Der Osten und das Unbewusste - Andreas Petersen - E-Book

Der Osten und das Unbewusste E-Book

Andreas Petersen

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Beschreibung

Pawlow statt Freud oder wie der Osten die Psychoanalyse verbannte Andreas Petersen folgt den Spuren der Tiefenpsychologie im Osten, die in der Sowjetunion der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts gänzlich verbannt wurde. Dies blieb für das gesamte Osteuropa bis 1989 bestimmend – mit Folgen bis in die Gegenwart. Ausgehend von Freuds Entdeckung des Unbewussten vollzog sich in den USA und dann in Westeuropa im 20. Jahrhundert ein »psychological turn«, der in einer Neupositionierung von Individuum und Gesellschaft mündete. Selbstverwirklichung und Glücksversprechen durch Individualisierung wurden zum prägenden Gesellschaftsmodell für die Nachkriegsgesellschaften. Und der Osten? Nach einem anfänglich starken Interesse an Tiefenpsychologie und Analyse wurden unter Stalin alle individualpsychologischen Ansätze verbannt und durch die rein biologistische Theorie von Ivan Pawlow ersetzt. Andreas Petersen zeichnet diese weniger bekannte, doch gesellschaftlich eminent folgenreiche Entwicklung plastisch nach, auch anhand charakteristischer Biographien von Analytikern, Klinikärzten und Psychologen, die harten Kämpfen und Verfolgungen ausgesetzt waren. Die zunehmende Entfremdung zwischen Ost und West hat ihre Wurzeln auch in der unterschiedlichen psychohistorischen Prägung.

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Seitenzahl: 405

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Dies ist der Umschlag des Buches »Der Osten und das Unbewusste« von Andreas Petersen

ANDREAS PETERSEN

Der Osten und das Unbewusste

Wie Freud im Kollektiv verschwand

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © Pictorial Press Ltd / Alamy Stock Photo

Das Titelbild zeigt den Physiologen Iwan Pawlow bei der Vorführung seiner Hundeexperimente, Moskau 1925.

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98720-1

E-Book ISBN 978-3-608-12151-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

1 Budapest-Wien-

USA

: Vom Nukleus einer neuen Anthropologie

Wiener Allianzen

Gemeinschaftsgefühl überall

2 Moskau: Die Schaffung des Neuen Sowjetmenschen

Strukturaufbau

Allmachtsphantasien

Kinderheim-Laboratorium

Der Untergang

Der Große Terror

Iwan Pawlow – Leben ohne Emotion

BRD

: Die durchtherapeutisierte Gesellschaft

Demokratieaufbau

Krankenkassenumschlag

Vom Gang nach Innen

4 Osteuropa: Sowjetischer Nachvollzug

Osteuropäische Parallelitäten

Tschechoslowakei – Kindswohl

Bulgarien – vom Luxus der Selbstbeobachtung

Rumänien – Verbot ohne Verbot

Polen, Baltikum, Ukraine, Belarus – doppelte Auslöschung

Jugoslawien – Selbstbestimmung und Terror

Ende der Sowjetunion – von einer Zeit vor Freud

Anhang

Dank

Anmerkungen

1 Budapest-Wien-USA: Vom Nukleus einer neuen Anthropologie

2 Moskau: Die Schaffung des Neuen Sowjetmenschen

3 BRD: Die durchtherapeutisierte Gesellschaft

4 Osteuropa: Sowjetischer Nachvollzug

Ausgewählte Literatur

Bildnachweis

Register

Für Valentine Adler-Sas und Hanna Fenichel-Pitkin

Prolog

Freud(1) verwandelte die Seele in das Unbewusste, das erforschbar sein sollte und der Ausgangspunkt der Tiefenpsychologie wurde. Ihre Erkenntnisse vermochte Gesellschaften zu verändern. Oft genug waren es Hoffnungsprojekte, manchmal hatte sie etwas Durchschlagendes. In den westlichen Gesellschaften führte das auf dem Höhepunkt zu einem »psychological turn«, der gut erforscht und dokumentiert ist. In den Staatsideologien der kommunistischen Gesellschaften des Ostblocks subsumierte man das Unbewusste unter der Kategorie »Idealismus« und ließ Freud sukzessive im Kollektiv verschwinden. Doch das Interesse an der Psyche brach sich trotz aller Staatsideologie immer wieder Bahn, wobei Osteuropa darin keine einheitliche Topografie hat. Es gab unterschiedliche Ausgangspunkte, Repressionsphasen, Öffnungen, Voraussetzungen und Einflüsse. Die Beschäftigung mit diesem außerordentlich disparaten Feld läuft soeben erst an.

Das Buch versucht, diese varianten Entwicklungen in Russland und Osteuropa gleich einem Kaleidoskop in den Blick zu nehmen. Exemplarisch wird skizziert, wie psychologisches Wissen Gesellschaften prägen konnte und was es bedeutete, wenn der Umgang unter die Kuratel einer Ideologie fiel und damit gesellschaftliche Dynamiken verhindert wurden.

Das ergibt ausdrücklich keine Geschichte der Tiefenpsychologie, der Schulen oder einzelner Entwicklungen. Im Zentrum des Buches steht die Frage, wieviel Wissen um die Psyche und das Unbewusste vorhanden war und welche Historie diese Frage von Freuds(2) Mittwochsgesellschaft in Wien bis zum Fall des Eisernen Vorhangs in Osteuropa genommen hat.

Ausgangspunkt ist somit die facettenreiche Rezeption der Tiefenpsychologie in Ost und West bis zu den Revolutionen 1989. Sie spiegelt sich insbesondere in den Biografien der oft jüdischen Analytikerinnen und Analytiker. Welchen Stellenwert die Tiefenpsychologie haben konnte, hat in direkter Weise mit den beiden Namen »Hitler« und »Stalin«(1) zu tun. Sie sind die Schatten, die das europäische Kaleidos-kop der Psyche zerrissen haben. Individualisierung und die Beschäftigung mit sich selbst verbanden sich im Westen mit der Möglichkeit verschiedener Lebensentwürfe. In Osteuropa erschienen Wahlmöglichkeiten als Luxusoption. In einem von oben verwalteten Leben stellten sich die Fragen nach Erfüllung und Lebensglück auf kategorische Weise anders. So erlebten die durchtherapeutisierten Westgesellschaften der Nachkriegszeit einen Psychoboom sondergleichen. Im Osten dagegen mussten Psychologen, Psychiater und Intellektuelle oft mit bewundernswerter Beharrlichkeit und Mut versuchen, tiefenpsychologische Traditionsbrücken gegen allen staatlichen Druck zu verteidigen und den Raum für Psychisches offen zu halten.

Individualisierung und Fokussierung auf Innerlichkeit sowie die Psychologisierung der Gesellschaft sind, wie die Krisen der westlichen Welt zeigen, kein Garant für gesellschaftlichen Fortschritt. Der einst befreiende Impetus tiefenpsychologischer Ansätze ist zu einem Instrument der Selbstoptimierung in der Leistungsgesellschaft geworden. Individualisierung wurde dabei oft genug gegen das Gemeinwohl in Stellung gebracht. Tiefenpsychologische Ansätze sind in der akademischen Welt kaum mehr präsent. Ihre Vertreter meiden eher die offenen Diskursräume. Offensichtlich ist jedoch, dass eine jahrzehntelange gegensätzliche Entwicklung auf einem Feld, das einst mit einer »kopernikanischen Wende« verglichen wurde, gravierende gesellschaftliche Auswirkungen nach sich gezogen hat. Dieses sehr unterschiedliche Erbe hat enorme Sprengkraft. Umso nötiger scheint es, mehr davon zu wissen. 

»Und man darf es auch als das Jahrhundert der Psychologie bezeichnen, deren Triumphe sich vielleicht auch als Niederlagen erweisen könnten …« Manès Sperber(1).[1]

»Der Freudismus ist nicht nur in seiner allgemein gebräuchlichen vulgarisierten Form, sondern auch in seinen Quellen und bei seinen erstrangigen Vertretern ein Bazillusherd sämtlicher bürgerlicher Irrglauben, ein potentieller Nährboden des Faschismus, Träger und Verbreiter des philosophischen Idealismus, der dem Irrationalismus des zerfallenen Kapitalismus den Anschein der wissenschaftlichen Fundierung verleihen will.« György Pálóczi Horváth(1).[2]

1 Budapest-Wien-USA: Vom Nukleus einer neuen Anthropologie

Lilly Hajdu(1) – der weibliche Weg der Budapester Schule

Budapest 1945 – Das Leben nahm wieder Fahrt auf. Die Millionenstadt an der Donau lag in Trümmern. Vier Monate Belagerung und Beschuss durch die Rote Armee, es herrschte Hunger. Rotarmisten patrouillierten durch die Straßen, und die ungarischen Nazis, die Pfeilkreuzler, waren über Nacht verschwunden. Lilly Hajdu(2), die Grande Dame der ungarischen Psychoanalyse, hatte überlebt. Nun zählte der Neuanfang. Den wollten auch die Kommunisten. Und sie wollten ihn mit der Psychoanalyse.

