Die Muse - Daniel Cole - E-Book

Die Muse E-Book

Daniel Cole

0,0
10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mord für Mord ein neues Meisterwerk Winter, 1989: Detective Sergeant Benjamin Chambers wird an einen Tatort im Londoner Hyde Park gerufen. Auf einer Säule sitzt, in der Pose von Rodins Denker, ein Mann, tot. Bald darauf, ein weiterer Leichenfund: Mutter und Sohn, zur Schau gestellt wie Michelangelos Pieta. Chambers und sein Kollege Adam Winter vermuten einen Serienmörder hinter den Taten, aber ihre Ermittlungen werden jäh unterbunden, weil ein Obdachloser die Morde gesteht und Chambers bei einem Einsatz im Museum lebensgefährlich verletzt wird. Sieben Jahre später rollt die junge Polizistin Jordan Marshall den Fall wieder auf. Doch sie ahnt nicht, dass sie damit auch den Killer wieder weckt. Und der will sein Werk nun vollenden. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Muse

DANIEL COLE wurde 1983 geboren. Er ist Autor der international erfolgreichen Ragdoll-Serie, die in 34 Ländern erschienen ist. Bevor er mit dem Schreiben begann, hat er als Sanitäter, Tierschützer und Seenotretter gearbeitet. Cole lebt im sonnigen Bournemouth in Südengland.Von dem Autor sind in unserem Hause außerdem erschienen:Ragdoll • Hangman • Wolves

MORD FÜR MORD EIN NEUES MEISTERWERKAuf einer Säule im Londoner Hyde Park sitzt, im tiefsten Winter, nackt und in Denkerpose, ein Mann. Vom Gift gelähmt, wartet er seinem Erfrierungstod entgegen, ohne etwas dagegen tun zu können. Bald darauf, ein weiterer Leichenfund: Mutter und Sohn, zur Schau gestellt wie die Gottesmutter mit Kind. Detective Sergeant Chambers und sein Kollege Adam Winter vermuten einen Serienmörder hinter den Taten, aber ihre Ermittlungen werden jäh unterbunden, weil ein Obdachloser die Morde gesteht und Chambers bei einem Einsatz lebensgefährlich verletzt wird. Sieben Jahre später rollt die junge Polizistin Jordan Marshall den Fall wieder auf. Doch sie ahnt nicht, dass sie damit auch den Killer wieder weckt. Und der will sein Werk nun vollenden.

Daniel Cole

Die Muse

In Schönheit sollst Du sterben

Aus dem Englischen von Sybille Uplegger

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2024© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024© 2021 by Daniel ColeDie englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Mimic (Orion, London)Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Ilanphoto/PhotoStock-Israel / Alamy Stock Foto, © jvphoto / Alamy Stock FotoAutorenfoto: © Ellis ParrinderE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3076-1

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Der Tag, an dem der Tod zu Besuch kam

D

onnerstag, 2. 

F

ebruar

1989

Kapitel 1

F

reitag

Kapitel 2

Kapitel 3

D

ienstag

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

D

onnerstag

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

M

ontag

Kapitel 11

D

ienstag

Kapitel 12

Sieben Jahre später …F

reitag

, 15. N

ovember

1996

Kapitel 13

S

amstag

Kapitel 14

Kapitel 15

S

onntag

Kapitel 16

M

ontag

Kapitel 17

M

ittwoch

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

D

onnerstag

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

F

reitag

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

M

ontag

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Sieben Monate später …D

onnerstag, 3.

 

Juli1997

Kapitel 34

Kapitel 35

Anhang

D

anksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Der Tag, an dem der Tod zu Besuch kam

Widmung

Für B.Danke für alles

Der Tag, an dem der Tod zu Besuch kam

Einmal kehrte der alte Mann nach Hause zurück und sah, dass der Tod, der endlich gekommen war, um ihn zu holen, in seinem Sessel saß und schlief. Aber, so dachte der alte Mann, ist der Tod nicht auch nur ein Feind unter vielen? Ein müder und einsamer noch dazu?

Vorsichtig stieg er über das Gewand hinweg, das sich auf dem Fußboden ausbreitete wie vergossener Teer, und suchte in seinem kleinen Haus nach einem Messer, ehe er, geräuschlos wie der Tod selbst, den Weg zurück zu seinem schlafenden Gast fand. Berauscht von dem Wunsch, ewig zu leben, hob der alte Mann das Messer hoch über den Kopf und stach mit aller Kraft zu. Die Klinge drang tief in den ausgedörrten Körper ein, allerdings bewirkte dies wenig mehr, als den Tod aus seinem Schlummer zu wecken. Dieser erhob sich, zorniger und grausamer denn je und gänzlich unbeeindruckt von der Klinge, die noch im Sessel steckte, und baute sich vor dem wimmernden Mann auf.

»Du willst mir entrinnen?«, fragte er lachend. »Dann brauchst du mich doch nur zu fragen. Sei dir versichert, dass ich dir niemals meine Gnade erweisen werde. Nur die Lebenden können so leiden, wie du leiden wirst.«

Mit diesen Worten verließ der Tod das Haus.

Denn er hatte noch viel zu tun.

Fast auf den Tag genau sieben Jahre später kehrte der Tod in das kleine Haus zurück und fand den alten Mann schlafend in seinem Sessel vor, ein vertrautes Messer im Schoß.

Vorsichtig stieg er über das Blut hinweg, das sich auf dem Fußboden ausbreitete wie scharlachrote Bänder, und umfasste die runzligen Arme des Alten. Sobald dieser die kalte Berührung spürte, regte er sich. Sein Blick fiel auf die verheilten Wunden, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Bitte!«, rief er. »Hast du mir nicht schon alles genommen? Habe ich denn nicht genug gelitten?«

Mit einem Lächeln beugte sein Besucher sich zu ihm herab und flüsterte ihm ins Ohr: »Nein, mein alter Freund … noch nicht.«

Mit diesen Worten verließ der Tod das Haus.

Denn er hatte noch viel zu tun.

Donnerstag, 2. Februar 1989

K a p i t e l  1

Der Blinker klickte laut, und einzelne Umrisse leuchteten auf, nur um gleich darauf wieder von der Schwärze verschluckt zu werden, als würde ein unsichtbares Publikum in der Dunkelheit Streichhölzer anzünden. Als eine schlaksige Gestalt ihm winkte, bog Detective Sergeant Benjamin Chambers in den Hyde Park ein. Die Gestalt eilte zum Tor, um es zu öffnen, und das Scheinwerferlicht fiel auf seine dunkelgrüne Jacke von der Parkverwaltung, während er sich mit dem Schloss abmühte. Mit bloßen Händen machte sich der Mann an dem eiskalten Metall zu schaffen, dann bedeutete er Chambers, ihm zu folgen, wobei er vorauslief.

»Überfahr ihn bloß nicht … Überfahr ihn bloß nicht«, murmelte Chambers halblaut vor sich hin. Er vermochte nicht abzuschätzen, ob er rechtzeitig würde bremsen können, sollte sich sein Begleiter dazu entschließen, stehen zu bleiben. Immer häufiger drehten die Räder durch, je tiefer sie in den weitläufigen Londoner Park vordrangen.

