich auf. Vor dem Fenster war es dunkel. Heulender Wind rüttelte an den Scheiben. Auf dem Tisch brannte eine Kerze. Sie flackerte heftig im Luftzug.

„Schon Abend?“ Ich fühlte mich müde und zerschlagen.

Kat hatte Kleid und Schuhe an und trug die silbernen Ohrringe, die ich ihr auf dem Markt in Grobenfelde geschenkt hatte. Ihr flachsblondes Haar floss offen um ihre Schultern.

„Komm, wir feiern unsere Rückkehr!“ Sie sah mich munter an.

Kein Wunder: Sie, Sven und Lyana hatten letzte Nacht tief geschlafen. Ich selbst hatte alle letzten Nächte unruhig im Halbschlaf zugebracht. Seit unserem Aufbruch aus dem Bergdorf Kammar hatte ich keine Nacht mehr richtig geschlafen. Und die vergangene Nacht hatte mich bis an die Grenze erschöpft.

Ich muss von Ligeia loskommen. Selbst wenn sie mich nicht verwundet, saugt sie mich aus bis aufs Letzte.

Seufzend stand ich auf. Kat ging voraus zur Wendeltreppe. Sie ließ die Zimmertür offen.

Im Saal saßen Kat, Lyana und Sven am festlich gedeckten Tisch. Ein weißes Tischtuch war über die Tischplatte gebreitet, silbernes Geschirr glänzte im Schein eines mehrarmigen Kerzenhalters. Der für den Burgherrn eingedeckte Platz war leer. Über dem Tisch flackerten die Kerzen des eisernen Deckenleuchters. Sie tauchten den Saal in fahles Licht. Zwischen den Bogendurchgängen tanzten Säulenschatten an der Wand.

Kat goss sich Wein in ihren Becher. Dabei plauderte sie fröhlich mit Lyana. Auf dem Tisch war eine gebratene Gans mit Kohl und Klößen angerichtet, eine Suppenterrine und Schüsseln mit Pudding und Obstgrütze. Zwei große Kannen Wein standen bereit. Sven hatte sich bereits bedient und kaute mürrisch an einer Gänsekeule. Er starrte auf seinen Teller.

Beim Hinsetzen unterdrückte ich ein Gähnen. Ich versuchte, mir die Müdigkeit aus den Augen zu blinzeln und einen munteren Gesichtsausdruck aufzusetzen.

Kat musste lachen. „Leif, du siehst aus, wie eben aus dem Tiefschlaf gerissen.“

Ich goss mir Wein ein. „Die letzten Tage haben mich ganz schön mitgenommen.“

Lyana sah mich still an.

Kat erklärte, Zosimo habe sich entschuldigen lassen, er sei damit beschäftigt, das „Heilige Buch der Historien Karrakadars“ zu studieren.

„Ohne den ollen Zwerg ist es sowieso entspannter,“ meinte sie fröhlich. „Sven, komm, hab dich nicht so. Wir wollen feiern!“

Sven schaute nicht auf. „Du vielleicht. Ich hab keine Lust zum Feiern.“

Kat stellte ihren Becher ab und seufzte. „Sven! Jetzt hör doch auf, den Beleidigten zu spielen. Was hab ich dir denn getan?“

Auch Sven legte seine Gänsekeule weg.

Er sah sie wütend an. „Ich... zufällig liebe ich dich nämlich, verstehst du?“

Kat sah ihn mit komischer Verzweiflung an. „Ich - dich - auch - Sven.“ Sie betonte jedes Wort zärtlich.

Lyana und ich tauschten einen Blick. Ich fühlte mich ungemütlich.

„Ach,“ schnaubte Sven. „Aber... und...“

Ärgerlich blickte er zwischen Kat und mir hin und her.

„Ja, und?“ rief Kat. „Ist das so schlimm, dass ich euch beide mag - das ich euch beide liebe?“

„Aber ich liebe dich! Nur dich!“ tobte Sven los. „Nicht euch beide! Nichts gegen dich, Leif, aber Kat, Himmeldonnerwetter nochmal! Liebe ist was zwischen zwei Menschen, zwischen einem Mann und einer Frau, falls du das noch nicht begriffen hast, nicht zwischen zwei Männern und einer Frau. Das geht nicht! So was gibt's nicht!“

Kat war blass geworden. Tränen sickerten in ihre Augen.

„Warum nicht?“ flüsterte sie. „Sei doch nicht so stur. Lass es uns doch wenigstens versuchen.“

Ich holte tief Luft.

„Sven,“ sagte ich in einem hilflosen Versuch, die Katastrophe abzuwenden. „Hör mal...“

Aber er sprang auf.