Die psychoanalytische Gesellschaft vor dem Krieg war im Grunde eine kleine Gemeinschaft gewesen, aber sie war anerkannt. Um diese Reputation wussten die Genossen, warben um die Psychoanalytiker des Landes und wollten sie als Parteimitglieder. Lilly Hajdu(3) war keine Sozialistin, aber die Kommunisten hatten ihr Leben und das ihrer Kinder vor den Nazis gerettet. Aus diesem Grund trat sie in die Partei ein und wurde gleich darauf vom neuen Justizministerium zur Beraterin der Landeskrankenkasse ernannt. Seelische Gesundheit galt als soziales Problem. Ein riesiges Feld, vieles schien möglich.[3]

Auch andere Analytiker traten in die zahlenmäßig kleine Kommunistische Partei ein. Sie war in der Bevölkerung nicht beliebt, aber mit der Besatzungsmacht im Rücken bestimmten sie den Lauf der Dinge. Und die neuen Parteimitglieder aus der Psycho-Crew nutzten ihre Chance. Überall warben sie in Vorträgen für die Psychoanalyse: im Rundfunk, vor Lehrern und Sozialarbeitern, in der Ärzte-Gewerkschaft, vor Studierenden. Es herrschte Papiermangel, aber in den neuen Ministerien wurde entschieden: Freuds(3) Bücher werden übersetzt und gedruckt.[4] An der Budapester Universität wurde eine Psychoanalyse-Professur eingerichtet. Die Psychoanalytische Gesellschaft fand nach einer wechselvollen Geschichte mit einer frühen Blütezeit, Verboten und Verfolgungen wieder zu neuem Leben. Die Mitglieder wählten Lilly Hajdu(4) und einen ihrer Kollegen zum Präsidentenduo. Hajdu übernahm wieder Ausbildungskandidaten, hielt Kurse und empfing Patienten in ihrer Wohnung. Manche hatten sogar etwas Geld, sodass sie auf dem Schwarzmarkt ein paar Dinge zum Überleben erstehen konnte.[5] Ein Viertel ihrer Analytikerkollegen war ermordet worden, ein Viertel geflohen. Nach den Jahren des Schreckens schien das alles unwirklich. Und es war wie ein Déjà-vu. In den Monaten nach dem Ersten Weltkrieg hatte der Führer der ungarischen Räterevolutionäre, der Kommunist Béla Kun(1), mit seinen Leuten die Psychoanalyse in sein Revolutionsprogramm aufgenommen. Das Experiment scheiterte nach drei Monaten. Doch nun gab es eine neue Zeit, und niemand schien die neuen Herren mehr vertreiben zu können.

Als Lilly Hajdu(5) 1891 in einem kleinen Städtchen in Ungarn geboren wurde, gab es noch den Kaiser in Wien. Sie wuchs in einem liberalen jüdischen Elternhaus auf, ihrem Vater war Bildung heilig. Er war stolz, als seine beiden Töchter in Budapest zu den ersten Frauen gehörten, die sich für das Medizinstudium einschrieben. Und die beiden genossen die Freiheit der Großstadt. Ihre ältere Schwester verliebte sich sofort in einen Kommilitonen, der zusammen mit anderen Medizinstudenten 1908 den »Galilei«-Kreis gegründet hatte. Der Zusammenschluss wurde zum Zentrum ihres Lebens. Tagsüber gingen die Schwestern in die Uni, abends traf man sich zu Vorträgen, Diskussionen, bei privaten Einladungen. Sie wollten raus aus der chauvinistischen, religiösen Welt der k. u. k. Monarchie, hinein in das, was man später »die Moderne« nennen würde. Dabei die zukünftige Elite des Landes, von den Wirtschaftswissenschaften bis in die hohe Politik.

Der zwei Jahre ältere Sekretär des »Galilei«-Kreises, Miklós Gimes(1), war fasziniert von der 21-jährigen Lilly Hajdu(6). Die hochgewachsene junge Frau war zielstrebig, selbstbewusst, wurde von vielen bewundert und heiß umworben. Die beiden wurden ein Paar. Auch Miklós Gimes war, wie viele im Kreis, aus jüdischem Elternhaus. Beide studierten sie Medizin, es war ihre Welt: die Hörsäle, die Lehrbücher, die Marotten der Professoren. Auch das, was man neuerdings aus Wien hörte, das Ding mit der Psyche. Es ging schon da viel um Sigmund Freud(4). Lilly Hajdu las seine Schriften auf Deutsch. Auch in Budapest gab es eine Vereinigung seiner Anhänger. Ihren wichtigsten Vertreter, den Psychiater Sándor Ferenczi(1), luden sie in ihren Kreis ein. Ein sympathischer Mann, wie sie fand. Aus demselben Städtchen wie sie. Sie mochte das alles, die Leute, die Vorträge, die Themen. Und sie hatte von Anfang an ihre Fragen: Was ist Erfolg, was Treue, was Anziehung, was Unterwerfung? Und die Rolle der Frau? Tatsächlich nur Mutter sein?[6]

1914 brach der Krieg aus. Miklós Gimes(2) wurde in die österreichisch-ungarische Armee eingezogen. In ihren Briefen zwischen Front und Heimat führte das Paar seine Gespräche intensiv weiter. Sie sei, so schrieb sie, mehr männlich-analytisch, und eine Art zukünftiger Typus, eine »Morgenfrau«, eine der zukünftigen Tage. Bezüglich ihrer Facharztausbildung entschied sich Lilly Hajdu(7) für Psychiatrie, während Miklós Gimes(3) Kinderarzt werden wollte. Sie heirateten während des Krieges, 1917 kam ihr Sohn Miklós(1) zur Welt, 1920 ihre Tochter Judith, genannt »Juca(1)«.

Während die Habsburger Monarchie zerfiel, ging ein fünfzigjähriges Reich unter, gefühlt war es ein halbes Jahrtausend alt. Etwas völlig Neues kam. Der 32-jährige Kommunistenführer Béla Kun(2) rief die Räterepublik aus. 57 »Galileer«, fast alles Ärzte, boten sich dem Revolutionskomitee an: als Kinderärzte, Leiter psychiatrischer Kliniken, Fachärzte für Infektionskrankheiten, Organisatoren der Universitätsreform. Auch das junge Medizinerpaar Gimes wollte beim Neuen dabei sein. In einem provisorischen Amt war Lilly Hajdu(8) über Nacht zuständig für TBC, Pocken und Alkoholismus.[7] Ferenczi(2) machte man zum Leiter einer neu eingerichteten psychoanalytischen Klinik und zum Lehrstuhlinhaber für Psychoanalyse. Eine solche Professur gab es noch nirgendwo auf der Welt. Nur Jahre zuvor hatte die Fakultät seine psychoanalytische Habilitationsschrift als »Pornographie und Traumdeuterei« abgelehnt. Aber nun war alles anders. Auch andere Analytiker bekamen führende Stellen in der Räterepublik. Man setzte auf ihr Wissen, hoffte auf ihre Expertise bei der Betreuung der vielen traumatisierten Frontsoldaten.[8]

Dass mit der Räterepublik ein Staat die Psychoanalyse förderte, war tatsächlich ein Novum. Frühkindliches Triebleben für die Revolution, das hatte es in Wien vor dem Krieg nicht gegeben. Freud(5) überlegte, mit seiner Bewegung nach Budapest umzuziehen. Aber schon drei Monate später hatten sich alle Hoffnungen der jungen Republik zerschlagen. Nationalistische Truppen eroberten die Hauptstadt. Die Räterevolutionäre flohen, und mit ihnen viele Freudanhänger. Ferenczi(3) blieb, aber er verlor seine Professur und wurde aus der Ärztevereinigung ausgeschlossen. Manche der flüchtenden Analytiker gingen nach Berlin, wo sie zum Grundbestand der sich dort gründenden Psychoanalytischen Vereinigung wurden, die sich zum neuen europäischen Zentrum der Psychoanalyse entwickelte.[9] In Ungarn übernahm General Miklós Horthy die Macht. Unter dem Titel »Reichsverweser« errichtete er ein extrem rechtes, terroristisches und antisemitisches Regime. Viel war von Ungarn nicht übrig geblieben. Man war auf der Verliererseite im Großen Krieg gewesen, die Alliierten in Paris hatten die Grenzen im Osten Europas neu gezogen, viele Ungarn waren nun Bürger der Nachbarstaaten.

