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Ein Erfinder, der "geniale Ideen" hat, ein Weinbauer, der eine neue Geschmacksrichtung kreiert, ein Kunstsammler, der seine "wahre Liebe" findet, und ein Student, dem sich in der Ukraine die Chance seines Lebens bietet, dies sind nur einige der Charaktere, die dem Leser auf seiner amüsanten Reise in menschliche Schwächen und Abgründe augenzwinkernd begegnen. Elf Geschichten, mal skurril, mal nachdenklich, mal lustig, mit denen der Autor vor allem Liebhaber des subtilen Humors zum Staunen und zum Lachen bringt, makaber, verrückt und anders.
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Seitenzahl: 327
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Für Rainer Daus, meinen besten Freund, der mit nur einem Satz die Initialzündung für dieses Buch ausgelöst hat.
Thomas Hoffmann
Unglaubliche Geschichten
Thomas Hoffmann, „Gefallener Engel“
© 2016: Verlag tredition GmbH, Hamburg.www.tredition.de
© 2016: Thomas Hoffmann
Umschlag, Illustration: © Fotolia/heywoodyPortrait: Foto Bauer, Wissen
Lektorat, Korrektorat: Rainer Daus
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-5540-4
Hardcover:
978-3-7345-5541-1
e-Book:
978-3-7345-5542-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung
„Wenn man bedenkt, dass wir alle verrückt sind, ist das Leben erklärt.“
Mark Twain
„Hast du die Bariquefässer überprüft? Alles dicht? Temperatur in Ordnung?“
Sergej drehte sich seinem Meister zu, einem großen, kräftigen Mann um die sechzig. Trotz seiner Kleidung, einem grünen Arbeitsanzug und gelben Gummistiefeln, wirkte er gepflegt und sauber. Lediglich sein rotes, aufgedunsenes Gesicht und seine knollenartige Nase, die von zahlreichen blauen Äderchen durchzogen war, passten nicht so ganz zum Erscheinungsbild; sie verrieten seinen ausgeprägten Hang zu gutem, üppigen Essen und geistigen Getränken.
„Alles okay, Chef, wenn es so weiterläuft, können wir nächste Woche mit der Abfüllung beginnen.“
„Nächste Woche muss ich nach Australien, neue Traubensorten testen, haben da anscheinend wirklich revolutionäre Trauben gezüchtet, die Australier. Dabei haben die gar keine Tradition, na ja, moderne Zeiten eben.“
Hermann Geisenhahn blickte sich wehmütig und versonnen in seinem Keller um, in dem die alten Bariquefässer lagerten. Sein Weingut konnte auf eine beinahe sechshundertjährige Geschichte zurückblicken. Wen hatten seine Vorfahren nicht alles beliefert mit ihren Kreationen: Grafen, Fürsten, Könige und Künstler waren hier gewesen, sogar ein berühmter deutscher Dichter hatte im Jahre 1789 seinen vierzigsten Geburtstag hier gefeiert, wobei er seine Gäste mit den besten Weinsorten verwöhnte, die das Gut bieten konnte: Geisenhahner Spätlese, Geisenhahner Wurzelstein, Geisenhahner Mädchenblut und Geisenhahner Sonnenrad, allesamt Weine erlesener Qualität, oftmals viele Jahre gereift und in Fässern eingelagert, die, stabil und mächtig, auch unberechenbare Naturereignisse wie Hochwasser und andere Katastrophen ohne Schaden überstehen konnten.
Bei allen Neuerungen, bei allen Modernisierungen, die die Jahrhunderte und insbesondere die neue, schnelllebige Zeit, in der es nur noch auf Profit und Ertragssteigerung ankam, mit sich brachten, waren sie geblieben, die Fässer aus schwerem, robusten Eichenholz, die dem Wein nach kürzerer oder längerer Lagerzeit, je nachdem, für welchen Zweck sie angelegt wurden und ob es Weiß- oder Rotweine waren, ihren eigenwilligen und unverwechselbaren Charakter einhauchten.
Gerne hielt sich Hermann Geisenhahn hier auf; hier konnte er die feuchte, schwere Luft des Kellers atmen, hier konnte er die Tradition, ja, beinahe die Allgegenwärtigkeit des Weines fühlen und riechen, eine Allgegenwärtigkeit, die sich über die Jahrhunderte geruchlich und atmosphärisch in den Wänden und dem Holz manifestiert hatte. Dieser Ort gab ihm Sicherheit, Ruhe und Frieden; es war denn doch nicht so, dass sich alles dem Tempo der neuen Zeit unterordnen musste, hier und da gab es auch Refugien der Beständigkeit, die nicht einem Geist unterworfen waren, dem nur das Äußerliche wertvoll erschien und dem die tiefergehenden Werte nichts bedeuteten.
Hier, der Keller mit seiner herrlichen, wunderbaren und einheimelnden Atmosphäre, war ja Beweis genug, dass es tatsächlich noch Freiräume gab, wenn auch wenige und wenn auch nur kleine, wo man leben konnte, wo man atmen konnte, wo man der sein konnte, der man sein wollte, nämlich Hermann Geisenhahn, von Herkunft und Berufung Winzer und eben nicht irgendein Winzer, sondern der Winzer, der für Tradition und Stärke, für Qualität und Zuverlässigkeit stand.
Und dennoch: Gerade in den letzten Jahren war es mit seinem Weingut bergab gegangen. Seine Konkurrenz setzte auf diese neuen Errungenschaften wie Stahlfässer, computergesteuerte Pressen und automatische Temperaturüberwachung und Regelung. Wo blieb da das Handwerk, wo die Tradition?
Die gute alte Zeit, in der ein Weinbauer noch ein Weinbauer war, der von der Weinlese über das Maischen, das Keltern, die Anreicherung, die Schwefelung und die Gärung bis hin zum Abstich bei allen Prozessen, die einen guten Wein ausmachten, dabei war, diese überwachte und der den Wein dann noch mit der gebotenen Hingabe und Sorgfalt reifen lies, schien ein für alle Mal vorbei zu sein.
