Die Morde des Herrn ABC - Agatha Christie - E-Book

Die Morde des Herrn ABC E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

»A« wie Alice Asher aus Anford, »B« wie Betty Barnard aus Bexhill-on-the Sea, »C« wie Carmichael Clarke aus Churston. Ein Serienkiller treibt sein Unwesen - sehr akkurat in alphabetischer Reihenfolge. In der Nähe der Leichen findet man einen ABC-Fahrplan, aufgeschlagen beim Anfangsbuchstaben des Tatorts. Scotland Yard ist ratlos. Poirot aber braucht nicht länger als bis zum Buchstaben »D«, um hinter das Motiv des Mörders zu kommen.

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Seitenzahl: 294

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Agatha Christie

Die Morde des Herrn ABC

Ein Fall für Poirot

Aus dem Englischen von Gaby Wurster

Atlantik

Für James Watts, einen meiner teilnahmsvollsten Leser.

Vorwort von Captain Arthur Hastings, Träger des Order of the British Empire

In diesem Bericht bin ich von meiner üblichen Praxis abgewichen, nur Vorkommnisse und Schauplätze zu schildern, bei denen beziehungsweise an denen ich selbst zugegen war. Einige Kapitel sind deshalb in der dritten Person gehalten.

Ich möchte meinen Lesern versichern, dass ich mich für die in diesen Kapiteln geschilderten Vorgänge verbürgen kann. Sollte ich mir eine gewisse dichterische Freiheit bei der Darstellung der Gedanken und Gefühle einzelner Personen erlaubt haben, so deshalb, weil ich glaube, sie dennoch mit angemessener Exaktheit dargelegt zu haben. Ich darf hinzufügen, dass mein Freund Hercule Poirot die Angaben persönlich »überprüft« hat.

Ergänzen möchte ich, dass ich einige untergeordnete zwischenmenschliche Beziehungen, die sich infolge dieser Reihe rätselhafter Verbrechen entwickelten, so ausführlich geschildert habe, weil menschliche und persönliche Faktoren keinesfalls außer Acht gelassen werden dürfen. In sehr dramatischer Weise hat Hercule Poirot mir einmal aufgezeigt, dass Liebe ein Nebenprodukt des Verbrechens sein kann.

In Bezug auf die Lösung des ABC-Rätsels kann ich nur sagen, dass Poirot einen Problemfall, wie er ihm nie zuvor untergekommen war, meines Erachtens wahrlich genial in Angriff genommen hat.

1Der Brief

Im Juni 1935 kam ich für etwa sechs Monate von meiner Ranch in Südamerika nach England zurück. Es war für uns dort unten eine schwere Zeit gewesen. Wie alle hatten auch wir die weltweite Depression zu spüren bekommen. Ich musste verschiedene Geschäfte tätigen, deren Erfolg meiner Ansicht nach von meiner persönlichen Anwesenheit abhing. Meine Frau blieb zurück und kümmerte sich um die Ranch.

Dass eine meiner ersten Unternehmungen gleich nach meiner Ankunft in England ein Besuch bei meinem alten Freund Hercule Poirot war, brauche ich wohl kaum zu erwähnen.

Er wohnte mittlerweile in einer dieser brandneuen Londoner Etagenwohnungen mit Hauswirtschaftsdiensten. Ich vermutete, dass er dieses spezielle Gebäude ausschließlich wegen seiner streng geometrischen Maße und Proportionen ausgewählt habe – und er gab es zu.

»Aber ja, mein Freund, es ist von äußerst erfreulicher Symmetrie, finden Sie nicht auch?«

Ich verlieh meiner Meinung, dass es auch ein Übermaß an Viereckigkeit geben könne, Ausdruck und fragte ihn in Anspielung auf einen alten Witz, ob sie hier in seiner supermodernen Unterkunft die Hühner denn dazu gebracht hätten, quadratische Eier zu legen.

Poirot lachte herzlich. »Ach, daran erinnern Sie sich? Leider nein! Die Wissenschaft hat die Hühner noch nicht dazu bewegen können, dem heutigen Geschmack zu entsprechen. Noch immer legen sie Eier von unterschiedlicher Größe und Farbe!«

Ich betrachtete meinen alten Freund mit Zuneigung. Er sah hervorragend aus – kaum einen Tag älter als bei unserem letzten Treffen.

»Sie scheinen in bester Verfassung zu sein, Poirot«, sagte ich. »Sie sind überhaupt nicht älter geworden. Ich würde fast sagen, dass Sie, wäre es möglich, weniger graue Haare haben als beim letzten Mal.«

Poirot strahlte mich an.

»Und warum sollte das nicht möglich sein? Es ist nämlich wirklich so.«

»Sie meinen, Ihr Haar wechselt von Grau zu Schwarz statt umgekehrt?«

»Genau.«

»Aber das ist wissenschaftlich doch ganz unmöglich!«

»Keineswegs.«

»Das ist allerdings sehr außergewöhnlich, es kommt mir widernatürlich vor.«

»Sie sind seit jeher arglos und gutgläubig, Hastings. Die Jahre haben Sie nicht verändert! Sie nehmen etwas wahr und sprechen im selben Atemzug die Erklärung dafür aus, ohne es selbst zu merken.«

Verwirrt sah ich ihn an.

Ohne ein Wort ging er in sein Schlafzimmer, kam mit einer Flasche in der Hand zurück und reichte sie mir.

Ich nahm sie, verstand aber immer noch nichts.

Dann las ich das Etikett:

Revivit verleiht dem Haar wieder seinen natürlichen Farbton. Revivit ist keine Coloration! Revivit gibt es in den fünf Nuancen Hellblond, Brünett, Tizianrot, Braun, Schwarz.