„Nein!“ brüllte er. „Ich will das nicht hören! Ihr habt in dem Durcheinander der letzten Wochen wohl einen Dachschaden bekommen! Nimm ihn doch zum Mann, wenn du nicht von ihm lassen kannst. Ich kann damit umgehen, glaub' nicht, dass deswegen die Welt für mich untergeht! Wenn du nicht meine Frau sein willst, bitte sehr, dann eben nicht! Ich kann damit leben! Aber lasst mich aus eurem blöden Spiel 'raus!“

„Sven!“ rief ich, aber er trampelte aus der Halle nach oben.

„Oh, ist das gemein von dir!“ schrie Kat ihm nach. „Du bist so was von ungerecht!“

Hinter ihm fiel die Tür zur Wendeltreppe ins Schloss.

Wir saßen stumm am Tisch und blickten auf unsere Teller. Nach einer Weile griff Kat ihren Weinbecher und trank ihn in einem Zug aus. Sie setzte den Becher ab, wischte sich die Nase und griff nach der Fleischgabel.

„Will jemand Gänsebraten?“ fragte sie trotzig.

Trübe gestimmt aßen wir unseren Braten. Obwohl Lyana und ich ein paar Mal ein Gespräch anzuknüpfen versuchten, kam keine Unterhaltung auf. Den Pudding mochte keiner mehr anrühren.

Als wir gegessen hatten, stand Lyana auf und meinte: „Ich will noch ein wenig lesen in der Bibliothek. Gute Nacht, ihr beiden.“

Kat sah mich mit Zorn sprühenden Augen an. „Gehen wir ins Bett?“

Wir gingen hinauf in unser Zimmer. Ich zündete die Kerze an. Sie blakte im Luftzug. Kat schloss die Zimmertür. Wir zogen uns aus und krochen unter den schweren Decken zueinander. Kat presste sich an mich und bedeckte mein Gesicht und meinen Nacken mit Küssen. Ich spürte ihre Erregung, doch ich fühlte mich schwach und erschöpft. Es wurde nichts.

„Kat,“ sagte ich kläglich, „ich bin hundemüde. Ich glaub', ich brauch' erst mal 'ne Mütze voll Schlaf.“

„Ach!“ zischte sie enttäuscht.

Sie ließ mich los und drehte sich zur Seite.

„Zu Ligeia hast du das nicht gesagt, oder?“ fauchte sie, bevor sie von mir wegrückte und sich die Decke über den Kopf zog.

Mir war furchtbar elend zumute.

***

Als ich am anderen Morgen aufwachte, war ich allein. Kat war nicht im Zimmer. Dem Licht nach zu urteilen, das durch die blauen Scheiben ins Zimmer fiel, musste es früher Vormittag sein. Ich zog Hose und Hemd an und ging hinunter in die Halle. Ich fühlte mich schlecht und schuldig und wusste nicht recht, warum.

Am Tisch in der Halle saß nur Sven. Er löffelte missmutig eine Schale Grütze mit Sahne. Ich setzte mich zu ihm, goss mir Kaffee ein, schob ihn wieder weg und griff nach dem Bierkrug.

„Wo sind Kat und Lyana?“

„Hmpf,“ Sven kaute und schluckte, bis er den Mund frei hatte. „Die sind runtergegangen an die Küste. Kat will Bogenschießen lernen und Lyana Schwertkampf beibringen. Hab sie nur kurz gesehen. Als ich kam, ist Kat aufgestanden und gegangen. Lyana hat sich dann entschuldigt und verschwand auch.“

Ich hatte keinen Appetit. Ich riss mir ein Stück Brot ab und spülte es mit Bier hinunter. Sven beäugte mich. Ich ignorierte seine Blicke und kaute schweigend mein Brot. Sollte er denken, was er wollte!

Nach einer Weile brach ich das Schweigen. „Die Sache mit den Zimmern gestern - das ist ganz dumm gelaufen.“

„Dumm für mich, nicht für dich,“ erwiderte Sven.

Ich zuckte mit den Achseln.

„Aber jetzt mal ehrlich, Leif, das hättest du doch auch nicht mitgemacht - du und ich zusammen mit ihr im Bett?“

„Also, natürlich hab ich bei der Idee... ich war auch ganz schön... ich hätte jetzt, ehrlich gesagt... also, ich würde sagen...“

Sven winkte ab. „Lass gut sein, Freund!“

Nach dem Frühstück ging Sven hinunter in die Schmiede. Ich setzte mich allein in einen der Nebenräume. Aus irgendeinem Grund hatte sich Wut in meinem Bauch angestaut. Ich betrachtete den aufgeschichteten Holzstapel im Kamin.

Beiläufig murmelte ich das Zauberwort. „Voris!“

Das Holz ging in Flammen auf. Ich war überrascht, wie einfach es ging.