Was sollte er nur tun angesichts der übermächtigen Konkurrenz, die in ihren Großbetrieben mit ihren Lebensmittelingenieuren und Geschmacksdesignern jeden Monat, jede Woche, ja, wenn sie es drauf anlegte, jeden Tag eine neue Geschmacksrichtung komponieren konnte? Er musste, ob er es wollte oder nicht, mit der neuen Zeit gehen. Darum hatte er sich für die kommende Woche ein Flugticket nach Australien besorgt. In einschlägigen Fachzeitschriften hatte er gelesen, dass hier jetzt die besten Weine der Welt entworfen wurden und dass dort neu gezüchtete Traubensorten und neue Verfahren die Kreation von Weinen von nie gekannter Qualität und Größe versprachen.
Hermann Geisenhahns Plan sah vor, die neuen Sorten mit seinen alten Fässern zu verbinden, um so einen wirklich einzigartigen Wein zu schaffen, einen Wein, den es weder hier noch irgendwo anders in der Welt jemals gegeben hatte und den es auch kein zweites Mal geben würde. Er würde der lästigen Konkurrenz damit ein Schnippchen schlagen; die neuen Fässer aus Metall und Kunststoff konnten dem Wein niemals ein solches Leben, eine solche Aura einhauchen, wie es seine jahrhundertealten Fässer konnten. Das war sein Vorteil, das war sein Kapital, das war seine Rettung.
„Hermann, kommst du?“
Aus seinen Tag- und Zukunftsträumen gerissen, schaute Hermann nach oben. Seine Frau Krajina stand oben in der Tür am Treppenansatz.
Krajina, auch mit 44 noch immer eine schwarzhaarige, rassige Schönheit, war vor zwanzig Jahren als Mitglied einer ukrainischen Erntehelferkolonne auf das Weingut gekommen. Schon bei der Anwerbung für den Job war Krajina klar gewesen, dass ihre Berufung nicht darin lag, einen Korb auf dem Rücken zu tragen und Weintrauben von den Reben zu pflücken, vielmehr sah sie den Weg nach Deutschland als eine Möglichkeit, ihrem tristen Dasein in der Ukraine zu entkommen und mit ihren Talenten einen Weg zu finden, ein besseres, vor allem aber sorgenfreies und finanziell unabhängiges Leben zu führen.
Hermann Geisenhahn, der Besitzer des Weingutes, war zu diesem Zeitpunkt auf dem besten Wege, ein eingefleischter Junggeselle zu werden. Sein einfaches Leben bestand in der Hauptsache aus der Arbeit, die ihn an 12 bis 16 Stunden des Tages forderte und aus gelegentlichen Besuchen im örtlichen Gasthaus, wo er auch ab und zu mit zwei oder drei Bekannten Skat spielte.
Sein Essen wurde von seiner Mutter zubereitet, die im gleichen Haus wie Hermann lebte und die auch für die sonstigen Obliegenheiten des Haushaltes zuständig war. Hermanns Vater war vor vier Jahren gestorben und hatte dem einzigen Sohn das Weingut vermacht, nicht ohne vorher im Testament festzulegen, dass seiner Frau Gerda ein lebenslanges Wohnrecht eingeräumt werden müsse. Hermann brauchte keine Frau, was sollte er auch mit einer, er hatte ja seine Mutter, die für ihn kochte, seine Wäsche wusch, putzte und spülte und alle sonstigen Kleinigkeiten erledigte, um die er sich selbst nicht kümmern konnte oder wollte.
Diese Einstellung hielt Hermann Geisenhahn exakt so lange aufrecht und verteidigte sie auch gegenüber anderen, bis Krajina auf dem Gut auftauchte. Schon als er sie das erste Mal erblickte, war es mit seiner inneren Ruhe und Gelassenheit vorbei. Er konnte nicht anders, er musste Krajina beobachten, er musste sie sehen. Ihr Gang war selbst unter der Belastung eines vollen Weinkorbes anmutig und leicht, ihre schwarzen Haare wehten lang und luftig um ihren Körper und ihre vollen Brüste zeichneten sich deutlich unter den weißen T-Shirts ab, die sie trug. Ihr Lachen war hell und unbekümmert und ihr Gesicht strahlte wie von einer inneren Kraft, wenn sie etwas interessant, amüsant oder lustig fand.
Hermann, dessen Charakterzüge vollkommen gegensätzliche Strukturen aufwiesen, faszinierte dieses Geschöpf, das scheinbar unbekümmert und frei von Sorgen jeden neuen Tag bejubelte und ihn mit seinem Dasein veredelte. Es war um ihn restlos geschehen. Von nun an beteiligte er sich selbst verstärkt an der harten Arbeit im Weinberg und er richtete es so ein, dass er seine Tätigkeiten immer möglichst nahe bei Krajina verrichten konnte.
Krajina, der das verlegene Verhalten des Gutsbesitzers nicht entgangen war, dosierte derweil ihre Zuneigungsbezeugungen, um den Reiz für Hermann noch zu erhöhen. Gelegentlich, wenn er ganz in ihrer Nähe war, bückte sie sich nach den unteren Ästen der Rebenstämme, so dass ihr straffes Gesäß sichtbar wurde oder sie berührte ihn scheinbar unabsichtlich am Arm oder auch mal am Bein, kleine Kontakte, die in Hermann ein nie gekanntes, eigentümliches Verlangen aufkeimen ließen und die in seinem Bauch ein merkwürdiges, wohliges Kribbeln hervorriefen.
Hermann konnte kaum noch etwas essen, er schlief nur noch wenig und wenn, dann sehr schlecht und nach einer Woche hielt er es schließlich nicht mehr aus und fragte Krajina bei einer ihrer gemeinsamen Arbeiten, ob sie Lust hätte, mit ihm essen zu gehen.
Die Sätze kamen freilich nicht flüssig und schon gar nicht charmant über die Lippen Hermanns, vielmehr musste sich Krajina aus dem Stottern und den mehr oder weniger hilflosen Gesten ihres Brotherrn dessen Absichten und Fragen zusammenreimen. Schließlich, als sie ihn lange genug hatte schmoren lassen und Hermann noch immer mit hochrotem Kopf und mit Armen und Beinen vor ihr rumfuchtelte, gab sie ihm mit einem herzlichen Lachen und einem ukrainischen „Da, da, da“ zu verstehen, dass sie gerne auf sein Angebot eingehen wolle.