»Poirot!«, rief ich aus. »Sie haben sich das Haar gefärbt!«

»Ah, jetzt haben Sie es begriffen.«

»Deshalb also wirken Ihre Haare schwärzer als bei meinem letzten Aufenthalt hier.«

»Ganz genau.«

»Grundgütiger«, sagte ich, als ich mich von dem Schreck erholt hatte. »Wenn ich das nächste Mal nach England komme, treffe ich Sie dann womöglich mit einem falschen Schnurrbart an. Oder ist er das bereits?«

Poirot zuckte zusammen. Sein Schnurrbart war schon immer ein heikler Punkt gewesen. Er war ausnehmend stolz darauf. Meine Worte trafen ihn ins Mark.

»Nein, nein, wirklich nicht, mon ami. Ich bete zum lieben Gott, dass dieser Tag noch in weiter Ferne liegen möge. Ein falscher Schnurrbart! Quel horreur!«

Er zog heftig daran, um mich von seiner Echtheit zu überzeugen.

»Er ist noch immer sehr üppig«, sagte ich.

»N’est-ce pas? In ganz London habe ich nie einen vergleichbaren Bart gesehen.«

Und keinen gehätschelteren, dachte ich im Stillen. Aber um nichts in der Welt hätte ich das gesagt und damit Poirots Gefühle verletzt.

Stattdessen fragte ich, ob er bei Gelegenheit noch immer seinem Beruf nachgehe.

»Ich weiß, dass Sie sich eigentlich schon vor Jahren zur Ruhe gesetzt haben …«, sagte ich.

»C’est vrai. Um Kürbisse zu züchten. Und gleich darauf geschieht ein Mord, und ich schicke die Kürbisse zum Teufel! Ich weiß sehr gut, was Sie nun sagen werden – aber seitdem komme ich mir vor wie eine Primadonna, die endgültig ihre allerletzte Vorstellung gibt. Und diese Abschiedsvorstellung wiederholt sich unzählige Male.«

Ich lachte.

»Es ist wirklich und wahrhaftig so. Jedes Mal sage ich, jetzt ist Schluss, aber dann kommt wieder etwas daher! Und ich muss zugeben, mein Freund, der Ruhestand ist nichts für mich. Wenn die kleinen grauen Zellen nicht benutzt werden, setzen sie Rost an.«

»Verstehe«, sagte ich. »Sie benutzen sie in Maßen.«

»Genau. Ich picke mir die Rosinen heraus. Für Hercule Poirot kommt heute nur noch die Creme des Verbrechens in Frage.«

»Und gab es in letzter Zeit viel Creme?«

»Pas mal. Vor kurzem gab es ein knappes Entkommen.«

»Der Täter ist entwischt?«

»Nein, nein!« Poirot wirkte schockiert. »Ich – ich, Hercule Poirot, wurde fast erledigt.«

Ich stieß einen Pfiff aus.

»Ein origineller Mörder!«

»Weniger originell als leichtfertig«, sagte Poirot. »Genau das war er, leichtfertig. Aber reden wir nicht davon. Wissen Sie, Hastings, in vielerlei Hinsicht betrachte ich Sie als mein Maskottchen.«

»Wirklich?«, sagte ich. »In welcher Hinsicht?«

Poirot beantwortete meine Frage nicht direkt, er fuhr fort:

»Sobald ich gehört hatte, dass Sie eintreffen, sagte ich mir: Irgendetwas wird daherkommen. Wir werden wieder wie früher zusammen auf die Jagd gehen, wir beide. Aber wenn, dann darf es kein gewöhnlicher Fall sein, es muss …« – er wedelte aufgeregt mit den Händen – »etwas Delikates sein, eine recherche fine …« Er sprach die letzten Worte genussvoll aus.

»Also wirklich, Poirot«, sagte ich, »das klingt, als bestellten Sie ein Dinner im Ritz.«

»Wohingegen man ein Verbrechen nicht bestellen kann? Wie wahr.« Er seufzte. »Aber ich glaube an das Glück, an das Schicksal, wenn Sie so wollen. Ihr Schicksal ist es, neben mir zu stehen und zu verhindern, dass ich den einen unverzeihlichen Fehler begehe.«

»Und was wäre dieser Fehler?«

»Das Offensichtliche zu übersehen.«

Ich dachte darüber nach, konnte den Sinn dahinter aber nicht greifen.

»Und?«, sagte ich daraufhin nur lächelnd. »Ist dieses Superverbrechen bereits geschehen?«

»Pas encore. Das heißt, zumindest …«

Er hielt inne. Seine Stirn legte sich in Falten und zeugte von Verwirrung. Mechanisch rückte er ein, zwei Gegenstände zurecht, die ich aus Versehen verschoben hatte.

»Zumindest bin ich mir nicht sicher«, sagte er gedehnt.

Sein Tonfall war so merkwürdig, dass ich ihn überrascht anblickte.

Seine Stirn war noch immer gerunzelt.

Mit einem entschlossenen Nicken ging er unvermittelt durch den Raum zu einem Schreibtisch neben dem Fenster. Überflüssig zu sagen, dass seine Unterlagen so ordentlich sortiert und abgeheftet waren, dass er sofort fand, was er suchte.

Langsam kam er mit einem geöffneten Brief in der Hand auf mich zu. Er las ihn selbst und gab ihn mir dann.

»Sagen Sie, mon ami, was halten Sie davon?«

Mit einiger Neugier nahm ich den Brief.

Er war mit der Schreibmaschine auf dickem weißem Briefpapier geschrieben.

Mr Hercule Poirot,

Sie nehmen doch für sich in Anspruch, Fälle zu lösen, die für unsere einfältige britische Polizei zu schwierig sind. Wollen wir doch mal sehen, Mr Clever Poirot, wie clever Sie wirklich sind. Vielleicht ist diese Nuss Ihnen aber doch zu hart. Achten Sie am 21. des Monats auf Andover.

