Schatten der Anderwelt - Thomas Hoffmann - E-Book

Schatten der Anderwelt E-Book

Thomas Hoffmann

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Beschreibung

Aila sah Norbert warnend an: "Dort liegt der Abstieg in die Hölle. Das ist dein Weg, Norbert!" Norbert holte Luft. "Ja. Ich hab es Lonnie versprochen." Kehr um! schrie eine Stimme im hintersten Winkel seines Bewusstseins. Aber er wollte nicht hinhören... "Du bist einer von den Seelenwunden, die von ihren Schatten verfolgt werden," sagt ihm die Wirtshausdirne Sandra. Unter dem Fluch des Gornwalds geboren, kann Norbert sich der Schatten, die ihn verfolgen, um ihn zu ermorden, nur erwehren, wenn er lernt, mit einem der verschollenen heiligen Schwerter der Frühzeit umzugehen. Doch die Mächte, denen diese Schwerter gehorchen, sind um vieles boshafter, als die Dämonen des Gornwalds. Kann Norbert lernen, sie zu beherrschen oder geht er in seinen sicheren Tod? Das Wolfsmädchen Lonnie hilft ihm, kämpft an seiner Seite. Aber er weiß, dass sie eine Banshee ist, eine Todesfee, die ihn für immer hinabziehen will... "Sie spricht mit dir? Und du mit ihr? Über die Grenze hinweg?" "Ja." "Du weißt, dass du in Lebensgefahr schwebst?" "Ja." IAilas Stimme klang, als verstärkte der Wind sie noch: "Ist dir klar, was du dir da vorgenommen hast?" Norbert senkte den Kopf. Er konnte ihrem Blick nicht standhalten. "Ich glaub schon," murmelte er. Dann riss er sich zusammen und schaute sie an. "Ja. Ich glaube, es ist mein Weg."

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Thomas Hoffmann

Schatten der Anderwelt

Die Fahrten des Norbert Lederer 2

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

I. Teil

1.

2.

3.

4.

5.

II. Teil

6.

7.

8.

9.

10.

11.

III. Teil

12.

13.

14.

15.

IV. Teil

16.

17.

18.

Impressum neobooks

I. Teil

Der Abenteurerjunge

1.

Am Frühjahrsfest des Jahres 816 ereignete sich in der Markgrafenstadt Altenweil eine Brandkatastrophe. Es war das katastrophalste Ereignis seit dem Horgarensturm im Jahr 214, welcher einst die Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Das Feuer brach gegen Mitternacht im Turm des stadtbekannten Dämonologen Anton Dreyfuß aus. Die Brände breiteten sich schnell aus. Weite Teile der Unterstadt standen in Flammen.

Inmitten der Panik auf den Gassen um den Bereich brennender Häuserzeilen, zwischen den Schreien Verbrannter, die sich aus den Flammen herausschleppten, dem verzweifelten Kreischen von Müttern, die ihre Kinder in den Flammen verloren hatten, verbrennen sehen hatten, dem Entsetzen derer, die innerhalb einer Viertelstunde alles verloren hatten, versuchten Torwachen und Kriegsknechte des Markgrafen, Brandschneisen zu schlagen. Sie brachen Haustüren ein, zerschlugen Mobiliar, zertrümmerten alles Brennbare, sogar die Fensterläden brachen sie heraus und warfen die Trümmer zur dem Feuer abgewandten Seite in die Hinterhöfe. Mit Eimerketten versuchten sie im beißenden Qualm, Fußbodendielen und Dachstühle unter Wasser zu setzen im Wettlauf mit den von der gegenüberliegenden Seite der Gasse herüberstiebenden Brandfunken.

Unter dem nachtschwarzen Himmel färbte die lodernde Feuersbrunst den Burgfelsen inmitten der Stadt glühend rot. Im flackernden Feuerschein tauchten hoch über der Stadt immer wieder für Augenblicke die abweisenden Mauern der Grafenburg aus der Dunkelheit auf. Die ganze Nacht über und bis in den vom Rauch verdunkelten Morgen hinein läuteten die Klosterglocken Sturm. Unablässig verbrannten die Mönche kostbaren Weihrauch auf den Klosteraltären und beteten auf Knien zur heiligen Mutter von Altenweil um Erbarmen für die Stadt.

Und tatsächlich erinnerten sich später nicht wenige daran, dass das Feuer eine Häuserzeile vor den Klostermauern Halt gemacht hatte und sich dann nicht einen Schritt mehr weiterfraß - genau dort, wo die Knechte des Markgrafen unter dem Jammer- und Protestgeschrei der Anwohner die Brandschneisen geschlagen hatten. Allen Frommen war es offensichtlich: Die Gebete der Mönche hatten die Stadt gerettet.

Den ganzen Tag über wollte das Feuer in den niedergebrannten Teilen der Unterstadt nicht erlöschen. Immer wieder schossen Flammengarben aus den rauchenden Trümmerhaufen, aus denen rußgeschwärzte Kaminschlote aufragten wie abgebrochene Armstümpfe einer verzweifelt gegen den abweisenden Himmel krallenden, glühenden Hölle. Die erschöpften, vom giftigen Rauch hustenden Kriegsknechte und wer nur immer mithelfen konnte, ließen die Eimerketten nicht abreißen, um das Überspringen der Flammen in die noch stehenden Reihen von Fachwerkhäusern jenseits der glühend heißen Zerstörungszone zu verhindern. Inmitten der rauchenden Trümmer ragte die ausgebrannte Ruine des Zaubererturms auf. Blaue Flammen loderten aus den rußgeschwärzten Mauern. Sie wollten nicht erlöschen, allen Gebeten der Mönche und allem Glockenläuten zum Trotz.

Noch am Abend kämpften die Altenweiler gegen das Überspringen des Feuers auf die Häuser nahe der Brandzone. Im Geschrei auf den Gassen, zwischen den heiser gebellten Befehlen der Hauptleute, die ihren Männern unter Flüchen und Drohungen das Äußerste abverlangten, dem überall kauernden und die Löschketten behindernden Stadtvolk – Frauen, Männer und Kinder, die sich weinend über sterbende, nach Wasser schreiende Verbrannte beugten - zwischen umher wankenden Traumatisierten, die über Tote stolperten, in Eimerketten hineintaumelten oder vor sich hinstarrend im Weg saßen - in dem überall herrschenden Chaos fiel der Junge in Ledermontur niemandem auf, der reglos am Rand der Brandzone stand und über das rauchende Trümmerfeld zu der von blauen Flammen eingehüllten Turmruine hinüberstarrte.

Der Junge mochte zwischen sechzehn und siebzehn Jahren alt sein. Er trug ein Schwert in einer Lederscheide an der Seite. Seine Stiefel waren schlammverkrustet. Sein dunkles, schulterlanges Haar unterschied sich in nichts von dem anderer junger Männer, wenn sie nicht gerade Adelige waren oder auf Brautschau: es war lange nicht gekämmt worden und die einzige Wäsche, die ihm seit Wochen zuteil geworden war, war der Regen. Den dunklen Flecken auf seiner Ledermontur war nicht anzusehen, ob sie vom Regen stammten, oder ob es Blutflecken waren aus einem durchgestandenen Kampf auf Leben und Tod.

Kriegsknechte und Stadtvolk in seiner Nähe hielten ihn für einen fahrenden Abenteurer, einen Gesetzlosen. Sie vermieden es, ihm nahe zu kommen. Den Ausdruck bitterer Entschlossenheit, den seine Gesichtszüge annahmen, sah niemand. Der Junge umschloss den Schwertgriff mit der Faust, als blickte er einem Feind entgegen. Niemand hörte die gemurmelte Zauberformel, die über seine Lippen kam. Erst als er langsam, Schritt für Schritt die vor ihm liegende, von glühenden Schlacken und rauchenden Trümmern verschüttete Gasse entlang in die Brandzone hineinstieg, richteten sich alle Blicke in der Umgegend auf ihn.

Mit einem Mal wollten einzelne ihn erkannt haben.

„Das ist der Schüler des Hexenmeisters!“

„Er ist Norbert Lederer!“ riefen Stimmen durcheinander.

„Was tut er da?“

„Heilige Mutter, beschütze uns!“

Er schritt durch das Trümmerfeld der Turmruine entgegen, aus der loderndes blaues Feuer schlug. Dort, wo er ging, erloschen die Flammen.

Durch Rauchschwaden hindurch sahen Markgrafenknechte und Stadtvolk ihn mit gezogenem Schwert vor der Turmruine stehen. Einige behaupteten, er kämpfe mit einem unsichtbaren Gegner. Andere glaubten, er schwanke in der Gluthitze, die dort herrschen musste. Eine Alte, die wohl besonders gute Augen hatte, schrie, seine Haare stünden in Flammen, jeden Augenblick müsse er verbrennen.

„Da, das blaue Feuer,“ brüllte ein Kriegsknecht. „Es versiegt! Das blaue Feuer im Turm erlischt!“

Als die blauen Flammen erloschen, erstarb auch die Feuersglut in der Brandzone. Die stumm gewordene Menge starrte über das rauchende Trümmerfeld. Die Abenddämmerung tauchte die Ruinen rings um die rußgeschwärzten Mauerreste des Zaubererturms in Dunkelheit. Der Junge, von dem einige meinten, er sei der Schüler des in den Flammen umgekommenen Dämonologen Anton Dreyfuß, kniete lange auf sein Schwert gestützt vor der Turmruine. Vor Erschöpfung, meinten einige. Andere glaubten, er bete – zur heiligen Jungfrau oder auch zu irgendeinem Teufel, der ihm geholfen hatte. Später wurde gesehen, wie er aus der Brandzone heraus und längs der Klostermauer in Richtung Armenviertel davonging.