Der Abend wurde für Hermann ein voller Erfolg. Als er mit Krajina im örtlichen Gasthof auftauchte, verursachte die neue Begleitung an seiner Seite eine sichtbare Verunsicherung der anderen Gäste, die Hermann immer nur alleine gesehen hatten. Ständig kam irgendjemand an ihren Tisch und Sätze wie „Na, altes Haus, wie geht’s, lange nicht gesehen“, oder „Willst du mir die Dame an deiner Seite nicht vorstellen?“, wurden an das ungleiche Paar gerichtet. Hermann gefiel die neue Aufmerksamkeit und obwohl Krajina nur wenig von dem verstand, was dort gesprochen wurde, schien sie die Situation zu genießen. Das Essen war vorzüglich und den Rest des Abends verbrachten sie gemeinsam in Hermanns Wohnzimmer. Seine Mutter hatte sich, als sie das Paar die Einfahrt heraufkommen sah, diskret zurückgezogen. Auch die Nacht verbrachte Krajina im Gutshaus. Schon am nächsten Tag zog sie von der Gemeinschaftsunterkunft, die aus einem umgebauten Stall auf dem Gutsgelände bestand, in das Anwesen von Hermann Geisenhahn und seiner Mutter, die ihrerseits froh war, dass ihr Sohn nunmehr endlich eine Frau gefunden hatte.
Krajina tat auch in der Folgezeit alles, um ihnen beiden zu gefallen; sie half der Mutter im Haushalt, sie machte sich nützlich, wo sie nur konnte und sie war überall im Haus zu finden, wo Arbeit anfiel. Auch im Schlafzimmer zeigte sie ihre Qualitäten und Hermann erfuhr zum ersten Mal in seinem Leben, was man im Bett und auf anderen Möbelstücken so alles machen konnte.
Das von Krajina anvisierte Ziel rückte denn auch bald in greifbare Nähe: Hermann machte ihr noch vor Ablauf eines Jahres einen Heiratsantrag. Krajina willigte ein und wurde nunmehr die neue, wenn auch noch inoffizielle, Herrin im Weingut Geisenhahn.
In der Folgezeit übernahm sie mehr und mehr die geschäftliche Leitung des Gutes; hatte in all den vielen Jahren zuvor Gerda die Geschicke des Betriebes geleitet, so drängte sich Krajina mehr und mehr in diese Position. Ihre Motivation und ihren Ehrgeiz hatte sie bereits in den ersten Monaten ihrer Ehe unter Beweis gestellt; dank eines sechsmonatigen Kurses sprach sie nun beinahe akzentfrei Deutsch und auch in betriebswirtschaftlichen Dingen verzeichnete sie beachtliche Erfolge.
Auf ihr Anraten hin wurde zunächst eine neue, mobile Seilbahnanlage angeschafft, mit deren Hilfe sich die Ernten leichter von den Weinbergen transportieren ließen; die alten Pressen, die noch überwiegend durch Muskelkraft betrieben wurden, wurden durch elektrische ersetzt und neue Fahrzeuge wurden geleast, um die Erzeugnisse den jeweiligen Kunden schneller und vor allem attraktiver und zeitgemäßer anliefern zu können. Das Personal wurde reduziert und Krajina überwachte sogar die Arbeitsabläufe in den Weinbergen. Beinahe überall fand sie Möglichkeiten, Kosten zu senken und die Ernteerträge zu steigern.
Hermann sah den geschäftlichen Elan seiner Frau mit Wohlwollen, beinahe alle ihre Vorschläge fanden seine Zustimmung und er liebte sie von Tag zu Tag mehr. Einzig die Anschaffung neuer Fässer aus Metall lehnte er ab.
„Barique ist Tradition und Tradition sind wir,“ pflegte er zu sagen.
Krajina nahm es zur Kenntnis und versuchte weiterhin, an anderen Stellen zu optimieren.
Dennoch reichten alle Maßnahmen nicht aus, um das Weingut perspektivisch auf wirtschaftlich gesunde Füße zu stellen; die Kredite für die Neuanschaffungen mussten bedient, die Arbeiter und Angestellten mussten bezahlt werden und auch Krajina und Hermann sowie dessen Mutter, die nun ihrerseits eine angemessene Rente bezog, mussten von den Überschüssen leben können.
Die Konkurrenz mit ihren Großbetrieben war einfach zu stark. Die wenigen Stammkunden, die zwar Wert auf Tradition und Qualität legten, aber die Erzeugnisse in nur geringen Mengen bestellten, reichten gerade aus, die dringendsten Kosten zu decken; Überschuss wurde, wenn überhaupt, nur in wenigen Monaten erwirtschaftet.
„Wir müssen einen neuen Wein haben“, sagte Krajina eines Nachts, als sie nebeneinander im ehelichen Bett lagen.
„Einen neuen Wein? Kommt nicht in Frage; wir haben unsere Weine, Weine, die seit hunderten von Jahren berühmt sind.“
„Und seit Jahrzehnten out.“
Hermann wollte von derlei Vorschlägen nichts hören; die Weine des Hauses Geisenhahn waren immer schon die besten im ganzen Anbaugebiet gewesen, sie waren weit über die Gebiets- und Landesgrenzen hinaus berühmt und Adelige und wohlhabende Bürger in ganz Europa hatten sich an ihrem erlesenen Geschmack erfreut. Und dies sollte nun plötzlich alles nichts mehr zählen?
Was konnte er tun; wie konnte er die Tradition bewahren und trotzdem das Neue nicht ablehnen, wo lag die Lösung? Vielleicht hatte seine Frau ja recht, vielleicht sollten sie einen neuen Wein komponieren, aber wie?
Am nächsten Tag holte Hermann die letzten drei Ausgaben von Der Winzer, einer Fachzeitschrift für sein Gewerbe, aus dem Regal in seinem Büro. Damit ausgestattet, begab er sich in seinen Keller, um die Zeitschriften systematisch nach für ihn geeigneten Lösungsansätzen zu erforschen.
Als er sich in der vertrauten Umgebung auf einen Holzstuhl setzte, überkam ihn ein Gefühl tiefer Ruhe. Hier konnte er atmen, hier brauchte er sich keine Sorgen zu machen, hier war alles gut und sicher und rein und klar. Den vertrauten Geruch in der Nase, machte er sich ans Werk. Nachdem er einige Artikel über verschiedene neue Anbaumethoden studiert, diese aber wegen mangelnder Durchführbarkeit verworfen hatte, fand er unter der Rubrik Neue Traubensorten endlich einen Beitrag, der ihn aufhorchen ließ.
