Die Muslimbruderschaft - Annette Ranko - E-Book

Die Muslimbruderschaft E-Book

Annette Ranko

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Beschreibung

Die Bilder aus Ägypten gingen um die Welt: Lautstark demonstrierende Muslimbrüder und -schwestern, vier Finger symbolisch in den Himmel gestreckt, Krawalle, Massaker des Militärs: Der Westen erschrickt über so viel Wucht und Wut der Fronten und weiß nur wenig über die Ziele und politischen Vorstellungen der Muslimbruderschaft. Wie einflussreich ist sie wirklich, wie hält sie es mit der Gewalt? Seit ihrer Gründung 1928 war die Bewegung immer wieder schweren Repressionen ausgesetzt, doch im Untergrund wurde sie stärker - bis sie nach dem Sturz Mubaraks ihre bisher größte Stunde erlebte. Nur kurz währte der Triumph; heute wirkt die Gruppe wieder im Verborgenen. Der Nahost-Expertin Annette Ranko ist es gelungen, mit führenden Muslimbrüdern zu sprechen. In ihrem eindringlichen Porträt erläutert sie Entstehung und Geschichte der Bruderschaft und wagt einen Blick in die Zukunft: Die erneute Unterdrückung birgt die Gefahr einer gefährlichen Radikalisierung, und die letzten prodemokratischen Kräfte drohen zwischen den Fronten des Militärs und des Pro-Mursi-Lagers zerrieben zu werden. Wiederholt sich nun die Geschichte?

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Rätsel um eine mächtige Verbindung

Nichts ist, wie es war: Der Arabische Frühling brachte in Ägypten wahrlich Steine ins Rollen. Viele Experten sehen in ihm eine historische Zäsur, allerdings mit offenem Ausgang. Nachdem im Zuge der Massenproteste des Arabischen Frühlings im Februar 2011 der ägyptische Präsident Husni Mubarak gestürzt worden war, sollte schon bald der politische Aufstieg einer bislang illegalen Gruppe beginnen: der Muslimbruderschaft. In den ersten freien Parlamentswahlen Ägyptens, Ende 2011/ Anfang 2012, wurde sie zunächst die mit Abstand stärkste Kraft im Parlament, und ein knappes halbes Jahr später gewann der Kandidat der Gruppe, Muhammad Mursi, sogar die Präsidentschaftswahlen. Erstmals in der Geschichte der ägyptischen Republik kam damit ein Staatsoberhaupt nicht aus den Reihen des säkular orientierten Militärs, sondern aus der islamistischen Muslimbruderschaft, die nun – nach jahrzehntelanger Illegalität – an der Spitze der Macht angelangt war.

Für viele Menschen in Deutschland und Europa kam der Höhenflug dieser Gruppe aus dem Nichts. Aus ägyptischer Perspektive war dem natürlich nicht ganz so. Die Muslimbrüder waren zwar seit den 1950er Jahren formal verboten und seither immer wieder staatlicher Repression ausgesetzt, aber schon seit den 1980er Jahren hatte das Mubarak-Regime die Gruppe begrenzt im Parlament sowie in diversen Interessengruppen toleriert. Unter Mubarak gelang es der Organisation schließlich, zur größten organisierten Opposition des Landes zu avancieren. Bei der Parlamentswahl im Jahr 2005 erzielte die Gruppe bereits 20 Prozent der Sitze und wurde damit unangefochten die stärkste Opposition im Parlament. Noch nie zuvor hatte eine oppositionelle Kraft auch nur annähernd ein solches Ergebnis in der ägyptischen Republik erzielt.

Viele Ägypter sagten damals der Gruppe eine monopolartige Stellung innerhalb der Opposition nach. Die gesamte politische Landschaft sei zugespitzt auf das Mubarak-Regime auf der einen und die Muslimbrüder auf der anderen Seite. In gewisser Weise ist das nach dem Sturz Mubaraks und bis heute auch so geblieben: Bei den Präsidentschaftswahlen von 2012 waren es ebenfalls ein Vertreter des alten Regimes – Ahmad Shafiq, letzter Premierminister unter Mubarak und ehemaliger Luftwaffengeneral – sowie mit Muhammad Mursi ein prominenter Muslimbruder, die in der Stichwahl gegeneinander antraten. Und ganz besonders heute, nach der Absetzung Mursis durch das Militär im Juli 2013, ist die politische Landschaft schon wieder polarisiert: in ein Pro-Muslimbrüdercamp, welches seit dem Sturz Mursis erneut politisch verfolgt wird, und ein Pro-Militärcamp, hinter dem sich auch zunehmend andere Kräfte des »alten Systems« versammeln, die seither ihre Macht erneut konsolidieren konnten. Der Konflikt dieser beiden Lager nimmt immer gewaltsamere Formen an. Politische Kräfte, die sich weder dem einen noch dem anderen Lager nahe fühlen, haben es zunehmend schwer, sich in einer solch polarisierten Atmosphäre zu positionieren.