Hochachtungsvoll,

ABC

Ich besah mir den Umschlag. Auch er war mit der Schreibmaschine beschriftet.

»Er wurde im Postbezirk WC1 aufgegeben«, sagte Poirot, als ich den Stempel prüfte. »Was meinen Sie dazu?«

Ich zuckte mit den Schultern und gab ihm den Brief zurück.

»Vermutlich irgendein Verrückter oder so etwas.«

»Das ist alles, was Sie dazu zu sagen haben?«

»Nun, klingt das für Sie denn nicht nach einem Verrückten?«

»Doch, mein Freund, durchaus.«

Seine Stimme klang besorgt. Ich sah ihn verwundert an.

»Sie nehmen das sehr ernst, Poirot.«

»Einen Verrückten, mon ami, muss man ernst nehmen. Ein Verrückter ist ein sehr gefährlicher Mensch.«

»Ja, das stimmt natürlich … Daran hatte ich nicht gedacht. Ich meinte damit, dass es eher nach einem ziemlich dummen Scherz klingt. Vielleicht hatte irgendein geselliger Kumpan einen in der Krone.«

»Comment? Was in der Krone?«

»Nichts, es ist nur eine Redensart, ich meinte einen Burschen, der dicht war. Nein, so auch nicht, verflucht – betrunken eben.«

»Merci, Hastings. Den Ausdruck ›dicht‹ kenne ich. Aber, wie Sie sagen, vielleicht steckt ja gar nichts weiter dahinter.«

»Sie aber halten es für möglich?«, fragte ich, weil sein unzufriedener Tonfall mich aufhorchen ließ.

Skeptisch schüttelte er den Kopf, sagte aber nichts.

»Was haben Sie diesbezüglich unternommen?«, wollte ich wissen.

»Was kann man schon tun? Ich habe Japp den Brief gezeigt. Er war derselben Ansicht wie Sie – ein dummer Scherz, so hat er sich ausgedrückt. Bei Scotland Yard bekommen sie jeden Tag solche Sachen. Auch ich bin schon reichlich damit belästigt worden.«

»Das hier aber nehmen Sie ernst?«

Nachdenklich sagte er:

»Irgendetwas an diesem Brief, Hastings, gefällt mir nicht.«

Unweigerlich ließ ich mich von seinem Tonfall anstecken.

»Was denken Sie?«

Er schüttelte wieder den Kopf, nahm den Brief und brachte ihn zurück zu seinem Schreibtisch.

»Wenn Sie das so belastet – können Sie denn nichts unternehmen?«, fragte ich.

»Wie immer, Sie sind ein Mann der Tat. Aber was könnte man denn unternehmen? Die örtliche Polizei hat sich den Brief angesehen, nimmt ihn aber nicht ernst. Es gibt darauf keine Fingerabdrücke. Keinerlei Hinweise auf den Absender.«

»Dann verlassen Sie sich also allein auf Ihr Gespür?«

»Nicht auf mein Gespür, Hastings, das trifft es nicht. Mein Wissen, meine Erfahrung sagt mir, dass mit diesem Brief etwas nicht stimmt …«

Er gestikulierte, als würden ihm die Worte fehlen, dann schüttelte er wieder den Kopf.

»Vielleicht mache ich einen Elefanten aus einer Ameise. In jedem Fall können wir nur abwarten.«

»Nun, der 21. ist am Freitag. Sollte an diesem Tag in der Nähe von Andover ein größerer Raub stattfinden …«

»Ah, das wäre eine Erleichterung!«

»Eine Erleichterung?« Ich starrte ihn an. Das Wort schien mir hier doch sehr fehl am Platze zu sein.

»Ein Raub kann spannend sein, aber doch keine Erleichterung!«, widersprach ich.

Energisch schüttelte Poirot den Kopf.

»Da irren Sie, mein Freund. Sie verstehen nicht, was ich meine: Ein Raub wäre insofern eine Erleichterung, als er mir die Furcht vor etwas anderem nähme.«

»Und das wäre?«

»Mord,« sagte Hercule Poirot.

2Nicht aus Captain Hastings’ Perspektive

Mr Alexander Bonaparte Cust stand von seinem Stuhl auf und sah sich kurzsichtig in dem ärmlichen Schlafzimmer um. Sein Rücken war steif, weil er verkrampft dagesessen hatte. Als er sich zu voller Größe aufrichtete, hätte ein Beobachter gesehen, dass er wirklich ein recht großer Mann war. Darüber täuschten seine gebeugte Haltung und sein kurzsichtiger Blick zunächst hinweg.

Er ging zur Tür und zog eine Schachtel billiger Zigaretten und Streichhölzer aus der Tasche eines abgetragenen Mantels. Er zündete eine an und ging dann an den Tisch zurück, an dem er gesessen hatte. Er nahm ein Eisenbahnkursbuch und zog es zu Rate, dann wandte er sich wieder einer maschinengeschriebenen Liste von Namen zu. Mit dem Füllfederhalter hakte er einen der ersten Namen auf der Liste ab.

Es war Donnerstag, der 20. Juni.

3Andover

Poirots Vorahnung bezüglich des anonymen Briefs hatte mich beeindruckt, ich muss jedoch zugeben, dass ich die ganze Sache wieder vergessen hatte, als der 21. schließlich kam und ein Besuch von Chief Inspector Japp von Scotland Yard bei meinem Freund mich wieder an den Vorfall erinnerte. Mit dem Kriminalinspektor waren wir seit vielen Jahren bekannt, und er begrüßte mich herzlich.