Wissenschaftlern aus Australien war es gelungen, ihre Rebsorten mit solchen aus Südafrika und Italien zu kreuzen und diese dann mit Hilfe einer neuen Mazerationstechnik haltbar und transportabel zu machen. Das gewonnene Pulver wurde in Säcken angeliefert, die jeweiligen Kunden konnten die gewünschte Mischung vor Ort, in einem kleinen Anbaugebiet in der Nähe von Canberra selbst zusammenstellen.
„Vielleicht eine Chance, vielleicht eine Chance“, sprach Hermann leise vor sich hin. Am Abend zeigte er den Artikel seiner Frau und er eröffnete ihr, dass er beschlossen habe, nach Canberra zu reisen, um die entsprechenden Ingredienzien zu probieren und mit einer kleinen Mischung zurückzukehren.
Krajina sollte während seiner Abwesenheit das Gut leiten und Sergej, sein Vorarbeiter, sollte sie in ihrer Arbeit unterstützen.
Hermann vertraute Sergej blind, der Mann war vor fünf Jahren, ebenso wie Krajina als Mitglied einer Erntekolonne, diesmal allerdings aus Weißrussland, nach Gossenheim gekommen, wo er sich durch seinen Fleiß und sein Verständnis für die technischen Dinge der Weinherstellung schnell die Gunst des Gutsbesitzers und insbesondere die von seiner Frau erworben hatte. Überdies sprachen Krajina und Sergej die gleiche Sprache und Krajina war es, die ihrem Mann eines Abends den Vorschlag machte, den jungen Mann noch über die Erntezeit hinaus hierzubehalten.
„Er kann uns sehr nützlich sein; er ist fleißig und lernwillig und er hat eine schnelle Auffassungsgabe. Du erinnerst dich doch noch, wie schnell er die Verfahren von der Ernte bis zum Keltern verinnerlicht hatte. Er kann die Pressen bedienen, kennt sich in den Bergen aus und auch unsere Kunden, die er beliefert, mögen und vertrauen ihm.“
Hermann konnte sich zwar eigentlich keinen weiteren festen Angestellten leisten, aber er konnte sich weder den Argumenten noch den Reizen seiner Frau entziehen und so stellte er Sergej zunächst befristet mit einem Einjahresvertrag ein. Sergej wurde seine rechte Hand, er war geschickt und schnell und oftmals erkannte er schon vor seinem Meister, wann sich die Schwebeteilchen in den Fässern genügend gesetzt hatten, um einen ersten Abstich zu versuchen, und er hatte auch ein sicheres Gespür dafür, wann die Trauben den bestmöglichen Reifegrad erreicht hatten, um sie zu ernten.
Außerdem war er bei den Kunden äußerst beliebt. Als einmal die Gräfin von Niederstein, eine attraktive, standesbewusste Frau Mitte fünfzig auf dem Gut zu Besuch war, um die aktuellen Erzeugnisse zu verkosten und Sergej sie bewirten durfte, bestand die adelige Dame darauf, dass „der junge Mann persönlich“ ihr die gewünschte Ware anliefern solle.
Sergej machte sich am Morgen des nächsten Tages mit dem Lieferwagen auf den Weg zum fünfzehn Kilometer entfernten Schloss der Gräfin und kehrte erst am späten Abend, augenscheinlich müde und geschafft, auf das Gut zurück. Auf die Frage von Hermann, wo er denn so lange gewesen sei, murmelte er nur etwas von „ganz speziellen Wünschen der Gräfin“.
Hermann ließ es dabei bewenden, vor allem deshalb, weil nunmehr wöchentlich neue Bestellungen vom Schloss eingingen, immer verbunden mit der Bitte, Sergej solle doch bitte die Anlieferung übernehmen.
So gesehen fühlte sich Hermann also gut abgesichert für die bevorstehende weite Reise, die vier Tage dauern sollte. Fünf Tage später hatte Krajina ihm seine Koffer gepackt und an alles gedacht, was er für sein tägliches Wohl brauchte. Sogar einen neuen Anzug, neue Hemden und neue Krawatten hatte sie ihm gekauft und ein neues, überaus männlich duftendes Rasierwasser, und als Hermann sich am Abend vor der Abreise im Spiegel betrachtete, sah er vor sich nicht mehr den Winzer, sondern einen beinahe seriös wirkenden Geschäftsmann, der sich auf eine lange Reise begibt.
Gemeinsam mit Sergej brachte Krajina ihn am nächsten Tag an den Flughafen Düsseldorf, wo seine Maschine um 14 Uhr 30 starten sollte. Hermann, der noch nie in seinem Leben geflogen war, fürchtete sich ein wenig, aber in Gegenwart von den beiden wollte er sich seine Angst nicht anmerken lassen. So redete er während der ganzen zweieinhalbstündigen Fahrt über seine Pläne:
„Ich werde eine Mischung kreieren, die die Fachwelt erstaunen wird. Sergej, du musst alles vorbereiten: Die große Presse muss bei meiner Ankunft mit ausreichend roten Trauben gefüllt sein und mindestens drei von unseren Fässern müssen so vorbereitet werden, dass wir den gesamten Inhalt hineingeben und dann mit der neuen Mischung veredeln können. Darüber hinaus solltest du…“
Zahlreiche detaillierte Anweisungen gab Hermann Geisenhahn, um nur nichts dem Zufall zu überlassen. Zu viel stand auf dem Spiel, als dass jetzt noch, nach dem einmal gefassten Entschluss, etwas durch Zufall oder Unachtsamkeit passieren durfte, alles musste perfekt durchdacht sein, vom ersten bis zum letzten Schritt, die zeitlichen und technischen Abläufe: das Ernten, das Maischen, das Keltern und das Pressen. Das alles unterlag weiteren zahlreichen Einflüssen wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Beschaffenheit der Beeren und anderen Faktoren. Nichts, aber auch gar nichts durfte schiefgehen, sollte das Gut wieder zu alter Blüte und Stärke gelangen.
Nachdem er alles mindestens drei Mal wiederholt und auch Sergej und seine Frau dazu genötigt hatte, die jeweiligen Punkte durch erneutes Aufsagen zu verinnerlichen, kamen sie am Flughafen an.
Als sich die große Maschine in die Luft erhob, schauten sich Krajina und Sergei an. Beide hatten ein geheimnisvolles, wissendes Lächeln im Gesicht.
