Die Moskauer - Andreas Petersen - E-Book

Die Moskauer E-Book

Andreas Petersen

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Beschreibung

Woran die DDR gescheitert ist – das stalinistische Trauma der Gründergeneration: Die DDR war geprägt von Paranoia und Denunziation. Der Historiker und Publizist Andreas Petersen erzählt, wie es dazu kam, und erkundet das Trauma der Gründergeneration um Pieck und Ulbricht. Sie hatten in Moskau die Jahre des Terrors erlebt, in denen Stalin mehr Spitzenkader der KPD ermorden ließ als Hitler. Angst und Verrat wurden für die Exilanten aus Deutschland zur schrecklichen Normalität. Ab 1945 übernahmen die zurückgekehrten »Moskauer« die Führung in der sowjetisch besetzten Zone. Die ersten Jahre waren Stalin-Jahre, Zweifel und Fragen waren in der neu gegründeten SED nicht erwünscht. Die »Moskauer« hätten sich sonst der eigenen Verstrickung stellen müssen. Denn jeder von ihnen hatte jemanden denunziert, um sich selbst zu retten, und jeder wusste es vom Anderen. Ein Mantel des Schweigens legte sich über den neuen Staat. Fesselnd schildert Andreas Petersen dieses Gründungstrauma und seine Folgen – ein lebendiges Psychogramm der führenden SED-Funktionäre, aber auch der Gesellschaft der DDR. Bis heute wird geschwiegen, Verwundungen, Ängste und Zorn sind nicht verschwunden. Ein aufrüttelndes Buch, das dazu beitragen kann, die noch immer spürbare Zerrissenheit zu überwinden.

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Seitenzahl: 598

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ANDREAS PETERSEN

DIE MOSKAUER

Wie das Stalintrauma die DDR prägte

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungProlog1. Die Sowjetunion-ProjektionDie Remmeles – eine sowjetische TragödieDer stalinistische BlickErwin Jöris – von einem, der sich ein Bild machteSelbsttäuschungJahre der AuslöschungAbrichtungZentralkomitee-Wissen2. KriegsbauernArtur Hofmann – vom Paddler zum TerrorbeauftragtenHitler-Stalin-PaktKriegsjahre3. Machtraum und AlbtraumDie Sobottkas und die DunckersDas FundamentDie HerrenEinschwörungHelmut Thiemann alias Rolf Markert – der AbspritzerSeilschaftsgefahrReinszenierung4. Schizophrenie-DiktatIlse Stöbe – verschwiegener WiderstandGedächtnishegemonieRückkehrSchweigegründeStatt eines Nachworts: Lotte Rayß und die Familie Wolf – unerinnerte LiebeAnhangLiteraturBiographien und AutobiographienDarstellungenDankAbkürzungen

Für Erwin Jöris, Fritz N. Platten Junior, Anna und Hedwig Remmele, Barbara Santos, Philipp Gentz, Georg Kern, Karl Singvogel, Otto Sander, Margarete Mengel, Johannes Mengel, Philipp Tolziner, Klaus Meumann, Tibor Weiner, Kurt Meyer, Georg Gerschinski, Margarete Knipschild, Helmut Schinkel, Karl Schröder, Kurt Torgler, Max Maddalena, Margot und Jeanette Kippenberger, Hermann und Elsa Taubenberger, Franz-Xaver Schwarzmüller, Anna und Rudi Tieke, Markus Satzger, Bernd Richter, Gustav Sobottka Junior, Wolfgang und Erika Duncker, Willi Jesse, Arno Wend, Fritz Drescher, Ilse Stöbe, Mutter Stöbe, Kurt Müller, Rudolf von Scheliha, Josephine Boss, Samuel Glesel, Anna Bernfeld, Josef Scholmer, Bruno Dubber, Liselotte Strub-Rayß, Heinz Lüschen.

Prolog

Polizeigefängnis Berlin-Mitte, 1942 Nach ihrem Todesurteil durch die nationalsozialistische Justiz schrieb die neunundzwanzigjährige Kommunistin Ilse Stöbe, im Bewusstsein, von der Moskauer Führung im Kreml verraten worden zu sein, an ihren Lebenspartner Carl Helfrich. Während der Haft sei ihr die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben.

»Einen Roman, der an der Gestalt einer Frau den Verfall einer Idee aufzeigt, die Zeit des Suchens mit ihren trügerisch üppigen und schillernden Blüten, die Wucht der Wandlung und schließlich das Sprengen der gestutzten Form, das tiefe Atemholen, das Deutschlands Brust über die alten Grenzen weitete. Ob es ein gutes Buch gewesen wäre – ein nützliches auf jeden Fall, eines, das meines Wissens noch geschrieben werden muss. Und die tragende Gestalt darf ruhig, soll sogar eine Frau sein, denn sie ist mehr Gefäß als ein Mann und auch Spiegel der Zeit: das Wesen der Zeit enthält und wirft zurück alle jene kleinen Dinge und Zeichen, die dem Geschehen erst die Lichter aufsetzen, seinen falschen und echten Glanz zeigen.«[1]

Ilse Stöbe starb kurz darauf unter dem Fallbeil in Plötzensee. In der DDR schwieg man sehr lange über die Frau, die bis fast auf den Tag genau den Plan zum Angriff der Wehrmacht gegen die Sowjetunion nach Moskau weitergeleitet hatte. Stalin missachtete die Warnung. Helfrich wurde SED-Mitglied und der erste Chefredakteur des 1947 gegründeten Verbandsorgans der Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus, Unser Appell, das 1949 in Die Tat umbenannt wurde. Auch er schwieg über Ilse Stöbe. 1953 floh er in den Westen.

»Auch für die Russen ist die Revolution vermasselt. Vermurkst und vermasselt. Wir sagen es ihnen bloß nicht, und sie sagen es uns nicht. Die Welt hat sich so schön daran gewöhnt, dass in Russland Sozialismus ist, man darf die Welt nicht enttäuschen. Pst!«

    Heinrich Greif, Politemigrant und Schauspieler, Moskau 1935[2]

1.Die Sowjetunion-Projektion

Die Remmeles – eine sowjetische Tragödie

Berlin/Moskau 1932 »Was sahen 58 deutsche Arbeiter in Russland?« Diese Broschüre musste jedes gute Parteimitglied gelesen haben. Das Land der großen proletarischen Revolution erschien darin als Paradies. Während sich in Deutschland Arbeitslose vor Suppenküchen drängten, fehlten dort die Arbeiter. Eine Arbeiterdelegation war 1925 durch die ganze Sowjetunion gereist, unter der Leitung von Hermann Remmele. Was die Teilnehmer zu sehen bekamen, konnte man nun – staunend – nachlesen. Mit der Broschüre wurden ganze Arbeiterviertel überschwemmt. Wer mehr wissen wollte, griff zu Remmeles Zweibänder »Die Sowjetunion«, dreißigtausendmal verkauft. Eine einzige Lobeshymne, die Sowjetunion ein Schlaraffenland.[3] Und Remmele musste es wissen: Neben Ernst Thälmann waren er und der zwanzig Jahre jüngere Heinz Neumann die Politbürogrößen, das »Politsekretariat«, der linke Flügel in der Partei. Die, denen die arbeitslose Parteijugend in vollen Sälen zujubelte. Der Eisendreher Remmele, zweiundfünfzig, markant geschnittenes Gesicht, gehörte zum Urgestein der Partei. Mit siebzehn Jahren, 1897, trat er der SPD bei, übernahm ein Gewerkschaftsamt nach dem anderen, durchlief Parteischulen, schrieb in Parteiblättern, immer auf dem linken Politflügel. Als Soldat erlebte er fast vier Jahre Kriegsgrauen an der Westfront. 1917 war er Mitbegründer der USPD und im Arbeiter- und Soldatenrat der Mannheimer Räterepublik. Er war dabei, als sich 1920 die USPD mit der KPD vereinigte. Und fortan immer im Zentralkomitee, immer im Reichstag, 1924 gar Parteivorsitzender. Remmele kannte die Sowjetunion: Seit 1926 war er Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI) und über längere Zeit in Moskau. Sohn Helmut, keine siebzehn Jahre, musste mit. 1929 hielt Hermann Remmele auf dem XII. Parteitag der KPD eine elektrisierende Rede über die Verteidigung der Sowjetunion. Aber die Partei, die er mitgegründet hatte, hatte sich verändert. Von den sechzehn Mitgliedern des Politbüros fünf Jahre zuvor waren nur noch er und Ernst Thälmann übrig. Die anderen waren Opfer der internen Säuberungen, der Ausschlüsse wegen Abweichungen von der in Moskau vorgegebenen Parteilinie. Immer wieder war das Politbüro umbesetzt worden. Und abermals drehte im Machtgeschacher des Kreml der Wind: Der ultralinke Kurs Remmeles und Neumanns, bisher von Stalin befeuert, wurde auf einmal verdammt. Ihr Versuch, Thälmann – der sich inzwischen von diesem Kurs distanziert hatte – vom Parteivorsitz zu verdrängen, scheiterte. Im August 1932 befahl man Remmele nach Moskau. Zwei Monate später schloss man ihn aus allem aus: dem ZK der KPD, dem Politbüro, dem Exekutivkomitee der Internationale. Zwei Jahre zuvor hatte man ihn noch als »einen der Besten der eisernen bolschewistischen Garde« gefeiert. Nun war Hitler an der Macht und Remmele ausgebürgert. Seine Frau Anna floh aus Deutschland. Sie saßen im Zimmer 176 des Lux, des Hotels der Weltrevolution, und der bisher so bejubelte Genosse war allein. Ein abgehängter Abweichler, wie so viele andere vor ihm. Degradiert zu einem einfachen Mitarbeiter der Komintern-Propagandaabteilung, beobachtete er über Monate und Jahre, wie die Machtränke ihre Wellen warfen und die Genossen in ihnen ertranken.

