Westerwaldötzi - Thomas Hoffmann - E-Book

Westerwaldötzi E-Book

Thomas Hoffmann

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Beschreibung

Ein emeritierter Anthropologe, der sich im Westerwald zur Ruhe setzt und eine unglaubliche Entdeckung macht, eine junge Frau, die mithilfe des "Enkeltricks" an das Vermögen eines wohlhabenden Mannes kommen will, ein Psychiater, der zu drastischen Methoden greift, um einen Patienten zu heilen, und ein Pensionär, der von seinem Smartphone mit einem makabren Countdown geschockt wird, das sind nur einige der Figuren im "Westerwaldötzi", die alle Liebhaber des schwarzen Humors einladen zu einer irrwitzigen Achterbahnfahrt in die Tiefen der menschlichen Seele. Elf Kurzgeschichten und Erzählungen, die nach "Gefallener Engel" erneut ironisch-sanfte Schlaglichter auf menschliche Träume und Abgründe werfen: skurril, pointenreich und bisweilen sehr makaber.

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Seitenzahl: 375

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Für meine Eltern, die mir mein Leben schenkten und die mir den Humor mit auf den Weg gaben, den man zu ebendiesem braucht.

Thomas Hoffmann

Westerwaldötzi

…weitere unglaubliche Geschichten

Thomas Hoffmann, „Westerwaldötzi“

© 2020 Thomas Hoffmann

Umschlag, Illustration: © Fotolia

Portrait: Foto Bauer, Wissen

Lektorat, Korrektorat: Rainer Daus

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-01497-8

Hardcover:

978-3-347-01498-5

e-Book:

978-3-347-01499-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Enkeltrick

Silberhochzeit

Unsterblich

Westerwaldötzi

Der Psychiater

Marily

Das neunte Gesicht

Todesversicherung

Thursdays for Freedom

Grabesstille

Countdown

Manche Dinge sind so spaßhaft, dass der Mensch lachen muss oder sterben. Lachend zu sterben muss der glorreichste aller glorreichen Tode sein.

Edgar Allan Poe (1809-1849). US-amerikanischer Journalist, Dichter und Literaturkritiker.

Die Eitelkeit der Logik ist ja imstande, eines Menschen Hirn gänzlich zu verwirren.

… ebenfalls Poe.

Enkeltrick

„Perfekt“, rief Mia, „einfach perfekt!“ Im Spiegel vor sich erblickte sie eine beinahe schöne achtundzwanzigjährige Frau. Beinahe deshalb, weil das Muttermal auf der linken Seite der Nase die ansonsten makellose Symmetrie ihres Gesichtes auf nahezu groteske Weise zerstörte. Aber gerade mit dem Muttermal war sie sehr zufrieden, denn sie hatte nicht weniger als drei Stunden gebraucht, um dieses besondere Kennzeichen exakt so hinzubekommen wie auf dem Bild, das neben dem Spiegel hing.

Mia war Schauspielerin und sie bereitete sich auf jede ihrer Rollen akribisch vor. Allerdings spielte sie nicht Kleopatra, Jean d´Arc oder irgendwelche andere Heldinnen, die ein großes Publikum begeistern würden, ihre Rollen waren sehr viel persönlicherer Natur. Ihr Publikum waren vornehmend ältere, alleinstehende Herren, die freilich nichts davon ahnten, dass sie in Wirklichkeit Mia hieß und dass das, was sie ihnen servierte, reine Illusion, reine Verführungskunst war, wenngleich letztere sich nicht oder nur sehr selten auf körperliche Aspekte bezog.

Aber sie wollte begeistern und sie konnte begeistern, das hatte sie bereits vor sieben Jahren, als sie ihre wahre Berufung mehr oder weniger durch Zufall entdeckt hatte, festgestellt. Sie lächelte, als sie an den Abend dachte, als ihr Wilhelm Winkler, ein zweiundsiebzigjähriger Mann, während einer Vernissage im Hotel Brüggenburg in Koblenz begegnet war. „Stefanie?“, hatte der Mann neben ihr gefragt, während sie ein modernes Bild des Westerburger Künstlers Rhombus Dengler betrachtete. Das Bild hatte sie aufgrund seiner Farbintensität und seiner unglaublichen Dynamik in den Bann gezogen. Es war ihr damals erschienen, als würde das Gemälde, eine Symphonie in roten, schwarzen und grauen Tönen, sie in sich hineinziehen. Darum hatte sie auch erst beim zweiten Mal gemerkt, dass sie angesprochen wurde. „Stefanie?“, hatte es wie aus weiter Ferne an ihr Ohr gedrungen, „Stefanie, bist du das?“ Noch immer im Bann der optischen Flut, die ihr gesamtes Gehirn ausfüllte, hatte sie leise geantwortet: „Ja, ja.“ Dann erst hatte sie den alten Mann erblickt, einen attraktiven, offenbar gutsituierten Herrn, der sie strahlend anlächelte. „Oh Gott, wie schön, dich wiederzusehen“, hatte der Mann mit Tränen in den Augen geflüstert, „komm, lass uns das feiern, wir gehen in die Lobby, da können wir uns dann unterhalten.“ Mia wusste damals nicht, wie sie die Situation klarstellen sollte. Würde sie ihm sagen, dass es sich um eine Verwechslung handelte, wäre der alte Mann sicherlich enttäuscht, würde sie mitspielen, wäre es Betrug. Sie hatte beschlossen, erst einmal den Gesprächsverlauf abzuwarten. Sicher würde sich eine Gelegenheit ergeben, die Sache richtigzustellen. Wie sich dann aber herausstellte, übernahm Wilhelm Winkler von Anfang an die Gesprächsführung und er erzählte ihr, dass er die vergangenen Jahre in Amerika verbracht habe und dass sie um Gottes Willen nicht böse sein solle, dass er sich damals ohne Abschied aus dem Staub gemacht habe. „Bei der Beerdigung deiner Großmutter haben wir uns das letzte Mal gesehen, ich weiß noch, wie sehr du geweint hast, aber auch mir hat sie sehr viel bedeutet und ich hielt es hier einfach nicht mehr aus.“ Erst dann fragte er sie, wie es ihr ergangen sei, und sie erzählte wahrheitsgemäß, dass sie nach dem Abitur Schauspiel habe studieren wollen, dass es aber mit der Karriere nichts geworden sei. „Immer diese Übungen, auf Kommando lächeln, auf Kommando weinen, schreien, schluchzen, Grimassen schneiden.“ Sie hatte ihr Gesicht verzogen und ihr Gegenüber hatte herzlich gelacht. Soll ich es ihm sagen, soll ich es ihm jetzt sagen, noch ist es nicht zu spät, hatte sie noch gedacht, als der alte Mann sagte: „Ich nehme also an, dass du zur Zeit kein festes Einkommen hast, nun denn, ich wohne allein in meinem großen Haus und es würde mich sehr freuen, wenn du mir Gesellschaft leisten könntest, weißt du, ich habe diese Einsamkeit satt.“ Und Mia, die ein kleines Einzimmerappartement bewohnte, fand sich schon am nächsten Tag in einem geräumigen Haus wieder. Durch geschickte Andeutungen und Fragen hatte sie schnell herausgefunden, dass es mit dem Verhältnis des alten Herrn zu seiner Familie nicht zum Besten stand. So hatte sie schon am Abend im Hotel zu ihm gesagt: „Ich werde Mama anrufen, die wird sich sicher freuen, von dir zu hören.“