„Fahren wir“, sagte Krajina.
Wieder in Gossenheim angekommen, machte sich Sergej sogleich daran, die ihm von seinem Herrn übertragenen Aufgaben umzusetzen. Er stellte einen Trupp aus den zuverlässigsten und besten Arbeitern zusammen und sie begaben sich am frühen Morgen des nächsten Tages in den Weinberg mit den roten Trauben. Hier ernteten sie nur die schönsten und reifsten Exemplare und als sie am Abend heimkehrten, hatten sie gerade so viel zusammen bekommen, dass es für die erste Füllung der großen Presse reichte.
Damit die Gärung nicht vor der Zeit in Gang gesetzt wurde, kühlte Sergej die Presse mittels des eingebauten Aggregats auf zwölf Grad herunter. Den Pressmechanismus, der den eigentlichen Saft von den Hüllen trennte, ließ er ausgeschaltet.
Am geplanten Tag kehrte Hermann von seiner Reise zurück. Krajina und Sergej erwarteten ihn am Flughafen.
Als sie ihn erblickten, hätten sie ihn beinahe nicht erkannt, so gravierend war die Änderung, die mit Hermann geschehen war. Es war nicht sein Äußeres, das aus ihm einen anderen Menschen machte, nein, sein Gang, seine Haltung, seine Mimik und seine Gestik, die früher den verschlossenen, mürrischen und ehrlichen Arbeiter in seinem Weinberg charakterisiert hatten, wirkten jetzt völlig anders.
Hermann federte, als er auf sie zukam. Er hatte ein gewinnendes und wissendes Lächeln auf dem Gesicht, seine gerade, straffe Körperhaltung drückte Selbstbewusstsein, Entscheidungsfreude und Erfolg aus. Er deutete auf den neuen, schwarzen Hartschalenkoffer, als er seine Frau küsste und Sergej mit Handschlag begrüßte:
„Hier, alles drin! Es wird genial, einfach genial.“
„Das ist schön“, sagte seine Frau, „wollen wir noch etwas essen, bevor wir nach Hause fahren?“
„Nein, gegessen habe ich schon im Flugzeug und das hier (wieder deutete er auf den Koffer) duldet keinen Aufschub.“
Und so fuhren sie zurück nach Gossenheim zu ihrem Gut und seinen Bariquefässern. Bereits unterwegs hatte er ihnen erläutert, wie sein Aufenthalt in Canberra verlaufen sei.
„Das hättet ihr sehen müssen“, sagte er, „den Australiern ist es doch wirklich gelungen, Beeren aus verschiedensten Anbaugebieten und Ländern zu kreuzen. Die Mischungen, die sich hieraus ergeben, sind an und für sich schon einzigartig, aber die Möglichkeiten, ja, die Möglichkeiten sind phantastisch. Ich habe mir hier einige Pulver aus mehreren Sorten zusammengestellt; wir müssen sie gleich prüfen und unserem frisch gekelterten Wein hinzufügen. Die Reifung können wir nicht abwarten, weil mich bereits nächste Woche ein Herr Liebermann, ein großer Händler aus dem Saarland, den ich kennen gelernt habe, besuchen will. Er ist neugierig auf unser Weingut und möchte einige von unseren Sorten probieren. Es wäre gut, wenn wir ihm etwas völlig Neues kredenzen könnten.“
Auf dem Weingut angelangt, wurden sie von Gerda empfangen. Der Mutter Hermanns, die sich nur noch interessehalber mit den geschäftlichen Angelegenheiten des Gutes befasste, war nicht entgangen, dass es dem Betrieb in letzter Zeit wirtschaftlich nicht gut ging. Gerade weil sie der Reise von Hermann mit gemischten Gefühlen entgegengesehen hatte, freute sie sich jetzt umso mehr, ihren Sohn wohlbehalten und offenbar bester Laune in die Arme schließen zu können.
„Na, wie war`s in der weiten Welt?“, fragte sie ihn.
Hermann, dem die Umarmung in Gegenwart seiner Frau und seines Angestellten eher peinlich war, schob sie sanft von sich weg.
„Aber Mutter, es waren doch nur vier Tage.“
„Ja, aber vorher warst du noch nie weg. Hat es sich denn wenigstens gelohnt?“
„Und ob! Du wirst sehen, du wirst staunen.“
Und mit diesen kryptischen Äußerungen drehte sich Hermann um und begab sich sogleich in den Weinkeller, wo er überprüfen wollte, ob in seiner Abwesenheit alles so gemacht worden war, wie er es angeordnet hatte. Er fand alles zu seiner vollsten Zufriedenheit vor: Wunderbar rote, reife Trauben befanden sich in der Presse, die dem außen angebrachten Thermometer zufolge bei zwölf Grad Celsius lagerten. Der Keller war ordentlich aufgeräumt und sauber und nicht weniger als sieben der zwanzig Bariquefässer waren gereinigt und bereit für die nächsten Abfüllungen.
Es konnte also losgehen.
Hermann rief seine Frau und seinen Gehilfen herbei, lobte sie für ihre sorgfältige Arbeit und insbesondere Sergej für seinen Fleiß und eröffnete ihnen seinen Plan.
„Ich habe hier drei Mischungen.“ Er deutete auf die drei durchsichtigen Beutel, die sich im geöffneten Koffer befanden.
„Die erste Mischung ist eine Zusammenstellung mehrerer Traubensorten aus Neufundland, Schweden und Gibraltar; das Ergebnis wird vielleicht schwer und etwas bitter sein.
Die zweite beinhaltet Früchte aus Afrika, den USA und Australien. Sie wird einen derben und heftigen Wein hervorbringen, eher etwas für ein kräftiges Abendessen.
Die letzte Mischung enthält Produkte aus England, Italien und Griechenland: Sie wird herb und duftig sein und vornehm, hoffe ich jedenfalls. Sergej, du musst die Trauben heute noch pressen, morgen beginnen wir dann mit der Abfüllung und übermorgen mit den Proben und vergesst nicht: Nächste Woche kommt Liebermann, ein wirklich großer Händler; wichtig für uns.“
Beim letzten Teil des Satzes hatte er sowohl seine Stimme als auch den Zeigefinger seiner rechten Hand erhoben, um die Bedeutung dieses Treffens noch einmal zu unterstreichen.