»Na, sieh mal einer an!«, rief er aus. »Wenn das nicht Captain Hastings ist, zurückgekehrt aus der Wildnis von – wie heißt das noch mal? Das ist ja wie in alten Zeiten, dass ich Sie hier bei Monsieur Poirot treffe. Und Sie sehen gut aus. Nur ein bisschen schütter da oben, was? Na ja, das steht uns allen bevor. Mir geht es nicht anders.«

Ich zuckte ein wenig zusammen – meinte ich doch, das Schüttere, das Japp ansprach, durch sorgfältiges Kämmen meiner Haare quer über den Scheitel weitgehend zu kaschieren. Nun war Japp mir gegenüber ja nie besonders taktvoll gewesen, also ging ich darüber hinweg und stimmte ihm darin zu, dass wir alle nicht jünger wurden.

»Ausgenommen Monsieur Poirot!«, sagte Japp. »Er könnte wirklich Werbung für Haarfärbemittel machen. Das Seegras sprießt ihm üppiger denn je im Gesicht, und dann steht er auf seine alten Tage auch noch im Rampenlicht. Ist in alle Kriminalfälle verwickelt, die derzeit Furore machen. Mord im Zug, Mord im Flugzeug, Mord in bester Gesellschaft – er ist einfach überall. War nie berühmter als seit seinem Rückzug ins Privatleben!«

»Ich habe Hastings schon gesagt, dass ich wie eine Primadonna bin, die nach ihrem Abschied nur noch öfter auf der Bühne steht«, sagte Poirot lächelnd.

»Würde mich nicht wundern, wenn Sie in Ihrem eigenen Todesfall ermitteln würden«, sagte Japp mit dröhnendem Gelächter. »Das wäre wirklich ein Ding! Darüber sollte man ein Buch schreiben.«

»Das muss Hastings übernehmen«, sagte Poirot und zwinkerte mir zu.

»Haha, das wäre wahrlich ein Jux!«, lachte Japp.

Ich sah nicht, was daran so furchtbar lustig war, jedenfalls fand ich den Scherz abgeschmackt. Dem armen alten Poirot musste das auf die Nerven gehen, denn Witze über sein bevorstehendes Ableben konnte er wohl kaum witzig finden.

Vielleicht verriet meine Miene meine Gefühle, denn Japp wechselte das Thema.

»Haben Sie schon von dem anonymen Brief an Monsieur Poirot gehört?«

»Ich habe ihn Hastings kürzlich gezeigt«, sagte mein Freund.

»Aber ja!«, rief ich aus. »Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Welches Datum wurde noch mal erwähnt?«

»Der 21.«, sagte Japp. »Deshalb bin ich vorbeigekommen. Der 21. war gestern, und aus reiner Neugier habe ich am Abend in Andover angerufen. Es war in der Tat ein dummer Scherz. Nichts ist vorgefallen. Es gab nur eine eingeschlagene Schaufensterscheibe – Jugendliche haben Steine geworfen –, ein paar Betrunkene und einige Ordnungswidrigkeiten. Ausnahmsweise war unser belgischer Freund auf dem falschen Dampfer.«

»Ich muss gestehen, dass ich erleichtert bin«, gab Poirot zu.

»Das ist Ihnen echt an die Nieren gegangen, was?«, sagte Japp mitfühlend. »Gott behüte, wir bekommen hier täglich Dutzende solcher Briefe. Von Leuten, die nichts Besseres zu tun haben und nicht ganz richtig sind im Oberstübchen. Sie meinen es nicht böse, das ist für sie nur ein Spaß.«

»Es war wirklich dumm von mir, dass ich mir die Sache so zu Herzen genommen habe«, sagte Poirot. »Dabei dachte ich, ich wäre einer heißen Sache auf der Spur.«

»Na ja, ich muss dann mal wieder los! In der Parallelstraße gab es einen Juwelenraub. Ich wollte nur kurz vorbeischauen und Sie beruhigen. Wäre doch schade, wenn die grauen Zellen unnötig auf Trab gehalten würden.«

Mit diesen Worten und einem polternden Lachen machte Japp sich auf den Weg.

»Der ändert sich auch nicht mehr, der gute Japp, eh?«, meinte Poirot.

»Er wirkt alt«, sagte ich und fügte rachsüchtig hinzu: »Ist so grau geworden wie ein Dachs!«

Poirot hustete und sagte:

»Wissen Sie, Hastings, es gibt da so eine kleine Vorrichtung – mein Friseur ist ein sehr einfallsreicher Mann –, man befestigt sie am Kopf und bürstet die eigenen Haare darüber. Es ist keine Perücke, wenn Sie verstehen, sondern …«

»Poirot!«, sagte ich laut. »Ein für alle Mal: Ich will von den grässlichen Erfindungen Ihres vermaledeiten Friseurs nichts wissen. Was ist denn nur los mit meinem Kopf?«

»Nichts. Überhaupt nichts.«

»Ich werde doch nicht kahl!«

»Nein, natürlich nicht!«

»Durch die heißen Sommer dort unten lichtet sich das Haar naturgemäß ein bisschen. Ich sollte wohl ein richtig gutes Haarwasser von hier mitnehmen.«

»Précisément.«

»Und was geht Japp das alles überhaupt an? Er war schon immer eine unflätige Teufelsbrut. Und humorlos. Einer, der lacht, wenn man einem anderen den Stuhl unterm Hintern wegzieht.«

»Darüber würden viele Menschen lachen.«

»Es ist so blödsinnig!«

»Aus der Perspektive dessen, der sich setzen will, bestimmt.«

»Wie auch immer«, sagte ich und zügelte ein wenig mein Temperament (ich gebe zu, dass ich wegen meines sich lichtenden Haares empfindlich bin). »Tut mir leid, dass aus dieser Sache mit dem anonymen Brief nichts geworden ist.«

»Ich habe mich tatsächlich getäuscht. Mir war so, als würde dieser Brief zum Himmel stinken. Aber es war nur ein dummer Scherz. Leider werde ich alt und argwöhnisch wie ein blinder Wachhund, der bellt, auch wenn niemand da ist.«

»Wenn ich mit Ihnen zusammenarbeiten soll, müssen wir uns also ein anderes Superverbrechen suchen«, sagte ich lachend.