Ein paar erschöpfte Tagelöhner, die seit der vergangenen Nacht bei den Löschketten geholfen hatten, sahen ihn am späten Abend im Durchgang zu einem Hinterhof stehen und zu dem schiefen Fachwerkhaus auf der gegenüberliegenden Hofseite hinüberschauen. Sie wussten, dass das Haus einer Alten gehörte, von der gemunkelt wurde, sie sei eine Hexe, um deren Haus des Nachts Totengeister schlichen. Die Schwarzalben, die in den Hofecken lauerten, waren für die Tagelöhner nicht sichtbar. Der Junge sah sie. Er blickte zu einem kleinen Fenster im oberen Stockwerk hinauf. In dem Fenster brannte kein Licht. Einen Moment überlegte er, ob er trotz der dämonischen Geister zur Hintertür hinübergehen sollte. Aber er verwarf den Gedanken gleich wieder. Noch einmal blickte er zum oberen Stockwerk hinauf, aber als kein Licht sich in dem kleinen Fenster zeigte, wandte er sich um und ging.

***

Die Schänke Zum schwarzen Raben, ein Jahrhunderte alter, zweistöckiger Fachwerkbau mit kleinen Fenstern, lag zwischen sich schief aneinanderdrängenden Holzhäusern in einer Mauergasse des Armenviertels hinter dem Burgfelsen. In dem von wenigen Kienspänen spärlich erhellten Schankraum, unter dessen niedriger Balkendecke der Rauch der Feuerstelle sich sammelte, hatte sich bei Einbruch der Nacht ein halbes Dutzend Reisender eingefunden, die sich zufällig in Altenweil aufhielten, als in der vergangenen Nacht die Feuersbrunst ausbrach. Die Frauen und Männer hatten rußgeschwärzte Gesichter. Reisekleider und Ledermonturen rochen nach Rauch. Die letzte Nacht und den Tag über hatten sie gemeinsam mit Kriegsknechten und Städtern das Feuer bekämpft, über die Brandschneisen herüberspringende Brände gelöscht, Verletzte, Verbrannte und vom Rauch Vergiftete geheilt, Verzweifelten Mut zugesprochen und Plünderer aus den Hinterhöfen bei den Brandschneisen verjagt. Aber was sie auch taten, es war nur ein Tropfen auf den heißen Stein vor dem Ausmaß der Katastrophe.

Jetzt saßen sie schweigend um einen Tisch beim offenen Fenster, wo es weniger rauchig war und schlürften Fleischsuppe, zu müde, um darüber zu sprechen, was sie erlebt hatten. Eine sehr schlanke, in weiches Leder gekleidete Frau, der das blonde Haar in schmutzigen Strähnen um den Kopf hing, hatte ihren Stuhl abgerückt. Auf der Reiseharfe auf ihrem Schoß spielte sie leise, melancholische Töne und sang dazu mit gedämpfter Stimme in fremder Sprache. Wie Tränen über ein verlorenes Glück perlten die Harfenklänge herab.

Das Klacken der Holzschuhe der Küchenmagd Sarah, einer hochaufgeschossenen Sechzehnjährigen mit trotzigem, selbstsicherem Gesichtsausdruck, hob sich misstönend von den sanften Harfentönen ab, als Sarah Bier und Brot an den Tisch brachte. Ein breitschultriger Mann mit einer Augenklappe und riesigen Fäusten nickte ihr schweigend mit auf die Tischplatte gestützten Armen zu. Dass dieser Mann der Wirt des Schwarzen Raben war, hätte niemand erraten, der das nicht wusste. Sarah warf sich das braune, zum Pferdeschwanz zusammengebundene Haar in den Nacken und verschwand klackend im Flur zur Küche.

Ein Nachtfalter verirrte sich durch das offene Fenster in den Schankraum und verbrannte in der Flamme des Kienspans auf dem Tisch. Es war wie ein Zeichen des Grauens, welches der Markgrafenstadt widerfahren war.

Nur Gordon, der Wirt, schaute auf, als die Eingangstür geöffnet wurde.

Erst, als jemand erstaunt rief: „Das ist er!“ blickten alle auf den Jungen mit dem verrußten Gesicht in der Ledermontur voller alter, dunkler Blutflecken. Die Harfenmusik verstummte.

Norbert sah die Frauen und Männer am Tisch. Sie schauten ihm entgegen. Er bemerkte den festen, ruhigen Blick aus Gordons gesundem Auge. Er roch den Essensgeruch, sah die Bierkrüge auf dem Tisch und sah die Abenteurer auseinanderrücken, um ihm einen Stuhl an den Tisch zu stellen. Erst in diesem Moment spürte er die abgrundtiefe Mattigkeit seines Körpers. Jeder einzelne seiner Muskeln schmerzte. Der Schädel hämmerte ihm von den Nachwirkungen der Magie, die er im Kampf in der Brandzone freigesetzt hatte. Er machte ein paar Schritte in den Raum hinein. Der Schankraum begann, sich um ihn zu drehen. Ihm wurde schwarz vor Augen.

***

Gluthitze. Ein brüllender Feuersturm blauer Flammen jagte Norbert aus den verbrannten Turmmauerresten entgegen. Mit aller Macht stemmte er sich gegen den Sog in den Abgrund der Anderwelt. Das bleckende Gebiss mit den dolchartigen Zähnen. Es zuckte vor Norberts hell aufstrahlender Schwertklinge zurück. Hohles Kreischen drang aus dem geifernden Rachen...

Norbert riss die Augen auf. Er fand sich in einem mit Decken ausgeschlagenen Lehnstuhl am offenen Fenster des Schankraums wieder. Das ernste Gesicht der Bardin beugte sich über ihm. Ihre schmale Hand hielt ihm ein Tonfläschchen entgegen.

„Nimm noch einen Schluck. Dein Körper kann es gebrauchen.“

Gehorsam trank er den Schluck Heilwasser. Die dumpfen Schmerzen im Bauchraum nahmen ab. Milde Wärme breitete sich vom Magen her in Norberts Körper aus. Kopfweh und Übelkeit verschwanden. Erleichtert atmete er auf. Er hatte befürchtet, die inneren Verletzungen wären wieder aufgebrochen, die er vor drei Tagen im Kampf mit dem untoten Wächterschädel während der Flucht aus dem Haus des Schwarzhexers erlitten hatte. Noch immer konnte er kaum begreifen, dass es ihm gelungen war, aus jener Hölle zu entkommen.

Er blickte in die rußverschmierten Gesichter rings umher.

„Was ist geschehen?“

„Das würden wir gerne von dir wissen, Junge,“ antwortete ein heiserer Alter.

Seine Jacke war voller Brandflecken, seine Augenbrauen und sein weißes Haar waren versengt.

„Wie hast du das gemacht, das dämonische Feuer zu bannen? Ich hätte es nicht gekonnt, mit all meinen Jahren. Keiner von uns hier hätte das gekonnt. Nicht einmal Helena.“

Er warf einer blassen Frau in schwarzer Ledermontur einen Blick zu. Sie nickte langsam. Schweigend schaute sie Norbert an. Ihre hellgrünen Augen schienen mehr zu sehen als den umgebenden Schankraum und die hier Anwesenden. Norbert setzte sich auf. Er wusste keine Antwort auf die Frage des Alten.

Die Banshee im Zentrum des blauen Feuersturms. Klauennägel lang wie Dolche krallten nach Norbert. Überall um ihn her Todesschreie. Der Himmel wurde schwarz. Vor einem blau glühenden Horizont umgaben ihn die Trümmer der vor sechshundert Jahren geschleiften Stadt. Geisterschreie Gefolterter und vergewaltigter Mädchen und Frauen. In den Ruinen röchelten Sterbende. Norberts Bannzauber versagten...

„Es war eine Todesfee,“ murmelte Norbert. „Eine von der ganz bösen Sorte.“

Nach und nach begann ihm klar zu werden, was geschehen sein musste. Tränen schossen ihm in die Augen.

„Ich bin zu spät gekommen!“

Er konnte es nur flüstern. Die Stimme versagte ihm.

Der Alte schüttelte unwirsch den Kopf: „Für ein paar tausend Altenweiler bist du gerade rechtzeitig gekommen, Junge. Du hast die Stadt gerettet.“

Norbert wusste, dass es nicht so war. Er brauchte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte.

„Es... es hätte überhaupt nicht passieren müssen. Dreyfuß hatte gesagt, die Zeit um die Frühlingsfeier wäre günstig für Anderweltfahrten. Er befahl mir, rechtzeitig zurück zu sein. Wenn ich da gewesen wäre...“

Mit entschiedener Stimme erwiderte Gordon: „Nein, Norbert! Glaube nicht, du könntest Schicksal spielen. Wir sind bloß Wanderer in dieser Welt. Ihren Fortgang zu bestimmen, ist niemandem von uns gegeben!“

Im Schweigen im Raum auf Norberts Worte klang die Stimme des Wirts seltsam laut. Jemand hielt Norbert einen Bierhumpen entgegen. Norbert trank gierig und musste laut aufstoßen. Gedankenverloren wischte er sich Bierschaum vom Kinn. Das Bier stieg ihm schnell in den Kopf. Vielleicht hatte Gordon recht. Aber sie konnten nicht wissen, was er wusste...

„Wenn jemand schuld ist an der Katastrophe,“ knurrte der Alte, „dann Anton Dreyfuß. Er hätte um die Folgen seiner wahnsinnigen Experimente wissen müssen. Aber wenn man seinem Verwalter glauben will, hatte er schon lange den Verstand verloren. In den letzten Tagen soll er völlig wahnsinnig geworden sein.“

Norbert blickte überrascht auf.

„Du hast mit Telluk gesprochen?“

„Er war hier,“ hauchte die Hellgrünäugige. „Er hatte sich hier für eine Nacht ein Zimmer gemietet, bevor er vorgestern abgereist ist. Er sagte, er wolle nach Karrakadar, zu seinem Volk. Die Kiepe voller Bücher, die er aus dem Turm mitgenommen hat – ich glaube nicht, dass Anton Dreyfuß ihm diese Bücher geschenkt oder verkauft hat. Telluk sagte voraus, dass es ein Unglück geben würde.“

Sie sah Norbert mit ihrem seltsamen Blick in die Augen.