Plötzlich rutschte der Mann vor ihm aus, verlor das Gleichgewicht und verschwand unterhalb der Motorhaube aus Chambers’ Blickfeld. Im selben Moment war ein dumpfer Aufprall zu hören. Das Bremspedal zitterte unter Chambers’ Fuß, als sein Wagen gemächlich zum Stehen kam.

Er verzog das Gesicht, beugte sich auf seinem Sitz nach vorn und beobachtete nervös die Front des Autos …

Kurz darauf tauchte zwischen den Lichtkegeln der Frontscheinwerfer ein fröhlich lächelndes Gesicht auf, und einen Augenblick lang wurde das Namensschild des Mannes erhellt, das ihn als Deano auswies.

»Tut mir leid!« Der Mann winkte und rappelte sich wieder auf.

»Ihnen tut es leid?«, rief Chambers mit einem ungläubigen Kopfschütteln.

»Es ist gleich hinter den Bäumen da!«, rief Deano, der seine Lektion offenbar noch nicht gelernt hatte, denn er lief weiterhin drei Schritte vor dem Auto her.

Widerwillig gab Chambers Gas. Er versuchte, ausreichend Abstand zu halten, und parkte wenig später neben einem Streifenwagen, in dem zwei uniformierte Polizisten Schutz vor dem kalten Wind gesucht hatten, der einem entgegenpeitschte, sobald man die Tür öffnete. Er biss die Zähne zusammen, stieg aus und klappte den Kragen seines Mantels hoch, während sein Begleiter von der Parkverwaltung ihn verdutzt ansah.

»Ich habe noch nie einen schwarzen Detective gesehen«, teilte er Chambers mit.

Dieser nahm die dumme Bemerkung hin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Es gibt für alles ein erstes Mal. Obwohl – wenn man’s genau nimmt, bin ich in Wahrheit sehr, sehr, sehr dunkelbraun«, gab er in sarkastischem Tonfall zurück, während er gleichzeitig die Umgebung nach einer Leiche absuchte.

Deano lachte leise. »Ja, da haben Sie recht. Deshalb sind Sie von uns beiden auch der Detective, schätze ich mal.«

»Muss wohl«, entgegnete Chambers. Dann runzelte er die Stirn, da er außer zahlreichen Fußabdrücken um den steinernen Sockel eines Standbilds herum nichts sehen konnte. »Der Teufel steckt ja bekanntlich immer im Detail … Details wie: Wo ist die Leiche, die ich mir anschauen soll?«

In dem Moment wurde eine Autotür zugeschlagen: Einer der uniformierten Polizisten hatte sich ein Herz gefasst und wieder ins Freie gewagt. Er hatte dunkelblondes zurückgekämmtes Haar und war mindestens zehn Jahre jünger als Chambers – einundzwanzig, wenn es hochkam. Er verstaute den Rest eines Schokoriegels in seiner Hosentasche und trat auf den Detective zu, um ihm die Hand zu schütteln.

»DS Chambers?«, fragte er mit Südlondoner Akzent. »Adam Winter. Und das da …« Er deutete auf seine Partnerin, eine große, stämmige Frau mit beinahe wikingerhaftem Aussehen, die ihm missmutig folgte. »… ist Reilly.« Die Frau nickte knapp, ehe sie sich wieder der Aufgabe widmete, nicht zu erfrieren. »Wir sind uns schon mal begegnet«, fuhr Winter fort. »Beim Springer-Fall.«

Chambers nickte. »Mit der …«

»Sache.«

»Und der …«

»Anderen Sache.«

»Ja, ich erinnere mich.«

Die Unterhaltung geriet ins Stocken, als ein bitterkalter Windstoß zwischen den Bäumen hindurchfegte und beide Männer einen Moment brauchten, um sich dagegen zu wappnen.

»Jesus Christus«, schimpfte Winter und schüttelte sich.

»Also. Mir wurde mitgeteilt, Sie hätten unter einer Statue eine Leiche gefunden?«, sagte Chambers beiläufig. Er vermutete, dass die Fahrt hier raus pure Zeitverschwendung gewesen war. »Mit der Zentrale ist es manchmal so, als würde man Stille Post spielen«, scherzte er, weil er keinesfalls den Anschein erwecken wollte, als würde er dem jungen Constable die Schuld geben. Er hatte schon genug Feinde.

»Ohne Witz«, sagte Winter und lotste ihn zum Sockel, wo sich zu den Dutzenden von Fußabdrücken im Gras nun auch noch seine eigenen hinzugesellten. »Ähhh … die Leiche ist allerdings nicht unter der Statue … Die Leiche ist die Statue.«

Chambers zog ungläubig die Augenbrauen hoch, ehe er zu dem mit Eis bedeckten Standbild aufblickte, das drei Meter über ihnen auf seinem steinernen Podest thronte.

»Wurde zum ersten Mal gegen halb zwölf von einer Joggerin bemerkt.«

Chambers warf einen Blick auf die Uhr.

»Mittags«, stellte Winter klar. »Um halb zwölf Uhr mittags.«

Durch diese Information nur noch mehr verwirrt, trat Chambers einige Schritte zurück, um die Szene in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er auf das, was er nach wie vor für ein altes, verwittertes Kunstwerk hielt: Auf dem rauen steinernen Sockel saß nackt ein muskulöser Mann, das Kinn auf die rechte Faust gestützt, als wäre er tief in Gedanken versunken. An den Stellen, die dem Wind ausgesetzt waren, bedeckten winzige Eiszapfen die Oberfläche der Statue wie Fell, während sie auf der dem Wind abgewandten Seite eine bläuliche Färbung angenommen hatte.

Chambers war nach wie vor skeptisch, während Winter mit seiner Erklärung fortfuhr. »Sie hat ausgesagt, sie sei schon hundertmal an dem Standbild vorbeigelaufen, ohne es wirklich zu beachten, aber diesmal kam es ihr irgendwie anders vor. Sie hat den ganzen Tag darüber nachgegrübelt, bis sie dann heute Abend noch mal zurückgekommen ist und festgestellt hat, dass wirklich was nicht stimmt – in erster Linie die Tatsache, dass es sich in Wahrheit um einen erfrorenen Mann handelt.«

»Und der soll den ganzen Tag da oben gesessen haben?«, fragte Chambers, während er um den Sockel herumging, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. »Ohne dass es jemandem aufgefallen wäre?«

»Würde es Ihnen denn auffallen?«

»Mir ist es immer noch nicht aufgefallen«, räumte Chambers ein, ehe er abermals blinzelnd zu der Statue emporspähte.

»Ich würde sagen«, meldete sich Winters Furcht einflößende Kollegin, deren Namen er bereits wieder vergessen hatte, zu Wort, »wir können das als bizarre Selbstmordmethode Nummer sieben Millionen und eins verbuchen. So was kommt in Parks ziemlich oft vor. Aber was weiß ich schon? Das müssen natürlich Sie in Ihrer unendlichen Weisheit entscheiden.«

Die Frau hatte ganz offensichtlich ein Problem mit ihm, aber Chambers war zu verfroren und zu müde, um sich auf eine Auseinandersetzung mit ihr einzulassen.