Auch seine Kinder gingen in die Sowjetunion, der dreiundzwanzigjährige Helmut und die drei Jahre ältere Schwester Hedwig. Beide waren früh der kommunistischen Jugend beigetreten. Hedwig Remmele kannte die Moskauer Politik. Seit sieben Jahren arbeitete sie als Stenotypistin bei der Internationalen Pressekorrespondenz, einem Informationsdienst für die kommunistische Presse, Medienstimme Moskaus im Ausland. Als die Nazis das Verlagshaus in der Lindenstraße schlossen, tauchte die junge Frau unter. Ihr Mann wurde sofort verhaftet. Im August 1933 delegierte man sie nach Moskau. Sie besuchte die Kommunistische Universität der nationalen Minderheiten, verliebte sich Hals über Kopf in den deutsch-rumänischen Kommunisten Philipp Gentz, von dem sie anfangs wohl nur seinen Decknamen Wilhelm Aldan kannte. Im September heirateten beide, im Juli 1934 kam Tochter Ilona zur Welt. Ein Jahr später, Mitte 1935, wurde Gentz von der Komintern nach Rumänien »zur Arbeit« zurückkommandiert. Bald blieben seine Briefe aus.[4] Im Mai 1936 heiratete Hedwig Remmele Niklaus Seeholzer, einen studierten Kommunisten aus Bayern, Deutschlehrer an einer Moskauer Schule. Doch auf Befehl der Kaderabteilung ließen sie sich bald darauf wieder scheiden. Inzwischen war Hedwigs Bruder Helmut als Schlosser zusammen mit seiner Frau in die ab 1929 als Vorzeigeprojekt errichtete Industriestadt Magnitogorsk gegangen.

Als Hedwig Remmele in der Nacht vom 15. Mai 1937 von einem Fest nach Hause kam, wollte sie bei ihren Eltern noch schnell etwas Kaffee holen. Im langen Flur des Lux standen NKWD-Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr vor der Zimmertür. »Mein Vater war nicht erregt, er machte einen gefassten Eindruck«, erzählte sie drei Jahrzehnte später in einem seltenen Moment ihrem Ostberliner Untermieter, der mitstenographierte. »Als sie ihn mitnahmen, sagte ich zu ihm: ›Du wirst sicher bald wiederkommen. Es handelt sich sicher nur um eine Auskunft über deine sogenannten Freunde.‹ Er sah mich erstaunt an: ›Wiederkommen? Ich werde nicht wiederkommen.‹ ›Aber wieso denn?‹ Fast nachsichtig sagte er: ›Ja, glaubst du, ich weiß nicht, was gespielt wird? Nein, ich werde euch nicht wiedersehen.‹ Meine Mutter versuchte, ihm Mut zu machen. ›Sicher wird sich alles aufklären. Ich gehe gleich morgen zu Dimi[troff] und Wilhelm [Pieck].‹ Mein Vater beschwor sie: ›Du gehst keinen Schritt aus der Wohnung. Du verlässt das Haus nicht. Das ist doch sinnlos, zu denen zu gehen.‹«[5]

Auch Heinz Neumann war in seinem Zimmer verhaftet worden, einen Monat vor Remmele. »Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte«, beschrieb Margarete Buber-Neumann die Wochen zuvor, »schreckte ich zusammen. Und die Nächte wurden zur Qual. (…) Nach Mitternacht pflegten die schweren Schritte zu kommen. Aus dem Zimmer gegenüber hatten sie Bulgaren geholt, aus dem Stockwerk unter uns einen Polen. Wenn ich am Tag durch die Gänge des Lux ging, musterte ich scheu die Türen, ob wieder irgendwo eine vom NKWD versiegelt worden war.« Im November 1939 wurde Neumann erschossen.[6]

Verzweifelt ging Anna Remmele am nächsten Tag zu Wilhelm Pieck. »Er empfing sie«, berichtete ihre Tochter Hedwig später, »drückte sie an sich und sagte mit beschwörendem Ton: ›Du glaubst nicht, Anna, wie mir die Verhaftung von Hermann nahegeht. Wir werden selbstverständlich alles tun, um sie rückgängig zu machen.‹ (…) Meine Mutter ging, wenn nicht getröstet, so doch mit einiger Hoffnung. Unter der Türe stieß sie mit [Hugo] Eberlein zusammen. Er (…) schloss die Innentür hinter sich. Meine Mutter lehnte momentan betäubt am Türrahmen. Sie hörte, wie Eberlein auf Wilhelm einredete: ›Aber das geht doch zu weit, dass sie Genossen wie Hermann verhaften.‹ Darauf erwiderte Wilhelm: ›Ach was, sei doch froh, dass wir solche Schweinehunde wie diesen Hermann auf diese Weise endlich loswerden.‹«[7] Wenige Tage später wurde Hugo Eberlein verhaftet. Auch er wurde erschossen. Remmele, Pieck, Eberlein – mehr kollektive Parteierfahrung war nicht möglich: Seit 1921, sechzehn Jahre lang, hatten die drei in jedem KPD-Zentralkomitee gesessen.

Nun standen auch Mutter und Tochter in den langen Schlangen vor den Moskauer Gefängnissen auf der Suche nach Hermann Remmele. Dann griff die Sippenhaft: Als Angehörige eines Volksfeindes wurden sie aus der KPD ausgeschlossen, Anna Remmele verlor ihre Stelle als Schneiderin, Hedwig ihre Arbeit als Stenotypistin bei der Komintern, deren kleiner Tochter Ilona entzog man den Krippenplatz. Unterstützungen wurden gestrichen. Arbeit konnten beide Frauen als Politemigrantinnen ohne Anweisung der Komintern nicht bekommen. Im Lux verbannte man die Frauen mit der anderthalbjährigen Ilona in einen Verschlag ohne Bett und Stuhl im Hofflügel. Nach zwei Monaten, im Juli 1937, wurde auch Mutter Remmele verhaftet. Täglich schleppte sich Hedwig Remmele nun allein von Gefängnis zu Gefängnis auf der Suche nach ihren Eltern. Nirgendwo gab es Auskunft, nicht aus den Luken der Gefängnispförtner, nicht von der deutschen Sektion der Komintern. Um sie herum tobte das Inferno. Genosse für Genosse wurde verhaftet. Nacht für Nacht. Viele von ihnen wurden nach Deutschland abgeschoben, direkt in die Arme der Gestapo. Hedwig Remmele war schwanger. Der Vater: Willi Lampert, ein Freund ihres Bruders, nun auf der Durchreise nach Magnitogorsk. Sie schlug sich durch den Winter, lebte von den spärlichen hundert Rubeln, die sie von der Roten Hilfe als Frau eines Kommunisten im Einsatz (Philipp Gentz) bekam. Im Januar 1938 erfuhr sie von der Verhaftung ihres Bruders und seiner Frau in Magnitogorsk sowie von der Verhaftung Willi Lamperts.

Im April 1938 kam das Kind zur Welt. Ruth. Und obwohl sie umso mehr auf Geld angewiesen war, wurde Hedwig Remmele nun von der Roten Hilfe die letzte Unterstützung gestrichen. Philipp Gentz habe sich im Einsatz nicht bewährt.[8] In Wahrheit war er schon 1936 in ein Arbeitslager verschleppt worden. Die Väter ihrer beiden Töchter, ihr Vater, ihre Mutter, ihr Bruder und dessen Frau waren verhaftet. Eine Arbeit fand sie nicht mehr.

Im November 1938 wurde die Verhaftungsorgie eingestellt. Es gab erste Entlassungen. Nach anderthalb Jahren kam Anna Remmele aus dem Moskauer Butyrki-Gefängnis frei. In völlig überfüllten Zellen hatte sie nachts auf Holzbrettern oder dem nackten Boden gelegen. Bei den Verhören war sie geschlagen worden. Ihre Gesundheit war ruiniert. Alle zehn Tage hatte sie an den Staatsanwalt schreiben dürfen: »Ich kann mir nicht erklären«, wiederholte sie unentwegt, »warum ich verhaftet wurde. Ich kann mir aber erst recht nicht erklären, warum ich bis heute nicht davon unterrichtet worden bin, weswegen ich verhaftet bin, und warum bis heute meine Personalien nicht aufgenommen wurden.« Nie hatte es Antwort gegeben. Als sie plötzlich gehen durfte, verlangte sie erneut eine Antwort. »Wenn sie nochmals fragen«, drohte ihr der Untersuchungsführer, »kommen sie wieder dorthin, wo Sie hergekommen sind.«[9]

Im Lux, in dem sie vier Jahre gelebt hatte, tat der Pförtner so, als kenne er sie nicht. Im Eingangsbereich begegnete ihr Walter Ulbricht. Bewusst übersah er die ausgemergelte Frau mit den alten Kleidern in der Ecke. Dann kam die Frau von Fritz Heckert. Auch sie schaute an der langjährigen Berliner Mitgenossin vorbei. Ihr Mann war längst erschossen.

Hedwig Remmele brachte ihre Mutter in den Hinterhofverschlag. Nachts schlief die Mutter mit den beiden Enkelinnen auf dem völlig zerschlissenen Sofa. Hedwig Remmele auf dem Boden. Die Ratten huschten über sie hinweg.

Dann traf die Tochter zufällig Wilhelm Pieck. »Ich habe gehört«, sprach er sie an, »dass Anna wieder frei ist. Wie geht es ihr?« – »Wenn du es wissen willst«, antwortete sie, »dann kannst du dir ja ansehen, wie wir leben.« Tochter und Mutter waren sicher, dass er nicht kommen würde. Aber Pieck, der seit 1937 Vorsitzender des Exekutivkomitees der Internationalen Roten Hilfe war, kam. Sie erhielten ein anderes Zimmer.[10]

Jeden Tag hofften sie auf die Rückkehr ihrer Männer. Vergeblich. Helmut Remmele war schon ein Jahr zuvor, im Januar 1938, zum Tode verurteilt, dann zu Lagerhaft begnadigt worden und auf dem Weg nach Sibirien gestorben. Niklaus Seeholzer, Hedwigs geschiedener Mann, war im Mai 1938 erschossen worden. Und Hermann Remmele saß nur wenige Kilometer entfernt im Gefängnis, gefoltert, jeden Tag den Tod vor Augen. Zwei Monate nach der Entlassung seiner Frau wurde er, den einst Grigori Sinowjew als »das Beste und Kostbarste, was die deutsche Partei besitzt, das Gold der Arbeiterklasse« bezeichnet hatte, wegen »Teilnahme an einer konterrevolutionären terroristischen Organisation« zum Tode verurteilt und am selben Tag hingerichtet.

Die Komintern drohte den Remmeles mit einer Räumungsklage. Anna Remmele müsse ausziehen. Sie sollten sich nur in den Hof zu ihnen trauen, antwortete Hedwig Remmele, sie werde schießen. Vergeblich suchte sie eine Arbeit, um ihr gemeinsames Überleben zu sichern. Im Mai 1939 fing die einstige Abendstudentin als Schlosserlehrling für ein paar Rubel in einem Maschinenbetrieb an. Völlig erschöpft kehrte sie abends in den Hinterhof zurück. Anna Remmele wurde nicht wieder in die Partei aufgenommen, sie bekam auch keine Arbeit mehr. Epileptische Anfälle waren die Folgen der Haft.