Hätte der alte Mann jetzt zugestimmt, hätte sie sofort ihre Fassade fallen lassen und ihm erklärt, dass es sich um einen Irrtum handelte. Zu ihrer großen Erleichterung aber hatte er das entschieden abgelehnt: „Nein, tu das nicht, um Gottes Willen“, hatte Wilhelm Winkler geantwortet, „vielleicht später irgendwann einmal, aber sie muss nicht wissen, dass ich wieder in Deutschland bin und dein Vater auch nicht. Noch nicht, jedenfalls“, hatte er mit einer abwehrenden Geste hinzugefügt. Auch den Namen ihres Gegenübers hatte sie schnell erfahren, die Bedienung, die ihnen das Essen servierte, sprach ihn mit „Herr Winkler“ an. Und genau da setzte sie ihren nächsten Trick an. Sie schaute ihn mit treuherzigen Augen an und sagte: „Ich würde auch viel lieber Winkler heißen.“ „Ja“, hatte er gesagt, „das wäre schön, aber deine Mutter musste ja unbedingt diesen Taugenichts heiraten und deshalb, mein Kind, heißt du jetzt Müller.“

In dem Augenblick war Mia bewusst, dass sie ab sofort nicht mehr Mia Klempnauer, sondern Stefanie Müller sein würde. Sie hatte einen weiteren Pfeil ins Blaue abgeschossen: „Opa, wie hast du mich noch immer genannt, wenn ich bei euch war?“

„Das weißt du doch, mein Kind.“ Das Lächeln des alten Mannes war verträumt geworden.

„Aber ich möchte es so gerne von dir hören, bitte, bitte“, hatte sie gebettelt und der alte Mann hatte vertraulich geflüstert: „Supersteffi, so habe ich dich immer genannt, Supersteffi, und du hast immer geantwortet Wunderwilli, weil ich dir mal ein Zauberkunststück vorgeführt und dabei gesagt habe, die Verwandlung eines Tuches in ein Ei sei ein kleines Wunder. Von da an war ich dein Opa Wunderwilli.“

Und so war sie bei ihm eingezogen. Schnell hatte sie festgestellt, dass er selten zu Hause aß und dass zwei Mal in der Woche eine Haushaltshilfe kam, um die anfallenden Arbeiten zu erledigen. Und etwas, das für sie noch wichtiger war, hatte sie ebenfalls in kürzester Zeit erfahren. Ihr neuer Großvater war zwar nicht wohlhabend, aber er verfügte über eine ansehnliche Rente. Je länger sie bei ihm war, desto mehr wurde sie zu Stefanie und wenn sie ihn auch nicht mit Wunderwilli ansprach, so doch mit Opa Willi. Er hingegen schien ihre Gegenwart zu genießen und schließlich kam der Tag, an dem er das ansprach, worauf sie beständig hingearbeitet hatte. „Wir haben uns einmal kurz darüber unterhalten“, hatte er das Gespräch begonnen, „aber ich muss es jetzt endlich loswerden: Ich habe den Kontakt zu deiner Mutter abgebrochen, weil wir uns in vieler Hinsicht nichts mehr zu sagen hatten. Es sind Dinge zwischen uns vorgefallen, die du nicht wissen solltest und die auch deinen Vater betreffen. Ich habe mich daher vor langer Zeit entschlossen, deine Mutter zu enterben. Aber jetzt, wo ich dich wiedergefunden habe, habe ich einen Teil von mir selbst wiedergefunden. Daher möchte ich, dass du nach meinem Tode alles erhältst. Ich bin jetzt zweiundsiebzig Jahre alt und ich weiß nicht, wie lange ich noch auf dieser Erde sein werde.“

Schon am nächsten Tag machte er einen Termin mit seinem Notar, um sein Testament zu ändern, eine vorausschauende Tat, wie sich herausstellen sollte, denn schon in den nächsten Wochen und Monaten ging es mit der Gesundheit des bis zu diesem Zeitpunkt äußerst aktiven Rentners beständig bergab und eine in Tränen aufgelöste Stefanie Müller erbte das Haus und eine für sie beachtliche Geldsumme von immerhin etwa fünfzehntausend Euro.

Obwohl es mehr war, als Mia je in ihrem Leben besessen hatte, reichte das Geld nur für kurze Zeit, aber sie war sich sicher, dass ihr das Glück auch weiterhin zufallen würde, wenn sie diesem nur auf die Sprünge half. Und wo konnte man das Glück finden? Dort, wo es glückliche Menschen gab. Und wo gab es die? Natürlich im Urlaub. So nahm sie ihr letztes Geld und buchte eine Kreuzfahrt in die Karibik und (Glück und Talent, du unschlagbare Mischung) lernte während dieser Reise einen einundachtzigjährigen Mann kennen, der sich prompt in sie verliebte. Der alte Knabe wollte sie aber keineswegs als seine Enkeltochter oder Urenkelin „adoptieren“, vielmehr hatten es ihm die Jugend und die Energie seiner neuen Freundin, Vanessa Filling hieß sie jetzt, angetan. Und Mia spielte das Spiel gerne mit, immerhin hatte er Geld und er zeigte für sein Alter auch eine erstaunliche Fitness und Kreativität, was nächtliche Spiele anging. Es kam, wie es kommen musste: Mia, die jetzt Vanessa hieß, heiratete. Und wurde innerhalb kürzester Zeit zur Witwe.

Von dem ererbten Geld ließ es sich prächtig leben, aber mit zunehmendem Reichtum wurden auch ihre Ansprüche größer und es dauerte keine drei Jahre, da war das Geld aufgebraucht. Davon ließ sich die ehemalige Enkelin von Wilhelm Winkler und aktuelle Witwe von Gunther Scharnhorst aber nicht entmutigen, immerhin hatte sie Talent und es dauerte nicht lange, da hatte sie wieder einen Fisch am Haken und danach einen weiteren und noch einen. Alle, und darauf war Mia stolz, hatten die Zeit mit ihr genossen, auch wenn es nie eine lange Zeit gewesen war.

Erst letzte Woche hatte sie ihren vierten Mann zu Grabe getragen und zu ihrer Überraschung und großen Enttäuschung hatte dieser ihr nichts vermacht. Immerhin war er dreiundachtzig Jahre alt geworden, aber die Pferderanch, auf der sie gemeinsam in Spanien gewohnt hatten, war verschuldet gewesen und jetzt rannten die Gläubiger ihr die Türe ein.