»Tut mir leid wegen der«, sagte Winter und deutete kopfschüttelnd auf seine Partnerin. »Wenn man sie kennt, ist sie ein echter Sonnenschein. Stimmt’s, Kim?«, rief er, wofür er statt einer Antwort lediglich einen ausgestreckten Mittelfinger kassierte.

»Waren Sie schon oben?«, fragte Chambers.

»Wollte den Tatort nicht verunreinigen.« Winter lächelte ihn an. Er hatte seinen Joker perfekt ausgespielt. »Außerdem, na ja … Wir dachten uns, er läuft ja nicht weg.«

Chambers stieß einen zitternden Seufzer aus. »Wir können nicht viel tun, so ganz ohne Lei…«

»Es ist eine in den Sockel eingebaut«, warf Deano, der dem Gespräch gelauscht hatte, hilfsbereit ein. »Hinten.«

Winter machte keine Anstalten, sein Grinsen zu verbergen. Chambers hingegen hätte heulen können.

»Hervorragend.«

Die fünfzehn Sprossen kamen ihm deutlich mehr vor, und der beißende Wind gewann mit jedem Zentimeter des Aufstiegs an Kraft, ehe Chambers, eine Mini-Taschenlampe zwischen den Zähnen, endlich die flache Oberfläche des Sockels erreicht hatte. Die sitzende Gestalt kehrte ihm ihren breiten Rücken zu. Aus der Nähe wirkte sie genauso makellos und unbelebt wie vom Boden aus. Vorsichtig balancierte Chambers über die vereiste Oberfläche, nahm die Taschenlampe aus dem Mund und ließ den Strahl über die opake Patina wandern. Er war sich immer noch nicht sicher, womit er es zu tun hatte … bis sein Blick auf die Armbeuge der Statue fiel: auf eine Falte in der bläulich verfärbten Haut – denn dass es Haut war, daran bestand nun kein Zweifel mehr. Obwohl er insgeheim damit gerechnet hatte, erschrak Chambers und ließ die Taschenlampe fallen, die vom Sockel rollte und wie eine Sternschnuppe in hohem Bogen durch die Luft segelte.

»Scheiße!«, fluchte er leise und ein wenig verlegen.

»Alles klar da oben?«, rief Winter.

»Alles okay!«, antwortete er, ehe er sich zaghaft aufrichtete, um im Schein des Mondes das erfrorene Gesicht der männlichen Leiche zu inspizieren. Es war attraktiv – sehr attraktiv, wie das eines Filmstars, mit perfekt proportionierten Zügen. Vielleichtwar er Schauspieler, überlegte Chambers. Das hätte jedenfalls zu der aufmerksamkeitsheischenden Mentalität gepasst, die man brauchte, um nackt auf einen Denkmalsockel zu steigen, sich in Pose zu werfen und reglos sitzen zu bleiben, bis man durchgefroren war.

Allmählich etwas trittsicherer, stellte Chambers sich hin und beugte sich dichter über die Leiche, um nach Identifikationsmerkmalen oder unveränderlichen Kennzeichen zu suchen. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von dem des Toten entfernt, sodass sein Atemnebel von der glänzenden Haut zurückgeworfen wurde.

Irgendetwas stimmte nicht … Er konnte nicht genau sagen, was es war. Vielleicht lag es an den Augen? Eisblau … intensiv … stechend … Dies war nicht der leere, glasige Blick eines Verstorbenen.

Wie hypnotisiert starrte er hinein … bis er plötzlich von einer Hand gepackt wurde.

Instinktiv wich Chambers zurück, riss seinen Arm aus dem Griff und spürte, wie er den Halt verlor. Im Fallen schnappte er nach Luft, die ihm beim Aufprall auf den Erdboden prompt aus der Lunge gepresst wurde.

»Detective!«, rief Winter, der als Erster zu ihm geeilt kam.

»Er …«, ächzte Chambers, der auf dem Rücken lag und hinauf in den Nachthimmel blickte. »Er …«

»Was? Ich kann Sie nicht verstehen! Bleiben Sie einfach still liegen!« Winter wandte sich an seine Partnerin. »Ruf einen Krankenwagen!« Chambers machte Anstalten, sich aufzusetzen. »Bitte, Sir, nicht bewegen!«

»Er ist … er ist noch … am Leben!«, japste Chambers, ehe er sich wieder zu Boden sinken ließ. Er rang verzweifelt nach Atem, während die entsetzten Mienen der beiden Kollegen urplötzlich hektischer Geschäftigkeit wichen.

Er selbst lag einfach nur da, unfähig, etwas anderes zu tun, als zu den funkelnden Sternen und der tragischen Gestalt von nahezu unmenschlicher Schönheit über ihm emporzuschauen.

Winter hatte dem reglosen Mann seine Jacke um die Schultern gelegt. Das war gut gemeint, aber ungefähr so hilfreich, als würde man mit einem Schwamm gegen einen Tsunami ankämpfen. Sie hatten versucht, ihn von der Stelle zu bewegen, jedoch festgestellt, dass ein Großteil seiner Gelenke vollkommen steif gefroren war, und aufgrund der sitzenden Position war jeder Plan, ihn ohne Hilfsmittel vom Sockel zu heben, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Also blieb Winter oben bei dem Mann hocken und murmelte unablässig tröstende, wenngleich leere Versprechungen, um die Zeit zu überbrücken, bis Deano einer ganzen Prozession von Blaulichtern den Weg auf die Lichtung gewiesen hatte.

Chambers rappelte sich gerade rechtzeitig wieder auf, um den Einsatzkräften Platz zu machen. Mithilfe eines Kirschenpflückers breiteten zwei Feuerwehrleute Decken über den halb erfrorenen Mann, ehe sie ihn vom Sockel herunter in einen Rollstuhl manövrierten, wobei sich seine Körperhaltung kaum veränderte. Auf festem Boden angekommen, übergaben sie den Patienten an die Sanitäter, die mit ihm sofort zum Krankenwagen eilten.

»Ich hoffe, Sie hatten nicht die Absicht, im nächsten halben Jahr irgendwann mal zu schlafen«, witzelte Winter, während er sich zu Chambers gesellte, der dem medizinischen Personal bei der Arbeit zusah. Sie hatten Mühe, den Mann an ihre Apparate anzuschließen. »Ich glaube, ich habe heute Abend ziemlich große Scheiße gebaut.«

Chambers gab keine Antwort. Er mochte den redseligen Officer, aber seiner treffenden Selbsteinschätzung konnte er nur schwer widersprechen.

»Ich meine – wir waren eine gute Stunde vor Ihnen hier«, fuhr Winter fort. »Ich hätte da raufklettern müssen … oder?«

Chambers drehte sich zu ihm um. Dies war einer jener Momente, in denen er, als der Ältere und Erfahrenere, dem jungen Mann eine Perle unschätzbarer Weisheit schenken konnte, die diesem noch auf viele Jahre hin nützlich sein würde. »Stimmt.«

Man sah Winter an, dass er sich Vorwürfe machte, trotzdem wechselte er das Thema. »Keine Anzeichen von Gewalteinwirkung?«

»Hab jedenfalls keine gesehen.«

»Wer tut sich so was an?«

Chambers öffnete den Mund, um zu antworten, als es hinten am Krankenwagen plötzlich laut wurde.