Auch das junge Paar Gimes-Hajdu überlegte, ins Ausland zu gehen. Vielleicht in die USA? Sie blieben. Miklós Gimes(4) eröffnete eine Kinderarztpraxis, Lilly Hajdu(9) übernahm die ärztliche Leitung eines privaten Heims am Rande der Stadt, eine große und renommierte Einrichtung für geistig behinderte Kinder. Die beiden zogen mit ihren Kindern ins Haupthaus, daneben Patientenunterkünfte, ein Speisesaal, Werkstätten. Im Alltag kam nun alles zusammen: die eigene Familie, die behinderten Heimkinder, die Angestellten.

Aber die Betreuung der Kinder füllte die angehende 30-jährige Psychiaterin nicht aus.[10] Lilly Hajdu(10) meldete sich bei Vilma Kovács(1), der ersten ungarischen Lehranalytikerin, dem mütterlichen Mittelpunkt der Psychoanalytischen Gesellschaft. Das war der Anfang der psychoanalytischen Karriere von Lilly Hajdu, an deren Ende sie die größte psychiatrische Klinik des Landes leiten sollte. Sie ging zu Kovács in die Analyse, Sándor Ferenczi(4), der Referent von einst, wurde ihr Lehrer. Im Ausbildungsinstitut, in dem es viele Frauen gab, fand sie sich schnell zurecht, ging ins Restaurant Royal, wo man sich traf. 1923, auf der Feier zum 50. Geburtstag von Ferenczi, saß sie ihm im Kreis der Analytiker gegenüber.

Sándor Ferenczis 50. Geburtstag, Juli 1923, Lilly Hajdu links gegenüber von Ferenczi, im Hintergrund Michael und Alice Bálint, Vilma Kovács und Imre Hermann.

Mit seiner Stirnglatze, der runden Nickelbrille und den wachen Augen wirkte der Obmann der ungarischen Analyse sehr einnehmend. Er war warmherzig, charismatisch, überaus geschätzt.[11] Ein sensibler Kliniker, der auch in hoffnungslosen Fällen einen Zugang zu den Patienten fand. Anders als Freud(6), der Ferenczi(5) lange für seinen Kronprinz hielt, interessierten den Ungarn nicht die Väter und Ödipus-Konstrukte, sondern die Dynamik zwischen den Müttern und ihren Säuglingen. Mit Trieben, Biologismen, einer Zentrierung auf den vermeintlich narzisstischen Säugling kam man da nicht weit, dafür geriet der Austausch zwischen Mutter und Kind, kurzum die Bindung zwischen den Zweien in den Blick. Das bedeutete: weg vom isolierten Individuum, hin zur interpersonellen Beziehung. Was spielte sich zwischen beiden, was spielt sich überhaupt zwischen zwei Menschen ab, und schließlich: Was geschah zwischen dem Arzt und dem, der zu ihm in die Praxis kam? Aus einer ödipus-zentrierten jüdisch-patriarchalischen Fixierung entstand der Blick auf die »Mutter-Kind-Dyade«, der Anfang einer Zwei-Personen-Theorie. Es war ein Markstein, und sie entstand vielleicht nicht zufällig in einer vormodernen, vorwiegend agrarischen Gesellschaft, in der der Familie große Bedeutung zukam.[12]

Freuds(7) therapeutische Abstinenzforderung erschien Ferenczi(6) beim Wunsch zu helfen schon bald hinderlich. Es war der menschliche Kontakt, der in der Praxis die Linderung brachte. So trat er für eine »therapeutische Emphase« ein. »Korrigierende emotionale Erfahrung« wird der Budapester Franz Alexander(1) es später in den USA nennen.[13] »Alle Analytiker«, schreibt Lilly Hajdu(11) in einem Text 1933, »sollten in ihrer eigenen Analyse bis in die Tiefe vordringen, bis sie in der Lage sind, die Distanz zu ihren Patienten zu überbrücken.«[14] Lange wird Hajdu den Zusammenhang von Hunger im Säuglingsalter und der Herausbildung von Schizophrenie untersuchen. Aber Ferenczi verstand die Analyse nicht als Glaubensprojekt. Er war offen für Neues. Seine Schüler unterstützte er in ihren Experimenten und der Suche nach Antworten auf offene Fragen.

Während der Ausbildung entwickelte Lilly Hajdu(12) ein heilpädagogisches Konzept. Um das umsetzen zu können, eröffnete sie 1927 ein Kinderheim außerhalb von Budapest. »Heilpädagogisches Institut und Kindererholungsheim Dr. G. Hajdu«. Die Familie zog in ein Haus weitab von der Stadt, das Areal etwas zwischen verwunschenem Park und kleinem Bauernhof. Aber sie wollte nicht einfach bei der Heimbetreuung bleiben, sondern den eingeschlagenen Weg der Psychoanalyse weiterverfolgen. Einen Tag in der Woche arbeitete sie an der Poliklinik für Geisteskranke im Universitätsklinikum. In der Wohnung ihrer Eltern in der Innenstadt empfing sie ihre ersten privaten psychoanalytischen Patienten.

Lilly Hajdu, Budapest, 1920er Jahre.

Sechs Jahre ging das so. Dann mussten sie das Heim schließen. Die Wirtschaftskrise ließ die Eltern der Zöglinge verarmen. Die Heimkosten waren nicht mehr aufzubringen. Als Lilly Hajdu(13) das Heim schloss, hatte sie große Schulden. Dennoch mietete sie eine Vierzimmerwohnung in der Stadt, damit sie in einem mit schweren dunklen Möbeln ausgestatteten Zimmer ihre Patienten und Patientinnen empfangen konnte. Sie trat der 30-köpfigen Psychoanalytischen Gesellschaft Ungarns bei, wurde 1938 Lehranalytikerin und unterrichtete am Institut zu Themen wie »Masochismus« und »Schizophrenie«. Auch ihr Mann begann eine Lehranalyse bei Vilma Kovács(2). Bald saßen auch seine Patienten im Wartezimmer der gemeinsamen Wohnung. Mit ihren 42 Jahren hatte sich Lilly Hajdu ganz der Psychoanalyse verschrieben. Und ihre Praxis lief. Manche ihrer Patienten waren wohlhabend. Sie bezahlte ihre Schulden, konnte bald gut von den Einnahmen leben, stellte ein Dienstmädchen an und Frauen, die zum Waschen kamen. Ein bürgerlich-jüdischer Lebensstil, wie im alten Ungarn.

1933 war Ferenczi(7) gestorben. Zuletzt hatte er die psychoanalytische Poliklinik für Erwachsene und Kinder in der Mészáros-Straße 12 im Stadtteil Buda geleitet. Eine kostenlose, private Versorgung. Das dreistöckige Haus war Zentrum der ungarischen Psychoanalyse: mit Klinik, Institut und Apartments, bewohnt von Analytikern wie Michael(1) und Alice Bálint(1), der Tochter von Vilma Kovács(3).[15] Doch seit 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war und die »Machtergreifung« der Nazis voranschritt, be-gann sich auch unter den jüdischen ungarischen Intellektuellen ein Gefühl der Bedrohung auszubreiten, zumal im-mer mehr jüdische Kollegen aus Deutschland flohen. Am 14. März 1938 marschierte Hitler in Wien ein, auf den Zeitungsbildern jubelnde Massen in der alten Hauptstadt. Schon am nächsten Tag standen die Nazis vor Freuds(8) Wohnung in der Berggasse 19. Würde sich das in Ungarn wiederholen? Horthy und Hitler. Was handelten die beiden aus? Unter den jüdischen Psychoanalytikern machte sich Panik breit. Etliche flohen. Letzte gemeinsame Abende, gekündigte Woh-nungen, verschenkte Bücher. Auch die Gimes(5)(14) überlegten zu fliehen, erneut dachten sie an die USA. Wieder blieben sie.