„Glück hat der, der es sich schafft“, hatte sie leise gesagt, als sie ihre Koffer packte, um heimlich das Land zu verlassen. Niemand würde sie finden, immerhin besaß sie derzeit fünf Pässe mit unterschiedlichen Namen. Als sie die Haustüre hinter sich schloss, nahm sie mehr aus Gewohnheit als Interesse die deutsche Zeitung auf, die sie abonniert hatten und die auf dem Türabsatz lag. Und da las sie es:

Ernst Rohloff gibt nicht auf, stand da in großen Lettern, und in dem kurzen Text darunter war zu lesen, dass Rohloff die kleine Kaja vor neunzehn Jahren zu sich genommen hatte, um sie an ihrer Eltern statt zu erziehen. Auslöser dafür war ein tragisches Flugzeugunglück gewesen, bei dem seine Tochter samt Mann ums Leben gekommen waren. Rohloffs Enkelin Kaja war damals gerade mal fünf Jahre alt gewesen und mit siebzehn Jahren war sie von einem Tag auf den anderen aus dem Hause Ernst Rohloffs verschwunden. Sämtliche Fahndungen und Aufrufe hatten bis jetzt keinen Erfolg gebracht. Der rührende Artikel erhielt durch die Worte des alten Mannes Sie war mein Ein und Alles, sie war alles, was mir an Familie geblieben war, eine weitere tragische Note. Ich weiß, dass du lebst, auch wenn du dich seit acht Jahren nicht mehr bei mir gemeldet hast, bitte, bitte, melde dich! Der Satz war in großen Buchstaben unter das Foto gedruckt und die strahlend blauen Augen flehten die Adressatin förmlich an. Das Foto zeigte einen alten Mann mit vielen Falten, aber dennoch scharf geschnittenen Gesichtszügen und auffallend blauen Augen. Die dünnen, weißen Haare flatterten wie Spinnweben im Wind. Der alte Mann saß in einem Rollstuhl auf der Veranda vor seinem herrschaftlichen Haus. Daneben war ein kleineres Foto angebracht, das eine hübsche Siebzehnjährige mit schwarzen Haaren und ebenfalls blauen Augen zeigte, eine Siebzehnjährige, wie sie einem jeden Tag im Kaufhaus oder auf der Straße begegnen konnte. Mit einer Ausnahme: Kaja trug ein auffälliges Muttermal auf der linken Seite neben ihrer Nase. Als Mia die beiden Fotos betrachtete, hätte sie beinahe Mitleid bekommen mit dem nunmehr achtundsiebzigjährigen Mann, aber eben nur beinahe. Und eine wichtige Botschaft ging aus dem Text noch hervor. Der Alte war vermögend. Einhunderttausend Euro habe er bisher investiert, um seine Enkelin zu finden, sagten die Zeilen. In diesem Augenblick war ihr klar: Ich werde deine Kaja sein. Der Rest, das wusste sie aus Erfahrung, war ein Kinderspiel.

Sie hatte die Koffer fallengelassen und war ins Haus zurückgerannt, wo sie sich vor den Computer setzte und die Gelben Seiten aufrief.

Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse, aber sie zwang sich zur Ruhe. „Ruhig jetzt, ganz ruhig, Mia“, ermahnte sie sich selbst, als sie die Telefonnummer wählte.

„Rohloff“, meldete sich eine brüchige, arthritische Stimme. Mia schwieg einige Sekunden. Das war wichtig bei ihrem Geschäft, denn ihr Gegenüber musste davon überzeugt werden, dass sie ein schlechtes Gewissen habe. Schniefen und weinen half auch, kein Mann, und schon gar nicht ein alter, konnte den Tränen einer Frau widerstehen. Sie hatte ein-, zweimal geschluchzt und dann ganz leise ins Telefon gehaucht: „Es tut mir leid, so leid.“

Die Stimme am anderen Ende wurde klar und sie wurde flehentlich. „Kaja, Kaja, bist du das?“

Volltreffer. Besser kann es nicht laufen, dachte sich Mia und sie zwang sich dazu, zu weinen: „Es tut mir leid, es tut mir so leid.“

„Aber mein Kind (die Stimme wurde jetzt fest und hoffnungsvoll), nichts muss dir leidtun, wichtig ist doch nur, dass du noch lebst, dass du dich meldest, meine Kaja, Kaja, Kaja.“

„Wirklich?“ Sie schluchzte.

„Aber sicher, mein Kind. Bitte erzähl mir, wie es dir geht.“

Bingo: Sie sollte von sich erzählen, und das sollte man nur, wenn einem der andere (zumindest bis zu einem gewissen Maß) vertraute. Ich habe ihn, jubelte sie innerlich, er ist überzeugt, dass ich seine Enkelin bin. Gut, hier bin ich, ich werde Kaja sein, und wie! Von nun an würde sie leichtes Spiel haben. Andererseits musste sie trotzdem vorsichtig vorgehen. Jetzt nur keinen Fehler machen, Fehler konnten in ihrem Geschäft sozusagen tödlich sein oder zumindest mit einem langjährigen kostenfreien Aufenthalt auf Staatskosten enden. Und wenn Mia zu einer Sache keine Lust hatte, dann war es, zusammen mit zwei oder drei anderen Mitinsassinnen in einer drei mal fünf Meter kleinen Zelle in harten Betten zu schlafen, nur zweimal die Woche zu duschen und obendrein in den Genuss der kulinarischen Wunder einer Gefängnisküche zu kommen. Halt dich an deine Geschichte, dann wird nichts passieren, du hast ihn schon, also Mia: sei Kaja, sei Kaja und erzähl, erzähl, erzähl und erzähle gut, ermahnte sie sich und verstärkte ihren Weinanfall noch, ein Trick, der sich schon viele Male bewährt hatte, ebenso wie das Flüstern. Flüstern war wichtig, immerhin konnte es sein, dass ihre Stimme bei normaler Lautstärke und bei normaler Gefühlslage völlig anders klang als die von Kaja.

„Soweit ganz gut, aber weißt du, ich bin ganz schön in Schwierigkeiten geraten.“

„In was für Schwierigkeiten?“ Der alte Mann schien auf einmal hellwach zu sein. Seine Stimme klang fest und klar, gar nicht mehr arthritisch, wie sie ihr noch am Anfang vorgekommen war.

„Ach weißt du, ich hatte Pech mit einem Mann, mit einem älteren Mann“, fügte sie leise hinzu.