„Du hättest niemanden gerettet, wenn du hier gewesen wärst. Du wärst gestorben – wärst hinabgerissen worden, wie dein Lehrmeister!“

Auch so schon wäre es um ein Haar über seine Kräfte gegangen.

Die Bannsprüche, die Dreyfuß ihm beigebracht hatte zur Vertreibung von Schwarzalben und Nachtmahren aus den Häusern von Altenweiler Bürgern und Handwerkern, konnten der Banshee nichts anhaben. Mit Mühe und Not konnte Norbert sich mit dem Schwert der Angriffe ihrer Klauen und ihres Rachens erwehren. Als das dunkle Blau der Anderwelt rings umher aufstieg, wusste er, dass sie ihn hinüber gezogen hatte...

Er konnte sich nicht erinnern, wie er darauf gekommen war, die Lebensmagie des Hexenmeisters anzuwenden.

...War da der Ruf eines Mädchens in seinem Rücken?

„Der Ritualgesang des Lebens! Schnell, Bert! Ehe sie dich tötet!“

Nach den Wochen unerbittlicher Schulung in Darulans Haus, diesem Vorort der Hölle für jene, die dort gefangen waren, sprangen Norbert die Zauberformeln wie von selbst ins Bewusstsein.

„Gemyne dhu mucwyrt, hwaet thu ameldodest...“

Das grausame Kreischen der Banshee, als sie vor seinen Augen zum morschen Skelett zusammenschrumpfte, zu Staub zerfiel. Als er die von Rauchschwaden erfüllte Luft des diesseitigen Abends schmeckte, konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten. Kniend stützte er sich auf sein Schwert, um nicht zusammenzubrechen und das Bewusstsein zu verlieren.

Die Stimme der Frau, die bei Norberts eintreten Harfe gespielt hatte, riss Norbert aus seinen Erinnerungen.

„Nimm etwas zu essen zu dir. Später kannst du uns immer noch berichten.“

Das schmale Gesicht der Bardin mit den weit auseinanderliegenden Augen irritierte Norbert. Einem Moment lang glaubte er, er müsse sie irgendwo schon einmal gesehen haben. Er stand auf und ging zum Tisch. Er spürte keine körperliche Schwäche mehr, aber er hatte furchtbaren Hunger. Er machte sich über Fleischsuppe, Brot, Käse und Bier her, die ihm zugeschoben wurden. Während er aß, beobachtete er die Bardin im Augenwinkel. Sie war groß und sehr schlank, beinahe schmal in der dünnen, rußverdreckten Lederjacke, die sie eng auf dem Leib trug. Das glatte blonde Haar hing ihr in schmutzigen Strähnen ums Gesicht. Schweigend und mit unbewegter Miene nahm sie Anteil an dem leisen Gespräch, das am Tisch geführt wurde. Und mit einem Mal wusste Norbert, an wen sie ihn erinnerte: Sie hatte dasselbe Gesicht wie die Geister in den Ruinen des Elbendorfs in der Flussaue nahe Wildenbruch, seiner Heimat im Gornwald - seiner ehemaligen Heimat, korrigierte er sich bitter. Inzwischen bestand auch Wildenbruch nur noch aus verfallenen Hütten. Ob jetzt auch dort die Geister der verhungerten Familien umherwandelten, auf der verzweifelten Suche nach einem verlorenen Leben? Grausen erfasste ihn und er zwang sich, an anderes zu denken.

Sarah kam herein, nahm sich einen Stuhl vom Nebentisch und setzte sich zwischen Norbert und einen rothaarigen Mann in den Vierzigern mit müden Gesichtszügen. Norbert hielt ihn für einen Wilderer, wegen des Waidmessers in seinem Gürtel. Norbert rückte ein wenig zur Seite, um Sarah Platz zu machen. Sie betrachtete ihn ernst und aufmerksam.

„Du bist lange fort gewesen.“

Norbert nickte. Er schluckte den Bissen herunter, den er im Mund hatte.

„Ja. Ich hab gedacht, ich könnte innerhalb einer Woche zurück sein. Die alte Elena, bei der Melanie und ich Sterntags das Zimmer gemietet haben, hatte mir von jemandem erzählt, der die Zauberformeln weiß, nach denen Dreyfuß suchte.“

Am Tisch wurde es still. Alle Augen richteten sich auf Norbert. Im schütteren Licht des Kienspans auf dem Tisch zeichneten sich die Gesichter der Zuhörer kaum vor der Dunkelheit im Raum ab. Von der anderen Seite des Tischs blickte Gordon Norbert mit dem klaren, festen Blick seines gesunden Auges an.

„Ich wusste ja nicht, was mich erwartet,“ flüsterte Norbert. „Ich war am Rand des Gebirges im Norden des Gornwalds. Ich glaube, es ist das Laendorgebirge.“

Jemand nickte.

„Drei Wochen lang war ich bei Darulan gefangen. Er hat mir den Ritualgesang beigebracht, mit dem ich die Banshee im blauen Feuersturm in die Anderwelt zurück bannen konnte. Aber er brachte sie mir nur deshalb bei, weil er mich abhängig machen und in seine blutige Magie initiieren wollte. Wie Linda und Ruth, die er bei sich gefangen hält – hielt,“ korrigierte er sich.

Bei der Erwähnung von Ruth bekam er einen Kloß im Hals. Ruth war tot. Erschlagen von seinem Schwert. Er bezwang die Schuldgefühle, die ihn überkamen.

Mit belegter Stimme erklärte er: „Erst vorgestern ist mir die Flucht gelungen.“

Es war nur die halbe Wahrheit. Er wollte Lonnie nicht erwähnen. Gordon und Sarah wussten ohnehin von ihr.

„Erzähl uns mehr darüber, Junge,“ forderte der weißhaarige Alte, aber Gordon winkte ab.

„Nein, du bist müde und abgekämpft, Norbert. Morgen Abend kannst du mehr berichten, wenn du willst. Aber heute ruhe dich aus. Selbstverständlich übernachtest du hier.“

Der einäugige Wirt blickte Norbert fest an.

„Quäle dich nicht wegen dem, was dir widerfahren ist. Du hast Großes geleistet.“

Gordons Worte waren Balsam für Norberts von Schuldgefühlen und Horrorträumen zermarterte Seele. Norbert fragte sich schon lange nicht mehr, wie der Wirt der Abenteurertaverne Zum schwarzen Raben es immer wieder zustande brachte, ihm mit wenigen Worten Mut zu machen, wenn er allen Mut verloren hatte. Er nickte und atmete durch.

„Ja. Danke für den Schlafplatz. Ich muss morgen vor Morgengrauen wieder los.“

Zweifelnd fragte Sarah: „Warum musst du wieder los? Wohin?“

Norbert blickte auf die Tischplatte.

„Heute ist doch Sterntag,“ druckste er. „Ich... ich war vorhin noch beim Haus der alten Elena. Ich dachte, vielleicht wartet Melanie auf mich in unserem Zimmer. Aber im Fenster war kein Licht. Morgen in der allerersten Dämmerung geh ich wieder hin, sobald die Dämonen um das Haus herum sich verzogen haben. Wenn Melanie das Licht vorhin schon gelöscht hatte, treffe ich sie noch, bevor sie zu ihrer Dienstherrschaft zurückgeht.“

„Halb Altenweil steht in Flammen und du denkst, deine Liebste hat nichts anderes im Kopf als euer Stelldichein?“ spottete Sarah.

„Aber der Feuerbrand war ja in der Unterstadt, nicht im Armenviertel, wo Elenas Haus steht,“ verteidigte sich Norbert.

Es fiel ihm gleich selber auf, dass es ziemlich dumm war, was er gesagt hatte. Sarah hätte gar nicht erst so höhnisch gucken brauchen.

Doch statt weiter zu spotten, wechselte sie das Thema: „Mark war ein paar Mal hier und hat nach dir gefragt.“

Bei der Erwähnung des jungen Kriegsknechts hellte sich Norberts trübe Stimmung auf.

„Wirklich, er war hier? Wie geht es... äh, ihm?“

Beinahe hätte er gefragt: Wie geht es euch beiden? Aber er wusste, dass Sarah es nicht dulden würde, wenn er die heimliche, unausgesprochene Sympathie der beiden füreinander ansprach. Doch wer weiß, vielleicht taten sie ja inzwischen gar nicht mehr so heimlich miteinander? Möglicherweise waren sie endlich ein Pärchen geworden. Er musste seinen besten Freund unbedingt fragen, wenn er ihn wiedersah.

Sarah antwortete wortkarg und ruppiger, als sie gemusst hätte: „Bisher hat er jedenfalls noch keinen Ärger beim Obristen bekommen, weil er hierherkommt.“

Die Bardin nahm ihr Harfenspiel wieder auf. Norbert blieb nicht mehr lange bei den Abenteurern sitzen. Gordon gab ihm einen Kerzenstumpen mit nach oben. Als Norbert die Stiege zum Obergeschoss hinaufstieg, perlten die Harfenklänge von unten aus dem Gastraum herauf ihm nach. Die dunkle, traurige Melodie wurde immer wieder durchbrochen von hellen Klängen, die Norbert an Sonne und mutige Wege denken ließen, als wollten die Klänge ihn erinnern, dass sein Weg weiterging, heraus aus Erschöpfung und Zerstörung, fernen, noch kaum greifbaren Zielen entgegen.

***

Mit dem brennenden Kerzenstumpen in der Hand ging er den Gang entlang zu dem Zimmer, das Gordon ihm zugeteilt hatte. Er war froh, dass es nicht dasselbe Zimmer war, in welchem er vor einem Jahr an seinem ersten Tag in Altenweil mit Sturmkind geschlafen hatte. Trotz allem, was sich seither ereignet hatte, hatte er das unbändige Mädchen nicht vergessen. Er würde sie nie vergessen.