»Defi!«

Ein monotones Piepsen schallte über die Lichtung, während Sanitäter und Notarzt hilflos herumstanden.

»Geladen!«

»Schock!«

Trotz des Stromstoßes, der durch seinen Körper jagte, bewegte sich der Mann kaum.

»Kein Puls!«

»Laden!«

Das Unvermeidliche nahm seinen Lauf. Chambers kehrte den vergeblichen Wiederbelebungsmaßnahmen den Rücken zu und ging noch einmal zum nunmehr leeren Denkmalsockel zurück.

»Also, was halten Sie davon?«, fragte Winter, der ihm gefolgt war. » … Detective Chambers?«

»Wer tut sich so was an?«, murmelte dieser, noch immer in Gedanken versunken, anstelle einer Antwort, während er die Fußabdrücke inspizierte. »Das ist extrem, keine Frage. Und trotzdem kommt es mir ein bisschen …« Er suchte nach dem passenden Wort, während der Mann, über den sie redeten, keine zwanzig Meter entfernt mit dem Tode rang. » … halbherzig vor.«

»Halbherzig?«, fragte Winter und klang nur ein kleines bisschen entsetzt.

»Die Joggerin hätte es schon vor zwölf Stunden melden können«, argumentierte Chambers und schaute zu den dunklen Bäumen hinüber, als stünde dort jemand. »Dann wäre die Sache ganz anders ausgegangen.«

»Richtig.«

»Und warum hier?«, fuhr er fort. »Wir sind an einem öffentlichen Ort, aber gleichzeitig ist diese Stelle auf fast allen Seiten durch Bäume verdeckt. Außerdem befand er sich nur drei Meter über dem Boden. Wenn ihm ein großes Spektakel vorschwebte, warum ist er dann nicht auf die Nelson-Säule geklettert oder hat sich zumindest einen Ort ausgesucht, an dem etwas mehr los ist?«

» … halbherzig«, wiederholte Winter und betrachtete den Detective fasziniert.

»Halbherzig.« Chambers nickte, ehe er den Blick endlich von den Bäumen losriss.

Als die letzten, eher symbolisch gemeinten Versuche einer Herzmassage nachließen und schließlich ganz eingestellt wurden, seufzte Winter. »Tja, so wie es aussieht, hat er trotzdem bekommen, was er wollte.«

»Ehrlich gesagt«, meinte Chambers, der in die Hocke ging, um einige der Fußabdrücke genauer zu betrachten, »bin ich mir da nicht so sicher.«

Freitag

K a p i t e l  2

»Detective? … Detective?«

Chambers erwachte mit einem Ruck, packte die Frau vor sich am Laborkittel und blickte mit wirren Augen zu ihr auf.

»Ganz ruhig!«, sagte Dr. Sykes, die Leitende Rechtsmedizinerin von New Scotland Yard.

Nachdem er sich einen Moment Zeit genommen hatte, um seine triste Umgebung in Augenschein zu nehmen, ließ er die Medizinerin los und rieb sich das Gesicht. »Entschuldigung!«

»Nichts passiert«, meinte Sykes lächelnd. Wahrscheinlich war sie nur noch ein oder zwei Jahre von der Pensionierung entfernt und konnte auf tätliche Angriffe am frühen Morgen gut verzichten. »Lange Nacht gehabt?«

»Kann man so sagen«, antwortete Chambers, wortkarg wie immer.

»Haben Sie denn bald Dienstschluss?«

Er warf einen Blick auf seine Uhr. » … Vor zwei Stunden.«

Sykes zog die Augenbrauen hoch. »Wie wär ’s, wenn wir Ihnen einen Kaffee besorgen?«

Da der Patient offiziell der Verantwortung der Notfallsanitäter übergeben worden war, hatten diese die tauende Leiche vorschriftsgemäß ins St. Mary’s Hospital gebracht, sodass Chambers den Rest seiner Dienstzeit damit verbringen musste, ihre Verlegung ins rechtsmedizinische Labor zu organisieren, damit sie forensisch untersucht werden konnte. Nachdem er dies endlich geschafft hatte, war er auf einem der Plastikstühle im Gang eingeschlafen, bis er von der Person geweckt wurde, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte.

»Ich bin sowieso schon mit meiner Arbeit im Rückstand«, sagte Sykes, während sie an ihrem Kaffee nippte. »In London wurde in der letzten Woche besonders eifrig gemordet.«

»Schauen Sie kurz in die Akte. Mehr verlange ich gar nicht.«

»Detective, ich …«

»Werfen Sie einfach nur einen Blick rein.«

Sichtlich gereizt, stellte die Rechtsmedizinerin ihre Tasse hin und nahm die Fotokopie des Fallberichts sowie das dazugehörige Behandlungsprotokoll der Sanitäter von ihm entgegen. Mit gerunzelter Stirn überflog sie die erste Seite.

»Merkwürdiger Fall, das gebe ich zu«, räumte sie ein, nachdem sie den Bericht vollständig gelesen hatte. »Und Sie vermuten Fremdeinwirkung?«

»Nur so ein Gefühl.«

»Wegen eines Gefühls kann ich den Fall nicht vorziehen«, beschied ihn Sykes und ließ die Unterlagen in ihren Schoß sinken, während sie auf weitere Erklärungen wartete.

»Ich …« Chambers zögerte. Er hatte noch keine rechte Ordnung in seine Gedanken gebracht. »Es gab Dutzende Schuhabdrücke am Tatort, aber keine von nackten Füßen. Die Kollegen haben die ganze Nacht lang den näheren Umkreis abgesucht und in alle Abfalleimer geschaut. Es wurden weder Kleidungsstücke noch Schuhe gefunden.«

»Ihrem Bericht zufolge hat er mindestens zwölf Stunden da oben gesessen. In der Zeit können Fußabdrücke verwischt werden oder sogar komplett verschwinden, zumal die wärmsten Stunden des Tages in dieses Zeitfenster fallen. War es gestern zwischendurch mal über null?«

»Knapp.«

Die Medizinerin zuckte mit den Achseln, wie um zu sagen: Na also, da haben Sie’s.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er nackt so weit durch einen Londoner Park laufen kann, ohne dass ihn jemand bemerkt.«

»Es sind schon seltsamere Dinge passiert«, meinte Sykes, die Gefallen an ihrer Rolle als Advocatus Diaboli gefunden zu haben schien.

»Okay. Rein theoretisch wäre es möglich.«

»Könnte er seine Kleider irgendwo vergraben haben?«

Chambers wollte die Theorie schon abschmettern, doch dann kam er zu dem Schluss, dass sie vielleicht gar nicht so dumm war. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rieb sich ein weiteres Mal das müde Gesicht, auch wenn er das Gefühl hatte, einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen.