„Hat er dir was angetan? “

„Nein, das nicht, aber er hat mich sitzengelassen. Wir hatten uns gemeinsam ein Leben aufgebaut und gemeinsam auf einer Ranch gelebt und von einer Nacht auf die andere ist er auf und davon und hat mich mit allem alleine gelassen. Wir hatten diese wunderschöne Finca in Spanien mit vielen Pferden, aber jetzt kann ich sie nicht mehr halten; ich muss schon nächste Woche ausziehen, wenn ich die Rate nicht bezahle.“

„Wie hoch ist die Rate?“

„Es sind mittlerweile sechs.“ Und mit tränenerstickter Stimme fügte sie hinzu: „Mein Gott, ich kann seit einem halben Jahr keine Abträge mehr bezahlen und was wird dann aus meinen Pferden?“

„Wie viel zusammen?“

„Insgesamt fünfzehntausend Euro.“

„Ich werde dir helfen, mach dir keine Sorgen.“ Die Stimme klang jetzt väterlich und vertrauenerweckend, beinahe hypnotisch und Mia ertappte sich bei dem Wunsch, tatsächlich Kaja zu sein, jene verschollene Enkelin des alten Mannes, der so wunderbare blaue Augen hatte und eine so vertrauenerweckende Stimme.

„Das würdest du wirklich für mich tun?“ Der Schluchzer am Ende des Satzes war diesmal echt.

„Aber sicher, mein Kind. Du bist meine Familie, außer dir habe ich doch niemanden mehr und ich möchte mit dir alles teilen, was ich noch habe. Weißt du“, fügte er noch leise hinzu, „ich bin mittlerweile in einem Alter, wo das Materielle nicht mehr so wichtig ist. Ich sehne mich nach einem Menschen, der mich mit mir selbst verbindet und ich sehne mich sehr nach deiner Gesellschaft.“

Mia, die sich mehr und mehr wie Kaja fühlte, freute sich jetzt wirklich auf das Zusammentreffen mit dem alten Mann. Aber bevor es dazu kam, musste sie noch einige Veränderungen vornehmen, beispielsweise war sie blond und das Foto der Urenkelin, das auch in der Zeitung abgedruckt gewesen war, zeigte eine schwarzhaarige Teenagerin mit einem auffälligen Muttermal neben der Nase.

Und genau an diesem Muttermal hatte sie geschlagene drei Stunden gearbeitet. Es war nämlich nicht einfach nur ein runder Fleck, sondern das Muttermal sah aus wie ein springendes Känguru, beinahe so wie die Umrisse der Insel Sylt, die sie einmal besucht hatte. Daher war es auch nicht leicht, es mit all seinen Details hinzubekommen. Die blauen Augen des Originals hingegen waren kein Problem, für solche Zwecke hatte sie Kontaktlinsen und die passende schwarze Haarfarbe hatte sie mit Färbemittel exakt imitiert. Erneut schaute sie ihr Spiegelbild an und erneut rief sie aus: „Perfekt, das ist perfekt und ich bin perfekt und ab jetzt bin ich Kaja!“ Das Herstellen eines weiteren Ausweises würde allenfalls einige Stunden in Anspruch nehmen, auch auf diesem Gebiet hatte sie im Laufe ihrer schauspielerischen Karriere erhebliche Fähigkeiten entwickelt. Allerdings mussten zuvor noch einige Vorbereitungen getroffen werden, so musste sie sich beispielsweise so weit wie möglich über die Familie des alten Mannes informieren und vor allem den Nachnamen von Kaja herausfinden. Gelobt sei das Internet, hatte sie sich gedacht und ihrem „Großvater“ (natürlich unter Tränen) klargemacht, dass sie vor Samstag nicht bei ihm sein könne, da sie die Versorgung der Pferde mit ihrem Gutsverwalter besprechen und noch vorher mit der Bank reden und denen die nunmehr neue und glückliche Situation schildern müsse. „Ich muss das tun“, hatte sie gesagt, „dann wissen die, dass ich wirklich bezahlen möchte.“ Nach dem Gespräch hatte sie sich zu diesem genialen Schachzug gratuliert, würde der alte Mann doch nun noch überzeugter sein, dass ihre Geschichte der Wahrheit entsprach.

Was für ein Schloss, dachte sie, als sie vor dem schmiedeeisernen Tor stand, hinter dem sich eine lange Auffahrt und dahinter eine wunderschöne Villa mit Terrasse befand. Obwohl dieser alte Mann nicht ihr erster „Kunde“ (so bezeichnete sie die alten Männer, deren Enkelin oder Urenkelin sie - je nach Situation - spielte) war, überkam sie ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Jackpot, das ist der Jackpot, dachte sie sich. Warum sollte es auch nicht mal sie erwischen, das Glück, von dem sie so lange geträumt hatte. Okay, die Jobs bisher waren gut gewesen und hatten auch einiges eingebracht, aber dieses hier war eine andere Dimension, das war Championsleague verglichen mit Kreisklasse B, in der sie bisher gespielt hatte. Okay, Gunther Scharnhorst war Bundesliga gewesen, zumindest finanziell, aber trotzdem noch weit entfernt von der Königsklasse. Aber andererseits erforderte Championsleague eben auch wesentlich mehr Können und Klasse, sie erforderte Eleganz und Finesse und vor allem erforderte sie eines: fehlerfreies Spiel, und zwar absolut fehlerfreies Spiel.

„Und ich werde es spielen“, sagte sie leise zu sich selbst, als sie ihren Taschenspiegel nahm und noch einmal ihre blauen Augen, ihre Haare und ihr Muttermal überprüfte. Dann drückte sie beherzt die Klingel, die sich am gemauerten Pfosten neben dem Tor befand.

„Sie wünschen?“

Verdammt, eine weibliche Stimme. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Erster Fehler, sagte sie zu sich selbst. Wie konnte ich nur so blöd sein und das vergessen? Eine der eisernen Regeln ihres Geschäftes lautete: „Stell sicher, dass der Kunde alleine ist.“ Dieser hier war es offensichtlich nicht. Was sollte sie tun? Weglaufen, jetzt, wo sie sich so gut vorbereitet, wo sie alles in die Wege geleitet hatte, die Haare gefärbt, das Muttermal angebracht und sich farbige Kontaktlinsen eingesetzt hatte? Und überdies hatte der alte Mann Vertrauen zu ihr gefasst, das hatte sie beim Telefonat ganz deutlich gespürt, und doch, irgendetwas war ihr an seinem Verhalten seltsam vorgekommen, aber sie konnte nicht sagen, was.

„Hallo, Sie wünschen?“, drang es jetzt energischer aus der Sprechanlage.

Mia zwang sich dazu, ruhig zu atmen und bis fünf zu zählen. Dann sprach sie langsam und mit heiserer Stimme in die Sprechanlage: „Ja, hallo, hier ist Kaja. Ich habe ein wenig Angst, weil ich mich so lange nicht gemeldet habe.“

„Ach so.“ Die Frauenstimme klang jetzt freundlich und beinahe schien sie zu lachen.

„Herr Rohloff hat mir schon alles gesagt und er freut sich, Sie zu sehen. Ich bin übrigens Erna, seine Haushälterin. Also, herzlich willkommen, liebe Kaja.“

Schien es ihr nur so, oder hatte die Haushälterin die letzten beiden Worte besonders langgezogen und betont. Ach, Unsinn, sagte sie sich und trat durch das sich langsam von selbst öffnende Tor auf den breiten, mit Natursteinen gepflasterten Weg, der zum Haus führte.