Ruth war acht Tage in einer Krippe, dann wurde sie krank: Nieren und Magen. Fünf Kinder litten darunter, drei starben. Vier Monate konnte Ruth nichts essen und trinken. »Sie nahm fast täglich 30, manchmal 80 Gramm ab«, schrieb Hedwig Remmele in einem Brief. »Sie war fast 1,5 Jahre, da wog sie nur sechs Kilo. Sie war vollkommen apathisch. (…) Der Jasli [Kindergarten] verweigerte die weitere Annahme des Kindes.«[11]

»Der Anblick des armen Kindes ist für mich eine ständige Qual«, schrieb Anna Remmele an Wilhelm Pieck, von Zimmer 340 zu Zimmer 232, und meinte nun Ilona. »Der körperliche Zustand ist schlimm. Das Kind ist in den zwei Jahren völlig zurückgeblieben, ganz besonders ist der seelische Zustand des Kindes besorgniserregend. Es hat unter den schrecklichen Erschütterungen, die sich leider in ihrer Nähe abspielen, fürchterlich gelitten.«[12] Sie bat Pieck, dass er eine Anweisung für ein Kinderheim ausstellen möge. »Glaube nicht«, vermerkte der auf dem Brief für seinen Sekretär, »dass wir helfen können. 1.) Wegen Verhaftung ihres Mannes und Vaters – 2.) weil wir uns überhaupt nicht auf solche [unleserlich] Sachen einlassen können. Teile ihr das mit – W.«[13] Monat für Monat kämpften die beiden Frauen um das Überleben der Kinder. Hilfe bekamen sie nicht, auch nicht nach einem weiteren Brief an Pieck.[14]

Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion wurden die beiden Frauen mit den Kindern nach Tomsk in Sibirien evakuiert. Damit gehörten sie zu den 856637 russischen Staatsbürgern deutscher Nationalität, die 1941 »auf ewig« nach Sibirien und Fernost umgesiedelt wurden. Noch immer wussten sie nichts über den Verbleib Hermann Remmeles, des Bruders Helmut, der Väter von Hedwigs Töchtern. In der Stadt gab es bald mehr Evakuierte als Einwohner. Das Holzhaus, in dem sie hausten, war besser als die Erdhöhlen der Russlanddeutschen, ihr Leben aber wie das der Gulag-Häftlinge. Dreizehn Frauen, Kinder und Alte drängten sich im Zimmer.[15] Zum Schlafen war selbst auf dem Boden nicht genug Platz. Alle zwei Stunden wechselten sie sich ab. Statt Matratzen nur Pferdedecken, Ratten, Läuse und Wanzen. Die Frauen mussten Bäume fällen, Stämme zersägen. Alle hungerten. Es gab keine Milch, kein Obst und Gemüse für die Kinder. Im Sommer musste man vorsorgen, um über den sibirischen Winter zu kommen. Immer gab es Lungenentzündungen und Rauchvergiftungen. Im Juni 1942 wurde angeordnet, dass Angehörige von zum Tode verurteilten »Verrätern« für mindestens fünf Jahre die entlegenen Gebiete nicht verlassen durften. Sie hatten sich monatlich zu melden.[16] Als Deutsche galten sie als Kriegsgegner, und so wurden sie auch behandelt.

Hedwig Remmele versuchte unermüdlich, ihre Nächsten durchzubringen. Sie arbeitete als Elektromonteurin, Klempnerin, Schneiderin und Bohrerin. Nie gab es ausreichend zu essen. Die ersten acht Jahre ihres Lebens sind für Tochter Ruth nur ein »schwarzes Loch«. Die einzige Hoffnung: das Ende des Krieges und die Rückkehr nach Berlin.[17]1946 konnte Hedwig Remmele schließlich den Antrag auf Rückführung stellen. Die deutsche Sektion in Moskau schwieg jedoch ebenso wie Berlin. Auch Anna Remmele versuchte es immer wieder. Vom Hunger ausgezehrt und nervlich zerrüttet, starb sie im Juli 1947 mit neunundfünfzig Jahren. Was mit ihrem Mann und ihrem Sohn geschehen war, erfuhr sie nie.

Durch die endlosen Demütigungen, die Ungewissheit und die ständige Angst erlitt Tochter Hedwig einen Nervenzusammenbruch. Sie kam in die Tomsker Psychiatrische Klinik. Nachbarn versorgten die Mädchen, dann steckte man sie in Kinderheime, Ruth musste nach Tomsk, Ilona nach Iwanowo, 250 Kilometer von Moskau.[18] Sechs Jahre, von 1947 bis 1953. Hier galten sie als Kinder von Faschisten. Etwas, das sie in sich aufnahmen. Ständig hungerten sie, einen gedeckten Tisch kannten sie nicht, jede Nacht hatten sie Angst.[19]

Beim Tod Stalins im März 1953 brach Hedwig Remmele erneut zusammen. Sie hatte sich an die irrwitzige Vorstellung geklammert, dass Stalin unwissend gewesen sei und der Terror nichts anderes als eine Unterwanderung und Sabotage der Engländer in der sowjetischen Geheimpolizei.

Jahr um Jahr hatte sie Briefe an die DDR-Botschaft in Moskau geschrieben, an das ZK der SED in Berlin, an den Präsidenten Wilhelm Pieck persönlich. Nie hatte sie eine Antwort erhalten. »Nun beobachte ich hier seit Jahren«, schrieb sie am 1. Juli 1954, »den aufreibenden systematischen Kampf einiger meiner Bekannten, gleichfalls deutsche Politemigranten wie ich. (…). Schreiben sie an irgendeine Behörde oder hochgestellte Persönlichkeit in Deutschland oder an die deutsche Botschaft in Moskau, so bestätigt man ihnen noch nicht einmal den Eingang ihres Briefes.«[20]

Die in Berlin saßen, wollten keine »lästigen Zeugen« der Kommunistenverfolgung des Exils. Aber man vergaß sie nicht, im Gegenteil: Ihre Aktivitäten wurden genau registriert. Hedwig Remmeles Briefe an Genossen in der DDR wurden abgefangen. Zehn Jahre lang blockierte man ihre Rückkehr. Dann bot die Botschaft in Moskau an, sie könne nach Griechenland ausreisen. Aber Hedwig Remmele wollte in das Land, aus dem sie kam.

Im August 1955 beschloss sie, die Reise ohne Erlaubnis der Partei anzutreten. Illegal. Die beiden achtzehn und neunzehn Jahre alten Töchter hatten ihre Ausbildungen abgeschlossen. Aber sie sprachen kein Deutsch, waren Russinnen, Deutschland war für sie ein fremdes Land. Sie fuhren wegen ihrer kranken Mutter mit, der die Ärzte nur noch ein halbes Jahr gaben. Nach sieben Tagen in Moskau konnten sie, unterstützt vom Roten Kreuz, tatsächlich ausreisen. Wenige Tage zuvor hatten Konrad Adenauer und Nikita Chruschtschow die Rückkehr der zehntausend letzten deutschen Kriegsgefangenen und Polithäftlinge in Moskau vereinbart. Der Heimkehrwunsch der Verbannten war nicht mehr zu hintertreiben.

Am 25. September 1956 traf Hedwig Remmele mit ihren Töchtern nach über zwanzig Jahren wieder in Deutschland ein. Ein Koffer mit Fotos und Briefen verschwand in Frankfurt/Oder aus dem Zug. Die letzten Erinnerungen an Eltern und Großeltern.

Vom Ostbahnhof brachte man sie zum Zentralkomitee. Hedwig Remmele zeigte das Verschwinden der Fotos und Briefe an. Erfolglos. Man verpflichtete sie und die Töchter zum Schweigen über das Erlebte. Zuerst kamen sie in ein Hotel am Alexanderplatz. Dann wurde ihnen eine Wohnung zugewiesen. »Die Toilette«, erinnert sich Ruth Remmele, »war das Beste.«[21] Eines Tages stand ein Mann in der Tür. Hedwig Remmeles erster Mann aus der Weimarer Zeit. Er hatte von der Ankunft erfahren. Die Frau, wegen der er gekommen war, war spindeldürr, zahnlos und doch keine fünfzig Jahre alt. Er erkannte sie nicht mehr.

Hedwig Remmele erhielt eine Stelle im Dietz-Verlag, sie trat in die SED ein, drängte auch ihre Töchter dazu. Aber sie dachte nicht daran zu schweigen. Im Gegenteil: Sie forderte die Rehabilitierung ihres Vaters, ihrer Mutter und ihres Bruders. Und sie sprach offen über die Rolle der KPD-Funktionäre bei den Verhaftungen und Ermordungen von Parteigenossen. Unterdessen hetzte Walter Ulbricht gegen ihren toten Vater, wohl wissend, dass über das Schicksal der Parteigröße andere Erzählungen als die parteikonforme Variante in Umlauf kommen könnten. Remmele sei ein »Sektierer« gewesen, erklärte Ulbricht noch im April 1963 auf der 2. ZK-Tagung. »Mein Vater«, setzte Hedwig Remmele dagegen, »war kein Sektierer und Heinz Neumann kein Lump. (…) meine deutschen Genossen, die heute dicke Gehälter in der Tasche tragen, machten die Berichte über meinen Vater und meine Familie.«[22] Dabei erwähnte sie immer wieder neben Pieck und Ulbricht, Helene Berg und Fritz Heckert. Ihr Fazit zur Sowjetunion war unmissverständlich. »Mein Vater hätte 1933 in Deutschland bleiben sollen. Die Faschisten hätten ihn zwar erschlagen, aber noch besser, als von den eigenen Genossen. Meine Mutter ist vor Schmerz und Entbehrung darüber irre geworden.«[23]

Ihr Widerstand gegen das Schweigen über Verrat und Mord in der Sowjetunion war in den Augen der DDR-Führung Hochverrat. Hedwig Remmele wurde gewarnt, mutig ließ sie sich den Mund nicht verbieten. »Die Einstellung der Remmele«, berichtete eine eilfertige Stasi-Zuträgerin, »zu den deutschen Genossen [der Sowjetemigration] ist sehr geringschätzig. (…) Nicht die sowjetischen Genossen und die Verräter um Stalin sind schuld, dass ihr Vater und viele Genossen sterben mussten, sondern die deutschen Genossen in der Sowjetunion. Sie haben Berichte geschrieben, als die Massenverhaftungen 1937 begannen. Sehr geringschätzig spricht sie von den Genossen Wilhelm Pieck und Fritz Heckert.«[24]

Hedwig Remmele wurde zur Gefahr. Fragen nach Hermann Remmele und der Schuld hoher SED-Funktionäre durften nicht aufkommen. Die Stasi leitete eine Operative Personenkontrolle ein, alle Hausbewohner wurden befragt, alle ihre Briefe gelesen, 24-Stunden-Beobachtungen und IMs angesetzt. Drei Jahre, von 1962 bis 1965.