Mit dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 schwenkte Horthy auf die Hitlerlinie ein. Er hoffte darauf, sich so die ungarischen Gebiete zurückholen zu können. Nun standen ungarische Männer in der Wehrmacht vor Moskau. Der Antisemitismus verschärfte sich, es gab Berufsverbote, das Institut wurde überwacht, alle zogen sich in ihre privaten Praxen zurück. Die Psychoanalyse wurde zwar nicht verboten, doch im öffentlichen Leben war sie nicht mehr zu finden. Hajdus(15) Eltern starben, ihre Schwester erlag einem langjährigen Brustkrebsleiden. Das Leben wurde schwer, aber gegen die von Hitler verlangten Deportationen der ungarischen Juden stemmte sich Horthy. Als ihm nach Stalingrad klar wurde, dass der Krieg verloren war und er Kontakt zu den Alliierten suchte, stand plötzlich die Wehrmacht in den Straßen von Budapest und Horthy wurde entmachtet. Im Mai 1944 übertrugen die Deutschen den faschistischen Pfeilkreuzlern die Macht. Und mit den deutschen Soldaten, der SS und einer neuen Verwaltung kamen auch die deutschen Vernichtungskommandos. Bisher hatten die von den Schweden ausgestellten Schutzpässe den ungarischen Juden gegen die Verfolgungen helfen können. Nun waren sie über Nacht wertlos. Zwischen den Häusern eines Stadtviertels wurden Mauern hochgezogen, eilig wurde ein Ghetto errichtet, in das 70 000 Jüdinnen und Juden eingeschlossen wurden. Außerhalb des Ghettos wurden Häuser mit einem gelben Stern markiert. In einem von ihnen wurden die Gimes einquartiert. Ihr Sohn und ihr Schwiegersohn kamen in ein Arbeitslager auf dem Land. Im Oktober 1944 holten die Pfeilkreuzler Miklós Gimes(6). Wo sie ihn hinbrachten, wusste Lilly Hajdu nicht. Das Einzige, was blieb, war die Hoffnung. Es ist unklar, ob sie je erfuhr, dass er in einem tschechischen KZ-Außenlager in Leitmeritz, wo tausende Häftlinge unterirdische Stollen ausbauen mussten, starb.

Lilly Hajdu(16) floh mit ihrer Tochter, der Enkelin und anderen Verwandten von Wohnung zu Wohnung. Es gab Gerüchte. Die Sowjets kamen näher. Am ersten Weihnachtstag 1944 schloss die Rote Armee den Ring um die Stadt. Die Pfeilkreuzler erklärten sie zur Festung. Ein Angriff folgte auf den anderen. Eines Nachts stürmten ungarische Faschisten durch das Treppenhaus, wo sie sich versteckt hielten. Sie wurden auf die Straße getrieben. Ein langer Tross durch die dunkle Nacht, stolpernd, im Kinderwagen die Enkelin. Vom Donauufer hörten sie Schüsse. Auf einem Wachposten gab es Verhöre. Ein Pfeilkreuzler schrie sie an. Plötzlich hielt er inne, wirkte verwirrt, war kaum zu verstehen: »Schert euch raus!«, rief er. Wie in Trance taumelten sie auf die stockdunkle Straße. Ihre Tochter sah sie fragend an. »Er war«, sagte Lilly Hajdu leise, »mein Patient in der psychiatrischen Universitätsklinik.«

Sechs Wochen Straßen- und Häuserkampf. Am 13. Februar 1945 kapitulierten die letzten Faschisten. 100 000 deutsche und ungarische Soldaten, 38 000 Eingeschlossene, eine Viertelmillion Rotarmisten – sie alle starben im sogenannten »Endkampf« um Budapest. Wochenlang lagen Leichen auf den Straßen, Tausende nahm die Donau mit. Zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung im Land waren ermordet worden. Überlebende Juden gab es nur noch in den Städten. Auf einmal tauchten Lilly Hajdus(17) Sohn Miklós(2) und ihr Schwiegersohn Gábor Magos(1) wieder auf – abgerissen, ausgemergelt und im Siegestaumel. Sie waren aus dem Arbeitslager über die Frontlinie zu den jugoslawischen Partisanen geflohen. Von dort hatte man sie in eine Kompanie Rotarmisten befehligt, in der sie mit der Küchentruppe bei der Befreiung ihrer Heimatstadt vorgerückt waren.

Nun kamen sie als Helden zurück. Schon in den ersten Tagen nach dem Waffenstillstand wurde die Kommunistische Partei neu gegründet. Die beiden traten sofort ein. Ebenso Hajdus(18) Tochter Juca(2). Als sie beweisen konnte, dass sie schon während des Krieges als Kurierin für die Untergrundkommunisten im Einsatz gewesen war, schrieb man in ihren Parteiausweis: »Mitglied seit 1943«. Die drei starteten in den Trümmern von Budapest als Sieger, Überlebende, überzeugte Neukommunisten. Das war es, was man für den Aufbau brauchte, neues, begeistertes, unbelastetes Personal. Die Partei holte sie in wichtige Ämter. Miklós(3) in die Parteizeitung »Szabad Nép« – »Freies Volk«, die bald das intellektuelle Klima im Land bestimmen sollte. Schwiegersohn Gábor Magos(2) gelangte nach der Parteihochschule in die Landwirtschaftsabteilung – die Befehlszentrale für die baldige Kollektivierung der Bauern. Juca(3) wählte man zur Bezirksparteisekretärin. Mit 27 Jahren wurde sie Dozentin der Parteihochschule im Fach »Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion«, dem Hort stalinistischer Geschichtsklitterung. Ihre Kinder besuchten den Parteikindergarten, dann die Russischschule am anderen Ende der Stadt.

Lilly Hajdus(19) Wohnung war zerbombt worden. Sie zog in ein Mietshaus, in dem auch ihre Tochter wohnte. Ein Gebäude im Machtzentrum, nur zweihundert Meter vom Parlament an der Donau entfernt, in allen Wohnungen Kommunisten, alle voller Emphase und unentwegt für den sozialistischen Aufbau im Einsatz.[16] Doch den ungarischen Kommunisten fehlte, wie in fast allen Ländern Osteuropas, der Rückhalt in der Bevölkerung. Nur jeder Fünfte stimmte für sie. Die Ungarn wollten keinen Kommunismus. Auch in Lilly Hajdus altem »Galilei«-Kreis mit Ärzten, Schriftstellern, Wissenschaftlern waren die meisten linksliberal gewesen. Nur wenige traten in die Partei ein. Tatsache war aber auch: Die Kommunisten hatten ihr Leben gerettet, und ihre Kinder hatten in einem kometenhaften Aufstieg gute Stellen bekommen und konnten die Geschicke des Nachkriegsungarn mitbestimmen. Außerdem: Die Partei förderte die Psychoanalytiker. In der neugegründeten Psychoanalytischen Gesellschaft waren nun einige der Analytiker Parteimitglieder.

Für Lilly Hajdu(20) folgten drei Jahre des Aufbruchs und einer langsamen Normalisierung des Lebens. Ihre Arbeit wurde staatlicherseits gefördert, sie genoss eine bevorzugte Parteibehandlung inmitten der hyperaktiven Parteiblase ihrer Kinder. Das Schicksal ihres Mannes blieb weiter ungewiss. Doch dann die Wende. Politisch hatte sie sich längst angekündigt. Der starke Mann der Partei, »Stalins(2) bester ungarischer Schüler«, wie er sich selber nannte, der kahlköpfige Generalsekretär Mátyás Rákosi(1), sowjetisierte das Land in einer Art Salamitaktik. 1948 ging er über zur offenen Stalinisierung. Parteien wurden aufgelöst, Verhaftungen folgten, Menschen flohen.

Auch für die Psychoanalyse zogen wieder andere Zeiten auf. Der stalinistische Blick auf die Wissenschaft vom Unbewussten hielt Einzug. Im Oktober erschien in der Intellektuellen-Zeitschrift »Forum« ein Artikel: »Der Freudismus als Hauspsychologie des Imperialismus«.[17] Autor war István Tariska(1), ein junger, soeben zum stellvertretenden Leiter des nationalen psychiatrischen und neurologischen Instituts beförderter und damit nun mächtiger Neurologe. Tariska übernahm die Diktion aus der Sowjetunion wortwörtlich. Die Psychoanalyse sei eine »bourgeoise Pseudowissenschaft«, »ideologisch gefährlich« und »wissenschaftlich unbegründet«. Sie beruhe auf einem »gänzlich individualistischen und atomisierten Gesellschaftsbegriff«. Die ungarische Jugend sei vor ihr zu schützen. »Psychoanalyse« fungierte dabei als Oberbegriff für sämtliche psychologischen Richtungen. Tariska(2) war sich wie viele Parteigläubige sicher, dass Geisteskrankheiten und alle psychischen Probleme mit der Entwicklung des Sozialismus sukzessive verschwinden würden. Ganz im Zuge des stalinistischen Antisemitismus war seine Attacke ein ausdrücklicher Angriff auf die jüdischen Analytiker. Ein bestellter Kampagnenauftakt.[18]