Der alte Mann hatte schwarze Hosen an und ein weißes Hemd mit roter Fliege. Im Kamin knisterte ein Feuer und die Wände spiegelten den gelblich-roten Widerschein der Flammen.

„Hallo, mein Kind, herzlich willkommen in meinem bescheidenen Heim.“ Die Stimme des alten Mannes klang weich und einschmeichelnd und sein Lächeln wirkte anziehend und vertrauenerweckend. „Ich würde gerne aufstehen, aber du siehst ja.“

Er sieht genau aus wie auf dem Foto, eigentlich noch besser, dachte Mia, als sie ihn jetzt das erste Mal leibhaftig vor sich sah. Alles war so wie auf dem Bild in der Zeitung, die Falten in seinem Gesicht, die scharfen, beinahe aristokratischen Züge, die weißen, dünnen Haare, die jetzt allerdings ordentlich gekämmt waren, und die faszinierend blauen Augen, die den ersten Eindruck vom Foto bei weitem übertrafen.

Mia fühlte sich vom ersten Augenblick an hingezogen zu diesem Mann, der eigentlich nur ein Kunde war, der aber schon jetzt so viel mehr Wärme ausstrahlte als alle anderen Kunden, die sie im Laufe der letzten Jahre betreut hatte. Sie ließ ihre Tasche in einen Sessel fallen und rannte auf ihn zu und wenngleich diese Geste zu ihrem Schauspiel gehörte, war doch ein guter Teil nicht gespielt. Schon jetzt fühlte sie sich beinahe heimisch und sie bückte sich und umarmte ihren neuen Großvater. Sie nahm wahr, wie angenehm er roch, nach einem Parfum, das herb war und doch lieblich und mit einem Male war sie wieder drei Jahre alt und sie befand sich mit ihrem Vater auf einer grünen Wiese. Sie sah Kühe und sie roch den Duft von frisch gemähtem Gras. „Mia, meine kleine Mia“, sagte ihr Vater zu ihr und er hob sie an und küsste sie auf die Wange und sie küsste ihren Vater. „He he, ho, ho, nicht so stürmisch“, sagte der alte Mann und sie erwachte aus ihrem Traum. Sie merkte, dass auf seiner Wange Spuren von rotem Lippenstift waren, von ihrem Lippenstift. Jetzt zog sie den Kopf schnell zurück und lächelte scheu, als sie ihm die Hand gab. Seine Haut fühlte sich weich an, nicht so wie das alte Leder, an das sie gewohnt war. Und seine Augen, ja diese blauen Augen blickten sie klar und wach an und - so kam es ihr vor - ein wenig schelmisch. Mit einem Male war ihr das Geld egal, das sie verdienen würde, ihr war egal, ob sie sich einen Porsche kaufen konnte oder einen Ferrari, ihr war egal, ob sie jemals in die High-Society aufsteigen würde, nach der sie sich so gesehnt hatte. In diesem einen Augenblick gab es nur eines, das ihr wichtig war, und das war Nähe, Geborgenheit und ein Zuhause.

Zuhause, dachte sie bei sich, endlich, ich bin zuhause und ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte sie.

„So, jetzt wo wir das Begrüßungsritual fürs Erste hinter uns haben, würde ich vorschlagen, dass wir uns erst mal stärken.“ Wieder dieser belustigte, leicht schelmische Blick. „Dann können wir ja darüber reden, wie es dir so in den letzten Jahren ergangen ist, dir ist ja sicher klar, dass mich das brennend interessiert.“

Der alte Mann drückte den Knopf einer Fernbedienung und einen Augenblick später stand Erna in der Türe.

„Meine Liebe“, begann der alte Mann und seine Augen wendeten sich der Haushälterin zu, „bitte bring uns den 68er Chateau Imperial. Du weißt ja, dass Kaja immer gerne am Rotwein genascht hat, auch wenn sie damals eigentlich noch zu jung dafür war.“

Mit einem Blick auf Mia fügte er hinzu: „Heute ist ein Festtag und für diesen Tag ist das Beste gerade gut genug.“

Kaja hat also gerne Wein getrunken, wieder was gelernt. Mia lächelte zuerst ihren neuen Großvater und dann Erna an. „Das hast du also nicht vergessen, du bist der beste Opa der Welt.“ Täuschte sie sich oder hatte sie in den Augen ihres Gegenübers ein leichtes Blitzen bemerkt? Egal, dachte sie, es wird wohl tatsächlich die Freude darüber sein, dass er mich gefunden hat.

Erna verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Wenig später kehrte sie mit einem Tablett zurück, auf dem sich zwei elegante Weingläser und zwei Korken befanden.

„Er muss noch etwas atmen“, sagte Erna und Mia fühlte sich plötzlich etwas unsicher. Hatte die Haushälterin ihrem Herrn gerade verstohlen zugezwinkert?

Vielleicht sind die beiden ein Paar, beruhigte sie sich selbst. Immerhin sieht er für sein Alter noch verdammt gut aus, gut und vor allem fit. Sie beschloss, vorsichtig zu agieren, denn auch wenn sie sich auf ihre Rolle akribisch vorbereitet hatte, konnte es immer wieder Fallen und Untiefen geben. Das war schon bei einem „Spielpartner“ ein Risiko, bei zweien konnte es zur Katastrophe werden.

„Ich bin so froh, dass du jetzt endlich wieder hier bist“, sagte jetzt Ernst Rohloff, „also erzähl doch mal, wie es dir so ergangen ist in den letzten Jahren.“

Die Tage vor ihrer Ankunft in Hannover hatte Mia damit verbracht, innerlich ein Drehbuch zu schreiben und es auswendig zu lernen und jetzt kam das, was jeder Schauspieler gleichermaßen fürchtete wie herbeisehnte, die Premiere. Und plötzlich war Mia in ihrem Element; jetzt endlich konnte sie beweisen, dass sie eine Schauspielerin war und was für eine! Und Mia erzählte alles, sie erzählte davon, wie sie damals Miguel in einer Disco kennengelernt habe, wie sie beschlossen habe, mit ihm abzuhauen und wie sie geplant hätten, ein gemeinsames Leben aufzubauen. Sie erzählte, wie sie gemeinsam nach Spanien „geflohen“ seien über Frankreich und die Pyrenäen und wie sie in der Nähe von Barcelona auf seiner Finca gelebt hätten. Sie erzählte auch, dass Miguel ihr vorgemacht habe, ein erfolgreicher Pferdehändler zu sein und sie sich in die Tiere - ebenso wie in Miguel - verliebt habe und dass ihr neues Zuhause ihr alles bedeutet habe bis zu jenem Tag, als er sie verlassen und sie mit den Schulden, von denen sie nichts gewusst habe, sitzengelassen habe. „Ich war so jung damals und so verrückt“, schloss sie den ersten Teil ihrer Ausführungen, „bitte, bitte verzeih mir, dass ich das getan habe, aber hätte ich dich gefragt, du hättest mich sicher nicht gehen lassen. Heute weiß ich natürlich, dass du Recht gehabt hättest, aber damals.“ Während ihrer etwa dreißigminütigen Rede, die von zahlreichen Schluchzern begleitet wurde, hatte sie nicht ein einziges Mal gestottert oder sich verhaspelt und innerlich beglückwünschte sie sich zu der genialen Vorstellung. Der alte Mann hatte interessiert zugehört und ab und zu mit dem Kopf genickt und leise Dinge gesagt wie: „Verstehe, verstehe“ und „ach je“ und „schlimm, schlimm.“ Sie hatte jetzt Tränen in den Augen und schaute ihren (als Mia neuen, als neue Kaja alten) Großvater mit feuchten Augen an. „Kannst du mir verzeihen, kannst du das tun? Bitte, bitte, verzeih mir.“ Die letzten Worte waren nur mehr ein heißeres, tränenersticktes Flüstern und ihr Plan ging auf. Auch der alte Mann hatte jetzt Tränen in den Augen.