»Erinnern Sie sich an Ihre Bemerkung von neulich? Wenn Sie ein Verbrechen bestellen könnten wie ein Dinner im Restaurant – was würden Sie dann wählen?«

Ich ließ mich auf das Spiel ein.

»Mal sehen. Was steht denn auf der Speisekarte? Raub? Geldfälschung? Nein, wohl kaum. Zu vegetarisch. Es müsste Mord sein, blutrünstiger Mord. Natürlich mit allem Drum und Dran.«

»Selbstverständlich. Die horsd’œuvres.«

»Wer soll das Opfer sein – Mann oder Frau? Ein Mann, denke ich. Irgendein großes Tier. Ein amerikanischer Millionär. Ein Ministerpräsident. Ein Zeitungsverleger. Und der Tatort? Hm, warum nicht die gute alte Bibliothek? Hat eine unvergleichliche Atmosphäre. Die Tatwaffe könnte wohl ein eigenartig gebogener Dolch sein – oder ein stumpfes Objekt, ein Fetisch aus Stein …«

Poirot seufzte.

»Natürlich kommt auch noch Gift in Frage«, fuhr ich fort, »aber da gibt es immer so ein technisches Gerede. Oder ein Revolverschuss, der durch die Nacht hallt. Und dann brauchen wir noch ein, zwei hübsche Mädchen …«

»Mit rotbraunem Haar«, murmelte mein Freund.

»Immer derselbe alte Witz. Eines der hübschen Mädchen müsste natürlich zu Unrecht verdächtigt werden, weil es eine Auseinandersetzung mit einem jungen Mann hatte. Selbstverständlich brauchen wir noch andere Verdächtige – eine ältere Frau, eine dunkle, gefährliche Person; einen Freund oder Rivalen des Toten; einen verschwiegenen Sekretär vom Typ ›stilles Wasser‹; einen jovialen Mann, der alle an der Nase herumführen kann; eine Reihe entlassener Dienstboten, Jagdaufseher oder Ähnliches; und einen dämlichen Detektiv – so wie Japp. Ja, das wäre dann alles.«

»Das ist also Ihre Vorstellung von einem Superverbrechen, eh?«

»Sie sind wohl anderer Meinung.«

Poirot sah mich betrübt an.

»Damit haben Sie ein hübsches Resümee nahezu aller Detektivgeschichten gegeben, die je geschrieben worden sind.«

»Also gut«, sagte ich. »Was würden Sie bestellen?«

Poirot schloss die Augen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Säuselnd sagte er:

»Ein ganz einfaches Verbrechen. Ohne Komplikationen. Eine Tat im häuslichen Umfeld, ganz ohne Leidenschaft … ganz intime …«

»Wie kann ein Verbrechen denn intim sein?«

»Nehmen wir an«, sagte Poirot leise, »vier Personen sitzen am Bridgetisch. Ein weiterer Mann sitzt allein am Feuer. Am Ende des Abends ist dieser Mann tot. Einer der vier war zu ihm gegangen und hatte ihn getötet, während er Dummy war und seine Karten abgelegt hatte. Die anderen drei Spieler hatten sich auf ihr Blatt konzentriert und nichts bemerkt. Ha, das wäre ein Fall für Sie! Welche der vier Personen ist der Täter?«

»Na ja«, sagte ich. »Spannend klingt mir das überhaupt nicht!«

Poirot warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Nein. Weil es keine eigenartig gebogenen Dolche gibt, keine Erpressung, keinen gestohlenen Smaragd, der das Auge einer Götterstatue darstellte, kein unnachweisbares Gift aus dem Orient. Sie sind pathetisch, Hastings. Sie wollen nicht nur einen Mord, sondern eine ganze Mordserie.«

»Zugegeben«, sagte ich, »ein zweiter Mord lässt die Spannung in einem Buch oft steigen. Wenn der Mord im ersten Kapitel geschieht und man die Alibis von allen und jedem außer einer Person bis zur letzten Seite nachvollziehen muss … Nun ja, das wird dann ein wenig ermüdend.«

Das Telefon klingelte, Poirot stand auf und hob ab.

»Allô«, sagte er. »Allô. Ja, hier spricht Hercule Poirot.«

Er lauschte kurz, und ich sah, wie sein Gesichtsausdruck sich veränderte.

Er gab nur kurze, zusammenhanglose Sätze von sich:

»Mais oui.«

»Ja, natürlich.«

»Aber ja, wir kommen.«

»Selbstverständlich.«

»Möglicherweise haben Sie recht.«

»Ja, ich bringe ihn mit. Dann à tout à l’heure.«

Er legte auf und kam wieder zu mir.

»Das war Japp, Hastings.«

»Ja?«

»Er ist gerade wieder ins Büro bei Scotland Yard zurückgekommen. Es gab eine Meldung aus Andover.«

»Andover?«, rief ich aufgeregt aus.

Nachdenklich sagte Poirot:

»Eine ältere Dame namens Ascher, die einen kleinen Tabak- und Zeitungsladen betreibt, wurde ermordet aufgefunden.«

Ich glaube, ich fühlte mich ein bisschen wie vor den Kopf gestoßen. Meine Neugier, die bei der Erwähnung von Andover geweckt worden war, hatte einen Dämpfer bekommen. Ich hatte etwas Phantastisches erwartet, etwas Außergewöhnliches. Der Mord an einer alten Frau, die einen Tabakladen hatte, kam mir irgendwie reizlos und uninteressant vor.

Poirot sprach im selben gedehnten, düsteren Ton weiter:

»Die Polizei von Andover geht davon aus, dass sie den Täter gefasst hat.«

Ich verspürte einen Stich der Enttäuschung.

»Offenbar hatte die Frau Streit mit ihrem Mann. Er ist Trinker und auch sonst ein eher unangenehmer Zeitgenosse. Er hat schon mehrmals angedroht, sie zu töten.