»Also schön«, sagte Sykes. »Ich schaue ihn mir heute im Laufe des Vormittags an. Fahren Sie nach Hause, ruhen Sie sich aus. Rufen Sie mich gegen Mittag an.«

Chambers schenkte ihr ein erschöpftes Lächeln. »Ich bin Ihnen was schuldig.«

Leichtsinnigerweise hatte Chambers es für eine gute Idee gehalten, auf seinem Weg aus dem Gebäude noch einen Abstecher zu seinem Schreibtisch zu machen, weil er während der vergangenen Schicht nicht ein einziges Mal dort gewesen war.

Gleich beim Betreten des Büros stellte er fest, dass jemand die alte Weihnachtsdekoration zweckentfremdet hatte. Auf seinem Stuhl thronte ein eins fünfzig großer Schneemann, und sein Computer war mit einer Schicht Watte bedeckt. Erwartungsvolle Mienen wichen allgemeinem Gelächter, als er die oberste Schreibtischschublade aufzog und merkte, dass sie bis zum Rand mit künstlichem Schnee gefüllt war. Er nickte grinsend, um kein Spielverderber zu sein, obwohl ihm das Ausmaß der Sauerei schon beinahe bösartig vorkam.

»Deckung, Deckung, Deckung!«, warnte DI Graham Lewis, sein ehemaliger Ausbildungsleiter, inzwischen einer seiner wenigen noch verbliebenen Freunde und ein Mann der leisen Töne. »Der Boss sucht dich.«

Chambers kauerte sich hinter den lädierten Schneemann, während Lewis ein freundliches Lächeln aufsetzte.

»Morgen, Boss.«

»Schleimen Sie nicht so rum, Lewis.«

»Jawohl, Sir … Okay, er ist weg.«

Chambers kam aus seinem Versteck hervor und zeigte auf den Schreibtisch. »Ich nehme an, du hast auch schon davon gehört?«

Lewis nickte. »Du weißt ja, Neuigkeiten verbreiten sich hier schnell.« Er zögerte. Wie so oft fiel es ihm zu, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein, zumal er dank jahrelanger Berufserfahrung das bürokratische Unwetter, das auf seinen Freund niedergehen würde, bereits vorausahnte. »Du bist hochgestiegen, um die Leiche zu begutachten, sobald es die Sicherheitslage deiner Einschätzung nach erlaubte. Was auch immer du tust, sag bloß nicht ›Ich dachte, er wäre tot‹ oder ›Er hat tot ausgesehen‹ oder irgendwas in der Richtung. Bei der Sache werden Köpfe rollen, und Hamm hat es auf deinen abgesehen. Und jetzt sieh zu, dass du nach Hause kommst, bevor er …«

»Chambers!«

»Scheiße«, zischte Lewis.

»Ja, Boss?«, rief Chambers quer durchs Büro. Seine Kollegen hatten dasselbe schadenfrohe Grinsen im Gesicht wie kurz zuvor bei seinem Eintreten, als er mit dem Winter-Wunderland auf seinem Schreibtisch konfrontiert worden war.

»In mein Büro! Sofort!«

»Sobald es die Sicherheitslage deiner Einschätzung nach erlaubte«, schärfte Lewis ihm nochmals leise ein.

DCI Hamm hatte seinen Posten erst seit achtzehn Monaten inne. Das war kurz genug, um von engen Freunden und ehemaligen Weggefährten nach wie vor als einer der Ihren betrachtet zu werden, und alten Bündnissen sei Dank wurde jegliche Kritik an seiner unverhohlenen Günstlingswirtschaft und fragwürdigen Beförderungskriterien im Keim erstickt. Immerhin war Hamm vernünftig genug, seine extreme Abneigung und sein beleidigendes Verhalten gegenüber Chambers seit der Beförderung ein wenig zu zügeln, was seine Attacken, wenn sie dann kamen, allerdings umso unberechenbarer machte.

»Hinsetzen!« Chambers tat wie geheißen. »So … was zum Teufel ist da los?«

»Das steht alles im Bericht, Sir.« Chambers schnitt eine Grimasse. Es war nicht seine Absicht gewesen, so sarkastisch zu klingen. »Ich kam am Tatort an, wo mir die Situation erläutert wurde. Sobald ich die Lage als sicher eingeschätzt habe, bin ich zum Opfer hochgeklettert.«

»Opfer?«, höhnte Hamm und kaute heftig auf dem Kaugummi, den er permanent im Mund zu haben schien. »Keine Anzeichen von Verletzungen. Er saß einfach nur da. Er hat sich das ganz eindeutig selbst angetan. Das ist ja, als würde ich behaupten, mein fetter Arsch wäre ein ›Opfer‹ meiner Vorliebe für KFC.«

»Dann eben zum Verstorbenen«, sagte Chambers. »In dem Moment habe ich jedenfalls erkannt, dass er noch lebte, und sofort den Notarzt verständigt.«

»Mhm«, machte Hamm, dessen Augen fast aus ihren Höhlen traten, während er seinen Untergebenen auf kleinste Anzeichen von Schwäche oder Zweifel hin beobachtete.

»Bei allem Respekt, Sir.« Wieder zuckte Chambers zusammen. Er musste wirklich damit aufhören. »Ich hatte vor zweieinhalb Stunden Dienstschluss. Ich bin völlig erledigt.«

Nach einem kindischen Versuch, ihn niederzustarren, machte Hamm eine wegwerfende Handbewegung. »Dann gehen Sie.«

Chambers stand auf und streckte die Hand nach der Türklinke aus.

»Eine Sache noch«, stieß Hamm hervor, woraufhin Chambers wie angewurzelt stehen blieb. »Was ist Ihre Meinung zu diesem Constable Winter?«

Chambers’ Mut sank. Wie es aussah, forderte die Chefetage ihr Pfund Fleisch.

Er zwang sich, eine neutrale Miene aufzusetzen, dann drehte er sich zu seinem Boss um. »Zu wem?«

»Adam Winter. Er wird im Bericht genannt, weil er als Erster am Tatort war«, erklärte Hamm und nahm die Akte vom Tisch.

»Ach so. Da waren zwei«, sagte Chambers. »Er hatte noch eine Partnerin.«

»Irrelevant. Es war Winters Auftrag … Also?«

Rasch ging Chambers im Kopf seine begrenzten Optionen durch.

»Völlig inkompetent«, antwortete er brüsk. »Ich überlege, ob ich Beschwerde gegen ihn einreichen soll. Typischer Möchtegern-Ermittler – kann sein eigenes Ego nicht lange genug im Zaum halten, um auch nur die Grundlagen korrekt zu erledigen. Ich würde Ihnen empfehlen, dafür zu sorgen, dass er wegen dieses Fiaskos seinen Job verliert.«

Hamm wirkte angesichts dieser hitzigen Reaktion ein wenig verblüfft. »Würden Sie das?«

»Ja, das würde ich … Sir.« Diesmal benutzte er das Wort mit voller Absicht.

»Nun, ich werde mir Ihren Rat zu Herzen nehmen. Sie können jetzt gehen.«

Chambers nickte und schloss die Tür hinter sich. Hoffentlich würde sein vernichtendes Urteil über den Kollegen seinen Boss dazu bewegen, die richtige Entscheidung zu treffen.