„Ach, mein Kind, auch ich habe meine Dummheiten in der Jugend gemacht, ich weiß nur allzu gut, wie es ist, wenn man auf charismatische Menschen hereinfällt, die einem etwas versprechen, was man sich wünscht, was aber doch nur Illussion ist.“ Ernst Rohloff zeigte ein schmerzliches Lächeln und Mia schien es mit einem Male, als habe ein eiskalter Finger sie berührt. Sie beschloss, in die Offensive zu gehen.

„Ja“, schluchzte sie, „und deshalb werde ich auch nie wieder einem Mann vertrauen können, das heißt, mit Ausnahme von dir.“

„Du wirst es gut haben hier, du wirst doch bleiben?“ Das Lächeln von Ernst Rohloff war einem lauernden Gesichtsaudruck gewichen.

„Wenn ich darf.“ Wieder dieses leise Schluchzen.

„Gott sei Dank.“ Der alte Mann blühte förmlich auf. Sein Körper schien sich im Rollstuhl zu straffen und seine blauen Augen blitzten auf. „Ich hatte nämlich schon die Befürchtung, du hättest es nur auf mein Geld abgesehen und würdest wieder verschwinden, wenn ich dir aus deiner - sagen wir - peinlichen Situation geholfen hätte.“

Ich bin Kaja, ich bin Kaja, ich bin Kaja und das ist mein Großvater, motivierte Mia sich selbst, ihre Vorstellung fortzuführen: „Das Geld ist mir nicht so wichtig, ich bin nur froh, dass ich endlich wieder ein richtiges Zuhause habe, das heißt, wenn ich darf.“

„Aber sicher, mein Kind. Das alles wird ab sofort auch dir gehören.“ Ernst Rohloff machte mit dem rechten Arm eine ausholende Geste. Erst jetzt bemerkte Mia die vielen Geweihe an den Wänden und neben dem Kamin stand ein Fuchs, der mit erhobener Rute und in die Luft gestrecktem Kopf offenbar Witterung aufgenommen hatte. „Das ist ja fantastisch“, rief Mia, „Entschuldigung, ich meine natürlich den Fuchs, ist der etwa ausgestopft?“

„Ja, das ist er, ich habe ihn vor vielen Jahren geschossen, als ich es noch konnte“, sagte Ernst Rohloff mit einer bedauernden Geste in Richtung seiner gelähmten Beine.

„Er, er sieht so echt aus.“

„Ja, nicht wahr? Es ist eine große Kunst, die Tiere so zu erhalten und auch ich habe immer wieder das Gefühl, dass Filou jeden Augenblick zu mir hochspringt oder die Flucht ergreift, so wie damals.“ Er blickte verträumt zu dem Tier. „Filou, so habe ich ihn genannt, weil er raffiniert war und gerissen. Ich habe viele Monate gebraucht, um ihm eine Falle zu stellen, aber schließlich habe ich ihn doch erwischt. Aber er hat es sich verdient, dass er jetzt bei mir ist, er war der beste und schönste Fuchs, den ich je gejagt habe.“

„Und du hast ihn auch selbst ausgestopft?“

Ernst Rohloff lachte: „Präpariert, das heißt präpariert, aber nein, mein Kind, das hat Erna getan. Du hast sie ja schon kennengelernt, sie ist meine Haushälterin, aber sie ist auch eine ausgezeichnete Präparatorin, die beste, möchte ich meinen. Ach, und wenn man vom Teufel spricht.“

Die Haushälterin betrat den Salon. Mia fiel erst jetzt auf, dass sie einen schwarzen Rock, eine weiße Schürze und eine weiße Haube trug. Zieht man das heute wirklich noch an?, dachte sie, aber sie wischte den Gedanken beiseite, als die Bedienstete an den Tisch trat.

„So, der Wein hat jetzt lange genug geatmet und ein anregendes Gespräch lässt sich mit einem guten Tropfen sicherlich noch anregender gestalten.“ Erna zwinkerte Mia verstohlen zu, als sie ihr das Tablett, auf dem sich ein Glas mit der tiefroten Flüssigkeit befand, darbot. Für ihren Brotherrn hatte sie einen Weißwein eingeschenkt, „der Herr verträgt den roten nicht mehr so gut“, hatte sie, ebenfalls mit einem Augenzwinkern, erklärt.

Ernst Rohloff erhob sein Glas. „Darauf, dass ich dich wiedergefunden habe“, sagte er feierlich.

„Und darauf, dass ich hier sein darf.“ Mia stand auf, erhob ihr Glas und beugte sich zu ihrem Großvater herab, um mit ihm anzustoßen. Wieder roch sie das herrliche Parfum, wieder sah sie das Bild der Wiese vor sich, wieder roch sie den Duft von frisch gemähtem Gras. Es ist alles gut, es ist alles gut, Gott sei Dank, dachte sich Kaja. Sie fühlte sich ungeheuer erleichtert und beinahe schien es ihr, als habe dieses Haus und dieser alte Mann nur auf sie gewartet und sie würde ihn nicht enttäuschen. „Ich bin deine Kaja und ich werde es immer sein, ich gehöre hierher“, sagte sie mit feierlicher Miene und sie trank das Glas mit wenigen Schlucken aus. Die Haushälterin lächelte war diskret vom Tisch zurückgetreten und beobachtete lächelnd die rührende Szene.