Sergej tat, wie ihm geheißen. Er drehte das Thermostat des Temperaturreglers an der Weinpresse auf fünfundzwanzig Grad und als diese Temperatur nach zwei Stunden erreicht war, schaltete er die Maschine an. Ein leises Brummen ertönte und die Trauben wurden sanft und schonend von ihrem Saft befreit. Der Inhalt floss mittels eines Schlauches in einen riesigen aquariumähnlichen Behälter aus Glas, der unterhalb der Presse stand, die sich wiederum auf einem Gestell aus Metall befand. Als die Trauben nach acht Stunden ihre vollständige Flüssigkeit abgegeben hatten, befreite Sergej die Weinpresse mittels Schaufel und Besen von den Überresten. Danach reinigte er sie noch mit dafür vorgesehenem Spezialreiniger.
Während dieser Zeit wurde der Saft mittels einer Pumpe aus dem Glasbehälter in die Fässer befördert, die nebeneinander im Keller standen.
Ab und zu schaute Hermann im Keller vorbei, um sich nach dem Fortgang der Arbeiten zu erkundigen. Sergej, dem nicht entgangen war, dass sein Herr sich die meiste Zeit im Hause aufhielt, wo er sich offensichtlich ausgiebig seiner Frau widmete, beantwortete die Fragen reserviert, aber präzise.
„Ist alles so, wie wir es wünschen?“
„Ja, Chef.“
„Wann kannst du mit der Abfüllung beginnen, wann haben sich die Traubenfermente so gesetzt, dass wir die Mischungen beifügen können, können wir auch wirklich morgen mit der Verkostung beginnen?“
Solche und viele weitere Fragen stellte Hermann seinem Gehilfen, der diese mit äußerer Ruhe und Gelassenheit beantwortete. Innerlich aber brodelte es in ihm, ja, es gärte mehr in ihm als der Wein in den Fässern, die bereits vor zwei Wochen abgefüllt worden waren. Wann endlich sollte diese Situation ein Ende haben, wann endlich würde sein Herr verschwinden und ihm den Platz freimachen, der von Rechts wegen ihm gebührte, ihm, Sergej, der im Grunde von der ganzen Materie mehr verstand, als sein Brotgeber je verstanden hatte. Und dieser war zu allem Überfluss mit einer Frau verheiratet, die nicht ihn, sondern nur den Status und das Geld liebte. Der einzige Mensch, dem sie außer sich selbst wahre Gefühle entgegenbrachte, war er, Sergej, jung, leidenschaftlich, stark und gut.
„Nicht mehr lange“, dachte sich Sergej, „nicht mehr lange.“
Am Abend schaute Hermann noch einmal im Keller vorbei.
„Sind die Fässer voll?“
„Ja, Chef, drei, genau wie du gesagt hast.“
Hermann schaute auf den Glasbehälter, in dem sich noch etwa ein Drittel roter Flüssigkeit befand.
„Das ist noch übriggeblieben, wenn wir wollen, können wir später noch ein viertes Fass abfüllen.“
„Gut, dann können wir jetzt also damit beginnen, die Zutaten hinzuzufügen.“
Und sie arbeiteten die ganze Nacht…
Am nächsten Tag konnte Hermann es kaum erwarten, die neu kreierten Weine zu probieren. Es kostete ihn unendliche Mühe und Überwindung, die Zeit durchzuhalten, bis Sergej endlich die erlösenden Worte sprach: „Chef, ich glaube, es ist soweit.“
Sogleich öffnete Hermann den Zapfhahn des ersten Behälters. Als er ihn drehte, floss eine wunderbar tiefrote Flüssigkeit in das Glas, das er unter die Öffnung hielt. Hermann roch kurz am Inhalt, um diesen gleich darauf in seinen Mund zu gießen. Er spülte und kaute und gurgelte; dann schluckte er das Ganze herunter.
„Ein guter Wein“, sagte er, „tief und dunkel im Geschmack und schwer, ganz so, wie ich es erwartet habe. Wir werden ihn gut verkaufen können.“
Beim zweiten Fass folgte die gleiche Prozedur. Wieder war Hermann mit dem Ergebnis zufrieden und er versicherte Sergej und Krajina, die zwischenzeitlich in den Keller gekommen war, dass auch dieses Produkt sich auf dem Markt behaupten werde.
Hermann war sich klar darüber, dass die neuen Weine gut waren, aber waren sie auch gut genug, sich von der Konkurrenz abzuheben, waren sie gut genug, ein erlesenes Publikum zu begeistern, waren sie so einzigartig, dass sie unverwechselbar wurden? Wenn sich Hermann diese Fragen selbst ehrlich beantwortete, musste er sich eingestehen, dass dem nicht so war. Ein großer, ein unglaublich schöner Wein musste her, wenn das Gut eine Zukunft haben sollte, ein einzigartiger, erlesener Wein, vollmundig im Geschmack und ein Erlebnis für jeden, der ihn kostete.
Aber da war ja noch das dritte Fass, in dem nach Meinung Hermanns die beste Mischung angesetzt war. Vielleicht würde dieser Wein ihn überraschen; er hoffte es von ganzem Herzen.
Wieder beugte er sich nach unten, um die kostbare Flüssigkeit aus dem Behälter zu entnehmen. Wieder hielt er seine Nase schnuppernd über das Glas und wieder nahm er den Inhalt in seinen Mund und prüfte unter Kauen, Schlecken und Gurgeln die Qualität des Weines.
„Gut“, sagte er, „sehr gut, dies ist ein Wein, wie ihn die Welt noch nicht kennt, ein wunderbarer, schöner Wein, lieblich und doch fordernd, zurückhaltend und doch präsent, unsere Kunden werden ihn lieben.“
Und der Wein war wirklich mehr als gut, er war eine Verbesserung all dessen, was er je produziert oder gekostet hatte, aber Hermann wollte mehr, er wollte eine geschmackliche Revolution, er wollte nichts weniger als einen Wein herstellen, der ihn selbst für immer und ewig auf diesem Gebiet berühmt machte.