Die Stasi-Offiziere sprachen von ihr als »Narbe«, auf eine Verletzung durch einen Räuber in Tomsk anspielend, und bezeichneten ihr Verhalten als politisch-ideologische Diversion, wie einst in der Sowjetunion. Aussagen zu den Geschehnissen in der Sowjetunion konnten in der DDR nur Sabotage und Spionage sein. So schlussfolgerte man, Remmele unterhalte »als Leiterin des Archivs beim Magistrat von Groß-Berlin vermutlich feindliche Verbindungen«.[25] Ihre in der Akte überlieferten Kommentare zeugen von einem realistisch-selbstkritischen Blick. »Man hat heute genau die gleichen Methoden in der DDR wie damals in der Sowjetunion.«[26] Und: »Die Genossen, die heute in leitenden Funktionen arbeiten, sind schuld am Tode meines Vaters und Bruders. Auch ich habe einen Teil Schuld.« Ihr war im Laufe der Jahre klargeworden, dass das ständige gegenseitige Denunzieren und die Berichte an den Geheimdienst ihnen allen zum Verhängnis geworden waren. Instinktiv nahm sie wahr, dass sie erneut beobachtet wurde. Der Archivkollegin, die zugleich ihre Nachbarin war, vertraute sie sich an. Fatalerweise war genau die auf sie angesetzt. Exakt berichtete sie, wie Hedwig Remmele sich über die Jahre immer mehr verfolgt fühlte: »Sie sah sich beim Verlassen der Gebäude um, wollte noch mehr sprechen, und traute sich nicht.« Hedwig Remmeles Eindruck, dass man sie beschatte, tat die beauftragte Kollegin stets ab. Ihr seid naiv, antwortete Hedwig Remmele, lasst euch einwickeln, glaubt an Parteidisziplin. »Ich habe doch Erfahrungen. Ich habe doch viele Jahre in der Komintern, in der gesamten westeuropäischen Arbeit gearbeitet. Ich bin oft genug angesetzt worden, ich kenne doch diese Arbeitsmethoden.«[27] Am Ende schob man sie vom Verwaltungs- ins Wirtschaftsarchiv ab.

Aber Hedwig Remmele drängte weiter auf Rehabilitierung ihres Vaters, ihres Bruders und ihres Mannes. Wo immer sie vorsprach, schickte man sie weiter. Die zuständige Genossin in der Zentralen Parteikontrollkommission, Hertha Geffke, ansonsten unermüdlich im Zusammentragen von Material für Hunderte von Parteiausschlüssen, blieb für sie unerreichbar.

Im Juni 1957, nach Chruschtschows Rede über die Massenverbrechen Stalins, musste man schließlich reagieren. Die Verhaftungen ihrer Eltern und ihres Bruders konnten, schrieb man in einem Bescheid, »durch uns nicht richtig eingeschätzt werden«, aber man halte sich an den Beschluss des Obersten Sowjets zur Aufhebung der Urteile. Keine Entschuldigung, kein Bedauern. Stattdessen verleugnete man den Parteiausschluss und die damit verweigerte Hilfe, indem man die Mitgliedschaft von Hermann, Anna und Helmut Remmele als »ununterbrochen« festschrieb. Die Mitteilung dazu erfolgte nur mündlich. Es sollte nichts Nachweisbares geben, die Vergangenheit verwischt werden.

Die Töchter lebten sich in der DDR ein. Ilona Remmele hatte in Iwanowo Krankenschwester gelernt und ging dem Beruf weiter nach. Ruth Remmele hatte eine Ausbildung als Bibliothekarin absolviert, lernte Deutsch und studierte nun Jura in Leipzig, um dann im Berliner Patentamt zu arbeiten. Im Alltag erlebten beide Skepsis und Distanz. In der Sowjetunion hatten sie sich wohler gefühlt. Wenn ihre Mutter mutmaßte, dass sie überwacht werde, beruhigten sie sie. »Wer soll uns denn beobachten?!« Doch das Gefühl, verfolgt zu sein, bedrängte Hedwig Remmele so sehr, dass sie erneut einen Zusammenbruch erlitt. Sie kam in die Psychiatrie. 1984 starb sie, zermürbt und verbittert. Über die Umstände, die zum Tod ihres Vaters, des Bruders und Mannes geführt hatten, erfuhr sie nie die Wahrheit. Erst 1988 erfolgte die offizielle Rehabilitierung von Hermann, Helmut und Anna Remmele durch ein sowjetisches Militärtribunal. Aus den Stasi-Akten erfuhr Ruth Remmele nach dem Ende der DDR, dass ihre Mutter recht gehabt hatte. »Die Stasi hat uns immer überwacht. Meine Mutter hat gefordert, dass sich Ulbricht und Pieck entschuldigen. Am Ende war sie in der Psychiatrie. Sie ist nicht an Deutschland, sondern an der Partei gestorben.«[28] Eine Traueranzeige im Neuen Deutschland nannte Hedwig Remmele eine »stets klassenbewusste, der Partei der Arbeiterklasse treu ergebene Genossin«, die sich mit ihrer ganzen Kraft für den Aufbau und die Stärkung des »sozialistischen Staates« eingesetzt hatte.[29] In der SED-Akte finden sich Papiere aus dem Koffer, der damals am Bahnhof in Frankfurt/Oder verschwunden war. Die Fotos von Anna und Hermann Remmele, die einzigen, die aus der sowjetischen Zeit übrig waren, blieben verloren.

Der stalinistische Blick

Moskau-Überlebende Annähernd 10000 Kommunisten emigrierten nach 1933 aus Deutschland. Rund die Hälfte von ihnen ging in die Sowjetunion. Die KPD-Führung schätzte die Anzahl der deutschen Exilanten, die 1936 in der UdSSR lebten und als »Politemigranten« anerkannt waren, auf 4600 Personen.[30] Abenteuerlust, Arbeitslosigkeit, Firmendelegationen und Verfolgung spülten noch einmal so viele Deutsche ins Land: Arbeiter, Ingenieure, Techniker, Architekten, Ärzte, Lehrer, Wissenschaftler, Schauspieler, Schriftsteller. Mitte der dreißiger Jahre – so der Historiker Peter Erler, ein Kenner der Thematik – befanden sich rund 8000 Deutsche in Sowjetrussland.[31] Mit und ohne Parteibuch, sympathisierend und unpolitisch, unter falschem Namen, teils auf eigene Initiative Eingereiste, Deutsche mit angenommener russischer Staatsbürgerschaft und KPD-Genossen als Mitglieder der KPdSU. Für viele von ihnen wurde das Vaterland aller Werktätigen zur Falle. Sicher für die meisten der delegierten und geflüchteten Kommunisten. Sie gerieten in die Mühlen der stalinistischen Verfolgung. Von den 68 führenden Funktionären der KPD in der Sowjetunion wurden 41 ermordet. Nur ein Drittel überlebte.[32] Über tausend tote Deutsche, hingerichtet, verstorben in Lagern und verschollen, lassen sich bis heute benennen.[33] Dazu kommen die Überlebenden der Lager, die Verbannten, die Kinder in den Heimen und die an die Gestapo Abgeschobenen. »Der Kommunismus«, so der Nestor der KPD-Forschung Hermann Weber, »ist in der jüngeren Geschichte die einzige Bewegung, die mehr ihrer eigenen Führer, Funktionäre und Mitglieder ermordet hat, als das ihre Feinde taten.«[34] Was die Moskaufahrer erlebten, führte alle Erwartungen, wer ihr Feind war, ad absurdum.

Rund 1400 deutsche Kommunisten, manche mit russischem Pass, kehrten nach dem Krieg aus der Sowjetunion in die DDR zurück. Die Moskau-Überlebenden, denen die Kremlherrscher in den ersten beiden Nachkriegsjahren die Rückkehr erlaubten, formierten sich zum Führungskern in Ostdeutschland. Im Aufbaufuror blieb keine Zeit für Rückblicke auf Terror, Verfolgungen, Denunziation und Angst. Sie schwiegen über Verhaftungen, das Verschwinden der Parteigenossen, Hunderttausender. Kein Wort über die eigenen Verhöre, die Gefängnisjahre und den Verrat, ohne den kaum zu überleben war. Aber die nun aufbauenden Altkommunisten kannten sich aus den Parteizellen von einst. Im fremden Land lebte man vor den Terrorjahren zusammengerückt. Sie wussten voneinander, wussten um die Denunziationen, das Versagen, die Schicksale. Und sie wussten oder ahnten, wer von den einstigen Genossen noch immer in Lager und Verbannung um sein Leben kämpfte. In der Schizophrenie zwischen Wissen und Verdrängen, zwischen dem Sowjetunion-Trauma und der »tiefen Verbundenheit mit dem Führer in Moskau«, zwischen neuer Macht, öffentlicher Lüge und der bitteren Geschichte einer Partei, deren Mitglieder einst von Stalin pauschal als Verräter auszurotten waren, schlossen sie sich ein, suchten Vergessen im atemlosen Aufbau des »besseren Deutschland«. Aber der Schrecken, die Lüge und das Schweigen wurden zum mentalen Fundament des neuen Staates.