Um zehn Uhr fünfunddreißig stolperte Chambers durch die Tür seiner Loftwohnung in Camden. Eine Erbschaft, bedauerlich, aber zur rechten Zeit, hatte es ihm ermöglicht, auf dem überstrapazierten Londoner Immobilienmarkt Fuß zu fassen. Er ging in die Küche, weil sein verwirrter Magen vor Hunger knurrte, und fand einen Zettel an der Kühlschranktür.

Musste los.Schlaf gut.E. x

Lächelnd nahm er den Zettel ab. Er wollte ihn schon in den Mülleimer werfen, zögerte dann jedoch. Es mochte irrational sein, aber er fühlte sich schuldig, wenn er etwas zerstörte, das Eve ihm geschenkt hatte, mochte es auch noch so klein und unwichtig sein. Er öffnete eine Schublade und schob den Zettel unter die Bedienungsanleitungen für Mikrowelle und Anrufbeantworter, wo sie ihn hoffentlich niemals finden würde.

»Was ist los mit dir?«, tadelte er sich selbst und durchstöberte den Kühlschrank nach Resten, ehe er ins Schlafzimmer ging.

Er hatte sich gerade das Hemd ausgezogen und die Zähne geputzt, als das Telefon klingelte. In seiner Erschöpfung hatte er vergessen, den Stecker zu ziehen. Nach einem sehnsuchtsvollen Blick auf sein Bett ging er zurück in den Flur und nahm den Hörer ab. »Ja?«

»Detective? Hier ist Charlotte Sykes … aus der Rechtsmedizin.«

»Oh, hallo.« Chambers fragte sich, wie die Rechtsmedizinerin an seine Nummer gekommen war.

»Tut mir leid, dass ich Sie zu Hause belästige. Wir können auch später reden, wenn es Ihnen lieber ist?«

»Nein, schon gut.« Er gähnte und streckte den freien Arm aus, um sich am Deckenbalken über seinem Kopf festzuhalten.

»Ich dachte mir nur, Sie möchten lieber gleich wissen, dass Sie richtiglagen.«

»Ich lag richtig?«

»Mit Ihrem Gefühl. Denn es ist absolut ausgeschlossen, dass der Mann Selbstmord begangen hat … Jemand hat ihm das angetan.«

Chambers rieb sich die brennenden Augen. Er war schrecklich müde. »Ich komme, so schnell ich kann.«

K a p i t e l  3

Chambers war in der U-Bahn eingeschlafen und hatte seine Station verpasst. Wütend auf sich selbst, stieg er in Victoria aus und machte sich auf den Fußmarsch zurück durch die eisige Stadt – dreckiger Schneematsch auf den Straßen, der Wind, die vom Fluss heraufsteigende Kälte – und das Labyrinth aus grauen Gebäuden. Nachdem er bei New Scotland Yard die Sicherheitsschleuse passiert hatte, warf ihm Lewis, der ihm im Foyer entgegengeeilt kam, einen fragenden Blick zu. »Was machst du denn schon wieder hier?«, fragte er genervt. »Sieh zu, dass du wegkommst! Der Boss sucht dich.«

»Schon wieder?«, klagte Chambers.

»Ja. Schon wieder. Fahr nach Hause.«

»Kann ich nicht. Aber ich gehe ihm aus dem Weg.«

Kopfschüttelnd trat Lewis zur Seite, um seinen Freund durchzulassen.

In einer taktisch klugen, aber kräftezehrenden Entscheidung nahm Chambers die Treppe. Es galt nicht nur, eine Begegnung mit DCI Hamm zu vermeiden, sondern auch mit seinem Netzwerk geschwätziger Untergebener. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, eilte er den Gang der Forensik entlang und klopfte an die Tür am hinteren Ende. Doch kaum dass er die Schwelle übertreten hatte, entglitten ihm seine Gesichtszüge.

»Scheiße!«

»Das kann man wohl sagen«, pflichtete Hamm ihm bei, der sein Gespräch mit Dr. Sykes unterbrach, um sich vor Chambers aufzubauen. »Nachdem Sie weg waren, habe ich eine Anfrage auf Bewilligung von Überstunden auf den Tisch bekommen. Anscheinend wurden zwei Assistenten angewiesen, wenige Minuten vor Ende ihrer Schicht eine Leiche unnötigerweise quer durch die Stadt zu transportieren.«

Chambers öffnete den Mund, doch Hamm ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ich habe mir natürlich gesagt: ›Das kann nicht stimmen. Keiner meiner Detectives wäre so dumm oder so dreist, so was eigenmächtig, ohne vorherige Absprache mit mir zu entscheiden.‹ Nicht wahr, Chambers?«

»Ich bin nicht für deren Dienstplan verantwortlich … Sir«, gab er zurück. Aufgrund des Schlafmangels war seine Lunte kurz. »Sie haben einen Job. Ich habe sie nur gebeten, ihn zu erledigen.«

Wie um zu demonstrieren, dass er für seinen Posten gänzlich ungeeignet war, versetzte Hamm Chambers einen heftigen Stoß. Dann kam er ihm unangenehm nah, obwohl er gut fünfzehn Zentimeter kleiner war als der groß gewachsene Detective. »Wollen Sie, dass ich Sie hier und jetzt vom Dienst suspendiere?«

» … nein, Sir.«

»Jungs! Jungs! Jungs!«, mahnte die ältere Frau, die durchaus furchteinflößend sein konnte, wenn sie wollte.

Hamm funkelte Chambers immer noch finster an, ging jedoch einen Schritt auf Abstand. »Dann muss ich erfahren, dass Sie unsere leitende Rechtsmedizinerin auf Ihren lächerlichen Selbstmord angesetzt haben, statt dass sie an den vier Mordfällen arbeitet, die wir allein gestern reinbekommen haben!«

Ruhig wischte Chambers sich die Speicheltröpfchen aus dem Gesicht. »Fünf.«

»Wie bitte?«

»Fünf Mordfälle«, korrigierte Chambers seinen Boss und schielte zu Sykes.

»Er hat recht«, bestätigte die Rechtsmedizinerin. »Und aufgrund des … Zustands der Leiche mussten wir schnell handeln. Mit jedem Grad, das sie auftaut, riskieren wir, Spuren zu vernichten.«

Hamms verkniffener Gesichtsausdruck blieb, aber man sah, dass die fachliche Einschätzung der Rechtsmedizinerin seinen Zorn ein wenig gedämpft hatte. Abermals richtete er das Wort an Chambers. »Wenn Sie noch einmal hinter meinem Rücken agieren, Bürschchen, dann mache ich Sie fertig … Haben wir uns verstanden?«

»Jawohl, Sir.«

Hamm marschierte aus dem Raum, und Chambers und Sykes blieben allein mit der Leiche zurück. Sie stellten sich zu beiden Seiten des Stahltischs auf. Die zuvor eisig glatte, wie glasiert wirkende Haut des Mannes war voller Flecken. Zwei Finger seiner linken Hand waren vom Grundgelenk an schwarz verfärbt.