Die Muslimbruderschaft, die im Zentrum der bewegten ägyptischen Politik der letzten Jahre stand, ist jedoch besonders für uns im Westen schwer einzuschätzen. Als islamistische Kraft wird die Gruppe oft per se mit Terrorismus in Verbindung gebracht, denn in den Medien dominieren beim Thema Islamismus Bilder von Anschlägen, vor allem des internationalen Terrornetzwerks al-Qaida. Prinzipiell bedeutet die Zuschreibung »islamistisch« zunächst jedoch nur, dass eine Gruppe den Islam als Ideologie auffasst und ihn damit als allumfassendes System versteht, welches jeden Bereich des Lebens, also auch Staat und Politik, durchziehen soll. Welche Mittel zur Verfolgung dieses Ziels angewendet werden, unterscheidet die einzelnen islamistischen Gruppen teils massiv, ebenso wie ihr Islamverständnis beziehungsweise die konkreten Auffassungen davon, wie eine muslimische Gesellschaft oder ein islamischer Staat auszusehen habe.

Derzeit dominieren im Islamismus zwei große Richtungen: die transnationale salafistische Bewegung und die Muslimbruderschaft, die insofern ebenfalls transnational ist, als sich nach der Gründung der Mutterorganisation in Ägypten 1928 auch Ableger in anderen Staaten gründeten, darunter die al-Nahda-Partei in Tunesien oder die Hamas im Gazastreifen. Beide Bewegungen unterscheiden sich in erster Linie durch ihr Islamverständnis. Während die Salafisten nur eine einzige Richtung im Islam für rechtgeleitet halten, nämlich sich selbst, und alle anderen Ausprägungen rigoros ablehnen, so zeichnet die Muslimbruderschaft ein toleranteres und inklusiveres Verständnis vom Islam aus. Sie akzeptiert die unterschiedlichen Richtungen im Islam und betont eher die Gemeinsamkeiten, als sich an den Unterschieden aufzuhalten. Den Salafisten gilt die Scharia dagegen als minutiöses Gesetzbuch, welches wörtlich und rigide angewendet werden muss und deshalb das Alltagsleben bis ins kleinste Detail ultrakonservativ regelt. Die Muslimbrüder hingegen sehen die Scharia als – in großen Teilen – aus ethischen Leitprinzipien bestehend, die je nach Ort und Zeit ganz unterschiedlich vom Menschen umzusetzen sind. Sie sind der Meinung, Gott räume dem Menschen durchaus einen Spielraum ein, viele seiner Alltagsangelegenheiten selbst zu regeln. Dennoch vertreten auch viele Muslimbrüder sehr konservative Positionen, vor allem im Bereich der Moral und der Geschlechterverhältnisse.

Darüber hinaus unterscheiden sich Salafisten und Muslimbrüder auch in den Mitteln und Wegen, ihre Ziele voranzubringen. Die Gruppen der Muslimbrüder haben in den letzten drei Jahrzehnten vor allem auf die Teilnahme am formalen politischen Prozess gesetzt und dabei Gewalt als Mittel zumindest offiziell abgelehnt. Eine Ausnahme bildet hier jedoch stets die Gewalt des Muslimbruderablegers Hamas, der diese als legitime Verteidigung gegen den illegitimen Besatzer Israel erachtet. Im Gegensatz zu den Muslimbrüdern haben die Salafisten lange die Teilnahme am formalen politischen Prozess explizit abgelehnt. Sie orientierten sich am Quietismus, das heißt, sie verstanden sich als dezidiert unpolitisch, um sich ausschließlich mit der Missionierung der Gesellschaft zu beschäftigen. Oder sie waren dschihadistisch orientiert und bekämpften den Westen oder die jeweils herrschende Regierung.