„Bitte, meine liebste Kaja, erzähl mir noch mehr von dir“, sagte Ernst Rohloff, als sie wieder Platz genommen hatte. Erna schenkte ihr nach und sie nahm einen weiteren großen Schluck. Der Wein schmeckte zwar etwas bitter, aber das war Mia egal. Sie fühlte sich hier so wohl, wie sie sich noch nie im Leben wohlgefühlt hatte. „Mir ist noch nicht ganz klar, wie du das bewerkstelligen konntest mit der Flucht über die Pyrenäen damals mit deinem Miguel, ich meine, du warst damals doch noch sehr jung.“ Schon wieder dieses Blitzen in den Augen, aber das Blitzen war nicht freundlich, im Gegenteil, jetzt schien es ein gefährliches Blitzen zu sein. Auch die Mundwinkel waren anders als eben, zwar waren die Lippen hochgezogen, aber es schien kein angenehmes Lächeln mehr zu sein, eher ein hartes, grausames Lächeln, wie man es vielleicht nach einem glorreichen Sieg über einen Gegner, den man nach langem, hartem Kampf besiegt hatte, zur Schau trug.

Mia fühlte sich mit einem Male schläfrig. „Vielleicht ist es besser, wenn wir morgen weiterreden. Ich glaube, das Ganze war doch etwas anstrengend für mich.“ Die Worte kamen verschliffen, beinahe lallend aus ihrem Mund.

„Komm, mein Kind, ich möchte dir etwas zeigen.“ Mia sah den alten Mann wie durch einen Schleier in seinem Rollstuhl sitzen. Sein Aussehen schien sich zu verändern. Seine eben noch schlohweißen Haare waren mit einem Mal schwarz und er trug ein faltiges Etwas in der Hand, an dem sie eine Nase, einen Mund und zwei Augenbrauen zu erkennen glaubte. Und oben an dem faltigen Etwas sah sie weiße Fäden flattern. Jetzt schien sich der alte Mann auch noch aus seinem Rollstuhl zu erheben. Er kam auf sie zu und fasste sie sanft bei der Hand. Mia ließ es mit sich geschehen und die Gestalt, die jetzt - abgesehen von den blauen, durchdringenden Augen - gar nicht mehr aussah wie Ernst Rohloff, führte sie zu einem Bild an der Wand. „Erkennst du das Bild?“, fragte der Mann. Die Stimme hatte noch immer einen melodischen, aber - so schien es Mia - jetzt auch gefährlichen Klang. Sie schaute sich das gerahmte Foto an und erkannte einen schwarzhaarigen Mann mittleren Alters, der gemeinsam mit einem ebenso schwarzhaarigen Mädchen in die Kamera lachte. Das Mädchen kannte sie, es war das gleiche, das sie in der Zeitung unter der Überschrift Ernst Rohloff gibt nicht auf gesehen hatte. Aber irgendetwas war anders, wenn sie nur wüsste, was es war. „Du und ich“, sagte der alte Mann und seine Stimme schien wie ein Echo im großen Raum widerzuhallen, „du und ich in glücklicheren Zeiten.“ „Ja“, flüsterte Mia, „du und ich, wie schön, schön, schön.“ Ihre Augen schienen immer schwerer zu werden und sie musste sich zwingen, die Luft in ihre Lungen zu pressen. „Schau es dir genau an, mein Schatz“, sagte der Mann, „ein wunderbares Bild, du und ich und ich und du und schau, wie makellos rein dein Gesicht ist, wie das eines Engels.“

Mia schien es, als habe jemand ihre Brust in einen Schraubstock gequetscht und drehe nun gnadenlos am Mechanismus. Das darf nicht wahr sein, nicht wahr, wahr, wahr, hämmerte es in ihrem Kopf. Ihre Augen weiteten sich und sie blickte in das Gesicht von Ernst Rohloff, einem schönen Gesicht beinahe frei von Falten, einem ernsten Gesicht, vor allem aber einem Gesicht, das nicht älter als Mitte fünfzig sein konnte.

„Mein Muttermal“, flüsterte sie, „wo ist es?“

„Du hattest nie eines, meine Schöne“, sagte der Mann, der ihr mit einem Male Angst einflößte. „Meine Kaja hatte nie ein Muttermal und sie ist vor langer, langer Zeit weggegangen.“ Er blickte sie traurig an. „Und sie war auch nicht meine Enkelin, sondern meine Tochter. Aber eins stimmt doch: Meine Frau und ich haben uns immer gewünscht, dass sie wiederkommen würde. Also haben wir uns in einem Zeitungsartikel an die Öffentlichkeit gewandt. Meine Frau hat übrigens eben den köstlichen Wein serviert, den sie für dich noch besonders zubereitet hat. Sie hat die Rolle als Hausmädchen gespielt, weil sie immer Schauspielerin werden wollte, genauso wie ich. Stell dir das mal vor. Aber mit unseren Karrieren wurde es nichts, wir seien zu untalentiert, haben die Theaterleute gesagt, was sagt man nur dazu? Sogar die Zeitungen haben mir das Märchen vom verzweifelten Großvater abgenommen, aber die Herren Regisseure sagen, ich könne nicht schauspielern, ist das nicht unglaublich?“ Er schüttelte den Kopf, so als könne er die Welt nicht mehr verstehen. Dann führte er sie wieder zu ihrem Sessel, wo sie niedersank wie ein Stein. „Allerdings wünschte ich mir, ich hätte dein Talent, du bist wirklich gut“, fuhr er fort, „sogar mehr als das! Aber ich schweife ab. Was viel wichtiger ist: Das Muttermal, das du auf dem Gesicht von Kaja in der Zeitung gesehen hast, hatten wir sozusagen aus Sicherheit in das Bild appliziert, du verstehst, es gibt so viele Betrüger in dieser Welt und da muss man sich schon schützen.“ Die letzten Worte hatten beinahe traurig geklungen, aber plötzlich erhellten sich die Züge von Ernst Rohloff, seine Augen blickten verträumt an ihr vorbei und seine Stimme wurde immer höher und schriller. „Und siehe da“, rief er mit irrer Fröhlichkeit, „plötzlich kamen lauter Kajas zu uns, beinahe jede Woche eine neue Kaja! Stell dir vor, früher hatten wir nur eine und jetzt sind es schon sieben, stell dir das vor, schon sieben, mit dir, wohlgemerkt, nicht eine, nicht zwei, nicht drei, nein sieben, sieben, sieben!“