***

Später am Tag stieg ich hinauf auf die Turmzinne. Wind schlug mir ins Gesicht und fuhr mir durchs Haar. Er sang hoch oben um den eisernen Mast auf dem Spitzdach der Sternwarte. Möwen kreischten in den Sturmböen. Das Licht der spätherbstlichen Sonne brach durch die schnell ziehenden Wolkenmassen und überzog Land und Meer mit einem wandernden Muster aus Licht und Schatten.

Unten auf dem Platz vor dem Turm standen Kat und Lyana in Wams, Hosen und Stiefeln. Kat hielt Lyanas Bogen und Lyana führte Kats Arme, um ihr zu zeigen, wie man den Bogen spannte. Ich schloss die Augen und sog kalte Luft in meine Lungen.

Warum muss alles immer so kompliziert sein? hatte Kat gefragt.

Seit unserem Aufbruch aus Brögesand hatte ich versucht, nicht darüber nachzudenken, was zwischen uns geschah: meine Empfindungen für Kat - die Freundschaft zu Sven – Ligeia - die seltsame Verbindung zwischen Lyana und mir. Ich hatte mich treiben lassen und gehofft, es würde sich ein Weg finden, irgendwann würde sich alles entwirren... Aber ich spürte, wie ich mich mehr und mehr in einem Netz verstrickte, dessen Maschen sich mit jedem Ereignis enger um mich zogen. Ich fühlte mich wie ein Fisch, der in eine Reuse geraten war, der immer meinte, hinter dem nächsten Durchschlupf komme er wieder frei und doch nur tiefer hineingeriet in das tödliche Verhängnis.

Ich unterdrückte die lauernde Angst, die aus einem Winkel meines Bewusstseins hervorkroch.

Es wird sich klären – ein Stern wird uns beschützen. Es wird sich ein Weg finden...

Wir hatten den Winter vor uns, es würde Zeit geben am Kaminfeuer oder auf langen Spaziergängen, sich über vieles klar zu werden, Freundschaften und Beziehungen zu klären... Es würde lange Mondnächte geben... Ich drängte den plötzlichen Gedanken an Ligeia beiseite.

Mit dem Blick folgte ich der Steilküste nach Norden. Ein Stück vor der Stelle, wo die Wetterberge an die Küste heranrückten, dort, wo in dem schrägen, aus einem Abbruch der Steilküste entstandenen Hang der Zugang zu den verfallenen unterirdischen Gewölben der Meergeborenen lag, ragte ein Findling über die Kante der Steilküste hinaus. Bei diesem Stein war ich Ligeia zum ersten Mal begegnet, im Traum zunächst, dann wirklich – ahnungslos hatte ich mich in sie verliebt, hatte zugelassen, dass sie mehr und mehr Einfluss über mich gewann...

Denk nicht darüber nach! Zu seiner Zeit wird sich ein Weg finden...

Jenseits der Wetterberge flachte die Steilküste ab. Dort zog sich die Küste im weiten Bogen bis in diesige Ferne, wo die schneebedeckten Gipfel eines nördlichen Gebirgsausläufers zum Meer abfielen. Hinter den Bergausläufern streckte eine Landzunge sich weit in die See hinaus. Die zerklüfteten Felsformationen an ihrer Spitze erinnerten an die Ruinen einer großen Stadt. Dort im Norden hatte das untergegangene Reich Barhut gelegen. Kat hatte einmal gesagt, eines Tages wolle sie mit mir die geheimnisvolle Ruinenstadt erforschen gehen...

Eine Bewegung auf dem Meer machte mich aufmerksam. Weit draußen, hinter den Schaumkronen des Unterwasserriffs, das sich von der schwarzen Felsengruppe der „Geisterklippen“ nach Norden erstreckte, tanzte ein einsames Rahsegel über den Wellen. Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Den Maßen nach musste es zu einem größeren Schiff gehören, aber ich konnte keine weiteren Masten oder Spieren erkennen. Der Schiffsrumpf war niedrig, kaum, dass ich ihn zwischen den hohen Wellen ausmachen konnte. Das lange Schiff hatte keinen Bugspriet und keine Deckaufbauten. Der flache Schiffskörper besaß mittschiffs einen einzigen kurzen Mast mit einem Rahsegel aus dunkler Leinwand. Ein im Sturm zertrümmertes Wrack mit einem Notsegel? Sie hatten Pech, wenn sie dort am Riff entlang segelten. Über viele Meilen würden sie keinen Durchschlupf zum Land finden. Das Schiff fuhr schnell, zu schnell für ein notberiggtes Wrack. Verwundert folgte ich dem Gefährt mit den Augen nordwärts, bis ich das Segel in einer Regenbö aus den Augen verlor.

2.