Das Zimmer ging zum Hof hinaus. Den meisten Platz nahm das breite Bett gegenüber dem Wandkamin ein. In saubere Leinentücher eingeschlagene Decken waren über den mit Stroh gefüllten Bettkasten gebreitet. Der Kamin war kalt. Unter dem mit Pergament bespannten Fenster standen ein Tisch und ein Stuhl. Ein Kerzenhalter stand auf dem Tisch. Norbert setzte den Kerzenstumpen hinein. Dann blickte er in den Schrank neben der Tür. Er war leer bis auf ein paar Decken. Norbert hatte nichts, was er in den Schrank hätte legen können. Die wenigen Sachen, die er besessen hatte, waren in Dreyfuß‘ Turm dem Feuer zum Opfer gefallen. Er besaß nichts, als was er auf dem Leib trug, dazu ein paar Kupfermünzen und das magische Schwert, eine Leihgabe seines Lehrmeisters. Jetzt konnte er es wohl als sein Erbstück betrachten.

Er gürtete das Schwert ab, öffnete die Lederjacke, setzte sich aufs Bett und starrte ins schwache Kerzenlicht. Der Turm niedergebrannt, sein Lehrmeister tot, die Unterstadt vom Feuer verwüstet. Überall hatte er Verzweifelte, Sterbende und Tote gesehen. Er war nicht der einzige, der alles verloren hatte. Aber das machte es nicht weniger schlimm. Wie sollte es weitergehen? Mit der Lehrstelle bei Anton Dreyfuß hatte er auch das Lehrgeld, seine einzige Einkommensquelle verloren. Wovon sollte er leben? Wovon das Zimmer bezahlen, das er für Melanie und sich bei Elena gemietet hatte? Und selbst Gordon würde ihm nicht ewig Kost und Schlafplatz für umsonst anbieten.

Melanie – wie sehr er sich nach ihr sehnte. Der Gedanke an sie hatte ihn am Leben gehalten in Darulans Hölle.

Hoffentlich war sie bei Elena. Hoffentlich hatte sie morgen früh noch ein kleines Bisschen Zeit für ihn. Wenn er sie nicht bei Elena traf, würde er zum Haus des Ratsherrn Hohenwart gehen, wo sie Dienstmagd war.

Mach dir keine Sorgen um mich, Melanie, dachte er. Ich habe dir doch gesagt, dass ich zu dir zurückkommen werde. Mein Leben lang!

Er zog die Lederjacke aus, hängte sie über die Stuhllehne und holte den Packen Schreibbögen unter dem Hemd hervor, den er Darulan gestohlen hatte. Den Halsanhänger von Sturmkind, den er unversehens mit hervorgezogen hatte, steckte er wieder unter sein Hemd. Er legte die zusammengefalteten, zerknitterten Seiten auf den Tisch. Er konnte nicht lesen, was Darulan darauf geschrieben hatte. Er hatte nie lesen gelernt. Die Blätter, von denen er hoffte, dass darauf die Worte des Zauberrituals der Lebensmagie standen, hatte er seinem Lehrmeister bringen wollen. Mit ihnen, davon war Norbert überzeugt, wäre Dreyfuß an dem Vorhaben, das Telluk wahnsinnig genannt hatte, nicht gescheitert. Der Turm stünde noch. Die Unterstadt wäre nicht in Flammen aufgegangen. Dreyfuß wäre noch am Leben. Und die Banshee, die sein Meister ins Leben zurückholen gewollt hatte... es war ein abstruses Experiment mit kaum vorhersehbarem Ausgang gewesen. Wäre Norbert eine Woche früher zurück gewesen...

Norbert selbst hatte den Zaubergesang auswendig gelernt. Und hatte er nicht selbst Ungeheuerliches damit vor? Aber er hatte einen Schwur getan. Er hatte Lonnie versprochen, ihr zu helfen.

Er zog Stiefel, Wolljacke und die ledernen Hosen aus, löschte das Licht und kroch im Hemd unter die Bettdecken. Nachtlicht sickerte durch das Pergamentfenster herein. Er blickte ins Dunkel am Bettende gegenüber dem Fenster. Halb erwartete er, dort ein leises Schluchzen zu hören, die verschwommene Gestalt des Geistermädchens zu sehen im dünnen Kleid, frierend und nass vom Brunnenwasser. Aber nur Nachtdunkel verhüllte die Zimmerecken. Sobald er die Augen schloss, klangen ihm Schreie in den Ohren.

Lindas Schreie im Haus des Hexenmeisters mischten sich mit dem Geistergeschrei Gefolterter und Sterbender um die brennende Turmruine. Überall sah er Blut. Der Blutschwall aus Lindas aufgeschlitzten Unterarmen, zischend im weißen Rauch des Kohlenfeuers. Sein eigenes Blut, das er erbrach nach dem Kampf mit dem untoten Wächter.

Er tastete nach dem Metallanhänger von Sturmkind. Habe immer den Mut, deinen Träumen zu folgen, war ihre Botschaft gewesen, die sie ihm mit dem Anhänger gesandt hatte. Er umschloss den Anhänger fest mit der Faust. Noch einmal öffnete er die Augen und blickte ins dunkle Zimmer. Lonnie erschien nicht. Er drehte sich zur Seite und wickelte sich fest in die Decken, als könnten sie ihn bewahren vor den blutigen Horrorträumen, die ihn jede Nacht verfolgten. Sein letzter Gedanke, bevor er einschlief, war der Gedanke an Melanie. Ob sie jetzt schlief, dort in dem kleinen Zimmer bei Elena? Oder lag sie wach und dachte an ihn?

Durch Träume von Flammen und schwarzmagischen Räuschen, die ihn in dieser Nacht verfolgten, hallte wieder und wieder Wolfsgeheul, einsam und unermesslich fern.

***

Eine Stunde vor Morgengrauen wurde er wach. Er war es gewohnt, mit dem allerersten Halblicht des sich ankündigenden Tages aufzuwachen, wenn die Schwärze der Nacht in erstes Dämmergrau überging. Nur als kleiner Junge hatte er noch bis Tagesanbruch geschlafen, wenn die Frauen schon längst Feuer gemacht und mit der Tagesarbeit begonnen hatten.

Er zog Hosen und Stiefel an und raffte seine wollene Schlupfjacke, die Lederjacke und sein Schwert zusammen. Einen Moment überlegte er, ob den Packen Schreibbögen auf dem Tisch liegen lassen oder besser in den Schrank legen sollte. Aber dann entschied er sich, ihn mitzunehmen. Wenn Sarah die Bögen beim Ausfegen fand, wer weiß, was sie am Ende noch damit anstellte? Kurzentschlossen schob er den Packen unter sein Hemd.

Er tastete sich durch den dunklen Gang und über die Hintertreppe in den Gang zur Hoftür im Erdgeschoss. Als erstes suchte er die Latrinen im Hof auf, um seine Notdurft zu verrichten. Dann ging er zurück ins Haus. Bevor er sich zu Elenas Haus aufmachte, wollte er sich wenigstens den gröbsten Schmutz, verkrustetes Blut und Ruß vom Körper abwaschen. Vielleicht hatte Melanie ja doch noch eine halbe Stunde Zeit für ihn. Nicht, dass er es unbedingt von ihr gewollt hätte – aber für alle Fälle... In weniger als einer Stunde würde er sie wiedersehen. Wie er sich nach ihr sehnte!

Der kahle Raum mit dem Waschbottich und ein paar Holzeimern, der in Gordons Gasthaus als Bad für die Gäste diente, lag gegenüber der Küche. Norbert holte den Kerzenstummel hervor, um im dunklen Bad Licht zu machen – er benötigte keine brennende Flamme, um den Docht anzuzünden – und öffnete die Lattentür.

Im Bad brannte eine Kerze auf dem Rand des dampfenden Waschbottichs. Die Harfenspielerin beugte sich über einen mit Wasser gefüllten Eimer und wusch ihr Haar. Ihre Kleider lagen zusammengelegt auf der Holzbank an der Wand. Wasser glänzte auf ihrer hellen, nackten Haut. Norbert stolperte zurück.

„Oh, Verzeihung.“

Die Bardin richtete sich auf. Mit unverstellter Offenheit schaute sie Norbert ins Gesicht.

„Nein, ist doch in Ordnung. Komm rein. Es ist genug heißes Wasser da. Schöpf dir einen Eimer voll und wasch dich.“

Sie versuchte in keiner Weise, ihre Blöße zu verbergen, wie Norbert es von den Mädchen in Wildenbruch gewohnt war, wenn man sie beim Baden im Fluss ertappte - die einen, indem sie sich scheu davonstahlen, andere kreischend, wenn sie wollten, dass man sie ansah und hübsch fand. Die hochgewachsene schlanke Frau, Norbert schätzte sie um die Dreißig, stand völlig selbstverständlich vor ihm, als wäre es das Normalste der Welt für sie, nackt zu sein.

„Ich hasse es, dreckige Haare zu haben,“ meinte sie zwanglos. „Du kannst meine Seife benutzen, wenn du willst.“

Norbert musste sich zwingen, nicht auf ihre festen, kaum vorgewölbten Brüste oder den hellblonden Haarbusch ihres Schoßes zu starren.

Völlig überrumpelt stotterte er: „Nein, nein, schon gut, ich... ich wollte nur... Entschuldigung, tut mir leid!“

Rückwärts tastete er sich zur Tür zurück, rempelte gegen den Türrahmen und stolperte hinaus.

„Ach, das ist doch dumm!“ rief sie ihm nach.

Norbert antwortete ihr nicht. Wie benommen durchquerte er den Schankraum, zerrte sich Wolljacke und Lederjacke über, gürtete sein Schwert um und trat auf die dämmerige Mauergasse hinaus.

Die engen, verwinkelten Gassen des Armenviertels lagen noch im Dunkeln. Über den Dächern ging der Nachthimmel in tiefes Blau über. Ein erster Streifen Helle lag über den Stadtmauern im Osten. Die Zinnen der Burg hoch über der Stadt glänzten bereits im frühen Sonnenlicht.