Lilly Hajdu(21) und ihr Kollege Imre Hermann(1) schrieben als Parteimitglieder und Leiter der Psychoanalytischen Gesellschaft an den Chefredakteur des »Forum«, Georg Lukács(1). Lukács war 1945 aus Moskau zurückgekommen, wo er andere verraten hatte und dabei selber nur knapp den Säuberungen entkommen war. Rasch avancierte er zum Chefphilosophen der ungarischen Kommunistischen Partei.[19] Die Psychoanalyse, schrieben die beiden Genossen bußfertig, sei sicherlich von marxistischer Seite zu kritisieren und vom Imperialismus verfälscht, aber der Artikel ziele ja auf sie als Juden. Lukács, selber Jude, schmetterte den Brief kaltschnäuzig ab. Ihr Antisemitismus-Hinweis sei nur ein Trick, von der reaktionären Intention der Psychoanalyse abzulenken. Das sei »Gassendemagogie«.[20]

Damit war Hajdu(22) und Hermann(2) klar, dass hinter den Kulis-sen längst alles entschieden war. Artikel um Artikel erschien im »Forum«.[21] Für den kommunistischen Großideologen Lukács(2), der Freud(9) kaum kannte, und die Phalanx seiner Schüler war die Psychoanalyse Bestandteil des Idealismus, der zum Faschismus in Deutschland geführt hatte. Freuds Lehre, für sie dekadent und irrational, sei präfaschistisch.[22] Damit war das Urteil auch für Ungarn gesprochen.[23] Und es fiel gnadenlos aus. Die jüdischen Analytiker wurden zu Handlangern des sogenannten »Monopolkapitalismus« erklärt. Doch damit nicht genug. Als Überlebende des Holocaust mussten sie jetzt sogar als Wegbereiter des Faschismus herhalten.

Für die analytische Arbeit war das verheerend. »Ich wusste nicht«, heißt es in einem Bericht eines Patienten über das Jahr 1948, »ob mein Analytiker ahnte, dass für die Psychoanalyse immer schlimmere Zeiten anbrechen würden. Auch ich, als Analysand, war bedroht. Ich habe mich immer gefragt: Wusste er das? Konnte ich mich auf ihn verlassen? Könnte er mich verraten? … Er emigrierte zunächst nach Australien, und dann in die Vereinigten Staaten. Er hat mich letztlich mitten in der Gefahr fallen gelassen.«[24]

Anfangs staatlich propagiert, war die Psychoanalyse auf einmal »gesellschaftlich reaktionär« und sollte im Dienst amerikanischer Imperialisten stehen. »Im Radio und Theater«, so Hann Petö(1), Frau des Sekretärs der Psychoanalytischen Vereinigung Ungarns, »wurden die Analytiker als Scharlatane hingestellt, deren oberstes Ziel es sei, reich zu werden, die nicht davor zurückschreckten, die Arbeiter krank und neurotisch zu machen.« Die Parteizeitung brachte einen Schwall von Hetzartikeln. Eine Atmosphäre der Angst beherrschte alles. »Es war fast lächerlich, wegen ein paar wenigen Analytikern eine solche Hasskampagne zu starten«, so Hann Petö. Umso grotesker, dass viele Parteimitglieder geworden waren, die man nun zu Faschisten stempelte.

Im Februar 1949 kam István Bálint, ein Arzt des gefürchteten Geheimdienstes, der AVH, der später auch an Folterungen beteiligt war, in eine Präsidiumssitzung der Psychoanalytischen Gesellschaft. »Der Kulake«, fing er an, »sitzt in seinem Haus und sagt traurig zu sich selbst, bin ich ein Kulake? Aber er ist ein Kulake. Und so seid auch ihr Kulaken, alle ihr Analytiker! Ihr könnt nichts dagegen tun. Also, löst die Vereinigung auf, sie hat keinen Platz in unserer neuen Welt. Es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber wacht auf und schließt den Verein, bevor etwas Schlimmeres geschieht‹«. Endre Petö(1), Sekretär der Gesellschaft, der mit Hann Petö(2) verheiratet war, kam nach dieser Sitzung als »total gebrochener Mann« nach Hause.[25]

Kurze Zeit später erklärten Lilly Hajdu(23), Imre Hermann und Endre Petö(2) in einer Generalversammlung ihren Kollegen, sie hätten unterschreiben müssen, dass die Psychoanalyse »ein Zersetzungsprodukt des Kapitalismus und eine staatsgefährdende Ideologie« sei. Ansonsten wären sie aus der Partei geflogen, was – wie man ihnen gedroht habe – mehr bedeutet hätte als einen schlichten Ausschluss.[26] Die Psychoanalytische Gesellschaft löste sich auf. Freiwillig, wie es offiziell hieß. Mit diesem Akt war die Psychoanalyse und mit ihr alle Tiefenpsychologie in Ungarn faktisch ab 1949 als Theorie und Therapie verboten.[27] Endre Petö, dessen erste Frau die Pfleilkreuzler ermordet hatten, floh mit seiner zweiten Frau unter Lebensgefahr in die USA.[28] Die Werke von Freud(10), Jung(1) und Adler(1) wurden eingestampft. Die Psychologie wurde von den Universitäten verbannt. Imre Hermann verlor seine Professur. Ungarische Ärzte, Psychiater, Kinderspezialisten, Lehrer und Pädagogen erfuhren ab da nichts mehr über die Tiefenpsychologie.[29]

Im Land trieben die Kommunisten unter Rákosi(2) den Staatsterror voran. Vereine, Gesellschaften, alle bürgerlichen Parteien wurden zerschlagen. Die Geheimpolizei verfolgte jeden Widerstand. Stalin(3) befahl eine Wiederholung der 30er-Jahre-Schauprozesse. Die im Zweiten Weltkrieg entstandene Unabhängigkeit europäischer KPs, die im Untergrund überlebt hatten, sollte gebrochen werden. Wegen des Alleingangs des jugoslawischen Staatschefs Tito(1) sollte ein Exempel statuiert werden. Ungarn hatte für diesen Kahlschlag den Auftakt zu geben. Rákosi wurde nach Moskau beordert, Stalins Geheimdienstchef Berija einigte sich mit ihm auf die vermeintlichen Verräter, die angeklagt wurden. Die Drehbuchschreiber für die Prozesse gingen ans Werk. Im Mai 1949 begannen die Verhaftungen. Als prominentesten Häftling bestimmte man den Außenminister László Rajk(1), der noch als Innenminister ein stalinistischer Einpeitscher der ihm untergebenen Geheimpolizei gewesen war, die ihn nun verhörte.[30]

Einer der sieben Angeklagten war der Altkommunist Tibor Szönyi(1), ein Psychiater. Er hatte in Wiener und Zürcher Kliniken gearbeitet. Im Hauptprozess der Sieben bekannte er sich – wie auch die anderen gefolterten »Verschwörer« – vor einer staunenden Zuhörerschaft dazu, den Sturz der Volksdemokratie, Hochverrat und die Anstiftung zum Mord betrieben zu haben. Am Ende standen drei Todesurteile. Gemeinsam mit Rajk(2) wurde Tibor Szönyi gehenkt. Eine Verhaftungswelle der »Rajkisten« ging durchs Land, Tausende wurden eingesperrt, abgeurteilt, umgebracht. Vor allem aber ging man gegen Juden vor. Um jeden Angeklagten wurde ein vermeintliches Verschwörernetz gesponnen. Das galt auch für den Kreis der Analytiker. Die Verdachtsmomente: ihr Judentum, die internationale Vernetzung, Freuds(11) Präfaschismus. Der Geheimdienst verhaftete und verhörte den Schwager des 1939 nach London emigrierten Analytikers Michael Bálint(2) über die Psychoanalytische Gesellschaft. Ein einmal ausgewähltes Verhaftungsopfer konnte ganze Kreise in die Folterkeller bringen. Aber die Analytiker hatten noch einigermaßen Glück. Die Lawine donnerte aus unbekannten Gründen an ihnen vorbei.