Dennoch«, fuhr Poirot fort, »würde die dortige Polizei gern einen Blick auf den anonymen Brief werfen, den ich bekommen habe. Ich habe gesagt, dass wir beide umgehend nach Andover aufbrechen.«

Meine Lebensgeister erwachten wieder. Immerhin, so reizlos es auch schien, war es trotzdem ein Verbrechen, und es war lange her, dass ich mit Verbrechen und Verbrechern zu tun gehabt hatte.

Ich hörte kaum auf das, was Poirot nun sagte, aber seine Worte sollten mir später in ihrer Bedeutsamkeit wieder ins Gedächtnis kommen:

»Das ist erst der Anfang«, sagte Hercule Poirot.

4Mrs Ascher

In Andover empfing uns Inspector Glen, ein großgewachsener, blonder Mann mit einem einnehmenden Lächeln.

Der Kürze halber möchte ich die nackten Fakten des Falles hier zusammenfassen:

Die Tat wurde um ein Uhr in der Nacht zum 22. Juni von Constable Dover entdeckt. Als er auf seinem Rundgang die Tür des Geschäfts unverschlossen vorfand, trat er ein. Auf den ersten Blick war der Laden leer, doch als er mit seiner Taschenlampe hinter den Tresen leuchtete, sah er die zusammengesunkene Leiche der älteren Frau. Der Gerichtsmediziner stellte dann fest, dass sie mit einem heftigen Schlag auf den Hinterkopf niedergestreckt worden war, wahrscheinlich als sie eine Schachtel Zigaretten aus dem Regal hinter dem Ladentisch hatte nehmen wollen. Der Tod musste sieben bis neun Stunden zuvor eingetreten sein.

»Aber wir konnten den Todeszeitpunkt ein bisschen besser eingrenzen«, sagte der Inspector. »Wir haben einen Mann aufgetrieben, der um halb sechs am Abend Tabak gekauft hat. Um fünf nach sechs betrat ein zweiter Mann den Laden und fand ihn leer vor, wie er dachte. Damit liegt der Tatzeitpunkt zwischen halb sechs und fünf nach sechs Uhr. Bislang konnte ich niemanden finden, der diesen Ascher in der Nähe des Ladens gesehen hätte, aber es ist ja noch früh. Um neun Uhr abends war er in den Three Crowns und wohl schon ziemlich betrunken. Wenn wir ihn fassen, nehmen wir ihn in Untersuchungshaft.«

»Ascher ist wohl kein sehr angenehmer Mensch, Inspector?«, sagte Poirot.

»Ein übler Bursche.«

»Hat er nicht mit seiner Frau zusammengelebt?«

»Nein, sie haben sich vor ein paar Jahren getrennt. Ascher ist Deutscher. Er war früher Kellner, hat dann aber angefangen zu trinken und mit der Zeit keine Anstellung mehr gefunden. Eine Zeit lang arbeitete seine Frau als Hausmädchen, ihre letzte Stellung als Köchin und Wirtschafterin hatte sie bei einer alten Dame, Miss Rose. Sie gab ihrem Mann so viel von ihrem Lohn ab, dass er sich selbst versorgen konnte, aber er betrank sich immer, suchte sie an ihrem Arbeitsplatz auf und machte ihr eine Szene. Darum nahm sie die Stelle bei Miss Rose auf deren Landsitz an. The Grange liegt drei Meilen außerhalb von Andover auf dem platten Land, da kam Ascher nicht so leicht hin. Nach Miss Rose’ Tod machte Mrs Ascher eine kleine Erbschaft und kaufte sich davon den Laden – ein ziemlich kleines Geschäft, billige Zigaretten und ein paar Zeitungen eben. Sie konnte sich damit gerade so über Wasser halten. Ascher kam immer wieder vorbei und beschimpfte sie, und sie gab ihm gewöhnlich ein wenig Geld, um ihn loszuwerden. Er bekam wöchentlich fünfzehn Shilling von ihr.«

»Hatten sie Kinder?«, fragte Poirot.

»Nein. Es gibt eine Nichte, sie ist in der Nähe von Overton in Stellung. Eine sehr besonnene, zuverlässige junge Frau.«

»Und Ascher hat seine Frau immer wieder bedroht, sagen Sie?«

»Ja. Er hat ihr die Hölle heißgemacht, wenn er betrunken war – hat geflucht und geschworen, er würde ihr den Schädel einschlagen. Mrs Ascher hatte es wahrlich nicht leicht.«

»Wie alt war sie?«

»Knapp sechzig – eine anständige, fleißige Frau.«

Poirot sagte ernst:

»Und Ihrer Meinung nach hat dieser Ascher die Tat begangen?«

Der Inspector hüstelte bedächtig.

»Es ist noch zu früh, um das zu sagen, Mr Poirot, ich möchte erst Franz Aschers eigene Aussage dazu hören, wie er den gestrigen Abend verbracht hat. Wenn er ein stichhaltiges Alibi hat, ist alles gut. Wenn nicht …«

Er machte eine bedeutungsschwere Pause.

»Fehlte nichts aus dem Laden?«

»Nichts. Das Geld lag unangetastet in der Kasse. Kein Hinweis auf Diebstahl.«

»Sie glauben also, dass Ascher betrunken in den Laden kam, seine Frau bedroht und sie am Ende erschlagen hat?«

»Das scheint als Tathergang am wahrscheinlichsten zu sein. Trotz allem würde ich mir gern diesen seltsamen Brief ansehen, den Sie bekommen haben, Sir. Ich frage mich nämlich, ob er von Ascher sein könnte.«

Poirot gab dem Inspector den Brief, und dieser las ihn mit gerunzelter Stirn.