Wütend über sich selber stapfte Norbert durch den Gassendreck. Aschenflocken trieben in der Luft. Es roch nach kaltem Rauch. Noch war niemand in den Gassen unterwegs. Das Viertel lag wie in bleierner Ermattung nach dem Horror der Brandkatastrophe. Hinter Lattentüren war das Kratzen von Aschenschaufeln zu hören, wo Hausfrauen die Feuerstellen reinigten, um anzufeuern. Hier und da riegelte eine müde Frühaufsteherin die Hüttentür auf und leerte den Nachttopf auf die Gasse.

Nun musste Norbert Melanie doch so dreckig begegnen, wie er war. Nicht einmal das Gesicht hatte er sich abgespült. Die Selbstverständlichkeit der Harfenspielerin hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht. Er ärgerte sich, dass er sich so überrumpeln lassen hatte. In dieser Stadt, in der ein Mann und eine Frau nicht Hand in Hand auf der Gasse gehen, geschweige denn sich in der Öffentlichkeit küssen durften, in der es verpönt war, dass unverheiratete Paare sich trafen, weswegen Melanie und Norbert Elenas Haus nur durch die Hintertür betreten konnten, in dieser Stadt, in der die Frommen eifersüchtig darüber wachten, dass niemand abfällig über ihren schrägen Glauben sprach, der sich um einen Mythos von einer Jungfrau und einem weißen Hirschen drehte, hier in Altenweil hatte Norbert, gewohnt an die freien Sitten seines Heimatdorfs, sich immer für vorbildlich freizügig gehalten. Und heute früh war plötzlich er selber der Verklemmte! Es passte nicht in sein Bild von sich selbst. Er hätte ins Bad gehen sollen, ohne die Bardin weiter zu beachten, und hätte sich waschen sollen, wie sie vorgeschlagen hatte. Aber was wäre gewesen, wenn sein Körper auf ihre Nacktheit reagiert hätte? Es wäre ihm unendlich peinlich gewesen.

Als er durch die Lücke zwischen zwei Häusern in den Hof hinter Elenas Haus trat, drängte er die miteinander hadernden Gedanken beiseite. Mit klopfendem Herzen schaute er zu dem schiefen Fachwerkhaus hinüber. Im kleinen Fenster im Obergeschoss brannte kein Licht. Er legte die Hand an den Schwertgriff. In den dunklen Hinterhofecken waren nur noch schwache Regungen jenseitiger Schatten wahrnehmbar. Norbert holte Luft und schritt über den Hof zur Hintertür. Sein Herz begann zu rasen, als er anklopfte.

Nur einen Atemzug später wurde die Tür geöffnet. Die bucklige Alte im Türrahmen blickte Norbert seltsam sanft aus ihrem runzligen Gesicht an. Mutter Elenas Haar war wirr und ihr Lumpenkleid roch schlecht wie immer.

„Kommst die alte Elena besuchen, guter Junge. Komm herein,“ raunte sie.

„Ist Melanie da?“ fragte Norbert hastig.

Er hatte jetzt nicht den Nerv, sich darüber zu wundern, warum sie nicht war, wie sonst. Norbert kannte sie nur als halb verrückte, kichernde Hexe mit schalkhaft blitzenden Augen. Die Alte drehte sich um und humpelte in den dunklen Flur zurück.

„Wirst's gleich erfahren,“ murmelte sie.

Ungeduldig kam Norbert ihr nach. Vor der Stiege nach oben blieb er stehen.

„Ich will ja nur wissen, ob sie da ist. Damit ich ihr kurz Hallo sagen kann und dass ich wieder zurück bin. Sie muss ja gleich zu ihrer Dienstherrschaft.“

„Braucht nicht mehr zu ihrer Dienstherrschaft, das liebe Kind,“ raunte Mutter Elena.

„Wie?“ Norbert stutzte. „Ist sie nicht mehr Zimmermagd bei dem Ratsherrn Hohenwart?“

Elena öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Der entsetzlich vertraute Geruch schwarzmagischen Kräuterrauchs ließ Norbert mit einem Schlag hellwach und aufmerksam werden.

„Komm herein zur alten Elena, Junge. Sollst's gleich erfahren,“ krächzte sie.

Sie war eine Schwarzhexe! Wie Darulan! Wie Linda und Ruth! Er hätte es ahnen müssen. Und Melanie hatte ihr vertraut!

„Wo ist Melanie?“ schrie er. „Wo ist sie?“

Norbert konnte die Gesichtszüge der Alten im dunklen Flur nur schwach ausmachen vor dem rötlichen Flackern des Kaminfeuers aus der Tür zu ihrem Zimmer. Da war dieser sanfte, beinahe traurige Blick in ihren tiefliegenden Greisenaugen.

„Nicht hier,“ flüsterte sie.

Sie drehte sich um und humpelte ins Zimmer.

„Elena erzählt's dir am Feuer, nicht im kalten Flur. Die alten Knochen tun ihr weh in der Kälte.“

Es war nicht kalt. Norbert war siedend heiß.

„Nicht hier?“ schrie er ihr hinterher. „Wo ist sie? Hast du ihr was angetan?“

Mit der Faust den Schwertgriff umklammernd ging er ihr nach ins Zimmer. Die magische Wirkung des weißen Kräuterrauchs aus dem Kamin traf ihn mit Wucht. Er musste seine gesamte Konzentration aufbringen für den Abwehrspruch.

Rhe!

Alles im Raum kam ihm grausam bekannt vor: die Messer auf dem Tisch zwischen Tonschalen mit dunklen Krusten, die Kräutersäckchen, die von den Deckenbalken hingen. Die Fenstervorhänge waren zugezogen und im unsteten Flackern des Kaminfeuers konnte Norbert nicht erkennen, ob es Ledersäckchen waren, Rattenmumien oder Schlimmeres, was von der Decke hing. Die Hexe setzte sich in den Lehnstuhl am Kamin. Sie schnalzte leise mit der Zunge.

„Jungchen, Jungchen!“ raunte sie sanft. „Mutter Elena tut den Schankmädchen nichts zuleide. Sie hilft ihnen. Hat es dir dein Liebchen nicht erzählt? Die Mädchen kommen, wenn was Lebendiges in ihnen wächst, und sie wollen's nicht haben. Die alte Elena nimmt's ihnen weg!“

Norbert schnürte es die Kehle zu. Er musste sich zusammenreißen, damit ihm nicht schlecht wurde. Er mochte nicht mehr zur Decke blicken. Der Rauch aus dem Kamin begann, ihn benommen zu machen. Seine Stimme war belegt.

„Was ist mit Melanie?“

Die Hexe deutete auf einen Schemel gegenüber dem Lehnstuhl. Ohne die Hand vom Schwertgriff zu nehmen, hockte Norbert sich hin. Er formulierte einen weiteren Abwehrzauber mit den Lippen, um einen klaren Kopf zu behalten.

Die Greisenstimme hauchte: „Hat geweint, das arme Kind, als du nicht kamst. Hat so sehnlich auf dich gewartet. Wollte sich von dir verabschieden.“

Norbert musste seinen gesamten Willen aufbringen, um der Alten nicht an die Gurgel zu springen. Mit zusammengebissenen Zähnen lauschte er. Ihre zischende Stimme kam ihm grausam vor.

„Ihr Traumprinz ist gekommen.“

„Was?“

Eine entsetzliche Lähmung ergriff Norbert.

„Sie hat's der Mutter Elena erzählt: ein steinreicher Handelsherr! Glaubte, er hätte sich in sie verliebt, das dumme Mädchen! Hat sie mitgenommen aus der Stadt.“

„Das ist nicht wahr!“

Norberts Stimme wurde brüchig. Er konnte nur noch flüstern.

„Das glaube ich dir nicht, du alte Hexe!“

Eine eisige Klammer legte sich um seine Brust. Es war, als wären mit einem Mal alle Farben und alle Wärme aus dem Raum gewichen. Die dunklen Augen der Alten waren voller Mitgefühl.

„Wirst's verwinden, Jungchen,“ murmelte sie sanft.

Der Raum begann, sich um Norbert zu drehen und er zwang sich zur Konzentration.

Weg! Ich muss hier weg! Raus an die Luft, hinaus aus dem schwarzmagischen Rauch!

Er wollte aufstehen, aber die Alte griff blitzschnell nach seiner Hand.

„Hast du der alten Elena nicht auch was mitgebracht, Jüngelchen?“ zischte sie lauernd.

„Wie, mitgebracht?“

Es fiel Norbert immer schwerer, sich zu konzentrieren. Er wollte weg, heraus aus diesem Zimmer, weg von der boshaften Alten. Ihre dürre Hand krallte sich um seine mit einer Kraft, die man der Greisin nicht zugetraut hätte.

„Dein anderes, dein untotes Liebchen hat's mir gestanden,“ zischte sie.

Ihre schwarzen Augen blitzten. Alles Mitleid war aus ihrer lauernden Miene verschwunden.

„Darulans Zaubersprüche! Sei ein guter Junge. Sing sie der alten Elena vor!“

Fassungslos starrte Norbert sie an. Was war er für ein Dummkopf gewesen! Dass er darauf nicht gekommen war! Nur darum hatte sie ihm von Darulan erzählt, nur darum hatte sie ihm die fixe Idee in den Kopf gesetzt, zu dem Hexenmeister zu gehen und sich die Magie des Lebens beibringen zu lassen! Nicht, um ihm weiterzuhelfen. Nicht wegen Lonnie! Er wollte ihr eine wütende Antwort entgegenschleudern, aber er konnte sich nur noch schwer konzentrieren. Seine Gedanken wurden immer verworrener. Die Alte verstärkte schmerzhaft ihren Griff.

„Sing der alten Elena die Sprüche vor und sie lässt dein kaltes, untotes Liebchen in Ruhe. Sie schreit vor Schmerz, wenn ich sie her zitiere!“

Schwarzhexen beherrschten mächtige Zauber. Wenn Norbert der Greisin nicht gehorchte, würde er kaum lebend wegkommen von hier. Abgesehen davon, was sie Lonnie noch antun konnte. Er griff unter sein Hemd. Die Alte zischte einen Abwehrspruch. Norbert stellte es mit Genugtuung fest. Ganz so sicher war sie ihrer Sache offenbar doch nicht! Er zerrte den Packen Schreibbögen hervor und warf ihn der Hexe vor die Füße.