Mitte der fünfziger Jahre, nach Konrad Adenauers Heimholung der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus den Lagern, kam man auch in der DDR nicht mehr umhin, den überlebenden Genossen aus Kasachstan, Sibirien oder Workuta die Rückkehr nach Deutschland zu gestatten. Die Rückkehrer beachteten – anders als Hedwig Remmele – das Schweigegebot, das ihnen sofort nach der Ankunft im Zentralkomitee auferlegt wurde. Es war ein vielfältiges Schweigen, aber kein Vergessen. Als sich Monate vor dem Ende der DDR eine SED-Arbeitsgruppe »Opfer des Stalinismus« im Berliner Parteihaus der Geschichte der verfolgten Kommunisten annahm, brach der Anfragestrom vor der Bürotür und am Telefon nicht mehr ab.[35] Alle wollten Klarheit über die Schicksale von Verwandten, Freunden und Parteigrößen haben, endlich die eigene Geschichte erzählen. Die 1100 Kurzbiographien in dem von der Arbeitsgruppe veröffentlichten Band »In den Fängen des NKWD. Deutsche Opfer des stalinistischen Terrors in der UdSSR«, 1991 noch auf bräunlichem DDR-Papier erschienen, markierten das Ende des Ostschweigens.[36] Eine über vier Jahrzehnte verschlossene Staatskrypta hatte sich geöffnet. Das Trauma hinter dem ewigen Vorbild Sowjetunion brach auf. Auf einmal gab es für die endlosen Leidensgeschichten eine Erzählung. Und nach den Berichten und Artikeln erschienen die Leidens- und Familiengeschichten der noch Lebenden und ihrer Kinder. Anfangs noch im Dauerzwiespalt zwischen eigenem Leid und Lagerdenken, dann über die Jahre immer offener.[37]

 

Parteisozialisation Die Zeiten wandelten sich. Stalins Tod und Chruschtschows Tauwetter änderten vieles. Das Fundament blieb. In Geschichtsbüchern und der Forschungslandschaft ordnete sich die Zeit nach Themen und Kapiteln: die KPD in der Weimarer Republik, die Sowjetunion der Säuberungen, Sowjetische Besatzungszone und Deutsche Demokratische Republik. Aber in den Biographien legten sich die Erfahrungen in Zeitringen übereinander. Die Nachkriegsjahre sind die Stalinisierungsjahre der SED. Man schätzt, dass nach Nationalsozialismus und Krieg der Partei nur noch 10000 alte KPD-Mitglieder zur Verfügung standen. Und selbst von denen traten viele nicht mehr bei – oder schnell wieder aus. Die Moskauer Parteigründung passte ihnen nicht. Dafür traten neben den Sozialdemokraten Neumitglieder ein, die nie einer Arbeiterbewegung angehört hatten. Mehrheitlich Mitläufer des untergegangenen NS-Regimes. Diese beiden Gruppen machte man zu Stalinisten. Wer vor 1933 in der KPD gewesen war, war es längst – zumindest in der deutschen Variante, die Sowjetunionrückkehrer sowieso.

Die Kommunistische Partei Deutschlands hatte sich nach dem ersten Weltkrieg aus den kriegsmüden, enttäuschten Sozialdemokraten des linken Parteiflügels formiert. Schnell richteten sie sich an jenen aus, die im flächengrößten Land der Erde gerade geschafft hatten, was vorher trotz ewigem Revolutionsgestus niemand für möglich gehalten hatte: den Umsturz. Die in St. Petersburg, damals Petrograd, die bürgerliche Regierung wegputschenden Bolschewiki riefen alsbald die III., die Kommunistische Internationale aus, einen »Generalstab der Weltrevolution«. Wie der Umsturz selbst wurde auch die Internationale aus dem Krieg geboren. Die Bolschewiki dachten in der Taktik der Stellungskriege, der Material-, Zermürbungs- und Durchhalteschlachten, der eisernen, militärischen Disziplin, ohne die die nahe Weltrevolution anscheinend nicht zu haben war. Wer sich hier anschloss, musste sich unterwerfen, jeden Beschluss anerkennen, sich »rückhaltlos« der Komintern verpflichten. Von Anfang an war die Verbindung zwischen Berlin und der Revolutionsstadt an der Newa eng. Die deutsche Arbeiterbewegung war die größte in Europa, ja weltweit. Gelang hier die Revolution, so gelang sie in Europa und damit in der Welt.

Das Kominternstatut verpflichtete die Kommunisten der Welt zum Aufbau illegaler Strukturen für Aufstände und die Feindausspähung. Aber die Revolution blieb aus. Ab 1924 wurden die letzten sozialdemokratischen Anklänge in der KPD ausgemerzt, Hierarchien installiert, Führung und Parteiapparat – stärker als die Parteibasis – eng an Moskau gebunden, auch materiell. Die leitenden Funktionäre ordneten sich unter, schwärmten vom sowjetischen Vorbild, folgten den KPdSU-Fraktionskämpfen. Nach Moskauer Vorgaben wurde eine »Registratur der leitenden Kader« angelegt. Hauptamtlich arbeiteten im Parteigeflecht 500 bis 1000 Funktionäre, dazu kamen 2500 in parteieigenen Druckereien und Verlagen und rund 4000 in Konsumgenossenschaften und Sowjetinstitutionen.[38] Ab 1927 schleuste man sie nach und nach durch Parteischulen, die Spitzenfunktionäre drillte man auf der Moskauer Lenin-Schule. Statt um Intelligenz und Wissen ging es um Gläubigkeit. Die Intellektuellen flogen in den Flügelkämpfen aus der Partei. Theoretiker wollte man nicht, Diskussionen waren unerwünscht. Noch Ulbricht hatte »Angst vor Intellektuellen«.[39]

Mit der kontrollierten Schulung verschwanden die visionären Revolutionäre endgültig, die Apparatschiks übernahmen. Ein radikales Funktionärskorps, im Kopf die Vorstellung vom leninistischen Berufsrevolutionär, überall einsetzbar, ohne »persönliche Bindungen«, Universalisten und immer auf Linie. Ihre persönlichen Schicksale waren verklammert mit der jeweils herrschenden Generallinie, und sie waren, besoldet in Scheinarbeitsverträgen mit Partei, Komintern, sowjetischer Botschaft und Handelsvertretungen, direkt von der Sowjetregierung finanziert.[40] So wie sie sich selbst unterordneten, forderten sie überall Parteidisziplin, setzten intern die Linie durch. Indem sie in den endlosen Abspaltungen, Flügelkämpfen und Säuberungen überlebten, schlugen über sie die Volten des Kreml unmittelbar auf die KPD-Politik durch.

Von den 252 führenden KPD-Funktionären von 1924 waren fünf Jahre später, 1929, nur noch 95 in Leitungsfunktionen. 105 waren ausgeschlossen oder ausgetreten. Und von 484 KPD-Kandidaten der Reichstagswahlen 1924 nominierte man 1930 nur noch 42, weniger als 10 Prozent.[41]

Schon 1925 hatte Stalin mit dem neununddreißigjährigen Ernst Thälmann einen ihm treu Ergebenen an der Parteispitze installiert. 1928 siegte der Woschd, der Führer, wie sich der Georgier nennen ließ, im innerparteilichen Machtgeschacher. Der Stalinadept Thälmann setzte alles aus dem Kreml ohne jeden Widerspruch durch: Direktiven, Postenbesetzungen, Strategien. Meist hatte das wenig mit deutscher Politik, dafür mit Moskauer Machtkämpfen zu tun. Erfahrung mit deutscher Realität hatte im Kreml kaum einer.[42] Aber Stalin zog über die Komintern die Fäden. Wer sich querstellte, wurde mundtot gemacht und ausgeschlossen. Die Partei, die aus der Tradition der Sozialdemokratie, aus dem Streben nach sozialer Gleichheit und Solidarität und dem Kampf gegen den Weltkrieg kam, war nach Herrman Weber zu einem »strenggläubigen, hyperzentralistisch strukturieren militärischen ›Orden‹« geworden, mit absolut ergebenen Anhängern, denen bewusst war, was mit Ketzern passierte, und die »gegenüber ihren Feinden mutig und einsatzbereit bis zur Selbstaufopferung [waren], und innerhalb ihrer Partei abhängige Befehlsempfänger und gehorsame Untertanen« ohne Zivilcourage.[43]

 

Parteiarmee Diese Kollektivunterwerfung war nur in Lenins diktatorischem Parteikonzept durchzusetzen. Die leninistische Partei war kein Ort der Aushandlung, sondern einzig ein Mittel zur Macht. Die Parteispitze ein Generalstab, dessen Order in Befehlsketten ohne Erklärung und Verzögerung an die Basis durchzustellen waren. Der sogenannte Demokratische Zentralismus kannte keine Demokratie, nur eisernen Gehorsam. Auch in dieser Vorstellung manifestierte sich die Kriegs- und Fronterfahrung, die in starres Freund-Feind-Denken mündete, in Dauermilitanz und die Vorstellung, ein Sieg sei einzig durch Gewalt zu erlangen. Wer den Krieg gewinnen wollte, konnte keine Diskussionen über die Befehle zulassen. Die Partei war ein Maschinenkörper, der durch perfektionierte »scharfe ideologische Kontrolle« zu einem reibungslos arbeitenden Apparat, der »eisernen Kohorte des deutschen Bolschewismus«, werden sollte, so phantasierten Funktionäre wie Ernst Schneller oder Ottomar Geschke schon Anfang der zwanziger Jahre.[44] Der Generalstab als Führung ohne jede Demokratie: Das findet sich auch auf der präfaschistischen Rechten in den Elitetheorien von Vilfredo Pareto oder Robert Michels. Die unumgängliche Führung der Massen durch eine »Auslese«.

Aber vom Kreml bis in die Arbeiterkieze der deutschen Städte war es ein weiter Weg. Die Spannbreite in der Partei war groß: vom Parteisoldaten bis zum eigensinnigen Akteur, von den Schlägern im Parteiselbstschutz bis zu den hochgebildeten Lehrern in der Marxistischen Arbeiterschulung, von den arbeitslosen KJVD-Jugendlichen bis hin zum unermüdlichen Gewerkschaftler. Mancher rebellierte.[45] Aber trotz aller Reibereien galt am Ende die Doktrin aus Moskau.[46] Und das beruhte nicht nur auf dem eingeforderten bedingungslosen Gehorsam, sondern auch einer Selbstabrichtung. Stalinisierung bedeutete stets, die »totale Treue« des Kaders zur immer richtigen »Generallinie« und zum »Führer der deutschen Arbeiterklasse« zu beweisen. Meldungen jeder Abweichung eines Genossen, rückhaltlos, immer und auch auf Verdacht. Denunziation wurde zur internalisierten Normalität jedes guten Genossen. Man schrieb eben Berichte. Der »Militär-Apparat« der KPD führte 5000 Funktionärsdossiers. Gerüchte wurden protokolliert, als Meldungen weitergegeben und gesammelt, Briefe aufgebrochen, Büros und Wohnungen durchsucht. »An die Spitze jeder Abteilung wird ein Leiter gestellt«, so schrieb Hermann Remmele 1932 zur Partei-Reorganisation, »und gleich neben ihm steht ein sogenannter Unterleiter, der in Wirklichkeit ein Überleiter ist. Der Danebengestellte ist der Beobachter, der Bespitzler, der besondere Vertrauensmann Thälmanns.«[47] So beäugten und stalinisierten sich die deutschen Genossen selbst. Moskau befahl die Richtung und spann die Intrigen – und die Genossen richteten sich gegenseitig ab.