Ich verließ die Zinne und ging hinunter in die Bibliothek. Ich wollte mir den Band "Verständnis und Gebrauch der Wetterphänomene" aus der Zauberkunde-Bibliothek holen, um das Kapitel über das Entfachen von Windstößen zu studieren. Bereits vor unserer Expedition hatte ich darin gelesen.

Die Geheimbibliothek lag verborgen hinter einem Wandschrank in Zosimos Studierzimmer. Durch die große Flügeltür betrat ich das Arbeitszimmer des Turmherrn. Die Dielenbretter knarrten, als ich zum Schreibtisch hinüber ging. Licht aus den großen Erkerfenstern fiel auf durcheinanderliegende Bücher und vollgekritzelte Papierbögen. Die beiden heiligen Bücher waren nicht darunter. Zosimo würde sie in der Geheimbibliothek aufbewahren. Dort lagen auch die uralten Runentafeln des Meergeborenenvolks, die wir im Grab ihres Heerführers Gorgon auf den Geisterklippen gefunden hatten.

Mein Blick fiel auf die Landkarte, die an der Innenwand neben dem Schreibtisch vom Boden bis zur Decke reichte. Sie zeigte weite Gebiete der Küste um Dwarfencast und nördlich davon bis ins Landesinnere. Da war der Umriss der Landzunge im Norden, jedoch waren dort keine Landschaftsmerkmale eingetragen. Die Gegend schien dem Kartografen unbekannt gewesen zu sein. Das Gebirge östlich der Landzunge dagegen war mit akribischer Genauigkeit wiedergegeben. Täler, Berggipfel, Flüsse waren eingezeichnet. Schriftzüge in karrakadarischer Schrift wiesen auf Punkte an Berghängen hin - Zwergensiedlungen vielleicht? Im Süden war Grobenfelde verzeichnet und die alte Handelsstraße durch die Ebene von Vollmersend hinauf ins Gebirge. Die Karte war so genau, dass ich glaubte, die Täler nachvollziehen zu können, durch die wir nach unserer Flucht aus dem Kloster bis ins Bergdorf Kammar gewandert waren und von dort zum Grab des Kriegerkönigs Waron und zurück in die Ebene. Ich fuhr mit dem Finger die Täler entlang. Die Karte gab unter meiner Hand nach. Ich hatte erwartet, dass sie fest an der Wand befestigt wäre. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete die Karte. Etwas stimmte nicht. Dann hatte ich es. Zwischen dem hölzernen Rahmen und der Karte war ein haarfeiner Spalt auszumachen - nur die Kartenunterseite war fest mit dem Rahmen verbunden. Ich tastete die untere Rahmenleiste entlang. Tatsächlich: sie war locker. Ohne Mühe konnte ich sie anheben und mitsamt der Karte nach oben schieben. Die Karte verschwand in der Decke, wo sie wohl durch einen Mechanismus aufgerollt wurde. Eine offene Tür kam zum Vorschein. Sie führte auf einen schmalen Gang, der hinter der Mauer nach rechts abbog.

Ich blickte mich um. Niemand außer mir war im Studierzimmer. Zosimo war unterwegs zu dem zerstörten Zwergentempel. Den greisen Turmverwalter oder den Koch brauchte ich nicht zu fürchten - obwohl es mir wegen des Verwalters lieber gewesen wäre, wenn ich mein Schwert dabei gehabt hätte. Aber deshalb jetzt zurückgehen?

Ich trat in den engen Geheimgang und zog die Karte von innen herunter.

„Elean!“ In meiner Handfläche ließ ich magisches Licht aufleuchten.

Der Gang endete nach etwa acht Schritt an einer abwärts führenden Wendeltreppe. Die metallbeschlagene Tür, mit der der Geheimgang von innen verschlossen werden konnte, hatte zwei eiserne Riegel. In der Türmitte befand sich eine sechseckige Vertiefung, die ich mir nicht erklären konnte.

Ich folgte der steilen Wendeltreppe nach unten. Ein Stockwerk tiefer - es war der zweite Stock mit den Gästezimmern und den Gemächern des Burgherrn - endete die Treppe in einem kleinen Gewölbe. Auf der rechten Seite gab es einen Durchgang. An der Wand ragten fünf hölzerne Stangen aus einem Spalt in den Steinfliesen. Sie sahen aus wie die Stellhebel einer in der Wand verborgenen Maschine. Zwei Hebel waren vorgezogen. Daneben stand ein Tisch mit einer Metallkassette. Sie war unverschlossen. Ich hob den Deckel. Darin lagen drei kurze sechseckige Stäbe aus blau glühendem Kristall. Das schwindelerregende Gefühl heftiger Magie überkam mich. Vorsichtig schloss ich den Deckel wieder.