„Da! Lies es selbst, wenn du lesen kannst. Oder finde wen, der es dir vorliest!“

Die Greisin ließ seine Hand los und schnappte nach den zerknitterten Seiten. Ihre Hände zitterten, als sie die Bögen auseinanderfaltete. Norbert sprang auf und trat zwei Schritt zurück, die Hand am Schwert, einen Anderweltzauber auf den Lippen. Sogar Darulan hatte vor dem blauen Feuer Respekt gehabt! Elena beachtete ihn nicht. Sie sortierte die Bögen, ließ einige auf den Boden fallen und vertiefte sich in die Schrift.

Murmelnd las sie: „Gemyne dhu mucwyrt, hwaet thu ameldodest, hwaet thu renadest aet regenmelde... Die Sprache des Seevolks, der Mannen Gorloins! Wie hat der Mädchenschänder das herausgefunden?“

Die Greisin hatte keine Augen mehr für Norbert. Gierig starrend hielt sie sich die Bögen vor die Nase.

„...Ond thu, wegbrade, wyrta modor, eastan openo, innan mihtigu... Die Magie des Lebens! Der geile alte Bock wird sich in den Arsch beißen vor Ärger, dass er sich sein Geheimnis abluchsen lassen hat!“

Langsam zog Norbert sich rückwärts zur Tür zurück. Mit zwei Sprüngen war er durch den Flur und zur Hintertür hinaus in den Hof. Hastig durchquerte er den Hof und zwängte sich durch die Lücke in die Gasse.

Auf der Gasse blieb er keuchend stehen. Leute mit Handkarren und leeren Getreidesäcken in den Armen machten einen Bogen um ihn, während sie an ihm vorbei in Richtung Marktplatz zogen. Irgendwo bellte die Stimme eines Kriegsknechts. Die geschundene Stadt erwachte.

Norbert hatte die Faust noch immer um den Schwertgriff gekrampft. Langsam ließ er los. Ihm war schwindlig. All die vergangenen Tage hatte er sich nicht so elend gefühlt. Die Worte der Hexe hatten eine taube Leere in seinem Schädel hinterlassen. Er rang seine Verzweiflung nieder und holte Luft. Vielleicht hatte die Alte gelogen. Er musste sich Gewissheit verschaffen. An Kolonnen mit Schubkarren und Sackleinen vorbei machte er sich auf zum Haus des Ratsherrn Hohenwart.

***

Über die gepflasterte Gasse zwischen Klostermauer und Rathaus betrat Norbert den Marktplatz. Hier in der Nähe der Brandzone war der Geruch nach kaltem Rauch stärker. Ein leichter Wind wirbelte Aschenflocken von der gegenüberliegenden Seite des Platzes aus den Brandruinen herüber. Der Markt hallte wider vom Weinen und Klagen aus der Brandzone entkommener Unterstadtbewohner, vom Stöhnen Verwundeter und Sterbender. Überall drängten sich obdachlos gewordene Familien und Hausgemeinschaften. Wo an anderen Tagen Marktstände sich dicht an dicht aneinanderreihten, hockten Angehörige bei schwerverletzten Verbrannten. Andere kauerten mit zerrauften Haaren um Gestorbene. Mönche in sauberen, weißen Kutten gingen umher, beteten über den Verwundeten, verbanden Wunden und salbten diejenigen Toten, deren Familien das Salböl bezahlen konnten. Die Kriegsknechte standen dabei und warteten, bis die Mönche ihre Rituale beendet hatten. Sie schlugen die Toten in Sackleinen und fuhren die Leichen auf Handkarren über die Torgasse aus der Stadt, begleitet von weinenden und schreienden Hinterbliebenen.

An der Vorderseite des Rathauses und an stattlichen Kaufmannshäusern vorbei bog Norbert in die obere Torgasse ein. Er hatte keine Augen für das Elend auf dem Marktplatz. Er kämpfte darum, sich nicht von seiner eigenen Verzweiflung lähmen zu lassen. Die ängstlichen, ehrfürchtigen oder scheuen Blicke, die ihm folgten, beachtete er nicht.

Von einer Gruppe Hausmägde, die auf der Gasse Neuigkeiten und Schreckensgeschichten austauschten, erfragte er den Weg zum Haus des Ratsherrn Hohenwart. Gesichter und Kleider der Mägde waren sauber. Einzig ihre Mienen waren gezeichnet von der durchgestandenen Angst, das Feuer könne sich auf die Häuser der Oberstadt ausbreiten, gar auf diejenigen ihrer Dienstherrschaften. Jetzt standen sie auf der Gasse und gaben sich den Gruselgefühlen über das Grauen hin, von dem sie verschont geblieben waren. Die Mägde blickten Norbert nach.

„Ist das nicht Norbert Lederer?“

„Der das Dämonenfeuer gebannt hat! Heilige Mutter, ich glaube, das war er!“

Das Haus des Ratsherrn Hohenwart überblickte einen gepflasterten Platz, der auf allen vier Seiten von zwei- und dreistöckigen Bürgerhäusern gesäumt wurde. Norbert ging an der breiten Freitreppe vorbei und durch die Toreinfahrt in den Hof. Auf der Schwelle des Küchenausgangs saß ein zwölf- oder dreizehnjähriges Mädchen in einem graubraunen Mägdekleid und streichelte eine Katze, der sie eine Schale Milch hingestellt hatte.

Norbert fühlte sich, als hätte er einen Mühlstein um den Hals, als er zwischen über den Hof rennenden Hühnern hindurch zur Küchentür ging. Die Kleine starrte mit großen Augen auf sein Schwert, dann blickte sie scheu zur Seite. Norbert fand kaum seine Sprache. Er musste schlucken.

„Ist Melanie da?“

Das Mädchen blickte ihn überrascht an und schaute schnell wieder weg.

„Die Melanie ist doch mit dem Kaufmann, dem Ulf Jörgsohn nach Stegersting gegangen,“ antwortete sie mit rotem Kopf. „Ich wär schon auch mit ihm gegangen, wenn er mich gewollt hätte, aber mich hat er nicht mal angeschaut.“

Norbert spürte seine Hoffnung zerbrechen. Die Augen begannen ihm zu brennen - wie vom schwelenden Docht einer erlöschenden Kerze.

„Was tratschst du da für dummes Zeug, Sabinchen!“ rief eine Frauenstimme aus der Küche.

Die gut genährte Frau, die in der Küchentür erschien, hatte eine weiße Schürze umgebunden. Auf dem Kopf trug sie die flachsfarbene Haube einer Magd. Sie stemmte die Hände in die Hüften.

„Was sitzt du hier müßig herum? Warte nur, eines Tages erzähl ich der Hohenwarterin, dass du Milch stiehlst und sie der Katze gibst!“

Das Mädchen sprang auf, aber statt irgendwo zu verschwinden, blieb sie auf dem Fleck stehen.

„Melanies Freund ist gekommen,“ sagte sie wie zur Entschuldigung.

Die Magd betrachtete Norbert mit in die Hüften gestemmten Armen.

„So? Also du bist Melanies arme, alte Großtante, zu der sie jeden Sterntag Abend gegangen ist, um ihr den Haushalt zu machen und bei ihr zu übernachten?“

Norbert ging auf den Spott und das Gezanke der Küchenmagd nicht ein. In der tauben Leere, die die Nachricht von Melanies Weggang in seinem Kopf hinterlassen hatte, suchte er nach der Spur eines Weges, einem Faden, den entlang er sein Leben wieder aufnehmen konnte.

„Wie lange ist sie schon fort?“ fragte er, um überhaupt etwas zu sagen.

Die Augen in dem vollwangigen Gesicht der Magd waren sanft, trotz ihres burschikosen Auftretens. Sie deutete mit dem Kopf ins Haus.

„Komm in die Küche. Schluss mit dem Getratsche mitten auf dem Hof.“

Der Küchenraum hatte gekachelte Wände. Der Fußboden war gefliest. Ein großes Fenster neben dem gusseisernen Herd sorgte für frische Luft. Küchentisch, Stühle und Schränke waren weiß angestrichen. Die längs der Wände gestapelten Töpfe, Pfannen und Küchengeräte waren blitzsauber. Zu anderen Zeiten hätte die Einrichtung dieser Küche Norbert, der noch nie die Küche eines Herrenhauses betreten hatte, in Erstaunen versetzt. Jetzt registrierte er seine Umgebung ohne jedes Interesse. Er fühlte sich, als wäre er gar nicht hier.

Am Küchentisch saß ein beleibter Mittfünfziger in einer braunen Kapuzenjacke aus gutem Stoff vor einer Schale Grütze und einem Teller Rührei mit Speck. Sein schütteres graues Haar war zerrauft, das Gesicht mit den Hängewangen sah müde aus. Er blickte kurz auf, als Norbert die Küche betrat, widmete sich aber gleich wieder seinem Frühstück. Die Küchenmagd - Norbert vermutete, dass sie die Köchin war - stellte Norbert einen Pott heißen Kaffee auf den Tisch.

„Da, setz dich, nimm einen Schluck.“

Sabinchen schlich sich durch die Küchentür herein und lauschte stumm. Norbert setzte sich dem Mittfünfziger gegenüber und nahm aus Höflichkeit einen Schluck Kaffee.

„Ja, die Melanie, das blonde Schönchen, hat den Fang ihres Lebens gemacht, scheint's,“ erzählte die Köchin. „Als dieser Jörgsohn aus Stegersting hier ankam, um den Ratsherrn zu besuchen und ein paar Tage zu bleiben – der Ratsherr und er waren früher Weggefährten, als der Herr Hohenwarth noch auf Handelsreisen, wie es so schön heißt, durch die Lande zog, bis er zu Reichtum kam – als dieser alte Reisekamerad den gnädigen Herrn jetzt hier besuchte, selber steinreich geworden, da hat die Melanie ihm so schöne Augen gemacht – und sie hat's nicht nur bei süßen Blicken belassen, glaub's mir! - dass er sich in sie verguckt und ihr nicht nur Schmuck und schöne Kleider geschenkt, sondern ihr gleich einen Heiratsantrag gemacht hat. Und das junge Ding ist drauf eingegangen! Dabei ist der Mann gestandene Vierzig!“

Es war immer Melanies Traum gewesen. Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht. Die Köchin musterte Norbert mitleidig.