»Erfrierungen«, erklärte Sykes, als sie merkte, wie Chambers sie betrachtete. »Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass er an kritischer Hypothermie litt, als Sie ihn fanden. Seine Organfunktion war kaum noch ausreichend, um ihm am Leben zu erhalten. Dann kamen die Notfallsanitäter und haben ihn viel zu schnell aufgewärmt. Das hat seinem Organismus den Rest gegeben.« Sie seufzte. »Wahrscheinlich hätte es ohnehin keinen Unterschied gemacht. Ich muss Ihnen was zeigen. Helfen Sie mir, ihn umzudrehen.«

Sie streiften sich Einmalhandschuhe über und bemühten sich, den schweren Leichnam weit genug anzuheben, dass der rote Punkt in seinem Nacken sichtbar wurde.

»Sehen Sie die Einstichstelle?« Es war eine rhetorische Frage, da Sykes den Toten bereits wieder losgelassen hatte. »Ihm wurde etwas injiziert … ein recht unangenehmer Cocktail, so wie es aussieht. Ich bin noch dabei, zu ermitteln, woraus genau er bestand – was davon sich Diätpillen, Proteinpräparaten oder Anabolikamissbrauch zuordnen lässt. Eine etwas voreingenommene, aber begründete Vermutung, basierend auf seinem körperlichen Erscheinungsbild.«

»Macht Sinn«, sagte Chambers.

»Ein Stoff, der allerdings ganz sicher nichts in seinem Blut zu suchen hatte, war eine recht hohe Dosis von Pancuroniumbromid.«

Chambers machte ein verständnisloses Gesicht.

»Es wird bei chirurgischen Eingriffen verwendet, bei denen der Patient bei Bewusstsein bleiben, aber das Risiko jeder noch so kleinen Muskelbewegung ausgeschlossen werden muss. Ohne einen klaren Zeitrahmen und in Anbetracht der extremen Temperaturverhältnisse ist es unmöglich, auch nur annähernd zu sagen, wie viel davon ihm verabreicht wurde.«

»Und er hätte sich das auf keinen Fall selbst spritzen können?«, fragte Chambers.

»Im Bericht steht nichts davon, dass eine Spritze oder Ampulle am Tatort gefunden wurde, und ich glaube nicht, dass er noch ausreichend Kontrolle über seine Gliedmaßen besaß, um sie weit wegzuwerfen. Ich würde vermuten, dass das Opfer sich in einem fast tranceartigen Zustand befand – wach, aber komplett willenlos. Er besaß gerade noch genug Muskeltonus, um die Position zu halten, in die ihn der Täter gebracht hat.«

»Dann ist er weggegangen und hat ihn erfrieren lassen. Wie krank.«

»Hier unten gibt es nur selten erbauliche Geschichten«, meinte Sykes mit einem Achselzucken. »Wissen Sie schon, wer er war?«

»Noch nicht. Fitnessstudios und Freizeitzentren scheinen mir ein guter Ansatzpunkt zu sein.« Chambers fiel etwas auf, und er bückte sich, um die Finger an der rechten Hand der Leiche genauer zu betrachten: Dort befand sich eine frische Wunde, die anders aussah als die anderen auf seiner vom Frost geschädigten Haut.

»Klebstoff«, teilte Sykes ihm im Vorgriff auf seine Frage mit. »Ähnliche Stellen befinden sich unter dem Kinn, am linken Unterarm, am linken Knie sowie an beiden Gesäßhälften. Primitive Methode, aber …« Sie verstummte. »Also. Erste Eindrücke?«

»Der Verdächtige ist männlich … höchstwahrscheinlich. Jedenfalls ist er stark genug, um diesen gut zweihundertfünfzig Pfund schweren Kerl durch die Gegend zu wuchten. Die Tat scheint mir eine persönliche Komponente zu haben: die Bloßstellung, indem er sein Opfer nackt auszieht und auf diese Weise präsentiert. Die Grausamkeit, ihn da oben erfrieren zu lassen. Das geschah mit Vorsatz … Es war geplant … und kaltblütig.«

Sykes nickte zustimmend. »Wir können nur hoffen, dass er nicht noch mehr Feinde da draußen hat.« Als Chambers sich mit besorgter Miene zur Medizinerin umwandte, lächelte sie unbeholfen. »Ich meine ja nur.«

»Nächste Station High Barnet. Dieser Zug endet dort. Bitte alle umsteigen. Bitte alle umsteigen.«

Chambers schaute mit glasigem Blick erst nach links und dann nach rechts in den menschenleeren Wagen. »Kacke!«

Als er irgendwann in Camden Town aus dem Fahrstuhl stieg, warf er einen Blick auf seine Uhr und stellte bestürzt fest, dass er nur noch vier Stunden und zehn Minuten Zeit hatte, bis sein Wecker klingelte und er wieder zur Arbeit musste. Weil er hungrig war, schlug er den Weg zu KFC ein. Aus irgendeinem Grund hatte er seit seinem Gespräch mit Hamm am Morgen Lust auf Fried Chicken.

Einen Super Deal Bucket in der Hand, suchte er sich eine Parkbank, auf der er sein Mahl verspeisen konnte, damit Eve es nicht in der Wohnung roch und ihm wieder einen Vortrag über seinen wachsenden Bauchumfang hielt. Irgendwann wurde ihm bewusst, dass er lange auf einen zugefrorenen Teich gestarrt hatte, während sein Essen kalt geworden war. Sein Kopf war immer noch im Dienst, seine Gedanken kreisten um tauende Leichen und leere Denkmalsockel. Er warf einen Blick über die Schulter zur Telefonzelle, schüttelte den Kopf und schob sich einige Pommes in den Mund. Er war fest entschlossen, nicht einzuknicken …

»Ich hasse mich«, brummte er und ließ ein angenagtes Hühnerbein zurück in den Eimer fallen, ehe er aufstand, um sich in die enge rote Telefonzelle zu zwängen. Er nahm den Hörer ab und wählte mit derselben Hand ungeschickt die Nummer seiner Abteilung. »Chambers hier. Stellen Sie mich zu demjenigen durch, der heute meinen Eismann-Fall bearbeitet.« Die daraufhin eintretende Pause füllte er, indem er sich noch eine Handvoll Pommes genehmigte. »Ja. Wo stehen wir, was die Identifikation des Opfers betrifft? … Mhm. Okay, bleiben Sie da dran. Haben wir noch jemanden vor Ort im Park? … Gut. Sagen Sie ihnen, sie müssen mit der Suche noch mal von vorne anfangen. Diesmal sollen sie nach Nadeln und Spritzen Ausschau halten … irgendwelche medizinischen Gegenstände … Ich weiß. Schieben Sie alles auf mich. Und wir müssen rausfinden, wo man ein Mittel namens Pancuroniumbromid erhalten kann … Nein. Pancu… Ich buchstabiere es.«

Das Telefon in einer Hand, den KFC-Bucket in der anderen, versuchte Chambers, sein Notizbuch aus der Tasche zu fischen, wobei prompt die noch verbliebenen Hühnerextremitäten auf dem Boden landeten.