Exponenten wie Hermann Remmele, Ernst Thälmann und Heinz Neumann mutierten zu Stalin-Brückenköpfen in der KPD und trieben deren »Bolschewisierung« gnadenlos voran. Am Ende betete man kopflos Parolen nach, die nichts mehr mit deutscher Realität zu tun hatten. Die letzte Diskussion erlosch im Politgehorsam. Mit der Durchsetzung der Sozialfaschismusthese besiegelte das Trio den Untergang der Partei, vielleicht sogar der Republik. Die Sozialdemokratie setzte sich bei allen Fehlern stets für die Weimarer Demokratie ein, für die KPD war diese nur ein verhasstes »System«. Jeder Widerstandszusammenschluss zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten wurde unmöglich gemacht, der Unterschied zwischen Demokratie und Faschismus verwischte, die Gewerkschaften spalteten sich. Der eigentliche Feind der Kommunisten regierte ab 1929 in den sozialdemokratischen Hochburgen.

Die Stalinisierung trieb ab 1928 den letzten Rest Realpolitik aus der Kaderpartei. Statt politischer Erfolge konnte man der Wählerschaft nur noch Utopismus und Politobstruktion präsentieren. Gegenüber der Sozialdemokratie musste man sich als die wahre revolutionäre Arbeitervertretung gerieren und hatte damit bei den Arbeitslosen Erfolg: Die KPD-Stimmen stiegen von 1928 bis 1932 von drei auf sechs Millionen, während sie bei der SPD von neun auf sieben Millionen fielen. Aber mit den beschäftigungslosen Wählern und Genossen rutschte der Umsturz- und Massenpartei das Fundament der Revolution weg. 250000 der 300000 Mitglieder waren stellenlos. Mit einem Generalstreik war so keine Volkswirtschaft lahmzulegen. Was blieb, waren Masseninszenierung, Frontalangriffs-Geschrei und Bürgertums-Aufscheuchungen. Die Revolution als Potemkin’sches Dorf, die Straßenkämpfe als Ersatzaufstand.

Das waren die Zeiten der schnellen Ein- und Austritte. Das Parteibuch war nur in den Biographien führender Kader, die bis in die DDR-Zeit überlebten, eine Entscheidung fürs Leben. 1931 traten 40 Prozent der Mitglieder ein oder aus, 1932 waren es 52 Prozent.[48] Und die Geschwindigkeit der Seitenwechsel war frappant. Jeder fünfte Berliner Kommunist – so die Schätzung – lief während der großen SA-Eintrittswellen Ende 1932, Anfang 1933 ins rechte Lager über.[49] In der Sozialdemokratie gab es viele langjährige Parteimitglieder, in der KPD bildeten sie die Minderheit. In der fluktuierenden Mitgliederschaft kam dem festen Mitgliederkern umso mehr Gewicht zu. Wer sich hier der Partei ganz verschrieb, dem wurde sie zum Lebensraum. Hierher kamen diejenigen, die in Deutschland alles aufgaben, um in die Sowjetunion zu gehen, von der Partei delegiert wurden oder nach 1933 flohen. Das waren keine gewöhnlichen Parteimitglieder, sondern radikale Linke, aktive Kämpfer. Eine kleine Auswahl derer, die sich der Sache mit Haut und Haar verschrieben hatten, der innere Kern der Gläubigen.

 

Generationenlagerung Wer in der DDR als Altkommunist später Macht übernahm, dessen Parteiprägung hatte sich je nach Generation durch unterschiedliche Erfahrung eingeschrieben. Die älteren, vor 1900 Geborenen kannten noch eine ungeteilte Arbeiterbewegung. Sie hatten den linken Flügel in der SPD, die USPD-Abspaltung, die Spartakisten, die Geburt der KPD erlebt. Und sie kannten Fraktionskämpfe, in denen Gruppen die Führung massiv kritisieren konnten, ohne automatisch ausgeschlossen zu werden. Ihre genuine Gewalterfahrung war der Erste Weltkrieg, den Leute wie Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck, Hermann Remmele oder Thälmann an der Front und in den Lazaretten erlebt hatten.

Die um 1910 geborenen Weimarer Jungkommunisten verfolgten den Krieg als Kinder an der Heimatfront. Die Arbeiterbewegung von einst kannten sie nur vom Hörensagen, Trotzki und Trotzkismus nur als Synonym für Verrat und Verräter. Viel zu früh erwachsen, wurden sie schnell katechesische Musterschüler, linientreue Parteisoldaten neuen Typs, die den Avantgardeanspruch der Parteiführung für selbstverständlich hinnahmen. Sie erlebten eine gleichgeschaltete Partei, in der am Ende das Prinzip der Parteidisziplin, des Gehorsams galt.

Ihre Gewalterfahrung war die Straße. Wer in den Arbeiterquartieren nach dem Ersten Weltkrieg aufwuchs, erlebte eine Kindheit im Bürgerkrieg, mit Straßenschlachten zwischen Aufständischen und Freikorpstruppen, öffentlichen Exekutionen und Toten. Diese Parteijugend zog kurz vor dem Ende von Weimar in die Straßenschlachten.[50] In der Literatur zum Thema ist die Rede von der Militarisierung der Republik, vom Beitritt Jugendlicher zu den »männerbündischen Vereinigungen«, von der Straße als Lebensraum und dem Kampf um seine Besetzung. Symbolische Politik schlug um in Mord und Totschlag.

In diesen Aktionskonzeptionen eines Brachialkults zahlte die Jugend den Preis. Ende 1929 rief der Parteiheroe Heinz Neumann der jungen Parteigarde in der Roten Fahne zu: »Schlagt die Nationalfaschisten, Sozialfaschisten und Stahlhelmhorden, wo ihr sie trefft!« – Das blieb griffiges Verhaltenscredo der aufgeputschten Jungmannschaft, auch als den Parteioberen Bedenken kamen und sie die Maxime im Juni 1930 zurückzogen, zumindest offiziell. Bei den Militanten der Straße blieb der Waffenkult, sie übten Schießen, schmissen Bierflaschen mit Karbid in die gegnerischen Lokale und machten ab Sommer 1931 auch nicht vor Polizistenmorden halt. Die Schüsse des jugendlichen Erich Mielke, die zwei sozialdemokratische Polizisten rücklings töteten, waren keine Ausnahme. Carl von Ossietzky sprach vom »Revolverheldentum am Rande der Partei«, Hermann Weber vom KPD-Sammelbecken für »fanatische Revoluzzer, kompromisslose Radikalinskis, korrumpierte Egoisten, rücksichtslose Gewaltmenschen, zynische Karrieristen und brutale Rabauken«.[51]

Gewalt bestimmte die Politik der Straße. Jede Woche gab es Tumulte, vor Wahlen lagen Tote auf den Straßen. In manchen der Gruppen der Jungkommunisten ging es regelmäßig zu Beerdigungen von Kameraden in großen Umzügen auf die Friedhöfe. »Für alles wurden wir eingespannt«, so einer der Jungkommunisten von damals, »und wenn es gefährlich wurde, hieß es: ›Jugend voran!‹ Die Parteibonzen aber tauchten erst wieder bei ihren Brandreden auf dem Friedhof auf. Sie fassten die Beschlüsse, und wir lieferten ihnen die Propagandaleichen.«[52] In der Politik, so die genuine Erfahrung dieser Generation, waren Auseinandersetzungen tödlich. Das setzte sich als Erfahrung in der Illegalität fort, mit den Folterungen in wilden SA-Kellern und den Konzentrationslagern.

Wer in den dreißiger Jahren als deutscher Kommunist in die Sowjetunion ging, kannte stalinistische Methoden, das Prinzip des Gehorsams, Parteiausschlüsse, das ständig befeuerte Euphorium einer revolutionären Scheinblüte, den absoluten Gehorsam und eine Politik auf Leben und Tod. Das alles erfuhr in den sowjetischen Terrorjahren eine Verschärfung. Wer sie überlebte, kehrte mit diesen Erfahrungen und Vorstellungen in die Trümmerwüsten des Nachkriegsdeutschlands zurück.

 

Black Box Sowjetrussland Die ausländischen Kommunisten, die Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre in die Sowjetunion pilgerten oder später flüchteten, wussten nichts von den letzten Jahren und der Situation im Land. Sie glaubten den Erzählungen von der großen Oktoberrevolution, vom heldenhaften Kampf gegen übermächtige Feinde im Bürgerkrieg und von der Befreiung der Bauern in der Kollektivierung. Sie waren überzeugt, dass es nun mit der Großindustrialisierung um den letzten Schritt hin zum Sozialismus ging. Abgeschottet in den Ausländergruppen der Städte und riesigen Industriezentren, ohne die Sprache des Landes zu beherrschen, stießen viele von ihnen jahrelang nicht in die Wirklichkeit vor. Nie waren sie im Land unterwegs gewesen, von Geschichte und Leben der russischen Bevölkerung hatten sie keine Ahnung. Umso fassungsloser standen sie vor dem Terror, in den sie gerieten.