Und dennoch: Die Situation war weiterhin »lebensbedrohlich«, so der ungarische Analytiker Haynal.[31] Das Klima bestimmte die nachfolgenden Jahre, ja Jahrzehnte. »Alles«, so Paul Harmat(1), Verfasser des Standardwerks zur Geschichte der ungarischen Tiefenpsychologie, »was mit ›psy.‹ anfing, [wurde] als gefährlich, ja feindlich angesehen«.[32] Jeder, der mit Psychologie zu tun hatte, ging in die innere Emigration, schwieg, schwor ab. Von den Schrecken des faschistischen Ungarns war man nach nur wenigen Jahren in die stalinistischen Verfolgungen geraten. Viele der Analytiker wurden krank, manche starben, andere emigrierten.[33] 1953 verhaftete der ungarische Geheimdienst im Zuge eines antisemitischen Schauprozesses den einstigen Lehranalytiker István Székács-Schönberger(1) und den Rabbiner András Józef. Acht Monate waren sie in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: zionistische Verschwörung und Spionage. Bei Székács’ hatte Lilly Hajdu(24) während der Verfolgungen der Pfeilkreuzler Unterschlupf gefunden. Dass er Parteimitglied geworden war und der Psychoanalyse abgeschworen hatte, schützte ihn nicht. Nach seiner Entlassung schwieg er über die Haft, die Verhöre, die erlittene Folter. Er starb kurze Zeit später.[34] »Jene Jahre waren wirklich Jahre des Terrors, der Angst,« konstatiert der jüdische Psychiater Gábor Paneth(1), der später Hajdus Assistenzarzt wurde. »Kaum hatten wir aufatmen können – jene von uns, die am Leben geblieben waren –, und schon, nach ein paar Jahren, begann alles wieder von vorn.«[35]

Und die Familie Hajdu(25)? Die Partei gab vor, was man zu denken habe, wie etwas beurteilt werden müsse. Hajdus Kinder hielten die Verhaftungen für richtig, glaubten an den Kampf gegen die Spione, die die Partei unterwandert hatten. Ihr Schwiegersohn Gábor sagte gegen ehemalige Freunde aus. Ihre Tochter Juca(4) haderte mit ihrer bürgerlichen Herkunft und klagte sich selbst an, mit ihrem Vorgesetzten, einem »imperialistischen Feind«, ein Liebesverhältnis gehabt zu haben.[36] Ihr Sohn Miklós(4) saß in der fünfköpfigen Redaktion der Parteizeitung, die die »Verräter« anklagte, Prozesse einforderte, vor Saboteuren warnte. In einem Artikel verurteilte er die Psychoanalyse als bürgerliche Ideologie.[37] Miklós, Verhältnis mit dem Herausgeber József Révai(1) war eng. Révai war Politbüromitglied und allmächtig im ungarischen Kulturleben. Er war Hauptinitiator der Hetzkampagne gegen die Psychoanalyse, nicht nur im Parteiblatt, sondern auch in Vorträgen, in denen seine Hilfstruppe, allesamt Lukcás-Schüler, alles Tiefenpsychologische diskreditierte.[38] Mitten im Rajk-Prozess war Révai nach Moskau kommandiert und instruiert worden, »Volksfeinde im Bereich der Kultur zu entdecken, zu demaskieren, auszurotten«.[39] Nun schrieb auch Miklós(5) in Leitartikeln von »Spionen und Meuchelmördern der Imperialisten wie Rajk« und startete große Ideologiekampagnen im Hinblick auf die ungarische Literatur: Sie müsse parteiisch sein, erziehen – nichts anderes.[40]

Hajdus(26) Kinder kannten den analytischen Freundeskreis ihrer Mutter, beide hatten in kritischen Lebensphasen bei Analytikern Hilfe gesucht und bekommen. Sohn Miklós(6) bei Endre Petö(3), als er sein Medizinstudium nicht schaffte, Juca(5) bei Alice Hermann wegen einer unglücklichen Liebe. Auch ihr Vater war Analytiker gewesen. Jetzt schwiegen sie. »Parteifanatismus« wird es die Tochter Juca(6) später nennen. Jahre »wie in einem Aquarium« scheint ihr im Nachhinein das Damals.[41] Sohn Miklós(7) wird später vom »Wahnsinn« der Zeit sprechen und sich selber darin nicht mehr verstehen.[42]

Dabei lebte die Familie in dieser Terrorzeit auf engstem Raum zusammen. 1949 waren Tochter Juca(7) und ihr Mann Gábor in den ersten Stock einer Villa am Rande der Stadt gezogen, in die Straße der Roten Armee. Lilly Hajdu(27) war mitgezogen.[43]

Parteigenossen gingen ein und aus. Was von der Psychoanalyse zu halten war, wussten die besuchenden Genossen. Lilly Hajdus(28) Leben wurde leiser, sie zog sich in die innere Emigration zurück. Tochter Juca(8) wird sich später fragen, warum die Mutter geschwiegen hatte, als sie in ihren Politwahn verfallen war. Aber wie hätte das gehen sollen? Selbst enge Parteifreunde warnten sich in Gesprächen unter vier Augen gegenseitig, die Unterhaltung bei bestimmten Themen abzubrechen. »Jetzt reden wir besser nicht weiter.«[44] Vielleicht stand da auch bei Lilly Hajdu die Familie vor aller Ideologie. Als Stalin(4) im März 1953 starb, weinte Juca(9) bitterlich und fragte ihre Mutter, warum sie nicht traurig sei. Deren Antwort: »Ich kannte ihn nicht.«[45]

Ohne ihre Praxis musste Lilly Hajdu(29) auf andere Weise Geld verdienen. Sie nahm eine Halbtagesstelle im Griechischen Spital als Neurologin an. Ihre Patienten waren nun traumatisierte Partisanen aus dem Griechischen Bürgerkrieg. Die Arbeit missfiel ihr. 1950 wechselte sie ins Gelbe Haus, das »Landesinstitut für Neurologie und Psychiatrie«. Es war die größte Nervenheilanstalt des Landes, 300 Patienten, ein ausladender Krankenhauskomplex im Stil eines hellgelbgestrichenen 19.-Jahrhundert-Schlosses, mitten im Wald, nicht weit von ihrer Villa am Stadtrand. Von hier war einst der Angriff gegen die »bürgerlich-idealistische Pseudowissenschaft« im Land ausgegangen. Vizedirektor war István Tariska(3), der vor zwei Jahren den Auftaktartikel zur Kampagne gegen die Psychoanalyse verfasst hatte. Dass man sie hier als Chefärztin für die 2. Männerabteilung anstellte, verwunderte sie selbst.

Lilly Hajdu(30) zeigte sich offen für die neue Linie – für Iwan Pawlows(1) Reflextheorie, die in der Sowjetunion seit den 30er-Jahren alle Tiefenpsychologie verdrängt hatte. Sie lernte Russisch, um Pawlow im Original zu lesen, hielt Vorträge über ihn, sprach von einer »marxistischen Psychologie«, die man entwickeln müsse. Als Parteimitglied folgte sie der angesagten Doktrin, verlor kein Wort mehr über Tiefenpsychologisches, verschloss sich. Es ist im Einzelnen schwer zu entscheiden, ob solche Anpassungsversuche aufrichtig, Taktik oder schiere Verzweiflung waren.[46] Was sollte die neue Chefärztin auch machen? »Damals wurde alles verfolgt«, charakterisiert Gábor Paneth(2), der 1951 ihr Klinikassistent wurde, die Atmosphäre. »Die impressionistische Malerei, die moderne Musik, die westliche Belletristik und die Genetik wurden genauso verfolgt wie die Psychoanalyse. … Es war nicht ratsam, zusammenzukommen. Sobald sich vier oder fünf Leute in einer Wohnung trafen, … war das nicht gefahrenlos.«[47] Über seine Chefin meinte er, man habe merken können, dass sie die Patienten psychoanalytisch betrachtete und das je nach Stimmung und Anwesenheit anderer mehr oder weniger zum Ausdruck brachte.[48]

1950 geriet auch der Vizedirektor Tariska(4) in die Säuberungswellen. Die Geheimpolizei verhaftete ihn. Er war von einem auf den anderen Tag weg. Dasselbe Schicksal ereilte den ehemals gegen die Psychoanalyse hetzenden Journalisten György Pálóczi Horváth(2). Man bestimmte Lilly Hajdu(31) zur Nachfolgerin von Tariska. Von der Chefärztin einer Abteilung zur stellvertretenden Klinikleiterin. Eine tückische Entscheidung. Es war klar, dass sie nun im Brennpunkt stand, sich bewähren musste, auch gegen die »bürgerliche« Psychoanalyse. Und zuletzt war eine solche Besetzung wohl nur möglich, weil die Psychiatrie längst völlig im Abseits war. In der Bevölkerung gab es seit je das gängige Ressentiment: »bolondokháza« hieß es im Volksmund, »Haus der Irren«. Überhaupt sollten im Sozialismus die Psychiatrien demnächst nicht mehr notwendig sein. In den oberen Parteirängen kümmerte man sich wenig um »Psycho-Angelegenheiten«. Geld gab es nicht, Forschung wurde als überflüssig erachtet und mit der Flucht vieler Ärzte herrschte enormer Mangel an medizinsicher Betreuung. Das Gelbe Haus war auch kein wissenschaftliches Ausbildungsspital, weil es keine Universitätsklinik war. Aus Sicht der Partei sollte schlicht Ruhe herrschen. Und für diese Ruhe sollte Lilly Hajdu sorgen. Sie galt als tonangebende Persönlichkeit, die es verstand, mit den jungen Ärzten, den Pflegern und Patienten umzugehen, Abläufe zu organisieren, Konflikte zu lösen. In diesem Sonderraum war die abgelegene Klinik auch eine Art Abschiebeort für politisch missliebige Patienten und »Fachkräfte«, die man außerhalb nicht geduldet hätte.[49] Dennoch stand Lilly Hajdu(32) ständig unter Verdacht, ihre Stellung war bedroht. Überall in der Klinik gab es Spitzel, und der eisige Parteidelegierte schmuggelte eine Krankengeschichte aus ihrem Zimmer, um den versammelten Parteimitgliedern zu zeigen, wie fragwürdig ihre Arbeit war. Unentwegt wurde sie provoziert. Es war, so ihr damaliger Assistent, eine »extrem gefährliche Zeit«.[50]