Mia schienen diese blauen Augen, die sie vor einer Stunde noch als so vertrauenerweckend empfunden hatte, alles andere als liebevoll. Das Blau der Iris schien sich mehr und mehr zu verdunkeln und jetzt erschienen diese beinahe schwarz werdenden Augen verschlagen und irre. „Wo sind die anderen?“ Mia musste ihre gesamte Kraft aufwenden, um diese Frage auszusprechen. „Oh, sie haben es gut bei uns, wir sind jetzt eine richtige schöne Familie, eine Familie mit lauter Kajas. Sie wohnen alle hier bei uns unten im Keller, wir haben sie schön gemacht und sie sitzen alle in fröhlicher Runde um einen Tisch. Und alle hatten mal ein Muttermal, aber das haben sie schon lange nicht mehr, schließlich sollen sie möglichst so aussehen wie unsere wirkliche Kaja.“ Jetzt erschien wieder das vertraute, liebevolle Gesicht und die Augen wurden deutlich heller, als er mit sanfter, hingebungsvoller Stimme sprach: „Und sie alle werden für immer bei uns bleiben und uns nie verlassen wie die erste Kaja.“ Er war jetzt ganz nahe bei ihr und sie roch erneut sein Parfum. Sie versuchte, sich wegzudrehen, aber ihr Körper schien wie festgenagelt. Auch der Geruch behagte ihr jetzt nicht mehr, es schien, als habe sich der Duft in etwas verwandelt, das nach toten, ausgestopften Tieren roch. „Das verstehst du doch, wir können es nicht riskieren, unsere neuen Töchter zu verlieren, das erste Mal war schon sehr schmerzlich und es hat uns beinahe das Leben gekostet“, fuhr er fort. Kaja lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Sie hörte das, was der Mann ihr gegenüber sagte, beinahe gar nicht mehr. In ihrem Kopf hämmerte immer nur ein Wort: Erwischt, erwischt, erwischt und dann dachte sie: Das verdammte Muttermal, aber da sieht man mal, wo unsere Welt hingekommen ist, nicht mal alten Menschen kann man mehr trauen, so ein verkorkster Scheiß! Sie torkelte zurück zu ihrem Sessel. In ihrem Kopf schien sich alles zu drehen und Bilder von falschen Muttermalen wechselten sich ab mit Masken, Perücken und altertümlich wirkenden Haushälterinnen. Sie wollte jetzt nur noch ganz schnell hier heraus, so schnell wie möglich. Aber wie nur? Ihre Beine fühlten sich an, als seien sie aus Holz, ihre Arme lagen auf den Lehnen des Sessels wie zwei tote Aale und ihren Kopf konnte sie auch nur noch mit Mühe bewegen, weil der Hals sich anfühlte wie ein verrostetes Scharnier. Dennoch gelang es ihr, den Blick in Richtung Kellertür zu lenken. Wenn die anderen, von denen er gesprochen hatte, da unten waren, könnten sie ihr vielleicht helfen. „Hilfe“, rief sie mit brüchiger Stimme, „bitte helft mir!“ Ganz verschwommen nahm sie wahr, wie sich die Kellertür öffnete und eine dunkle, schemenhafte Gestalt mit einer weißen Schürze und einer weißen Haube das Zimmer betrat, und mit der Gestalt schien auch ein eisiger, süßlicher Geruch ins Zimmer zu wehen, ein Geruch wie verfaultes Obst. „Es ist angerichtet, die anderen warten auf dich“, sagte die Gestalt und Mia erkannte, dass es die Haushälterin von vorhin war, die ihr den seltsam bitter schmeckenden Wein serviert hatte. „Aber“, brachte Mia stockend hervor, „ich kann nichts da unten hören.“ Wieder wechselte das Mienenspiel von Ernst Rohloff von fröhlich zu traurig und durch den Nebelschleier, der jetzt immer dichter wurde, erblickte Mia ein liebevolles Gesicht, ein Gesicht, das alles ausdrückte, was sie sich immer gewünscht hatte: Liebe, Geborgenheit und Schutz, ein Gesicht, dessen Augen sich jetzt auf den Fuchs neben dem Kamin hefteten und dessen Mund die letzten Worte formten, die in ihrem Leben wie durch eine Wand in ihr Bewusstsein drangen. „Nein, meine Liebe, das kannst du auch nicht, denn sie sind so stumm wie unser Filou da vorne, aber sie haben es mindestens genauso gut bei uns wie er. Das Wichtigste aber ist: Es sind alles Kajas und sie sind alle schön, für ewig schön und sie werden nie mehr fortgehen. Aber, wenn ich es mir recht überlege, ich glaube, du bist die schönste und talentierteste Kaja, die wir je hatten.“

Silberhochzeit

Fröhlich lachend betrat Charlene Steiner das große Foyer des Ressorts Lebensglut. Das war wenigstens mal ein Name, nicht so einer wie Abendrot, Morgentau, oder Alten- und Pflegeheim St. Martin, alles nur Bezeichnungen für das, was sie nach Meinung des ehemaligen Models darstellten, nämlich Bahnhöfe für die Züge ins Jenseits. Je nach Zustand verweilten die Reisenden nur kurz oder auch etwas länger, ehe der große Lokführer kam, sie in seinen Zug lud und sie von den irdischen Gleisen in jene Gefilde verfrachtete, wo überhaupt kein Lokführer mehr nötig war, geschweige denn ein Bahnhof, der den Wartenden den Aufenthalt noch möglichst angenehm gestalten könnte.

Lebensglut, ein schöner Name für einen so sonderbaren Ort, dachte Charlene, die eigentlich Karin geheißen hatte, bevor ihr Adam Steiner über den Weg gelaufen war, jener Adam, der sie mit einem Schlag aus der Mittelmäßigkeit ihres Daseins herausgeholt und quasi über Nacht in gesellschaftliche und finanzielle Sphären katapultiert hatte, von denen sie davor nicht einmal zu träumen gewagt hatte.

Ja, das waren Zeiten gewesen, als Adam noch jung, dynamisch und voller Ideen gewesen war. Bereits bei ihrem ersten Treffen, es war damals in München gewesen, als sie als Hostess bei einer Vernissage des berühmten Künstlers Chris Menzinger die erlesenen Gäste mit Speisen und Getränken bewirten durfte, hatte es gefunkt.

Noch am gleichen Abend landeten sie gemeinsam im Bett des Geschäftsmannes und ein Jahr später vor dem Altar der St. Christopherus-Kirche in Freiburg, wo sie sich das Jawort gaben.

Was folgte, war ein Leben auf der Überholspur; München war nur der Ausgangsort für weitaus exquisitere Adressen wie Mailand, Rom oder Neapel. Aus der Hostess Karin wurde das Model Charlene, immer an der Seite ihres Mannes und immer unterstützt von ihm. Egal, was Adam auch anpackte, es wurde sprichwörtlich zu Gold. Mit seiner Eloquenz und Intelligenz schloss er Türen auf, die für Normalsterbliche für immer verschlossen blieben, er hatte Kontakte in aller Welt: in Europa, Afrika, China, Japan, Korea und den USA.

Und sie, Charlene? Ja, sie war die Königin der Laufstege geworden, sämtliche großen Agenturen rissen sich um sie, sie liebte den Glamour, den Glanz und die vielen Reisen, sie liebte es, exotische Länder und noch exotischere Menschen kennenzulernen und sie liebte es, mit einem Mann verheiratet zu sein, der ihr alles bieten konnte: Luxus, Abenteuer und sexuelle Erfüllung, mit einem Wort, sie liebte das Leben; vergessen war ihre Herkunft aus einfachen Verhältnissen, vergessen auch die unbefriedigenden Beziehungen zu Menschen, die sie früher gekannt hatte und die doch nichts weiter waren als der Staub, aus dem sie aufgestiegen war wie Phönix aus der Asche.