Was in den zehn bis fünfzehn Jahren zuvor im Land geschehen war, war der Vorlauf dessen, was nun kam. Die stalinistische Gewaltherrschaft, die den Mord zum Grundsatz staatlichen Handelns erhob, schöpfte aus der Kultur des Krieges. Sie war ein Bürgerkrieg mit anderen Mitteln.[53]

Der Erste Weltkrieg hatte das Land in völliger Auflösung hinterlassen. Nach drei Jahren blutiger Stellungsschlachten und dem Untergang der Zarenherrschaft zerfiel deren staatliche Ordnung, brach sich jahrzehntelange Wut über Gewalt und Missachtung in Aufständen und Krawallen Bahn. In den städtischen Elendsquartieren und den vergessenen Dörfern entlud sich der Hass auf das eigene Leben. Maxim Gorki sprach von den Bauern, »die sich mit Schnaps betrinken, bis sie zu toben beginnen, und ihre schwangeren Frauen in den Bauch treten, (…) Bauern, die sich bei lebendigem Leibe begraben, die auf offener Straße grausame Lynchjustiz üben und es genießen, wenn ein Mensch totgeprügelt oder im Fluss ertränkt wird«.[54]

Was später zur »Oktoberrevolution« umerzählt wurde, war die Machtergreifung einer kleinen Gruppe, die kaum jemand kannte. Unter den in Zürich während des Weltkriegs gelandeten russischen Sozialisten galten die Handvoll Bolschewiki in der Stadt als merkwürdige Spinner. Lenin erfuhr von der Revolution, der Abdankung des Zaren, aus der Neuen Zürcher Zeitung. Beim Umsturz waren viele der bolschewistischen Berufsrevolutionäre gar nicht in Petrograd.[55] Nicht gegen die verhasste Zarenherrschaft putschten sie wenige Monate später, sondern gegen die, welche die Revolution gemacht hatten, die demokratisch legitimierte Provisorische Regierung aus Liberalen und Sozialisten und die Räte. Sie eroberten die Macht, weil sie die Explosion der Gewalt der Straße in Worte und Aktionen fassten und bereit waren, Gewalt hemmungslos einzusetzen.

Lenin war ein Schreibtischtäter, der keine Arbeiter kannte. Für ihn wie für Bucharin, Sinowjew, Trotzki und andere Parteiintellektuelle waren Gewalt und Terror nichts weiter als Abstraktionen. Aber viele aus dem Zirkel der Berufsbolschewisten kamen aus einer Tradition der Überfälle, Raubzüge und Attentate, sie kamen aus einer Welt, in der körperliche Gewalt Ausdruck männlicher Machtfülle war, gestiefelt und in Lederjacken gehüllt verbreiteten sie eine Aura der Entschlossenheit und Männlichkeit. »Die Bolschewiki waren Zerstörer, und darauf gründete sich ihr Erfolg«, formuliert Jörg Baberowski als Essenz seiner Stalinismusstudien.[56]

Der Machtergreifung folgten die Bürgerkriegsjahre. »Um unsere Feinde zu überwinden«, so Grigori Sinowjew, Parteichef von Petrograd und im innersten Führungskreis, »brauchen wir unseren eigenen sozialistischen Militarismus. Von der einhundert Millionen zählenden Bevölkerung Sowjetrusslands müssen wir 90 Millionen mit uns nehmen. Was den Rest angeht, so haben wir ihm nichts zu sagen. Er muss vernichtet werden.«[57] Der Rest, das waren für die Bolschewiki »Ungeziefer«, »Abfall«, »Insekten« und »Wanzen«, von denen die russische Erde zu reinigen war. Angehörige der zaristischen Elite seien mit gelben Zeichen zu markieren, so ihre Forderung, und als Auswurf der Gesellschaft zu kennzeichnen.[58] Die Schriftstellerin Sinaida Gippius, die die Februarrevolution herbeigesehnt hatte, erlebte die ersten Monate der bolschewistischen Herrschaft als unaufhörlichen Albtraum: »Wir leben schon so lange im Strom der offiziellen Worte ›erdrücken‹, ›ersticken‹, ›vernichten‹, ›zermalmen‹, ›ausrotten‹, ›im Blut ertränken‹, ›ins Grab bringen‹.«[59] Und die Bolschewiki setzten um, was sie sagten.

Sie sahen sich als Partei auserwählter Glaubenskrieger. Es galt, Heilsgeschichte zu erfüllen. Sie handelten in der Anmaßung ihrer Unfehlbarkeit. Im Überlebenskampf des Bürgerkriegs gingen sie ans Werk, ihre Vision einer neuen Gesellschaft umzusetzen. Sie bildeten eine Spezialkommission zur Bekämpfung der Opposition, die sich offiziell »Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage«, die Tscheka, nannte. Deren Zeitung hieß Roter Terror, Krasnyj terror. Im November 1918, vier Monate nach der Gründung der ersten Gefangenenlager, »Konzentrationslager« genannt, schrieb ein Stellvertreter des Tscheka-Chefs Felix Dserschinski im Blatt: »Wir führen nicht Krieg gegen Einzelne. Wir vernichten die Bourgeoisie als Klasse. Man suche nicht nach Beweisen für Taten, sondern frage: ›Zu welcher Klasse gehört er? Was ist seine Herkunft?‹ (…) Und es sind diese Fragen, die das Schicksal des Beschuldigten bestimmen sollten. Darin liegen die Bedeutung und das Wesen des roten Terrors.«[60]

Der Terror galt aber nicht nur Adligen, Bürgerlichen und Popen, die man verhaften und erschießen ließ, sondern auch streikenden Arbeitern, renitenten Bauern, kritischen Sozialisten. Selbst dem sozialrevolutionären Volkskommissar für Justiz, Isaak Steinberg, ging die »soziale Ausrottung«, die er Lenin sarkastisch vorwarf, bald zu weit. Der aber strahlte: »Gut ausgedrückt, genau das sollte es sein, aber das können wir nicht sagen.«[61]

Im Bewegungskrieg ohne Fronten ging es darum, mit rücksichtslosem Terror die Bevölkerung daran zu hindern, die gegnerische Seite zu unterstützen. Bis zum Sommer 1918 herrschte in den Städten, in denen die Bolschewiki die Macht übernommen hatten, die Lynchjustiz des Mobs. Überall verhaftete die Tscheka. Die Revolutionstribunale urteilten Tausende von Arbeitern ab, man erschoss sie. Die Konzentrationslager füllten sich. Auch mit Sozialrevolutionären, Narodniki, Menschewisten, Anarchisten. Im Dezember 1919 schob die USA250 politische Gefangene aus ihren Gefängnissen in die Sowjetunion ab. Darunter Alexander Berkman mit Emma Goldman. Ihre Ankunft in der Russischen Revolution, so der Anarchist Berkman, sei der schönste Tag seines Lebens gewesen. Die Enttäuschung folgte schnell. »Ich weiß«, so Goldmann bald, »dass jeder große politische und soziale Wandel in der Vergangenheit Gewalt bedingte. (…) Es ist jedoch eine Sache, Gewalt im Kampf als Mittel zur Verteidigung anzuwenden. Es ist eine ganz andere Sache, den Terrorismus zum Prinzip zu erheben, ihn zu institutionalisieren, ihm den obersten Rang im sozialen Kampf zuzuweisen.«[62] Unter einem Vorwand verließen beide nach der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands im Sommer 1921 das Land.

Die »russische Tragödie«, so überschrieb Berkman 1923 sein Fazit, »Bankrott des russischen Staats-Kommunismus« titelte Rudolf Rocker, maßgeblicher Initiator der anarchistischen Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD), des Organisationsfeldes der deutschen Anarchisten, schon zwei Jahre zuvor.[63] Während Rosa Luxemburg kurz vor ihrem Tod nur das Vorgehen Lenins und Trotzkis kritisierte,[64] war für die libertäre Fraktion der Arbeiterbewegung längst klar, dass die Revolution in Russland unter den Bolschewiki gescheitert war.[65]

Ohne die Gewalterfahrung des Bürgerkriegs hätte es den Stalinismus nie gegeben, so Jörg Baberowski, er war ein Gewaltraum als »Stalinismus vor dem Stalinismus«, die Einführung des staatlich organisierten Massenmords als Möglichkeit der Politik.[66] Der Bürgerkrieg dauerte länger als der Erste Weltkrieg und kostete acht bis zehn Millionen Menschen das Leben, vor allem Zivilisten. Ebenso viele Soldaten waren auf allen Seiten zusammen im Ersten Weltkriegs gefallen. Die Schlachten im Anschluss an die Machtergreifung hinterließen sieben Millionen Waisen, Hundertausende starben an Typhus und Hunger. Moskau büßte vierzig Prozent seiner Bevölkerung ein. Die meisten Städte waren Schatten ihrer selbst. Manchmal erinnerten nur noch Ruinen daran, dass es einmal Städte gegeben hatte.

Mit dem Ende des Bürgerkriegs 1921 hatten die Bolschewiki ihre Macht gefestigt. Aber ihrer Herrschaft konnten sie nicht sicher sein. Alles lag in Trümmern, die Wirtschaftsleistung war auf ein Achtel des Vorkriegsstandes gefallen. Um das Land und die Wirtschaft vor dem Totalzerfall zu schützen, machte Lenin »taktische Zugeständnisse«, gewährte Landwirtschaft, Handel und Industrie mehr Autonomie, ließ in der NEP, der Neuen Ökonomischen Politik, wieder lokale Märkte zu.

1924 starb Lenin. In den Nachfolgekämpfen verdrängte Stalin Trotzki. Der Kriegskommissar, ohne den die Bolschewiki untergegangen wären, wurde 1924 aus der KPdSU ausgeschlossen, 1929 musste er das Land verlassen. Die NEP hatte die Wirtschaftskraft auf das Vorkriegsniveau ansteigen lassen. Der Hunger war vorbei, der Schachzug zur Machtsicherung erfolgreich.