»Das klingt nicht nach Ascher«, sagte er schließlich. »Ich bezweifle, dass Ascher von ›unserer‹ britischen Polizei sprechen würde – es sei denn, er wäre ganz gerissen, und dazu scheint er mir nicht genügend Grips zu haben. Außerdem ist der Mann ein Wrack – er ist am Ende. Und woher sollte er eine Schreibmaschine haben? Überdies sind Briefpapier und Tinte von guter Qualität. Komisch nur, dass in dem Brief vom 21. die Rede ist. Das kann natürlich Zufall sein.«

»Kann sein, ja.«

»Aber ich glaube nicht an solche Zufälle, Mr Poirot. Das wäre ein bisschen zu platt.«

Er schwieg eine Weile, auf seiner Stirn hatte sich eine Falte gebildet.

»ABC. Wer zum Teufel könnte ABC sein? Mal sehen, ob Mary Drower, die Nichte, uns weiterhelfen kann. Eine rätselhafte Sache. Wäre dieser Brief nicht, hätte ich mit Gewissheit auf Franz Ascher gewettet.«

»Wissen Sie etwas über Mrs Aschers Vergangenheit?«

»Sie stammt aus Hampshire. Ging als Mädchen nach London in Stellung, dort hat sie Ascher kennengelernt und geheiratet. Während des Kriegs hatten die beiden wohl eine schwere Zeit. 1922 hat sie ihn dann endgültig verlassen. Damals haben sie noch in London gelebt. Sie kehrte hierher zurück, um von ihm loszukommen, aber er bekam Wind davon, wo sie war, und folgte ihr, bettelte um Geld …« Ein Constable kam herein. »Was ist, Briggs?«

»Ascher. Wir haben ihn, Sir.«

»Gut. Führen Sie ihn herein. Wo war er?«

»Hat sich in einem offenen Güterwaggon auf dem Abstellgleis versteckt.«

»Ach was, wirklich? Bringen Sie ihn her.«

Franz Ascher war in der Tat ein jämmerliches und abstoßendes Mannsbild. Wenn er nicht lallte und katzbuckelte, plusterte er sich auf. Seine Triefaugen wanderten verschlagen von einem zum anderen.

»Was wollen Sie von mir? Ich habe nichts getan! Es ist eine Schande und eine Unverschämtheit, mich hierherzubringen! Ihr Schweine, wie könnt ihr es wagen?« Plötzlich änderte er sein Verhalten. »Nein, nein, ich meine es nicht so. Ihr würdet einem armen, alten Mann doch nichts tun, ihr würdet doch nicht übel mit ihm umspringen. Alle sind gemein zum armen alten Franz! Der arme alte Franz!«

Er fing an zu weinen.

»Es reicht jetzt, Ascher«, sagte der Inspector. »Nehmen Sie sich zusammen. Ich beschuldige Sie nicht – noch nicht. Und Sie sind nicht zu einer Aussage verpflichtet, sofern Sie nicht wollen. Andererseits, wenn Sie mit dem Mord an Ihrer Frau nichts zu tun haben …«

Ascher fiel ihm ins Wort, er schrie:

»Ich habe sie nicht umgebracht! Ich habe sie nicht umgebracht! Alles Lüge! Ihr seid gottverdammte englische Schweine, alle sind gegen mich. Ich habe sie nicht getötet – ich doch nicht!«

»Sie haben oft genug damit gedroht, Ascher.«

»Nein, nein, das verstehen Sie falsch, es war nur Spaß, ein alter Witz zwischen Alice und mir. Sie hat das verstanden.«

»Komische Art von Spaß! Wollen Sie mir sagen, wo Sie gestern Abend waren, Ascher?«

»Ja, ja, ich sage Ihnen alles. Ich war nicht bei Alice, ich war mit Freunden zusammen, guten Freunden. Wir waren in den Seven Stars, danach sind wir in den Red Dog …«

Er plapperte so drauflos, dass er sich verhaspelte.

»… Dick Willows war dabei – und der alte Curdie – und George und Platt und ein Haufen andere. Wenn ich Ihnen doch sage, dass ich nicht bei Alice war! Ach Gott, ich sage nichts als die Wahrheit.«

Wieder hatte er angefangen zu schreien. Der Inspector nickte seinem Untergebenen zu.

»Führen Sie ab. Er kommt in Untersuchungshaft.«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte er, als der widerwärtige, zittrige alte Mann mit seiner großen, bösartigen Klappe weggebracht worden war. »Wäre da nicht dieser Brief, würde ich sagen, er war’s.«

»Was ist mit den Männern, die Ascher genannt hat?«

»Eine schlimme Truppe – keiner von denen würde vor einem Meineid zurückschrecken. Ich bezweifle auch gar nicht, dass er den Großteil des Abends mit denen zusammen war. Vieles hängt nun davon ab, ob ihn jemand zwischen halb sechs und sechs Uhr in der Nähe des Ladens gesehen hat.«

Poirot schüttelte nachdenklich den Kopf. »Sind Sie sicher, dass nichts aus dem Geschäft entwendet wurde?«

Der Inspector zuckte mit den Achseln.

»Was weiß ich? Vielleicht wurden ein, zwei Schachteln Zigaretten gestohlen, aber dafür würde man doch keinen Mord begehen.«

»Und im Laden wurde auch nichts – wie soll ich sagen? – abgelegt? War da nichts, was merkwürdig aussah, was dort nicht hingehörte?«

»Ein Kursbuch«, sagte der Inspector.

»Ein Eisenbahnfahrplan?«

»Ja. Er lag aufgeschlagen und mit dem Umschlag nach oben auf dem Ladentisch. Sah so aus, als hätte jemand die Abfahrtszeiten von Andover nachgeschaut. Entweder die Ladeninhaberin oder ein Kunde.«

»Hat sie auch Fahrpläne verkauft?«

Der Inspector schüttelte den Kopf.