Und auf einmal starb Stalin(5). Sein treuer Schüler, Ministerpräsident Rákosi(3), hatte das Land in eine schwere Wirtschaftskrise getrieben. Der Kreml zwang ihn zum Rücktritt, immerhin durfte er ZK-Generalsekretär bleiben. Der neue Präsident Imre Nagy(1) leitete eine Tauwetter-Politik ein. Hinter den Kulissen aber tobte ein Machtkampf. 1954 wurde Lilly Hajdu(33) zur Direktorin der Klinik bestellt, als erste Frau. Die Einrichtung bekam den Status einer nationalen Institution, zuständig auch für andere Kliniken und für die Landesoberaufsicht des gesamten Psychiatriewesens. Ihr Verantwortungsbereich war groß. Dazu gehörte auch die Art der Therapien im Land, ganz allgemein die psychiatrische Krankenpflege, die Ausbildung der Pfleger, Maßnahmen gegen die überfüllten Psychiatrien auf dem Land, die Organisation von »Arbeitstherapien« auf Landwirtschaftsgütern. Unter ihrer Ägide wurden Tranquilizer zur Beruhigung der Patienten eingeführt. Zwangsjacke, Elektroschocks, Insulinkoma und Fixierungsbett sollten reduziert werden. Patientenbibliotheken wurden eröffnet, es gab Arbeitstherapien in einer Nähwerkstatt, in Schuhmacher- und Schmiedewerkstätten, in Buchbindereien. Sie wurde Vizepräsidentin des Pawlower Sachverständigenausschusses für psychische und neurologische Fragen der Gewerkschaft für Medizin und Gesundheitswesen. Das Hauptziel des Expertenausschusses war »die Durchsetzung des dialektischen Materialismus in der Zukunft«.[51] Noch immer sollte alles »pawlowisiert« werden.

Draußen kamen die Weggesäuberten aus den Gefängnissen zurück. Unschuldig verurteilt, hieß es nun. Mit ihrer Rückkehr kamen auch die Zweifel. Sohn Miklós(8) wurde von seiner Zeitung nach Genf geschickt. Er sollte über eine UNO-Konferenz berichten. Zum ersten Mal war er im Westen. Und staunte. Alles war anders als in seiner Vorstellung. Keine zerlumpten Gestalten auf den Straßen, die Proletarier keine ausgesaugte Masse, die Menschen freier, offener, gelöst, und Kritik war möglich. Tag und Nacht las er die Stalin(6)-Biographie des Trotzkisten Isaac Deutscher. Er erweiterte unerlaubt seine Reise und fuhr nach Paris. Dort traf er eine alte Jugendliebe, die er nie vergessen hatte. Fast wäre er geblieben. Zurück in der Budapester Redaktion forderte er die Aufarbeitung des Rajkprozesses. Stimmten die Anklagen?[52]

Aber im Kreml beobachtete man die neue Freiheit der Ungarn misstrauisch. Politische Morgenluft über die Grenzen im Ostblock hinweg – das konnte ansteckend sein. Nagy(2) hatte sich einst im Stalinismus bewährt: Von 1933 bis 1941 stand er im Dienst des sowjetischen Geheimdienstes, des NKWD, und denunzierte siebzig deutsche KPD-Emigranten in den sowjetischen Säuberungen.[53] Nun schien er politisch eigene Wege zu gehen. Man ließ ihn im Kreml fallen. Damit konnte Rákosi(4) die Macht wieder an sich reißen. Erneut wurden Haftlisten erstellt. Miklós Gimes(9) wurde entlassen. Aber Skepsis, Zorn und Unmut waren nicht mehr zu unterdrücken. Auch Juca(10) und ihr Mann Gábor wachten auf. Sie forderten die Wiedereinsetzung von Nagy, drängten auf freie Wahlen. Als sie die Rehabilitation des hingerichteten Rajk(3) verlangten, kam der Parteiausschluss.

Am 25. Februar 1956 hielt Chruschtschow(1) seine Geheimrede auf dem XX. Parteitag. Schnell drangen die Inhalte bis in die entfernten Winkel des Sowjet-Imperiums: Stalin(7) war ein Verbrecher. Im Juli 1956 floh der Stalinjünger Rákosi(5) in die Sowjetunion. Gábor und Miklós(10) befeuerten die Bewegung zur Wiedereinsetzung von Nagy(3), verfassten Forderungsschreiben und galten bald als Anstifter. Am 23. Oktober 1956 brach der Aufstand aus. 200 000 standen vor dem Parlament, die Stalinstatue stürzte. Die Ereignisse überschlugen sich. Tag und Nacht waren beide unterwegs, organisierten, versuchten die verschiedenen Gruppen zusammenzuführen, schrieben Reformprogramme. Sowjetische Truppen kamen, zogen sich wieder zurück und schlugen dann doch alles blutig nieder.[54] Miklós und Gábor gingen in den Untergrund. Viele flohen, auch Juca(11) und die Kinder. Miklós(11) drängte seine Frau Lucy(1) und die Kinder, ebenfalls zu gehen. In Ungarn sei es zu gefährlich für sie. In einem Tross liefen sie nachts auf Feldwegen über die Grenze nach Österreich. Anfang Dezember schnappten die Häscher Miklós bei einem Analytikerpaar, wo er Unterschlupf gesucht hatte. Ein Nachbar hatte ihn erkannt. Gábor wollte im Land bleiben. Aber seine Schwiegermutter, Lilly Hajdu(34), beschwor ihn zu gehen, sie sei ohnehin schon Tag und Nacht voller Ängste, sie wolle nicht auch noch um ihn fürchten müssen. Sie drohte, sich umzubringen, wenn er nicht gehe. Er ging. Verzweifelt blieb sie im ersten Stock des Hauses allein zurück, in dem sie gemeinsam gelebt hatten.

Auch in der Klinik hatte der Aufstand Wellen geschlagen. Ein Revolutionskomitee hatte sie als leitende Kommunistin abgesetzt. Im November 1956 holte man sie zurück. Wieder Verhaftungen, Denunziationen, Ausschlüsse. Wohnungen wurden durchsucht, Verwandte der Verhafteten und Geflohenen verhört. Es galt Sippenhaft. Von einer hochgeachteten Klinikleiterin war sie zur Mutter eines Vaterlandverräters geworden. Die Direktorenstelle würde sie nicht behalten können. Sie bot die Kündigung an, um wenigstens weiter als Abteilungsärztin arbeiten zu können. Monate später zwang man sie in den Ruhestand. Dem Klinikpersonal wurde erzählt, dass sie wegen Unfähigkeit entlassen worden sei. Mittlerweile war sie 66 Jahre alt. Eine Genehmigung für eine eigene Praxis bewilligte man ihr nicht. Dennoch empfing sie privat ein paar Patienten. Einmal im Monat durfte sie an ihren Sohn schreiben, eine Seite. Was ihr blieb, waren seine seltenen Antworten. Sie vereinsamte.