In den vergangenen Jahren lässt sich jedoch eine zunehmende gegenseitige Beeinflussung von Muslimbrüdern und Salafisten beobachten. So haben die Salafisten die formale Politik für sich entdeckt und vor allem in Ägypten nach Mubaraks Sturz sehr erfolgreich mehrere Parteien gegründet. Als die salafistische Bewegung in den letzten zehn bis 15 Jahren immer populärer wurde, nahm auch ihr Einfluss auf die Muslimbrüder zu, die begannen, rigidere Elemente in ihr Islamverständnis aufzunehmen – besonders im Hinblick auf die islamischen Moralvorstellungen und den Umgang der Geschlechter miteinander.

Bei den Kritikern der Islamisten befeuern solche Entwicklungen Ängste. Viele befürchten, dass die Unterscheidung der islamistischen Gruppen lediglich eine künstliche sei, da sie letztendlich alle das gleiche Ziel verfolgten: die Islamisierung von Staat und Gesellschaft. Sie fürchten sich vor der Gewaltbereitschaft der verschiedenen Gruppen. In der Tat gilt vor allem innerhalb der salafistischen Bewegung: Der Wechsel vom Quietismus hin zu einem gewaltbereiten Islam steht und fällt mit der Bewertung des jeweiligen Herrschers. So legitimiert oder fordert gar ein in den Augen der Salafisten vom Islam abgefallener Herrscher den Einsatz von Gewalt. Auch die Muslimbrüder, die in den drei Jahrzehnten unter Mubarak für sich beanspruchten, Gewalt abzulehnen, hatten in den 1940er Jahren einen geheimen paramilitärischen Apparat betrieben und zu Gewalt gegen die britische Kolonialmacht und ihre ägyptischen »Kollaborateure« gegriffen. Und vor allem jüngst – seit der Absetzung Mursis und der Ermordung von über 800 seiner Unterstützer bei der Räumung zweier Pro-Mursi-Protestlager im August 2013 durch die Sicherheitskräfte – kommt es vermehrt zu islamistischer Gewalt. Es wird spekuliert, dass neben den dschihadistisch-salafistischen Gruppen auch frisch radikalisierte Teile der Muslimbruderschaft in die Gewalt involviert sind.

Die Muslimbruderschaft gibt uns noch immer einige Rätsel auf: Welche Ziele und politischen Vorstellungen verfolgt die Gruppe? Wie hält sie es tatsächlich mit der Gewalt? Wie konnte eine derart umstrittene und zudem formal illegale Gruppe so stark werden, dass sie sich zunächst zur größten Opposition unter Mubarak entwickelte? Wie gelangen ihr nach Mubaraks Sturz jene spektakulären Wahlerfolge? Woher rührte die offensichtlich große Popularität im Volk? Und weshalb kam der politische Fall der Gruppe dann so schnell? Welche Auswirkungen kann die neue staatliche Repression auf die Muslimbruderschaft und den Islamismus in Ägypten generell haben? Und schließlich: Was bedeutet das für uns, Deutschland und Europa?

Im Rahmen meiner Dissertation hatte ich bereits die Gelegenheit, einigen dieser Fragen nachzugehen. Während meiner fünfjährigen Forschungszeit am GIGA Leibniz Institut für Regionale und Globale Studien und an der Universität Hamburg setzte ich mich intensiv mit den Beziehungen zwischen dem Mubarak-Regime und den Muslimbrüdern1 auseinander und verbrachte mehrere Feldforschungsaufenthalte in Ägypten.