„Die Ergebnisse sind ausgezeichnet“, sagte er zu Krajina und Sergej, „aber ich muss trotzdem noch einmal nach Australien.“
„Aber warum denn“, fragte seine Frau, „bist du nicht zufrieden?“
Hermann schien jetzt aufgeregt, wie unter einer inneren Spannung zu stehen und er hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
„Doch, doch, doch, ich bin zufrieden, ich bin sogar sehr zufrieden, aber ich muss einen Wein schaffen, dem ich meinen Namen geben kann; ich weiß jetzt auch, welche Zutaten noch fehlen, und die werde ich mir gleich morgen besorgen. Bitte Krajina, buche noch heute einen Flug für mich. Übrigens wird dieser Wein Geisenhahner Hermannstraum heißen, heroisch wird er sein, stark und gut.
Und wieder geschah alles so, wie Hermann es gewünscht hatte, der Flug wurde gebucht und die drei begaben sich am nächsten Morgen aus dem Haus, um Hermann zum Flughafen zu bringen.
Als Sergej und Krajina am Nachmittag zurückkehrten, fuhren sie mit dem Lieferwagen auf den Hof. Sergej parkte ihn an der Rückseite des Gebäudes, nahe dem Eingang zum Weinkeller.
Gerda, die in letzter Zeit schlecht schlafen konnte, nahm in der folgenden Nacht Geräusche wahr, die aus dem Keller zu kommen schienen. Am Morgen sprach sie ihre Schwiegertochter auf diese nächtliche Ruhestörung an. Krajina erklärte ihr, dass Sergej bereits alles vorbereite, um auch das vierte Fass zu füllen, damit, wenn Hermann heimkäme, alles für eine weitere Produktion vorbereitet sei. Dessen Rückankunft war für den nächsten Tag geplant und Krajina hatte sich für den Empfang ihres Mannes diesmal besonders hübsch gekleidet. Ihr immer noch geschmeidiger, attraktiver Körper wurde durch ein enganliegendes rotes Kleid betont, ihr Gesicht war dezent geschminkt und ihre schwarzen, samtglänzenden Haare wirkten jung, wild und ungebändigt.
Als Gerda sie so sah, freute sie sich, dass ihre Schwiegertochter eigens für Hermann einen solchen Aufwand betrieb. Sie dachte bei sich, dass sie ihn wohl doch lieben müsse, trotz all seiner kleinen Unzulänglichkeiten und Macken, die sie selbst ja seit seiner Geburt kannte.
Gerda waren in letzter Zeit leise Zweifel an der ehelichen Treue von Krajina gekommen, Sergej und Krajina schienen sich zum Beispiel manchmal, wenn Hermann es nicht sah, verstohlene Blicke zuzuwerfen und sich hier und da geheimnisvoll anzulächeln, allerdings wurden diese Bedenken durch das Verhalten ihrer Schwiegertochter jetzt beinahe zerstreut.
„War wohl bloß Einbildung“, sagte sie mehr zu sich selbst, als das Smartphone von Krajina mit einer kurzen Tonfolge signalisierte, dass eine SMS eingegangen war. Krajina schaute auf das Gerät und sagte zu Gerda:
„Das darf doch nicht wahr sein!“
„Was ist denn passiert?“
„Hermann kann heute noch nicht kommen, sein Flug wurde wegen einer Terrorwarnung storniert. Er will jetzt die Zeit nutzen und noch zwei Tage in Canberra bleiben, um weitere neue Produkte zu testen.“
„Aber Morgen kommt doch der Händler, Herr Liebermann.“
„Ja, und es ist wichtig, dass wir ihm unseren Wein präsentieren, schließlich ist er wirklich gut.“
„Aber die neue Sorte ist ja noch gar nicht fertig, Hermann muss doch erst noch die Zutaten herbeibringen.“
„Mach dir keine Sorgen, es wird schon alles gut gehen.“
Mit diesen Worten drehte sich Krajina um und begab sich in den Weinkeller.
Am nächsten Tag fuhr um neun Uhr morgens, pünktlich zur verabredeten Zeit, ein sportlicher schwarzer Mercedes SLK, Cabrio, auf dem Hof vor. Das Nummernschild ließ erkennen, dass der Gast, etwa fünfzig, gepflegt, schlank und gutaussehend, aus Saarbrücken angereist war.
„Guten Morgen, mein Name ist Liebermann, Gerhard Liebermann, und Sie müssen Krajina sein, Ihr Mann hat mir viel von Ihnen erzählt, regelrecht geschwärmt hat er von Ihnen und ich muss Ihnen sagen: Er hat nicht übertrieben.“
Krajina lächelte. Es war ein offenes, herzliches Lächeln.
„Danke, Herr Liebermann, zu liebenswürdig.“
„Wo ist denn Ihr Mann?“
„Er wurde in Canberra aufgehalten und kann erst in ein paar Tagen zurückkommen, aber vielleicht wollen Sie mit mir Vorlieb nehmen, ich kenne mich auch ein wenig aus.“
„Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.“
Und Krajina zeigte Herrn Liebermann alles, das Gut, die Weinberge, die Geräte, die Abfüllanlage, sie zeigte ihm die Traubensorten, die hellen und die dunklen, die Seilbahn und die Fahrzeuge, sie zeigte ihm einfach alles, nichts ließ sie aus und Liebermann konnte sich ein umfassendes, klares und präzises Bild von dem Gut machen.
Erst am Nachmittag kamen Sie von Ihrer Exkursion wieder zurück.
„So“, sagte sie, „jetzt noch in den Weinkeller und dann die Weinprobe. Ist Ihnen das recht?“
„Mehr als das.“
Liebermann war mit allem, was er bisher gesehen hatte, hoch zufrieden. Alles war sauber und ordentlich, das Gut befand sich augenscheinlich in einem hervorragenden Zustand und wurde effizient und kompetent geführt.
Nachdem er sich auch vom ordnungsgemäßen Zustand der Fässer überzeugt hatte, lud ihn Krajina zur Verkostung ein. Gerda hatte zu jedem Wein, der kredenzt wurde, eigens Speisen zusammengestellt, die sie nunmehr servierte.
Liebermann probierte und lobte, zu jedem Wein fielen ihm passende Vergleiche ein, er sagte zum Beispiel: „ein Wein wie ein Vulkan, wild und eruptiv, kaum zu bändigen“, oder etwa „ein Wein wie eine schöne Frau, schlank und lieblich, vielleicht etwas zu brav“. Solche und noch viele andere Vergleiche fielen Liebenstein ein und er fand, dass der Geschmack der Weine „zwar gut und in Ordnung, aber eben nicht außergewöhnlich“ sei. Er sei immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Weinen.