Der Durchgang führte auf eine abwärts führende Wendeltreppe. Auf der anderen Seite befand sich eine geschlossene Tür. Wie die Tür hinter der Landkarte war sie metallverstärkt. Ihre Eisenriegel waren zurückgeschoben, so dass sie von der anderen Seite geöffnet werden konnte. Auch sie wies in der Mitte eine sechseckige Vertiefung auf. Sie schien die gleichen Maße zu haben wie die Kristallstäbe in der Metallkassette. Vielleicht eine magische Schließvorrichtung? Ich musste das Lyana zeigen. Was magische Vorrichtungen betraf, hatte sie meist den richtigen Riecher.

Zögernd legte ich die Hand an den Türriegel. Meine Neugier siegte über die Vorsicht. Behutsam zog ich die Tür auf. Die Tür war auf der anderen Seite als Wandspiegel getarnt. Durch die Glasscheiben eines Bogenfensters fiel Sonnenlicht in ein wohnlich eingerichtetes Zimmer. Goldornamente auf hellgrünen Wandtapeten glänzten im Licht. An der Wand stand ein mit grünen Samtvorhängen verhängtes Bett. Unter dem Fenster befand sich eine große Truhe. Es gab einen grünen Polsterstuhl und eine Anrichte neben dem Bett. Auf der Anrichte stand eine Glaskaraffe mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit neben einem Zinnbecher. Gegenüber führte eine halbgeöffnete Tür in ein weiteres Zimmer. Eine kleine Tür in der Wand neben dem Bett stand offen.

Ich war unversehens in die Gemächer des Burgherrn geraten! Vorsichtig betrat ich den Raum.

Du hast hier nichts zu suchen!

Ich schnupperte an der Karaffe.

Branntwein. Sieht dem Zwerg ähnlich!

Hinter der Tür neben dem Bett lag eine Nische mit einem Waffen- und Rüstungsständer. Der Ständer war leer, aber in einer Wandhalterung lehnten zwei Arkebusen. Pulverhörner und Kugelbeutel hingen daneben. Ich warf einen Blick durch die angelehnte Tür. Eine gepolsterte Bank stand an einem niedrigen Tisch. Auf dem Tisch standen mehrere Tabakspfeifen, Tabakdosen und ein halbvolles Weinglas. Ein gepolsterter Lehnstuhl war vor den Kamin gerückt worden. Es gab ein Bücherregal und einen Sekretär. Am Fenster stand ein Lesepult. Auch dieser Raum war in hellen Grüntönen gehalten. Auf der Bogentür an der rechten Wand prangte das Wappen von Dwarfencast.

Ich ging zurück zur Wendeltreppe und schloss die Tür hinter mir.

Wer weiß, wofür diese Entdeckung nützlich sein kann!

Die schmale Wendeltreppe führte endlos abwärts. Ich hatte den Eindruck, durch alle Stockwerke des Turms bis in die Kellergeschosse hinunterzusteigen. Die Luft wurde dumpf und feucht. Endlich endete die Treppe an einem schmalen, gemauerten Gang, der ein paar Schritt weiter vorn nach rechts abbog. Ich folgte dem Gang. Er war niedrig. Ich musste geduckt gehen, um nicht mit dem Kopf gegen die steinerne Decke zu stoßen. Hinter der Biegung erstreckte sich der Gang ins Dunkel jenseits der Reichweite meines magischen Lichts. Vor mir in der linken Wand lag eine Tür. Ihr gegenüber zweigte ein Gang nach rechts ab. Ich wollte weitergehen, als ich an den Rissen im Steinboden eine Falltür erkannte. Ich ließ mich auf alle viere herab und drückte mit der Handfläche gegen die Falltür. Sie schwang geräuschlos auf, um sich gleich wieder zu schließen.

Ich hatte genug entdeckt. Vermutlich befand ich mich in dem Teil des Kellers, der die geheimen Waffen- und Vorratslager enthielt. Kat und Lyana waren dort vor dem Aufbruch zu unserer Expedition gewesen. Ich kehrte um, holte mir den Band „Verständnis und Gebrauch der Wetterphänomene“ aus der Geheimbibliothek und setzte mich in der großen Bibliothek ans Fenster. Ich vertiefte mich in das Kapitel über das Beherrschen der Winde.

***

Vorne in der Bibliothek hörte ich die Tür gehen. Stiefelschritte näherten sich zwischen den Regalreihen, blieben stehen, kamen näher. Es war Lyana. Sie hatte ein Buch im Arm. Als sie mich sah, kam sie zum Fenster herüber und setzte sich neben mich an den Tisch. Sie lächelte mir kurz zu, dann öffnete sie ihr Buch. Nach einer Weile blickte sie auf und sah sich die Buchseite an, die ich las.

„Diese Sache mit dem Wind, die Ligeia dir gezeigt hat - ist das auch schwarze Magie?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das hat was mit den Elementen zu tun, wie die Feuermagie auch. Bei der schwarzen Magie geht es, glaube ich, um Leben - Lebensenergie, Lebenskraft oder etwas in der Art.“

Lyana rückte näher zu mir.