»Scheiße! … Nein, nicht Sie. Ich habe mein Frühstück fallen lassen … oder mein Abendessen? Keine Ahnung. Es heißt P a n c u r o n i u m. Haben Sie das? … Eine letzte Sache noch. Ermitteln Sie, wer sich in dem Park um die Instandhaltung der Denkmäler kümmert. Warum war der Sockel leer? Ist die Statue irgendwo anders untergebracht? Hat der Täter sie mitgenommen? Wir müssen das wissen … Für den Moment wäre das alles … Ja, neunzehn Uhr. Okay. Wiederhören.«

Er ging in die Hocke, um sein kontaminiertes Hühnchen vom Boden aufzusammeln. Unwillkürlich ging sein Blick erneut zur Uhr. Jetzt blieben ihm nur noch drei Stunden und fünfundvierzig Minuten.

Um achtzehn Uhr siebenunddreißig stieg Chambers wie geplant an der Station Embankment aus und machte sich auf den kurzen Fußmarsch zum New Scotland Yard. Er war stolz, sich diesmal ohne Zwischenfälle durchs Netzwerk der U-Bahn-Linien navigiert zu haben, wenngleich nicht ausgeruhter als auf seiner Fahrt nach Hause früher am Tag. Er hatte abermals vergessen, den Telefonstecker zu ziehen, außerdem war im Gebäude gegenüber ein Feueralarm losgegangen, und zwei Zeugen Jehovas, die einer Begegnung mit ihrem Gott sehr viel näher gekommen waren, als sie vermutlich ahnten, hatten ihm wieder einmal vor Augen geführt, wie unpraktisch es war, tagsüber schlafen zu wollen. Irgendwann hatte er es aufgegeben. Er hatte ein paar Salatblätter oben auf den Mülleimer gestreut und Eve eine Nachricht an die Kühlschranktür gehängt. Wenn er mehrmals hintereinander Nachtdienst hatte, waren diese hastig hingekritzelten Wortansammlungen ihre einzige Form der Kommunikation.

»Henry John Dolan«, verkündete eine junge Detective Constable, während Chambers den Schneemann von seinem Stuhl hob. »Unser Opfer. Fitnesstrainer, Hintergrundtänzer und Z-Promi. Bestimmt erinnern Sie sich noch an seinen Auftritt als ›Muskelmann Nr. 5‹ in dieser einen Folge von Der Aufpasser?«

»Ach, der Henry John Dolan!«, gab Chambers mit ironischem Unterton zurück.

»Ich befrage morgen die Freundin. Was die Spritzen angeht, hatten wir allerdings kein Glück.«

»Was ist mit den Statuen?«, fragte Chambers und fluchte halblaut, während er versuchte, eine ganze Schubfachladung Watte in seinen Papierkorb zu stopfen.

»Das ist ein bisschen kompliziert. Der Park scheint unter der gemeinsamen Verwaltung von Royal Parks und dem Bezirk zu stehen, die solche Arbeiten wiederum an private Firmen vergeben.« Sie reichte ihm einen Zettel. »Bis dreiundzwanzig Uhr ist jemand da, falls Sie Lust haben, vorbeizufahren.«

Chambers warf einen Blick auf die Adresse und nickte. »Vielleicht mache ich das.«

Von außen sah die Werkstatt von Sleepe & Co Restaurierungs- und Konservierungslösungen nicht nach einer adäquaten Unterbringung für einige der teuersten Kunstwerke des Landes aus – nur ein schmuckloses Rolltor unter den alten Eisenbahnbögen in der Nähe des Zentrums von Hackney. Chambers suchte sich willkürlich eine Stelle am Tor aus und klopfte laut, um sich gegen das Radio zu behaupten, das im Innern plärrte. Er blickte zu der deutlich sichtbaren Kamera über dem Tor hoch, ehe ihm zwei weitere Kameras in der Nähe auffielen. Gleichzeitig verstummte drinnen die Musik.

»Wer ist da, bitte?«, rief jemand.

»Detective Sergeant Benjamin Chambers von der Metropolitan Police.«

»Können Sie sich ausweisen?«

»Ja.«

»Halten Sie ihn bitte in die Kamera.«

Chambers verdrehte die Augen, zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn über den Kopf.

»Etwas dichter, bitte.«

Brummelnd streckte er den Arm höher und stellte sich auf die Zehenspitzen. Im nächsten Moment öffnete sich das Metalltor rasselnd. Dahinter kam ein seltsam aussehender kleiner Mann zum Vorschein. Er musste jenseits der fünfzig sein und hatte Ähnlichkeiten mit einem Zyklopen, weil eins seiner Augen von einer an einem ledernen Stirnband befestigten Lupe vergrößert wurde. Er hatte den Haaransatz eines Mönchs und trug eine Schürze voller Ölflecken, die fast ebenso schmutzig war wie seine Hände und sein Gesicht.

»Entschuldigung. Man kann nicht vorsichtig genug sein«, sagte der Mann und schaute nervös in beide Richtungen die Straße hinunter, ehe er Chambers zum Eintreten aufforderte, das Tor wieder schloss und absperrte. »Tobias Sleepe«, stellte er sich vor und beäugte Chambers neugierig.

Im Innern war die Halle nur schwach beleuchtet. Vier große Standbilder standen auf hölzernen Sockeln. Über jedem hing ein einzelner Strahler, als wären sie in einer Galerie ausgestellt. Ihre Größe wirkte in der Umgebung regelrecht einschüchternd. Chambers schlenderte zwischen ihnen umher und registrierte die Details: den feinen Faltenwurf, der der bronzenen Kleidung Schwung verlieh, die Linien, die sich in müde Gesichter gegraben hatten. Er freute sich schon darauf, nach Hause zu kommen und Eve erzählen zu können, dass er nun endlich »einen Bezug zur Kunst gefunden« hatte … oder so ähnlich.

»Arbeiten Sie alleine hier?«, fragte er, während er gemächlich eine Runde durch die Halle drehte. Er registrierte die verschiedenen Werkzeuge, die auf einem Arbeitstisch lagen, eine verfärbte, mit roten Warnhinweisen bedruckte Pillendose sowie den einfachen Flaschenzug in der Mitte des Raums, dessen leeres Seil wie die Schlinge an einem Galgen erwartungsvoll in der Luft baumelte.

»Seit zweiunddreißig Jahren.«

»Harte Arbeit, möchte ich wetten«, sagte Chambers im Plauderton.

»Nicht, wenn man die richtigen Gerätschaften zur Verfügung hat«, gab der Mann zurück, ohne seinen umherwandernden Besucher aus den Augen zu lassen.

»Und Sie wohnen auch hier?«

»Manchmal … Das reicht dann auch mit den persönlichen Fragen, danke sehr.«

Lächelnd kehrte Chambers zu dem Mann zurück. »Entschuldigen Sie, ich schweife ab. Ich wollte auch immer was Kreatives machen. Die Statue aus dem Hyde Park – welche ist das?«

Der Mann kehrte ihm und den vier beleuchteten Standbildern den Rücken zu und verschwand in einer dunklen Ecke der Werkstatt. Chambers versteifte sich, als Sleepe an der Werkbank voller Geräte vorbeiging, doch dann zog er stattdessen an einem alten Tuch, unter dem das Standbild eines berittenen Mannes zum Vorschein kam, dem der rechte Arm fehlte. Sowohl dem Reiter als auch dem Pferd waren die Augen ausgekratzt worden, und eins der Pferdebeine lag kaputt in einer Kiste.