Das Tauwetter der Entstalinisierung kam in Ungarn erst Jahre nach dem Aufstand. Mitte der 60er Jahre rückte die Partei von ihrem restriktiven Kurs ab. Auch das radikale Verdikt gegen die Psychoanalyse trat langsam in den Hintergrund. Einzelne Analytiker fingen in privaten Praxen und in Kliniknischen wieder an zu arbeiten. Man baute die Kinderpsychologie auf, Seminare für Entwicklungspsychologie wurden möglich, es gab eine psychoanalytische Arbeitsgruppe in der Ungarischen Psychiatrischen Gesellschaft, man veranstaltete – unter schwierigen Bedingungen – auch wissenschaftliche Konferenzen. In den 80er Jahren ging es in Ungarn liberaler zu. Aber eine Zeit der Offenheit ohne Einschränkung gab es nie. Die Analytiker konnten zunehmend wieder arbeiten, aber sie waren still in ihren Praxen und Kliniken. In der ungarischen Gesellschaft kamen tiefenpsychologische Ideen nicht an. Noch 1965 behauptete der Philosoph László Forgács, es gebe einen Weg von Schopenhauer über Nietzsche und Freud(12) bis Jung(2) und Goebbels, der »gesetzmäßig« sei.[55] In einem Zeitschriftenartikel Anfang der 70er Jahre hieß es: »Ein bezeichnendes Symptom in den Vereinigten Staaten ist, dass die bourgeoisen Ideologen den Freudismus zur Rechtfertigung der Abnormität der kapitalistischen Gesellschaft verwenden.«[56]

Im Medizin- und Psychologiestudium oder den Erziehungsberatungsstellen kam Psychologie so gut wie nicht vor. Seit 1945 erschien keine Schrift von Ferenczi(8), seit 1958 keine Veröffentlichung von Sigmund Freud(13) mehr in Ungarn.[57] Ähnliches galt natürlich für alle tiefenpsychologischen Autoren wie Alfred Adler(2), Wilhelm Reich(1) oder Erich Fromm(1). »Es gab drei Kategorien«, so der Analytiker János Harmatta(1) über die 70er Jahre in Ungarn: »›verboten, geduldet, unterstützt‹. Die Psychoanalyse war ›geduldet‹. Die Grenzen waren aber nicht sichtbar, und man konnte nie genau wissen, wo sie lagen, woher die Bedrohung kam und wo es Vorschriften und Gesetze gab, die man nicht einhalten konnte. Man fühlte sich immer als Grenzübertreter und war voller Gewissensbisse oder fürchtete sich vor der Bedrohung.«[58] Als Harmatta sich mit Klinikkollegen 1973 zu psychotherapeutischen Weiterbildungswochenenden verabredete, wurden die »Veranstaltungen sofort von verschiedenen Instanzen unter die Lupe genommen«. Geheimpolizisten erschienen und wiesen sie darauf hin, »dass es schädlich sei, dass die Psychoanalyse von Ärzten und Psychologiestudenten weitervermittelt wurde.« In ihrer Klinik wurde ein neuer Vorgesetzter von außerhalb installiert, um »dieses psychoanalytische Nest auszuräumen«.[59] Auch in Zeiten des »Gulaschkommunismus«, als die Ostdeutschen in Scharen in die »lustigste Baracke im sozialistischen Lager« an den Balaton fuhren, weil hier die Stimmung freier war, galt: »Die Peitsche war immer sichtbar. Die Drohung war offen spürbar.«[60]

»In Ungarn«, resümiert die Analytikerin Judit Mészáros(1), »verband sich die antipsychoanalytische Ideologie der 1948 an die Macht gelangten stalinistischen Diktatur mit tief verwurzeltem Antisemitismus und Antizionismus und zwang damit die Ungarische Psychoanalytische Vereinigung zur sofortigen Auflösung, nachdem sie fast ein halbes Jahrhundert vielen Stürmen standgehalten hatte. Es sollten noch einmal 40 Jahre vergehen – lange Jahre im Untergrund, an die sich ein allmählicher Wiederaufbau anschloss –, bis die Vereinigung 1989 wieder ihre volle Mitgliedschaft in der internationalen psychoanalytischen Gemeinschaft erlangte.«[61]

Zur Herrschaftssicherung sollte es keine gesellschaftliche Reflexion und Identitätsbildung geben. Das hatte Auswirkungen über das Feld der Psychologie hinaus. Der Verfasser des Standardwerks zur Geschichte der ungarischen Psychoanalyse, Paul Harmat(2), kam 1988 zu dem Schluss: Die Ächtung der Psychoanalyse habe ein Absterben anderer Disziplinen zur Folge gehabt, die sich mit der Erforschung des Menschen beschäftigten, mit »Konsequenzen von bis heute unermesslicher Auswirkung«.[62] Es war ein Zurückdrängen aller Humanwissenschaften, vor allem derjenigen, die sich mit der Individualität befassten.[63] Alle Sozialwissenschaften blieben im kommunistischen Ungarn von jeder psychologischen Idee unberührt.[64]

Diese Ächtung hatte auch gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung der tiefenpsychologischen Ideen überhaupt. Einer der innovativsten Zweige der Psychoanalyse, Ferenczis(9) Budapester Schule, die heute im analytischen Wissenschaftsraum eine Renaissance erlebt, konnte sich nur im Ausland weiterentwickeln.[65] Von Ferenczi ging die Kinder- und Säuglingsforschung seines Schülers René Spitz(1) und dessen bahnbrechende Hospitalismus- und Säuglingsforschung in den USA aus, ebenso die Kinderanalyse seiner Schülerin Melanie Klein. Deren Ansätze beförderten wiederum die britischen Pioniere der Bindungsforschung John Bowlby(1) und Mary Ainsworth(1), aber auch die Ideen des britischen Kinderarztes Donald D. Winnicott(1). Der Ferenczi-Schüler Michael Bálint(3) rief an der Tavistock-Klinik in London die Bálint-Gruppen ins Leben. Ferenczi beeinflusste auch das Denken der Neoanalytiker Frieda Fromm-Reichmann(1), Erich Fromm(2) und Karen Horney(1), die sich vor ihrer Emigration in die USA regelmäßig im Sommer in Baden-Baden in der Klinik von Georg Groddek(1) mit Ferenczi trafen. Der amerikanische Psychiater und Neoanalytiker Harry Stack Sullivan(1) schickte seine Mitarbeiterin Clara Thompson(1) nach Budapest zur Analyse bei Ferenczi, um dann wiederum bei ihr in die Analyse zu gehen. Ähnlich wie Fromm in seiner Sozialpsychologie griff er Ferenczis interpersonales Konzept auf. Beide erreichten damit in ihren Büchern in den USA sowie später im westlichen Europa ein Massenpublikum. Schließlich noch Franz Alexander(2), der seine Ausbildung am Berliner Psychoanalytischen Institut erhalten hatte, vermutlich aber wieder in seine Heimatstadt Budapest zurückgegangen wäre, hätte er nicht aus Europa fliehen müssen. So wurde er zum Begründer der psychoanalytischen Psychosomatik in den USA. Ferenczi und die Entwicklung der Psychoanalyse in Ungarn hatten ein enormes Potential. »Die stalinistische Unterdrückung der Psychoanalyse«, so der Psychologiehistoriker Harmat(3), »hat die Renaissance einer Budapester Schule, in der Nachfolge Ferenczis(10), verhindert.«[66]

Und Lilly Hajdu(35)? Anderthalb Jahre bangte sie um ihren Sohn. Dann, 1958, wurde er mit Imre Nagy(4) und Pál Maléter wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Von seinem Tod erfuhr sie aus den Morgennachrichten auf Radio Wien. Er starb auf dem Schafott. Die Leiche wurde an einem unbekannten Ort verscharrt. Mit seiner Hinrichtung war sie endgültig zur Mutter eines Volksfeindes abgestempelt worden. Als Zeichen der Solidarität fand sie unter ihrem Türvorleger Mitteilungen. Aber man traute sich nicht mehr, mit ihr gesehen zu werden. Ihre Polyarthritis verschlimmerte sich zusehends. Bald konnte sie keine Bücher mehr halten, sich kaum mehr anziehen. Sie fiel in eine tiefe Depression. Zuletzt wollte sie nur noch zu ihrer Familie nach Zürich, zu Juca(12) und Gábor, zu Lucy(2), der Frau von Miklós(12) und deren Kindern. Ihre Telefonate in die Schweiz wurden abgehört, ihre Briefe zensiert. Die nach Zürich Geflüchteten versuchten alles, um Lilly Hajdu in die Schweiz zu holen. Drei Mal stellte sie einen Ausreiseantrag. Immer wurde er abgelehnt. Nach dem dritten Antrag sprach sie persönlich beim Minister vor. Die beiden kannten sich aus dem »Galilei«-Kreis. Sie könne ausreisen, versprach er ihr, wenn sie im Ausland schweige. Man wolle keine Märtyrerin eines Volksfeindes haben. Zum vierten Mal reichte sie ein Ausreisegesuch ein. Schon wenige Tage später kam die Ablehnung, dieses Mal endgültig. Am 27. Mai 1960 nahm sich Lilly Hajdu mit einer Überdosis Medikamente das Leben. Ihr Name wurde aus der Klinikgeschichte getilgt. Im öffentlichen Leben des kommunistischen Ungarns gab es nach 1958 keine Lilly Hajdu(36) mehr.

Wiener Allianzen

Wien 1909 – Die blonde, nur 150 cm große Raissa(1) Epstein gehörte zur Corona junger Russinnen, die Ende des 19. Jahrhunderts an die Zürcher Universität strömten, weil die Eidgenossen den Frauen das Studium erlaubten. Die Studentinnen wohnten zusammen, trafen sich, dominierten zahlenmäßig ganze Studienjahrgänge und faszinierten in ihrer politischen Radikalität manchen Schweizer. Raissa Epstein stammte aus einer sehr reichen jüdischen Moskauer Familie.[67]