Als ich in den Jahren 2003 und 2004 an der staatlichen Universität Kairo Politikwissenschaft studierte, waren jene Diskussionen um eine Demokratisierung des Nahen Ostens bereits in vollem Gange. Befördert wurden die Diskussionen von der amerikanischen »Greater Middle East Initiative« zur Demokratisierung des Nahen Ostens, um dadurch des internationalen islamistischen Terrors Herr zu werden. Meine ägyptischen Kommilitonen in der Student Union waren sich dagegen einig: Sie befürworteten eine Demokratisierung, jedoch ohne ausländische Einmischung. Die Meinungen, wie diese »Demokratisierung« aussehen solle, gingen dagegen sehr auseinander. Manche sprachen sich für eine kulturell-authentische Variante aus und betonten dabei die Rolle des Islam, andere wiederum waren vom Modell der sozialen Marktwirtschaft nach deutschem Vorbild begeistert und hielten dies für den Schlüssel der Demokratie. Wieder andere blieben in den Diskussionen über die Zukunft Ägyptens ganz der Logik des Kalten Kriegs und damit der Dichotomie von Kapitalismus und Sozialismus verhaftet. Eine direkte Kritik am Mubarak-Regime war zu dieser Zeit jedoch noch völlig tabuisiert, was die Ausbreitung einer Demokratisierungsbewegung im Land zunächst behinderte. Ich selbst wurde aus dem Büro meiner Professorin unwirsch hinauskomplimentiert, als ich meine Hausarbeit zum Thema »Demokratisierungsaussichten unter Mubarak« abholte. Mit einer solch heftigen Reaktion hatte ich bei meiner doch recht optimistischen Auslegung der Politik Mubaraks nicht gerechnet. Ein ägyptischer Freund klärte mich später darüber auf, dass allein schon die Erwähnung des Namens »Mubarak« Anstoß erregte. Unter diesen Umständen war es für mich umso beeindruckender, wie sich so kurze Zeit später, nach 2005, eine prodemokratische Protestbewegung auszuweiten begann, bei der nun sogar bissige Karikaturen Mubaraks zirkulierten und der Präsident verbal direkt angegriffen wurde. Schon damals, im Zuge dieses ersten Aufbegehrens des Volkes, wurde die Muslimbruderschaft zu einer immer stärkeren Kraft im Land. Noch im selben Jahr gewann sie bei den Parlamentswahlen ganze 20 Prozent der Sitze und wurde damit mit Abstand zur größten Opposition im Parlament, und dies als eine de facto illegale Organisation! Dieser Widerspruch reizte mich so sehr, dass ich Ende 2007 mit meiner Promotion begann, um den Konkurrenzkampf zwischen Muslimbrüdern und Mubarak-Regime um die Herzen des ägyptischen Volkes zu erforschen. Unwillkürlich wurde daraus auch eine Erforschung der aufkeimenden Protestbewegung dieser letzten Mubarak-Jahre.

Im Rahmen meiner Feldforschungen traf ich einige ehemalige Kommilitonen wieder, jene Linken und Liberalen, die nun politisch aktiv geworden waren. Einige konnten mich mit Muslimbrüdern in Kontakt bringen, da sie im Rahmen ihrer politischen Tätigkeit zunehmend mit diesen kooperierten. Es waren aber vor allem deutsche und ägyptische Wissenschaftler, die bereits mit Muslimbrüdern Interviews geführt hatten und es nun auch mir ermöglichten, mit hochrangigen Muslimbrüdern ins Gespräch zu kommen. Als westliche Frau unter Islamisten zu forschen, war zunächst spannend, bald darauf jedoch erstaunlich normal. Angesichts der heute erzkonservativen ägyptischen Gesellschaft nimmt wohl jede Westlerin unwillkürlich einen weniger körperbetonten Kleidungsstil an. Egal, mit wem ich Interviews führte, nicht-islamistischen Oppositionellen, Vertretern des Mubarak-Regimes oder Muslimbrüdern, meist wurde ich kurz mehr oder weniger auffällig taxiert, ob mein Kleidungsstil nicht zu freizügig sei, bevor es zum eigentlichen Anliegen überging. Aber eine solche Musterung erlebte ich ebenso auf der Straße wie an jedem anderen öffentlichen Ort auch. Zu keiner Zeit musste ich mich mit einem Kopftuch als Muslimin tarnen, obgleich ich von vielen genau dies gefragt werde, da man wohl davon ausgeht, dies sei nötig, um Gespräche mit Muslimbrüdern zu führen. Der Fakt, dass ich als Christin die Fragen stellte, hielt die Muslimbrüder ganz offensichtlich nicht davon ab, mit mir ausführliche Gespräche zu führen. Weit eher schien sich eine anfängliche Skepsis darauf zu beziehen, ob man als »Westler« nun offen oder mit vorgefertigten Meinungen auftritt. Schließlich trugen wohl meine Kenntnis der Programmschriften der Muslimbrüder seit den frühen 1980er Jahren und mein Wille, tatsächlich zuzuhören, dazu bei, meist recht schnell in ein sachliches Gespräch zu kommen. Auch bei kritischen Punkten, wie etwa der Rolle der Frau oder dem israelisch-palästinensischen Konflikt, hielten meine Interviewpartner nur selten mit ihrer Meinung hinterm Berg. Die Gespräche offenbarten nicht zuletzt die Heterogenität der Gruppe, die vielerorts über einen Kamm geschoren wird. Neben den Fakten und meiner Analyse zur Entstehung, zum Aufstieg und zum Fall der Muslimbruderschaft enthält dieses Buch deshalb auch persönliche Aufzeichnungen von Gesprächssituationen, die zu einem differenzierteren Bild der Gruppe beitragen mögen.