Krajina, die Liebermann bisher nur die Weine vorgesetzt hatte, die seit hunderten von Jahren kaum verändert auf dem Gut produziert worden waren, stellte nunmehr eine weitere Flasche auf den Tisch.
„Hier, Herr Liebermann, eine neuere Kreation meines Mannes.“
„Warum ist die Flasche noch nicht etikettiert?“
„Wir haben noch keinen Namen für diesen Wein.“
„Hm, Hm, also gut…“
Und Liebermann probierte den ersten der drei von Hermann entworfenen neuen Weine. Das Ergebnis beeindruckte ihn offensichtlich, denn er zog die rechte Augenbraue anerkennend in die Höhe und sagte:
„Das ist gut, das ist wirklich gut, einmal etwas Neues, ja, etwas Anderes. Diesen Wein werde ich verkaufen können, haben sie noch weitere Sorten?“
Krajina setzte ihm in gebührendem zeitlichen Abstand auch die zweite und dritte neue Sorte vor. Die Reaktionen von Liebermann waren eindeutig: Er war angetan und auch hier kündigte er an, einige Abfüllungen abzunehmen, um sie seinen Kunden zu offerieren.
„War das jetzt die letzte?“
„Na ja, eine kleine Probe hätte ich vielleicht noch, aber dieser Wein ist ein Geheimnis.“
„Sie machen mich neugierig.“
„Sergej, bring uns doch bitte eine Flasche von der Spezialabfüllung.“
Sergej schaute vom Keller fragend in den Hof, wo Krajina mit Ihrem Gast an einem runden Gartentisch in der nachmittäglichen Sonne saß.
„Bitte, Sergej, Herr Liebermann ist ein besonderer Gast und er soll nur das Beste vom Besten bekommen.“
Sergej stellte die unetikettierte Flasche auf den Tisch und Krajina schenkte ihm ein halbes Glas von dem tiefroten Wein ein.
„Er hat eine edle Farbe, mal sehen, ob das Innere das hält, was das Äußere verspricht.“
Liebermann hielt seine Nase einen Fingerbreit über das Glas. Er schwenkte den Inhalt, um das Aroma zur Entfaltung zu bringen. Zwei-, dreimal machte er dies, dann hielt er erstaunt inne und sagte:
„Außergewöhnlich, ganz und gar außergewöhnlich.“
Daraufhin setzte er das Glas an die Lippen und ließ einen kleinen Schluck in seinen Mund fließen. Seine Augen, bei den ersten Weinen noch mäßig interessiert, nach den neuen Proben dann offener und wacher, wurden jetzt groß und größer. Sein gesamtes Gesicht nahm den erstaunten Ausdruck eines Menschen an, der etwas völlig Neues, geradezu Unmögliches entdeckt hat wie etwa die Landung von Außerirdischen in seinem Garten.
„Was ist denn das?“, sagte er, mehr zu sich selbst als zu seiner Geschäftspartnerin.
„Mundet er Ihnen nicht?“, fragte Krajina
„Was, was haben Sie gesagt?“
Liebermann, der eine derartige Offenbarung noch nicht erlebt hatte, war in seiner eigenen Welt. Er hörte und er sah nichts mehr, er schmeckte nur noch und roch und fühlte: Ja, dies war ein Wein, ach was, mehr als ein Wein, das war ein Wunder, ein kulinarisches und geruchliches Wunder. Nie zuvor hatte er einen solchen Wein gekostet, wo auch immer er gewesen war, in Australien, Italien, England, Frankreich, Norwegen, Südafrika, sogar in Lateinamerika, nirgends, aber auch nirgendwo anders hatte er jemals etwas Vergleichbares vorgesetzt bekommen. Gerhard Liebermann geriet ins Schwärmen:
„Ein wunderbarer Wein, herrlich und voll im Aroma, schwer und nachhaltig im Geschmack, männlich und kräftig und herb und gleichzeitig weiblich und raffiniert, eine unglaubliche Komposition, darüber hinaus noch im Abgang einzigartig, mit einem Nachgang, der an die Unendlichkeit denken lässt, ein unglaublicher Wein. Ich habe noch nie etwas derartig Phänomenales getrunken, wenn ich es richtig bedenke, der beste Wein, den ich je gekostet habe… und da, dieser Untergeschmack, eine Note wie von einem Herbstfeld; bitter und dennoch süß, einfach wundervoll; bitte, Liebste, tun sie mir den Gefallen und füllen Sie mir vorab schon einmal so viele Flaschen davon ab, wie Sie nur entbehren können… und dann liefern Sie bitte, so schnell Sie nur können, mehr davon, mehr, ja, mehr, mehr, mehr.“
Über den Preis wurden sie sich schnell einig; Liebermann war bereit, jede Forderung zu akzeptieren; er würde an diesem Erzeugnis schließlich mehr verdienen, als er je im Leben mit anderen Weinen verdient hatte.
„Das war also Ihr Geheimnis und ich muss sagen, es ist ein Geheimnis, dieser Wein ist ein Geheimnis und Sie sollten ihm vielleicht einen Namen geben, der diesem Geheimnis gerecht wird.“
„Oh, er hat schon einen Namen: Wir werden ihn Geisenhahner Hermannstraum nennen, ganz so, wie es sich mein Mann gewünscht hat.“
Der Name war dem Händler gleichgültig, ihm kam es nur auf das Produkt an und das war unübertrefflich. Liebermann verabschiedete sich, gab der Gutsherrin einen Handkuss und bewegte sich mit schweren Schritten auf seinen Wagen zu. Der letzte Wein schien doch etwas Wirkung zu zeigen. Egal, wie dem auch sei: Das würde das Geschäft seines Lebens werden, dieser Wein war eine Offenbarung, eine geruch- und geschmackliche Illumination, geradezu eine Symphonie, unfassbar in Bouquet, Geschmack und Wirkung. Dieser Wein würde die Welt erobern und er, Liebermann, hatte ihn entdeckt und mit seinem Verkauf würde er ein Vermögen verdienen. Was für ein Tag, was für eine Freude!
Hinten im Keller ging Krajina mit einem strahlenden Lächeln auf Sergej zu. Ihr Gesicht schien wie von einer inneren Kraft zu leuchten. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Wie oft werden wir ihn noch verwenden können?“