„Am letzten Tag vor der Abreise hat sie geweint und ich sag zu ihr: „na, bist du's schon leid, mit dem Kaufherrn zu ziehen?“ aber sie schüttelte den Kopf und meinte, sie weine um ihren Freund, der von einer Reise nicht zurückgekommen sei und sie hätte Angst, ihm sei was zugestoßen. Und sie hätte sich so gerne noch von ihm verabschiedet.“

Es tat weh. Eine Flut von Schuldgefühlen brach über Norbert herein. Er hatte ihr versprochen, innerhalb einer Woche zurück zu sein. Er biss sich auf die Lippen und zog Rotz hoch, um seine Tränen zurückzuhalten. Der teiggesichtige Mittfünfziger blickte von seinem Frühstück auf. Seine Stimme klang unangenehm und verhalten, als müsse er jedes Wort aus sich herausquetschen.

„Sag mal, junger Mann, du bist doch der Norbert Lederer, oder irre ich mich? Ich hab dich gestern gesehen, mitten im Dämonenfeuer.“

Sabinchen hielt sich die Hände vor den Mund und starrte Norbert mit großen Augen an. Norbert nickte achselzuckend. Die Köchin stemmte die Hände in die Hüften. Sie schien diese Geste zu lieben.

„Der bist du? Und dich hat die dumme Gans fahren lassen? Den Schüler des großen Dämonologen? Da hätte sie ja bloß noch ein paar Jährchen zu warten brauchen, bis du selber steinreich wirst! Stattdessen fährt sie mit einem reich gewordenen Straßenräuber ans Ende der Welt bis in die Nordberge! Na, ich hätt' mir ja überlegt, wer da die bessere Partie gewesen wäre!“

Es war nie sein oder ihr Ziel gewesen. Hätte er sie fragen sollen?

„Wo liegt dieser Ort, wo sie hingezogen ist?“ wollte Norbert wissen, als könnte die Ortsbeschreibung sie aus der Ferne wieder in seine Nähe bringen.

Die Köchin gab Grütze in eine Schale, tat aus der Pfanne auf dem Herd Rührei auf einen Teller und stellte beides vor Norbert hin.

„Da, frühstücke ein wenig. Damit hätt' ja niemand gerechnet, dass wir hier am Morgen so hohen, unerwarteten Besuch bekommen.“

Sie setzte sich zu Norbert an den Tisch.

Zu dem teiggesichtigen Diener sagte sie: „Wo liegt Stegersting, Konrad? Als gelehrter Hausverwalter, der hier die Bücher führt, musst du so was doch wissen!“

Norbert wollte Teller und Schale wegschieben, aber sein Magen sagte ihm, dass er ein Frühstück bitter nötig hatte, um irgendwie über diesen Tag zu kommen. Lustlos begann er zu essen.

„Stegersting,“ erklärte der Mittfünfziger mit seiner unangenehm gepressten Stimme, „liegt im hohen Findelgebirge, das ist ein östlicher Hochgebirgsausläufer der Nordberge. Die Stadt liegt im Hauermannstal nahe der dortigen Silberminen. Das berühmte Stegerstinger Silber wird dort geprägt.“

Der Hausverwalter richtete seinen trüben Blick auf Norbert. Er schien zu erraten, was den Jungen beschäftigte.

„Bis nach Stegersting reist man von Trümmelfurt aus an die vierzig Tagereisen. Also von hier aus zwischen fünfzig und sechzig Tagereisen. Der Kaufmann Ulf Jörgsdohn wird ein Vierteljahr unterwegs sein, bevor er wieder zu Hause in Stegersting ist. Die kaiserlichen Botenreiter sind natürlich schneller.“

Warum musste es sie denn gleich ans Ende der Welt verschlagen? Und er hätte sich ihre Nähe so sehr gewünscht, jetzt, wo alles zusammengebrochen war.

„Junger Mann, hör mal,“ meinte die Köchin, „wenn du der Schüler von diesem Anton Dreyfuß bist, dann kannst du uns doch von dem grausigen Spuk befreien, der dieses Haus heimsucht. Hier geht nachts ein Poltergeist durchs Haus, lässt Bilder von den Wänden fallen, rückt Möbel, zerbricht Vasen und Krüge. Wir stehen alle schreckliche Angst aus. Der gnädige Herr wird es dir sicher gut bezahlen.“

Das Gesicht des Verwalters, der der Köchin schweigend zugehört hatte, sah nicht so aus, als wäre er von ihrer zuletzt genannten Vermutung überzeugt. Norbert schüttelte den Kopf, während er den Rest Rührei vom Teller kratzte. Einen Schwarzalb bekämpfen! Alleine, ohne den Meister. Er hatte jetzt keinen Kopf für derart riskante Unternehmungen. Eigentlich war ihm alles egal.

„Nein, so weit bin ich in Dreyfuß‘ Lehre nicht gekommen. Ich hab ihm ja immer nur assis... assis..., na, eben nur geholfen. Die Dämonenaustreibungen hat der Meister gemacht.“

„Du hast ganz alleine das dämonische Feuer besiegt, das beinahe die gesamte Stadt aufgefressen hätte,“ protestierte die Köchin, „und so ein elender Poltergeist soll dir zu stark sein? Ich versteh ja, dass du traurig bist wegen der Melanie, und sie war ja auch ein bildhübsches Ding, aber überlege es dir, hörst du? Komm heute Abend wieder, dann ist der Ratsherr da. Sprich mit ihm. Er lohnt es dir sicher gut.“

Den letzten Satz sagte sie mit einem strengen Blick gegen den Verwalter, der stumm der Unterhaltung folgte. Norbert stand auf.

„Also, vielleicht – nein, ich glaub nicht. Vielen Dank für das Frühstück. Wenn...,“ er drängte Tränen zurück, „wenn noch eine Nachricht von Melanie kommen sollte, bitte, gebt im Eisernen Heinrich Bescheid. Da bin ich manchmal.“

Den Schwarzen Raben nannte er lieber nicht. Er wusste, dass Gordons Schänke in der Stadt verrufen war.

„Ja, Junge,“ antwortete der Verwalter. „Überlege dir das mit der Geisteraustreibung. Der Ratsherr wird ab der sechsten Stunde nach Mittag im Haus sein.“

An dem abgöttisch staunenden Sabinchen vorbei ging Norbert zur Hintertür hinaus.

Vor der Toreinfahrt blieb er stehen. Seine Glieder waren schwer, als ob Gewichte an ihnen zerrten.

Aus. Vorbei. Alles aus. Stern meiner Geburt, was soll nun werden?

2.

Norberts Füße fühlten sich schwer an wie Blei, als er zögernd aufs Geratewohl vom Platz abbog in eine der Seitengassen, die hinabführten in den unversehrten Teil der Unterstadt. Er achtete kaum auf seinen Weg. Sein Kopf war leer bis auf den einen Gedanken, der ihm mit jedem Schritt wieder und wieder durch den Kopf ging.

Aus. Was soll nun werden?

An der Eingangstür eines zweistöckigen Herrenhauses sprach ein Mönch in weißer Kutte mit dem Hausherrn.

„Gebt ein Almosen für die Bedürftigen, Herr. Das Kloster trägt schwer an der Bürde, sich um die große Not in der Stadt zu kümmern.“

Der Hausherr bedachte den Ordensbruder mit kalten Blicken.

Schmallippig, aber sehr höflich antwortete er: „Mein Diener ist bereits mit Decken und Brot zum Marktplatz unterwegs. Danke dennoch, heiliger Mann, dass du mich an meine Pflicht, den Armen zu geben, erinnern wolltest. Du siehst, ich habe bereits selbst daran gedacht.“

Der Mönch verneigte sich würdevoll, während der Hausherr die Tür schloss. Aus dem Nebeneingang zur Küche winkte eine Magd dem Mönch. Verstohlen gab sie ihm ein paar Münzen in die Hand. Der Ordensmann lächelte milde.

„Der Segen der heiligen Mutter möge auf dir ruhen, du Gutherzige.“

Durch Nebengassen verließ Norbert die Oberstadt. Er wollte nicht über den Markt gehen, wo jedermann ihn zu kennen schien und überall hinter seinem Rücken über ihn getuschelt wurde. Eine Seilergasse entlang ging er zwischen eng stehenden, vom Alter schiefen Fachwerkhäusern hindurch. Die Reepschläger, die die Arbeit an den langen Bahnen wieder aufgenommen hatten, da der Stadtbrand gelöscht war, nahmen kaum Notiz von ihm. Norbert war froh darüber.

An einer Häuserecke, an der zwei Gassen im spitzen Winkel in die Reeperbahn einmündeten, standen Holzbänke am Brettertisch eines Ausschanks. Junge Gesellen und Hausknechte saßen beim Pausenimbiss. Sie hatten bereits mehrere Stunden Tagesarbeit hinter sich. Norbert setzte sich ans Ende der Bank. Der Schankwirt, ein graubärtiger Alter in schmieriger Schürze mit ungewaschenen Händen und dreckigen Fingernägeln brachte dünnes Bier, ohne nach einer Bestellung zu fragen. Seine Stimme war kratzig.

„Willst du Schmalzbrot zum Frühstück?“

Norbert schüttelte den Kopf. Der Wirt wischte seine Hände an der Schürze ab und ging zum Tresen zurück, um weiter Brote zu schmieren. Es würden noch genug Hungrige kommen.

Eine Armeslänge von Norbert unterhielten sich zwei Handwerkerburschen.