»Nur die billigen Einzelfahrpläne. Das hier war ein Kursbuch. So etwas führt nur der Buchhandel oder ein großes Schreibwarengeschäft.«

Poirots Augen begannen zu leuchten. Er beugte sich vor.

Und auch die Augen des Inspectors leuchteten plötzlich.

»Ein Kursbuch also. War es ein Bradshaw’s Guide oder ein ABC?«

»Meine Güte!«, sagte der Inspector. »Ein ABC.«

5Mary Drower

Ich glaube, mein Interesse an diesem Fall erwachte bei dieser ersten Erwähnung des ABCRailway Guide. Bis dahin hatte ich keine große Begeisterung aufbringen können. Der hinterhältige Mord an einer älteren Frau in einem Laden in irgendeiner kleinen Seitenstraße ähnelte den üblichen Verbrechen, über die in den Zeitungen berichtet wird, zu sehr, als dass er mich besonders neugierig gemacht hätte. Ich hatte den anonymen Brief, in dem der 21. des Monats erwähnt war, im Geiste als puren Zufall abgetan und war mir ziemlich sicher, dass Mrs Ascher Opfer ihres betrunkenen, gewalttätigen Mannes geworden war. Aber als nun das ABC-Kursbuch ins Spiel kam (das allgemein so genannt wird, weil darin die Bahnstationen in alphabetischer Ordnung aufgeführt sind), durchfuhr mich ein Schauder. Das konnte doch sicher, ganz sicher kein zweiter Zufall sein, oder?

Dadurch bekam der Meuchelmord einen neuen Aspekt.

Wer war der mysteriöse Täter, der Mrs Ascher getötet und einen ABC-Plan zurückgelassen hatte?

Als wir die Polizeiwache verließen, gingen wir als Erstes ins Leichenschauhaus, um die Tote zu sehen. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich, als ich auf das faltige alte Gesicht und das straff zurückgekämmte, spärliche graue Haar hinunterblickte. Es sah so friedlich aus, so unsagbar fern jeder Gewalt.

»Sie hat nicht mitgekriegt, wer oder was sie erschlagen hat«, sagte der Sergeant. »Das meint auch Dr. Kerr. Ich bin froh darüber. Die arme alte Seele! Sie war eine so anständige Frau.«

»Sie muss früher einmal schön gewesen sein«, sagte Poirot.

»Meinen Sie?«, murmelte ich skeptisch.

»Aber ja. Sehen Sie sich doch nur die Wangen an, die Knochen, die Kopfform.«

Seufzend zog er das Laken wieder über sie, und wir verließen die Leichenhalle.

Als Nächstes führten wir ein kurzes Gespräch mit dem Gerichtsmediziner.

Dr. Kerr war ein erfahren wirkender Mann in mittleren Jahren. Er sprach schnell und bestimmt.

»Die Tatwaffe wurde nicht gefunden«, sagte er. »Unmöglich zu sagen, was es gewesen sein könnte. Ein massiver Stock, eine Keule, eine Art Sandsack – alles könnte in diesem Fall in Frage kommen.«

»Wie viel Kraft muss man aufwenden, um so einen Schlag zu führen?«

Der Arzt warf Poirot einen aufmerksamen Blick zu.

»Sie meinen damit vermutlich, ob ein siebzigjähriger Tattergreis die Tat hätte ausführen können? Ja, das ist gut möglich. Sofern die Waffe vorne ausreichend schwer war, hätte auch ein eher schwacher Mensch das gewünschte Resultat erzielen können.«

»Dann könnte genauso gut eine Frau den Mord begangen haben?«

Diese Vermutung schien den Doktor ein wenig in Erstaunen zu versetzen. »Eine Frau? Also, ehrlich gesagt, mir ist nie der Gedanke gekommen, eine Frau mit einem solchen Verbrechen in Verbindung zu bringen. Möglich ist es natürlich schon, ja, durchaus. Nur, unter psychologischen Gesichtspunkten würde ich nicht sagen, dass eine Frau diese Tat begangen hat.«

Poirot nickte eifrig zustimmend.

»Genau, genau. So, wie es aussieht, ist das höchst unwahrscheinlich. Aber man muss alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wie lag die Leiche da?«

Der Arzt schilderte uns genau die Position der Leiche. Seiner Meinung nach hatte die Frau mit dem Rücken zum Ladentisch – und damit auch zu ihrem Angreifer – gestanden, als der Schlag ausgeführt worden war. Sie war hinter dem Tresen zusammengesackt und für jemanden, der den Laden danach betreten hätte, nicht zu sehen gewesen.

Als wir uns bei Dr. Kerr bedankt und uns von ihm verabschiedet hatten, sagte Poirot:

»Sie sehen also, Hastings, wir haben bereits ein weiteres Indiz für Aschers Unschuld. Hätte er seine Frau beschimpft und bedroht, dann hätte sie ihm am Ladentisch gegenübergestanden. Stattdessen aber hatte sie ihrem Angreifer den Rücken zugewandt – offenbar hatte sie nach Tabak oder Zigaretten für einen Kunden greifen wollen.«

Mich schauderte.

Poirot schüttelte mit ernster Miene den Kopf.

»Pauvre femme«, flüsterte er.

Dann blickte er auf die Uhr.

»Overton ist, glaube ich, nicht so weit entfernt von hier. Sollen wir hinfahren und mit der Nichte der Toten sprechen?«

»Sicherlich möchten Sie zuerst zu dem Laden gehen, zum Tatort?«

»Das mache ich lieber später. Ich habe meine Gründe.«

Er erklärte es nicht weiter, und ein paar Minuten später fuhren wir auf der London Road Richtung Overton.

Die Adresse, die uns der Inspector genannt hatte, war ein größeres Haus, etwa eine Meile östlich des Dorfes.

Auf unser Klingeln öffnete ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen mit rot verweinten Augen.