1. Von den Anfängen bis zu Mubarak

Die Muslimbruderschaft wurde 1928 in Ismailiyya, einer Hafenstadt am Suezkanal, von Hassan al-Banna gegründet. Bis zu seinem Tod 1949 prägte seine Person die Organisation maßgeblich. Kein Führer der Gruppe sollte je wieder so einflussreich sein, wie er es gewesen war. Bis heute ist al-Banna die unangefochtene Ikone der Muslimbruderschaft, deren Mitglieder nicht müde werden, ihre Treue gegenüber den Ansichten und der Mission ihres Gründervaters zu beteuern. Bei allen Neuerungen, die die Gruppe nach seinem Tod vollzog, legte sie stets viel Wert darauf, zu betonen, dass diese nicht nur kompatibel seien, sondern schon immer im eigentlichen Sinne des Gründers gelegen hätten.

Al-Banna wurde in eine Zeit geboren, die vom ägyptischen Nationalismus geprägt war. Bereits in seiner frühen Jugend nahm al-Banna an Demonstrationen gegen die britische Präsenz in Ägypten teil. Die nationalistische Bewegung war damals jedoch gespalten, in ein säkulares Lager, angeführt von der Wafd-Partei, und in ein islamisch orientiertes Camp um den islamischen Reformer Rashid Rida. Während die säkularen Nationalisten den Islam als rückständig beurteilten und ihn für die Schwäche Ägyptens und dessen Unterwerfung durch die Kolonialmächte verantwortlich machten, sah das islamisch-nationalistische Lager im Islam nicht das Problem, sondern die Lösung. Die Muslime seien vom rechten Islam abgekommen und deshalb schwach. In seiner Reinform sei der Islam nur in den ersten drei Generationen von Muslimen gelebt worden. Zu dieser Zeit hätte die muslimische Gemeinde auch ihr »Goldenes Zeitalter« erlebt, und Ruhm, Macht und Reichtum seien auf dem Höhepunkt gewesen. Seither jedoch seien Neuerungen und Verwässerungen im Islam aufgekommen, die es nun durch die Neuinterpretation von Koran und Sunna, anhand von Ratio und Vernunft, zu überwinden gelte. Erst wenn der Islam derart reformiert würde, könne Ägypten und die ganze arabische Welt wieder zu Stärke, Reichtum und Fortschritt gelangen.

Dieser »islamische Reformismus« war jedoch eigentlich eine theologische Strömung, dessen Vertreter, wie Muhammad Abduh oder Rashid Rida, eine professionelle religiöse Ausbildung genossen hatten. Somit blieb diese Strömung eine Strömung der Intellektuellen. Erst der Laie Hassan al-Banna knüpfte diese Ideen an eine soziale Bewegung an. Er machte sie erstmals massentauglich, als er den Gedanken der »islamischen Reform« mit dem Streben nach einer Reform der Lebensbedingungen der Ägypter verband. Es ging ihm darum, diese zu verbessern und drastische soziale Ungerechtigkeiten, die auch die Briten verschärft hatten, zu überwinden. Damit verbunden war das Ziel, den Islam im Alltagsleben durch Graswurzelarbeit und Bildung zu stärken – nicht zuletzt, um den Einfluss westlicher Ideen und Werte zurückzudrängen, die gemeinsam mit den Briten Einzug ins Land gehalten hatten und al-Banna zufolge die authentische Kultur Ägyptens zu zerstören drohten. Damit verstand sich die Muslimbruderschaft von Anfang an auch als eine antikoloniale Bewegung.

Sosehr al-Banna bis heute unangefochten im Zentrum der Muslimbruderschaft steht, so umstritten ist er jedoch in der breiteren ägyptischen Gesellschaft. Die einen sehen in ihm einen aufrichtig pazifistischen und toleranten Muslim. Andere hingegen halten ihn für den Ursprung eines radikalen und gewaltbereiten Islamismus. Tatsächlich vereint er beide Extreme: Auf der einen Seite setzte er sich mit den friedlichen Mitteln gesellschaftlicher Graswurzelarbeit für das Gemeinwohl und vor allem das Wohl der Unterprivilegierten ein, auf der anderen Seite aber veranlasste er wenige Jahre vor seinem Tod die Gründung einer geheimen Eliteeinheit innerhalb der Muslimbruderschaft, die – fernab vom zivilen Teil der Organisation und ohne dessen Wissen – zur gewaltsamen Bekämpfung des kolonialen Feindes ausgebildet wurde. Auch in der Fachliteratur wird al-Bannas Denken, insbesondere sein Verständnis von Islam und Gesellschaft, äußerst unterschiedlich gedeutet. Wollte er, wie es die einen beteuern, den Islam und die Gesellschaft mit Vernunft in die Moderne führen? Oder war er in erster Linie rückwärtsgewandt und strikt antiwestlich eingestellt, wie es die anderen behaupten?