Sie blickte nachdenklich auf das Buch. „Losgekommen bist du nicht von ihr, Leif.“

Ich wusste, dass sie Ligeia meinte.

„Was in aller Welt kann ich denn tun? Wenn ich einen Weg wüsste... Ich habe den Eindruck, sie erkennt alles, was ich mir vornehme. Vielleicht sitzt sie gerade jetzt über ihrer magischen Teeschale und beobachtet uns!“

Lyana sagte lange Zeit nichts.

Schließlich meinte sie: „Auf jeden Fall ist es gut, wenn du so starke magische Fähigkeiten entwickelst, wie möglich.“

Ich schwieg betroffen.

Das kann ich nicht. Ich kann nicht gegen sie kämpfen!

Lyana sah mich an. „Du musst lernen, dich gegen sie zur Wehr zu setzen!“

Ich stützte missmutig den Kopf in die Hände. Sicher hatte sie Recht. Aber ich wollte nicht darüber nachdenken.

***

Zum Abendessen kamen wir alle vier im Saal im zweiten Stock zusammen. Kat suchte sich einen Platz, an dem sie Sven und mir gegenüber saß. Lyana, die mit mir aus der Bibliothek heruntergekommen war, setzte sich neben mich. Kat schaute von Lyana zu mir. Als sie merkte, dass ich sie ansah, blickte sie in eine andere Richtung.

Der Koch hatte aus den Resten des Gänsebratens ein Ragout gemacht. Auch der Pudding und die Obstgrütze standen wieder auf dem Tisch. Sven stand auf und nahm den Schöpflöffel.

„Möchte jemand Fleischeintopf?“

Er sah Kat an und streckte die Hand nach ihrem Teller aus. Sie blickte zurück und gab ihm den Teller. Er tat ihr auf und reichte ihr den Teller mit einem Kopfnicken. Dann schaute er zu mir.

„Du auch, Leif?“

„Ja, sicher.“

Er tat uns allen auf, nahm sich zuletzt ebenfalls und setzte sich. „Lasst's euch schmecken, Freunde.“

Kat schaute ihn an als wollte sie in seinen Gesichtszügen etwas erraten, aber er tat, als bemerkte er es nicht.

„Übrigens, Kat,“ meinte ich, „es gibt doch Kleidertruhen im Turm. Eine zumindest.“

Sie warf mir einen komischen Blick zu. „Bist du jetzt meinetwegen eine suchen gegangen? Hast du im Keller gestöbert, oder was?“

Sven blickte belustigt zwischen uns hin und her.

Lyana entfuhr ein erstauntes „Oh!“

Ich schüttelte den Kopf. „In Zosimos Schlafgemach steht eine.“

„Was?“ rief Kat.

Sven zog die Augenbrauen hoch. „Wie bist du denn da rein geraten?“

„Durch den Spiegel.“

Kat und Sven sahen mich zweifelnd an. Ich erzählte ihnen von dem Geheimgang.

Als ich geendet hatte, meinte Lyana nachdenklich: „Jemand, der von oben zu den Lagerräumen will, muss dafür die Falltür unten sichern. Vielleicht dienen die Hebel im Verbindungsraum dazu, Falltüren scharf zu machen und zu sichern.“

„Gut möglich,“ überlegte Kat. „Bei Gelegenheit sehen wir uns das zusammen an.“

Sie grinste hämisch. „Es wäre nicht falsch, mal nachzuschauen, was sich so alles in den Vorrats- und Waffenkammern befindet.“

„Warum nicht? Wir haben ja den ganzen Winter über Zeit,“ meinte Sven kauend.

Kat angelte sich Kartoffeln. „Ich bin heute Nachmittag nach Lüdersdorf geritten. Die Stolka kümmert sich gut um ihre Stieftochter. Ich glaube, das Mädchen ist wohlauf - obwohl sie kaum ein Wort über die Lippen bekam. Die Kleine ist entsetzlich schüchtern.“

„Du bist in Lüdersdorf gewesen?“ rief ich.

Kat grinste. „Klar! Ich will doch nicht unglaubwürdig werden im Dorf - und bei unserem allerliebsten Koch. Die sollen wissen, dass es mir ernst ist. Übrigens haben sie mich im Dorf sehr respektvoll aufgenommen.“

„Und was hättest du getan, wenn sie sich nicht an ihr Versprechen gehalten hätten?“ fragte Sven.

Kat antwortete nicht, aber ihr zusammengepresster Mund und der flammende Blick sagten alles.

„Mal was anderes,“ wechselte sie das Thema. „Sven, würdest du mir einen Gefallen tun?“

„Sicher Kat. Worum geht's?“ Er sah sie ruhig an.