Stalin setzte da an, wo die Partei 1921 hatte kapitulieren müssen: bei der Eroberung der Macht in den Dörfern. Es war die Fortsetzung des Bürgerkriegs gegen das eigene Volk. Rasend schnell zwangen die Kommissare Millionen von Bauern, ihre kleinen Parzellen aufzugeben und den Kollektivwirtschaften beizutreten. Viele Bauern versteckten ihr Vieh und ihr Saatgut, verteidigten ihr Hab und Gut, zündeten Parteisitze an, erschlugen die Politoffiziere. Der Moskauer Machtzirkel antwortete mit einem blutigen Feldzug. Als Hauptfeinde machten sie die reicheren Bauern aus, die Kulaken. Wer ein Kulak war, blieb schwammig. Oft reichte eine zusätzliche Kuh oder ein Schaf. Im Dezember 1930 befahl Stalin, die Kulaken als Klasse zu »liquidieren«. Mit Gewalt sollte das alte Russland beendet werden. Die Bauern sollten »verrecken«, »aus dem Gedächtnis der menschlichen Seele« verschwinden, schrieb Gorki in einem seiner autobiographischen Romane.[67]

Und wieder gab es Gewaltexzesse: In sechs Wochen wurden 25000 widerständige ukrainische Bauern von der GPU, der umbenannten Tscheka, verhaftet, 600 sofort erschossen, 4000 in Konzentrationslager verschleppt, 5500 nach Sibirien verbannt. Am Ende des Feldzugs waren zwei Millionen Bauern in dünnbesiedelte Gebiete nach Sibirien und Kasachstan deportiert, wo sie den Rest ihres Lebens als Zwangsumsiedler bleiben mussten. Fast 300000 von ihnen starben, verhungerten, erfroren, erlagen dem Typhus. 30000 als Kulaken taxierte Bauern wurden von Schnellgerichten zum Tode verurteilt und erschossen. Wieder herrschten Chaos und Anarchie, brach die Landwirtschaft zusammen, eine Hungersnot apokalyptischen Ausmaßes ergriff Teile des Landes. Ihr fielen 1932/1933 fünf bis sieben Millionen Menschen zum Opfer. Kollektivierung und Entkulakisierung waren eine menschliche und ökonomische Katastrophe. Sie führte die Bauern zurück in die Leibeigenschaft, aus der sie der Zar befreit hatte.[68]

Die Kollektivierung wurde zur Geburtsstunde des Gulags. Lager gab es schon seit 1918. Aber seit 1929 wurde das Lagersystem als Teil der ausgerufenen Industrialisierung ausgebaut. Aus »Umerziehungslagern« wurden gigantische Wirtschaftsunternehmen. Häftlinge bauten Staudämme, Kanäle, erschlossen Bodenschätze in den unwirtlichsten Regionen. Aus Bauern wurden Sklaven, jederzeit und überall einsetzbar.[69] »Eine Art Krieg hat in der Sowjetunion geherrscht«, so der Schweizer Graphiker Ernst Derendinger, der seit 1910 in der Sowjetunion lebte, die Entwicklung der Sowjetunion aus nächster Nähe erlebte und 1938 vertrieben wurde, »in dem die einen sich für die anderen zu opfern hatten (…). Für die bolschewistischen Regenten existierte das Volk jetzt nur noch zur Erreichung ihrer Pläne, und es hatte nur dafür zu arbeiten, zu gehorchen und im übrigen das Maul zu halten.«[70]

Mitleidlos setzte man bei jedem Problem auf eliminatorische Programme. Vor dem Kollektivierungsterror hatten sich viele vom Land in die Städte gerettet. In den Straßen, auf den Bahnhöfen, in Parks sah man Bettler, Waisenkinder, Landstreicher, Zigeuner, Bauern ohne Wohnerlaubnis. Zwei Millionen der »Parasiten« aus den Städten schob man ab in unwirtliche Gegenden. In Moskau wurden 300000 Menschen als »sozial fremde Elemente« aus der Stadt gewiesen, ohne Pass, Lebensmittelkarten, nur mit der Kleidung, die sie am Leib trugen.[71]

Erwin Jöris – von einem, der sich ein Bild machte

Swerdlowsk 1938 Erwin Jöris, ein Berliner Jungkommunist, Jahrgang 1912, war 1934 nach Moskau delegiert worden. Er sollte für die Illegalität in Deutschland geschult werden. Nach vier Jahren in der Sowjetunion stand er vor der Entscheidung, zu bleiben und verhaftet zu werden oder nach Deutschland zurückzukehren und nach einem Hochverratsprozess erneut ins KZ zu kommen. »Ich bin dran«, beschreibt Jöris seine Gedanken von damals in einem Interview.[72] »Überall verspielt. Hier Sibirien und dort Dachau.« Die Zuständigen in der Jugendinternationale verlangten 1938, dass er einen Antrag auf die russische Staatsbürgerschaft stellen sollte. Aber Jöris weigerte sich. »Als deutschen Reichsbürger konnten sie mich nicht einfach verschwinden lassen. Sie müssten mir den Prozess machen, die deutsche Botschaft in Moskau informieren und mich abschieben.« Der ehemalige Berliner Unterbezirksleiter Ost des Kommunistischen Jugendverbandes hatte in so mancher Straßenschlacht der untergehenden Republik gestanden. Auf drei seiner jugendlichen Kampfgefährten hatte er die Beerdigungsrede gehalten. Mit Hitlers Machtübernahme war er in die Illegalität abgetaucht, hatte Flugblätter gedruckt und verteilt und keine zwei Nächte im selben Bett geschlafen. Im März 1933 wurde er verhaftet und kam ins KZ Sonnenburg. Nach einem halben Jahr wurden die Schutzhäftlinge entlassen. Die Nazis gingen davon aus, dass sie ihre Lektion gelernt hätten. Aber Erwin Jöris machte den elterlichen Kohlehandel in Berlin-Lichtenberg zum Ausgabeort von Flugblättern. Kurz bevor die Gestapo die Verteilstelle entdeckte, beorderte ihn die Partei in die Sowjetunion. Mit falschen Papieren gelangte er im Winter 1933/34 über Prag nach Moskau. Zuerst wurde er in ein Gemeinschaftszimmer im Hinterhof des Lux einquartiert. Sein Sowjetunion-Bild war bestimmt von der Lektüre der Broschüre Hermann Remmeles, den Bildern aus der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung und russischen Filmen. Remmele und seiner Frau, aber auch anderen hohen Parteifunktionären begegnete er in der Eingangshalle des Lux. In der Kantine der Komintern entdeckte er viele bekannte kommunistische Funktionäre aus aller Welt. Aber die Ankunft wurde zur Enttäuschung. Man fragte ihn, wieso er aus dem KZ entlassen worden sei und unterschrieben habe, sich nicht mehr politisch zu betätigen. Das, so Jöris, hätten alle KZ-Entlassenen getan. »Das ist Kapitulation vor dem Faschismus«, meinte der Befrager. Jöris fragte sich: War das eine Provokation? »Kapituliert haben doch nicht wir im KZ, sondern all die Überläufer!« – »Doch: Die Unterschrift ist Verrat!«

Man verbot Jöris, sich frei in der Stadt zu bewegen. Für alles brauchte er einen Ausweis. Die Arbeit in der Jugendinternationale war eintönig. Der Ton war harsch, die Rügen kamen schnell. In der Kaderschmiede der Jugendinternationale, angegliedert bei der Internationalen Lenin-Schule, hieß es immer: »Das hast du falsch gesagt, und das musst du so sehen.« Unterrichtsstoff waren Konspirationsregeln, Vortragstechnik, Wandzeitungen kleben. Es fiel Jöris schwer, den Alltag zu verstehen. »Einmal fragte ich einen im Lux: ›Was steht denn da für ein Partisan mit dem aufgepflanzten Seitengewehr an der Ecke?‹ – ›Na, der bewacht den Brotladen.‹ Da verstand ich die Welt nicht mehr. Im Vaterland der Werktätigen einen Brotladen bewachen? Arbeitslos ja – aber kein Brot? Bevor wir in Berlin auf die KPD-Hungerdemonstrationen gegangen waren, hatten wir noch ’ne Bockwurst mit Kartoffelsalat gegessen.« Vier Wochen blieb er. Das Schweigen der Genossen in den Gruppenschlafräumen missfiel ihm immer mehr. »Nur Wilhelm Pieck fragte mich mal, ob ich mich eingelebt habe. Manche grüßten nicht einmal.« Der Umgang in der Komintern missfiel ihm. »Den Ton, so etwas habe ich später nur in der deutschen Wehrmacht erlebt.« Überall gab es Kontrollen. »Als ich mich an einem der ersten Tage im Telegraphenamt aufwärmte, wurde ich abends gleich zur Rede gestellt: ›Auslandskontakt?‹ Überall wurde man beobachtet.«

Dann wurde er nach Swerdlowsk hinter den Ural delegiert, ins Uralmasch. Das war zu dem Zeitpunkt das größte Stahlwerk der Welt. Das »Uralski Zavod Technologo Maschinostroenie«, das »Werk aller Werke«, so nannte es der Schriftsteller Maxim Gorki, die Wiege der sowjetischen Maschinenindustrie. Es war 1932 eröffnet worden, ein Industriegigant der Schwerindustrie, eine Art »sowjetisches Krupp«, dessen Werksgebäude vom deutschen Bauhausarchitekten Béla Scheffler, einem Schüler von Hannes Meyer, gebaut wurden. 30000 Metallarbeiter standen hier rund um die Uhr in den Werkhallen und produzierten jährlich 100000 Tonnen Maschinenbauprodukte.

Im Lauf der nächsten Jahre traf Jöris hier auf sieben deutsche Jungkommunisten, junge Kerle, die alle von der Kommunistischen Jugendinternationale als Kaderreserve ins Uralmasch geschickt worden waren. Die meisten waren für die Lenin-Schule vorgesehen gewesen, um danach in die Illegalität zurückzugehen. Manche von ihnen blieben für die nächsten Jahre auf dem Warteposten zur Einschleusung ins faschistische Deutschland. Sie bildeten den Parteikern innerhalb der aus den unterschiedlichsten Regionen Deutschlands zusammengeströmten und politisch so heterogenen deutschen Gemeinde. Zu den Aufgaben der Jungkommunisten gehörten die Betreuung des Ausländerclubs und die ideologische Schulung der Ausländer. Dazu arbeiteten sie mit dem Parteisekretär des Werks Leopold Averbach zusammen, standen in enger Verbindung mit Moskau, entfesselten Kampagnen. Sie schrieben Berichte und sorgten dafür, dass Leute abreisen mussten. Sie kamen aus Leipzig, Karlsruhe, Plauen, Erfurt, Wien, Rostock, Berlin, waren knapp über zwanzig und kannten sich nur über ihre Decknamen. In einem anderen Leben hießen sie Bruno Dubber, Gerhard Holzer, Helmut Thiemann, Heinz Alfred Vogt, Artur Hofman, Helmut Rückert und Kurt Schneidewind. Der zweiundzwanzigjährige Orthopädieschuster Schneidewind aus Erfurt war schon vor 1933 in die Sowjetunion delegiert worden. In einem Komsomolzen-Lehrgang an der Lenin-Schule in Moskau war er ideologisch gründlich geeicht worden.[73] Eine chronische Bronchitis rettete ihn vor der Rückführung. Nun organisierte er die Schulung der Deutschen. Für die zuständigen Jungkader in Moskau galt er als die Zentralfigur vor Ort. Schneidewind beaufsichtigte, kontrollierte, schrieb Berichte, rügte, drängte zu Stellungnahmen. »Er war selbstherrlich und duldete keine andere Meinung. Überall trat er als ewiger Besserwisser auf.« Ein frühes Retortenprodukt der »totalitären Führerschulen«, wie Hannah Arendt die Kominternschmieden nannte.