Seine Figur und sein Denken erscheinen oft nur schemenhaft umrissen. Dies liegt zunächst in der Natur seiner Schriften begründet. Die ursprünglich losen Texte wurden als »Sammlung von Briefen« erst posthum zu einem Werk zusammengefasst. In den einzelnen »Briefen« aber werden Themen nicht systematisch und in sich abgeschlossen behandelt. Vielmehr finden sich verschiedene, zum Teil auch widersprüchliche Aussagen zu den jeweiligen Themen über ganz unterschiedliche »Briefe« hinweg verstreut. So mancher Widerspruch mag hier auch darauf zurückzuführen sein, dass Hassan al-Banna ganze 21 Jahre die Muslimbruderschaft führte und sich in diesem Zeitraum seine Haltung naturgemäß in einigen Punkten verändert hat. Ein weiterer Aspekt, der Widersprüchlichkeiten in al-Bannas gesammelten Schriften begünstigt, liegt in seiner Wesensart begründet: Als Mann der Tat ging es ihm nie darum, ein intellektuelles Meisterwerk zu verfassen, ein in sich geschlossenes Welt- und Islambild oder gar den perfekt ausgeklügelten Entwurf einer idealen sozialen, muslimischen Ordnung. Al-Bannas große Mission waren immer die »Taten«. Und genau dafür gründete er 1928 die Muslimbruderschaft, die zu einer der bedeutendsten islamistischen Organisationen weltweit werden sollte und heute ein weites Netz an Ablegern in über 70 Ländern besitzt.

Hassan al-Bannas Erziehung und Entwicklung

Hassan al-Banna wurde 1906 in al-Mahmudiyya, einer Kleinstadt im Nildelta, geboren und wuchs zusammen mit sechs Geschwistern in bescheidenen, dennoch gebildeten Verhältnissen auf. Sein Vater war ein einfacher Uhrmacher, der als islamischer Laiengebildeter aber hohes Ansehen bei den Notabeln der Stadt, beispielsweise dem Bürgermeister sowie bei islamischen Rechtsgelehrten, genoss. So wurde ihm sogar die Ehre zuteil, das Freitagsgebet in der städtischen Moschee zu leiten.

Schon als Kind war Hassan al-Banna vom Islam fasziniert und wurde auch durch den Einfluss seiner Familie in verschiedenen islamischen Kreisen sozialisiert. Bereits mit zwölf Jahren war er Mitglied einer Gruppierung, die die islamische Lebensweise ihrer Mitglieder verbessern wollte. So begann er schon damals, sich strikt an das tägliche fünfmalige Beten zu halten und sich darin zu üben, Untugenden zu unterlassen. Kurze Zeit später engagierte er sich in einer weiteren Gruppierung, deren Anliegen es war, nicht nur die islamische Moral der eigenen Mitglieder, sondern auch die der Gesellschaft zu korrigieren. Entsprechend maßregelnd trat die Gruppe auf: Sobald sie Übertretungen der islamischen Moral – wie etwa den Konsum von Alkohol – zu beobachten glaubte, sandte sie rügende Briefe an die Übeltäter, um diese zur Abkehr von ihren Lastern zu bewegen. Auch in späteren Jahren engagierte sich al-Banna immer wieder in verschiedensten Gruppierungen, immer mit dem Ziel, die Menschen durch Bildung und Aufklärung über die rechten Werte des Islam zum Einhalten islamischer Tugend anzuhalten.

Hassan al-Bannas Jugend fiel in die Hochzeit des ägyptischen Nationalismus, der ihn neben dem Islam stark beeinflussen sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Rufe nach Unabhängigkeit immer lauter, bis sie schließlich in dem von der Wafd angeführten Volksaufstand von 1919 mündeten. Im Jahr 1922 schien dieses Ziel mit der formalen Unabhängigkeit tatsächlich erreicht (wobei die vollständige Unabhängigkeit erst 30 Jahre später, mit dem Putsch der freien Offiziere von 1952, erreicht wurde).