Sie schaute zurück und ich glaubte, einen Hoffnungsschimmer in ihren Augen zu erkennen, aber als Sven sie ungerührt anblickte, senkte sie den Blick.

„Kannst du nicht einen Türriegel innen an der Tür zum Brunnenraum anbringen? Ich möchte mich endlich in aller Ruhe waschen können, ohne jemanden, der vor der Tür aufpasst, dass dieser Smut mit seinen unanständigen Blicken sich nicht aus Versehen in den Brunnenraum verirrt.“

„Kein Problem, Kat. Mach' ich,“ meinte Sven nüchtern.

Als wir gegessen hatten - diesmal nahmen wir uns auch vom Pudding und der Obstgrütze - fragte Kat in die Runde: „Was haltet ihr davon, wenn wir in den Weinkeller gehen? Mir ist nach einem Becher Wein.“

Sven schüttelte den Kopf. „Nichts für ungut, Kat. Aber ich geh' noch für ein, zwei Stunden in die Schmiede.“

Kat biss sich auf die Lippen.

Dann sah sie zu mir herüber. „Du kommst doch mit, Leif?“

„Klar, Kat, gerne.“

„Und du?“ fragte sie Lyana. „Kommst du auch mit?“

„Ja.“

Im Weinkeller nahm sich Kat einen Krug und ging die Reihen der Weinfässer in den Nebengewölben der langgestreckten Säulenhalle ab.

„Die ältesten Jahrgänge sind die besten,“ meinte sie.

Aus einem Fass zapfte sie ein wenig Wein, schnupperte daran, kostete und nickte. Dann füllte sie den Krug. Ich entfachte ein Feuer im Kamin der Weinstube und wir setzten uns in die Polsterstühle.

Kat blickte in die prasselnden Flammen. „Wir könnten uns Geschichten erzählen. Irgendeine kennt doch jeder - aber was fröhliches! Ich hab die Nase voll davon, immerzu Probleme zu wälzen.“

„Haben Sven oder ich euch eigentlich mal erzählt, wie wir Zosimo kennengelernt haben?“ fragte ich.

„Nur ganz allgemein,“ meinte Kat. „Ihr sagtet, er sei auf der Flucht vor den Schergen des Kaisers gewesen, weil er in der Universität zu Klagenfurt ein Buch geklaut hatte. In eurem abgelegenen Piratennest hat er sich ein paar Wochen lang verborgen.“

Ich erzählte, wie Sven und ich Zosimo im Landgasthof „Zum einäugigen Piraten“ begegnet waren und wie es dazu kam, dass er uns bei seiner Abreise die Einladung nach Dwarfencast hinterließ. Anschließend erzählte Kat ein paar Söldner-Anekdoten aus Kriegslagern, in denen sie als Feldscherin tätig gewesen war.

Lyana berichtete von Streifzügen in den Wäldern im Süden. Einmal, erzählte sie, seien sie und ihr Vater tief in den Wäldern den „Herren des Waldes“ begegnet.

„Später sah ich sie noch ein oder zweimal aus der Entfernung, aber ich habe mich ihnen nie genähert. Sie kamen mir so...“ Lyana suchte nach Worten, „...Ehrfurcht einflößend vor, ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Ich meinte jedes Mal, mein Herz stünde still, wenn ich sie sah. Vater sprach mit ihnen in ihrer melodischen Sprache. Ich fühlte mich furchtbar klein und unscheinbar und wollte mich heimlich davonstehlen, aber Vater nannte ihnen meinen Namen und sie schauten mich freundlich an. Einer trat vor, legte mir die Hand auf die Stirn und segnete mich. Ich habe die Worte noch im Ohr: Mögen Landorlin und Vendona dich behüten, Lyana. Möge das Glück dich begleiten auf deinen Wegen.“

„Du verstehst ihre Sprache?“ fragte Kat.

Lyana nickte. „Vater hat sie mir beigebracht. Wenn du ihnen später einmal, wenn du älter bist, begegnest, musst du ihre Sprache können, sagte er immer.“

„Wie sind sie - diese Herren der Wälder im Süden?“ wollte ich wissen.

Lyana überlegte. „Wie soll ich sie beschreiben? Ich empfand in ihrer Nähe immer so ein Erschauern, als wären sie von einer Art unsichtbarem Glanz umgeben. Sie bewegen sich anmutig. Wenn sie lautlos durch den Wald streifen, sind sie kaum zu sehen zwischen Bäumen und Blattwerk, so sehr passen sie sich der Waldumgebung an. Sie sind hochgewachsen und schlank. Ihre Sprache erinnert an Gesang. Sie lieben Musik und singen gerne, aber ich habe sie dennoch immer als schweigsam und zurückhaltend empfunden.“

„Elben!“ rief Kat.