„Heute früh in der Torgasse haben sie zwei Diebe gelyncht. Aus dem Hinterhof von einem der Häuser, in denen die Markgrafenknechte alles kurz und klein geschlagen und die Räume unter Wasser gesetzt haben, haben sie die Diebe auf die Gasse gezerrt und mit Latten und Schürhaken totgeschlagen. Brave Städter, Handwerkermeister, Ladenbesitzer, sogar ein paar Weiber waren dabei. Haben die beiden geschrien! So weit ist es mit Altenweil gekommen, Karl!“

Sein Zuhörer stupste den Burschen an und deutete mit einer Kopfbewegung auf Norbert. Beide starrten Norbert an. Norbert blickte mit zusammengebissenen Zähnen auf seinen Bierhumpen. Der Handwerkerbursche nickte seinem Gesellen zu und die beiden nahmen ihr Gespräch wieder auf. Norbert registrierte es erleichtert.

Das lauwarme Bier schmeckte schal. Es war Norbert egal. Er trank den Humpen aus und winkte dem Wirt, einen zweiten zu bringen. Der Wirt stellte einen Teller Schmalzstullen neben das Bier. Im Schmalz waren die Abdrücke seiner Daumen zu sehen. Norbert kaute die Stullen, ohne recht zu merken, dass er aß. Er fühlte sich, als hätte er den Boden unter den Füßen verloren.

Hatte es Sinn, in Altenweil zu bleiben? Vielleicht sollte er sich den fahrenden Abenteurern anschließen, die in Gordons Schänke abgestiegen waren, und mit einigen von ihnen mitziehen - irgendwohin, wo er jemanden fand, der ihm beibrachte, ein heiliges Schwert zu führen. Dreyfuß hatte gemeint, nur mit einem solchen könne er den Dämon, der sein Heimatdorf vernichtet hatte, erschlagen: die schwarze Dame der Grotte. Der Schmied auf der Grafenburg konnte mit heiligen Schwertern umgehen. Aber er verlangte zwanzig Goldtaler, um Norbert als Lehrjungen anzunehmen. Wo um alles in der Welt hätte Norbert diese Summe hernehmen sollen?

Ich hätte schon vor einem Jahr mit Sturmkind ziehen sollen und der Gruppe, mit der sie herumzog. Sie hatten mich doch gefragt. Warum habe ich es nicht getan?

Der gierige Blick der alten Elena kam ihm ins Gedächtnis, als sie Darulans Zettel an sich riss... Dann musste er an Lonnie denken. Wegen ihr hatte er sich auf diese Höllenfahrt an den Rand des Laendorgebirges begeben. Darulan glaubte, mithilfe des schwarzmagischen Ritualgesangs wäre es möglich, das untote Mädchen ins Leben zurückzuholen. Norbert hatte Elena nicht gesagt, dass der Zauber nur wirkte, wenn Darulans Mischung der neun magischen Kräuter dazu verbrannt wurde. Er hatte Darulan die Kräutermischung gestohlen. Lonnies Geist hatte sie ihm weggerissen, damit er nicht der Sucht nach der schwarzen Magie verfiel...

Norbert schloss die Augen. Wenn es ihm nicht gelang, das Geistermädchen zu retten, war alles umsonst gewesen. Irgendwo in den mörderischen Gefilden der Anderwelt befand sich ihr „Quellort“ - ihr Seelenfunke, wie Darulan es genannt hatte. Dort musste er die Magie des Lebens wirken. Es wäre Blut vonnöten, hatte Darulan gemeint. Menschenblut am ehesten...

Norbert stand auf und zahlte dem Wirt drei Viertelkreuzer für Bier und Brot. Mit einem Mal wusste er, was er zu tun hatte. Er schlug den Weg zur unteren Torgasse ein, auf deren gegenüberliegender Seite sich die Brandzone um die Turmruine breitete.

***

In den Häusern längs der Torgasse gegenüber der Brandzone sammelten die Bewohner ihre spärliche verbliebene Habe und noch brauchbaren Hausrat aus den Möbeltrümmern in den Hinterhöfen zusammen. In vielen Häusern waren die Herdfeuer bereits wieder entfacht. Auf der Gasse nagelten Männer improvisierte Brettertüren und Fensterläden zusammen. Über allem lag eine Atmosphäre der Verzweiflung, die durch das Weinen und Schluchzen der Frauen und Kinder, der Alten und Jungen, welche die Leichenkarren zum Tor begleiteten, noch verstärkt wurde.

Ein Händler vor seinem zerschlagenen und ausgeplünderten Laden machte seiner Wut Luft: „Was die Flammen dank der Gebete der Mönche verschont haben, das haben die Markgrafenknechte, dieses Kriegsgesindel, zertrümmert und ersäuft! Ist Altenweil durch das Feuer noch nicht genug geschunden worden, dass dieses Lumpenpack wüten musste wie die Horgaren? Ausgepeitscht, erhängt, ersäuft gehört dieses Pack!“

Die Kriegsknechte bei den Leichenkarren verrichteten weiter ihre Knochenarbeit, den zweiten Tag nun schon, ohne von dem schreienden Ladenbesitzer Notiz zu nehmen. Ihren müden Gesichtern war nicht anzusehen, was sie dachten.

Zwischen den Leichenkarren hindurch überquerte Norbert die Gasse. Wolken von Aschenflocken wirbelten in der Luft. Vor Norbert breitete sich die Brandzone: ein Bereich verkohlter Trümmer zwischen aufragenden Schornsteinschloten. Außer einer dicken Ascheschicht war nichts von den eng beieinanderstehenden Fachwerkbauten geblieben. Von dem bis auf die Grundmauern niedergebrannten Rundturm des Anton Dreyfuß stand nur noch die Erdgeschossmauer, stellenweise noch Teile des ersten Stocks. Eine hohle Fensteröffnung gähnte wie zum Spott über die einstige Macht des gefürchteten Dämonologen.

Die Turmruine stand auf einer vormals dicht bebauten Anhöhe. Norbert stieg den schwarzen Mauerresten des Turms entgegen. Als er den düsteren Turm in seinem achten Lebensjahr zum ersten Mal gesehen hatte, hatte das Doppelbild des Turms auf der anderen Seite der Grenze ihm den Eindruck erweckt, der Turm stehe unmöglich schief. Das Dachgeschoss des Turms war umgeben gewesen vom fahlblauen, unwirklichen Licht der Anderwelt. Jetzt wirbelten Aschenwolken um die verkohlten Mauerreste. Norbert strengte seine Sinne an. Nirgends konnte er den Hauch der Anderwelt wahrnehmen.

Die Turmpforte war ein leerer Schlund. Die Rundmauer rings umher, selbst die ausgetretenen Stufen zur Pforte hinauf waren mit einer dicken Rußschicht überzogen. Norbert tastete nach seinem Schwert und konzentrierte sich auf einen Abwehrzauber. Hier war es, wo er gestern die rasende Banshee bekämpft hatte. Blaues Anderweltfeuer hatte aus der Turmpforte gelodert. Jetzt trübten nur wirbelnde Aschenwolken die Tageshelle um den Turm. Kein jenseitiges Dunkel verdrängte das Licht.

Zögernd stieg Norbert die Stufen hinauf zu der gähnenden Pforte.

„Rhe!“ murmelte er den Abwehrzauber, als er ins Turminnere blickte.

Keine Spur von Anderweltleuchten schimmerte auf. Stumm starrte Norbert auf die Verwüstung.

Decke und Boden des Erdgeschosses waren weggebrochen. Wo einst Küche, Verwalterkammer und die steinerne Wendeltreppe in die oberen Geschosse sich befunden waren, gähnte ein nur von der geschwärzten Turmmauer begrenztes Loch. Tageslicht fiel von oberhalb der zerbrochenen Mauerreste herein. Aschenflocken wirbelten in den Resten der Rundmauer. Eine Manneslänge unter Norbert ragten von der Hitze gekrümmte, zu Kohle verglühte Balkentrümmer aus einer geschmolzenen und wieder erstarrten Masse, die aussah, wie trübes Glas. Die Schmelzmasse füllte das gesamte Fundament der Ruine.

Wie betäubt nahm Norbert das Ausmaß der Zerstörung wahr. Dort unten, von den Flammen verzehrt und von der Hitze zusammengeschmolzen, befand sich, was von der Einrichtung und den Schätzen des Zaubererturms geblieben war. Apparaturen und Experimentiergeräte, eine ganze Bibliothek Jahrhunderte alter Bücher, deren Wissen Norbert sich nie hatte zu Nutze machen können, weil er nicht lesen konnte, die randvoll mit Gold gefüllte Schatztruhe des Meisters, für deren Inhalt er dafür umso mehr Verwendung gehabt hätte, und auch jene magische, von Anton Dreyfuß hergestellte Pforte zur Anderwelt im obersten Turmgeschoss – alles war verschmolzen zu einer toten, glasartigen Masse.

Norbert schloss die Augen. Er drängte die bitteren Gedanken zurück, versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen. Er zwang seinen Geist zur Konzentration. Alle Sinne richtete er auf mögliche Anzeichen für die Nähe der Anderwelt: ein feines Kribbeln im Nacken, diffuses blaues Flackern in den Augenwinkeln, ferne Geräusche oder Laute... nichts.

Norberts Puls beschleunigte sich, als er mit einem Zauberspruch das blaue Anderweltleuchten heraufbeschwor: „Elean thanatos!“

Er wusste, dass es gefährlich war. Bei früheren Versuchen war er in Abgründe gestürzt oder von jenseitigen Wesenheiten angegriffen worden, andere Male war er der schwarzen Dame nur knapp entkommen. Auf alles gefasst, die Hand am Schwertgriff, stand er mit geschlossenen Augen und lauschte...

Nichts. Norbert öffnete die Augen. Kein blaues Feuer. Nicht der geringste Schimmer diffusen Anderweltleuchtens. Die Grenze war fort. Tränen sammelten sich in seinen Augen, als er in den von wirbelnden Aschenflocken durchwehten Hohlraum der Ruine starrte. Lonnie schien unendlich fern, gefangen jenseits der Grenze. Das Tor, welches ihm ermöglicht hätte, zu ihr zu gelangen, war auf immer geschlossen, zerstört durch die Magie, die Norbert selbst gewirkt hatte.