Lyana wiegte nachdenklich den Kopf. „Kann sein, dass sie die Quelle der Volksmythen von Elben und Feen sind. Sie selbst geben sich ganz verschiedene Namen, je nachdem, zu welcher Familie sie gehören.“

Bei Lyanas Beschreibung der Waldherren hatte ich aufgemerkt. Ich betrachtete sie, wie sie in ihrer Lederkleidung vor dem Kamin saß - schlank, beinahe zierlich, dabei wendig und anmutig. Wenn Lyana über unwegsames Gelände lief oder auf einen Felsen sprang, lag eine Leichtigkeit in ihren Bewegungen, gegen die jeder andere Mensch plump wirkte. Und bei all ihrer stillen Zurückhaltung liebte auch sie die Musik. Ein Gedanke fuhr mir durch den Kopf.

„Lyana, kannst du dich daran erinnern, wie deine Mutter war?“

„Nein,“ sagte sie traurig. „Ich habe überhaupt keine Erinnerungen an sie.“

Mit einem Mal sah sie mich überrascht an.

„Nein, das glaube ich nicht,“ murmelte sie. „Das ist ganz unmöglich.“

„Was glaubst du nicht?“ wollte Kat wissen.

„Ach nichts, ich hab nur laut gedacht.“ Lyana schüttelte ihre dunkelblonden Locken, wie um einen lästigen Gedanken loszuwerden. „Leif, erzähl doch nochmal, wie ihr damals im Sturm beinahe gekentert seid, an dem Morgen, bevor ihr Zosimo kennengelernt habt. Das hast du vorhin nur angedeutet.“

Ich erzählte. In der warmen Stube, zurückgelehnt in die Polster der Lehnsessel vor dem knisternden Kaminfeuer durchrieselten mich wohlige Schauer, während ich von eisigem Wasser, Sturm, zerreißenden Segeln und den Angstschreien der Männer auf dem Kutter berichtete.

***

Als wir spät am Abend zum zweiten Stock hinaufstiegen, nahm Kat mich an der Hand. Wir wünschten Lyana eine gute Nacht, gingen in unser Zimmer, entzündeten die Kerze und zogen uns aus.

Kat legte sich neben mich und schaute mich an, auf ihren Arm gestützt. Mit der anderen Hand strich sie mir über die Brust.

„Tut mir leid wegen gestern Abend - ich war so furchtbar wütend wegen Sven,“ sagte sie leise.

Ich spielte mit der Hand in ihrem Haar.

„Klar,“ meinte ich zögernd. „Versteh' ich schon...“

Ich hoffte, es klang glaubwürdig.

„Ich hab die ganze letzte Nacht wach gelegen und gewartet, dass du endlich mal wach wirst. Gegen Morgen wurde es mir zu dumm.“

Ich schluckte. „Kat, es tut mir leid, ehrlich. Es... ich...“

„Ach, lass doch,“ flüsterte sie und tastete mit den Fingern meine Gesichtszüge nach.

Sie schien etwas sagen zu wollen und setzte ein paar Mal an, sagte dann aber doch nichts.

„Hm?“ Ich sah sie fragend an.

„Sag mal, Leif...“ sie zögerte, „...zwischen dir und Lyana, ist da was?“

„Also weißt du - es ist so...“ verzweifelt suchte ich nach den richtigen Worten.

Sie schaute mich an. „Du kannst es mir ruhig sagen.“

„Nein, nichts von der Art, Kat. Es ist... als Ligeia sie in der Nacht nach dem Kampf im Kloster oben im Gebirge vor dem Verbluten rettete, da musste ich mein Blut geben, damit Ligeia sie am Leben halten und heilen konnte. Sie hat Lyana mein Blut zu trinken gegeben. Seither ist es, als wären wir Blutsverwandte, weißt du? Wir haben es beide erst nachher bemerkt. Wir sind nicht verliebt in einander oder so, das ist es nicht – es ist eher, als wären wir Geschwister.“

Insgeheim zweifelte ich an dem, was ich Kat beteuerte.

„Ach so...“ Kat sah nachdenklich vor sich hin. „Ich hatte mir schon Gedanken gemacht.“

Sie unterdrückte ein Gähnen. „Heute bin ich müde.“

Dann lächelte sie mich zärtlich an. „Aber so müde nun auch wieder nicht... wie fühlst du dich?“

Ich zog sie zu mir heran und küsste sie. Wir klammerten uns aneinander, als fürchteten wir, wir könnten einander entrissen werden. Kat schluchzte, und als ich in sie eindrang, gab sie sich mir leidenschaftlich, beinahe verzweifelt hin. Aber obwohl sie sich fest an mich presste, hatte ich den Eindruck, sie dächte die ganze Zeit über an Sven und daran, dass sie ihn verloren haben könnte.

3.