Die Nacht - Paul Bogard - E-Book

Die Nacht E-Book

Paul Bogard

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Beschreibung

Auf der Suche nach Dunkelheit in einer Welt des künstlichen Lichts

Die Nacht verschwindet. Über die ganze Erdkugel verteilt sich nachts gleißendes Licht von Straßenlaternen, Wohnhäusern, Tankstellen. Betrachtet man sich die nächtlichen Kontinente unseres Planeten auf Satellitenfotos, scheinen sie in Flammen zu stehen – so viel Licht strahlen sie aus. Das meiste davon ist reine Verschwendung. Unser lichtgesättigtes Zeitalter ermöglicht uns kaum noch die Vorstellung von einer Zeit, in der die Nacht wirklich dunkel war. Schon heute erleben rund zwei Drittel aller Amerikaner und Europäer keine wirkliche Nacht mehr oder wohnen in einer Region, die als lichtverschmutzt gilt. Dabei ist die natürliche Dunkelheit der Nacht unerlässlich für unsere Gesundheit und die aller Lebewesen.

Paul Bogard begibt sich – vom hellsten bis zum dunkelsten Punkt der Erde – auf eine faszinierende Suche nach natürlicher Dunkelheit in einer Welt, die durch zunehmende Elektrifizierung immer heller wird.

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Seitenzahl: 602

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PAUL BOGARD

DIE

NACHT

REISE IN EINE

VERSCHWINDENDE WELT

Aus dem Englischen

von Yvonne Badal

Karl Blessing Verlag

Titel der Originalausgabe: The End of Night

Originalverlag: Little, Brown and Company, New York

1. Auflage

Copyright © 2013 der Originalausgabe by Paul Bogard

Copyright © 2014 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung und -motiv: Geviert, Grafik & Typografie

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-09316-7

www.blessing-verlag.de

Für meine Mutter und meinen Vater.

Und für alles Leben, das auf Dunkelheit angewiesen ist.

To go in the dark with a light is to know the light.

To know the dark, go dark. Go without sight,

And find that the dark, too, blooms and sings,

And is traveled by dark feet and dark wings.

Gehst du ins Dunkel mit einem Licht, kennst du das Licht.

Willst du das Dunkel kennen, geh dunkel. Geh ohne Sicht,

Und entdecke: auch das Dunkel kennt Blühen und Singen

Und das Queren dunkler Pfoten und dunkler Schwingen.

WENDELLBERRY

Inhalt

Die Bortle-Skala

Einführung

Das Dunkel verstehen

Klasse 9

Von sternklarer Nacht zur Straßenbeleuchtung

Klasse 8

Geschichten aus zwei Städten

Klasse 7

Blendendes Licht und erleuchtende Angst

Klasse 6

Körper, Schlaf und Traum

Klasse 5

Die Ökologie der Dunkelheit

Klasse 4

Kenne das Dunkel

Klasse 3

Die Lebensgemeinschaft

Klasse 2

Landkarten des Möglichen

Klasse 1

Die dunkelsten Orte

Dank

Anmerkungen

Bibliografie

Die Bortle-Skala

Im Februar 2001 von John E. Bortle (W. R. Brooks Observatory, Stormville, NY) als Anhaltspunkte zur Messung der Lichtverschmutzung ohne optische Hilfsmittel veröffentlicht

Klasse 9: Innerstädtischer Himmel

Der gesamte Himmel ist selbst am Zenit hell erleuchtet. Viele Sterne aus den Sternbildern und schwach leuchtende Objekte sind unsichtbar. Mit möglicher Ausnahme der Plejaden sind keine Messier-Objekte mit bloßem Auge zu erkennen. Wirklich gut durch das Teleskop zu beobachten sind einzig der Mond, die Planeten und einige wenige der hellsten Sternenhaufen.

Klasse 8: Stadthimmel

Der Himmel ist weißlich-grau oder orange verfärbt und so hell, dass man mühelos die Schlagzeilen einer Zeitung lesen kann. Selbst durch gängige Teleskope sind nur die hellsten Messier-Objekte zu finden. Einige Sterne aus den Sternbildern sind schwach zu erkennen, andere fehlen gänzlich.

Klasse 7: Vorstädtisch-städtischer Übergang

Der gesamte Himmelshintergrund hat einen gräulich-weißen Farbton. Helle Lichtquellen wirken aus allen Richtungen ein. Die Milchstraße ist völlig oder fast unsichtbar, die Wolken sind hell angeleuchtet. Durch gängige Teleskope sind selbst die hellsten Messier-Objekte nur als schwache Schemen sichtbar.

Klasse 6: Heller Vorstadthimmel

Keine Spur von Zodiakallicht, nicht einmal in den besten Nächten. Spuren der Milchstraße sind nur im Zenit zu erkennen. Bis zu 35° über dem Horizont erscheint der Himmel gräulich-weiß. Die Wolken sind überall ziemlich hell angeleuchtet.

Klasse 5: Vorstadthimmel

In den besten Frühjahrs- und Herbstnächten sind Spuren vom Zodiakallicht sichtbar. Über dem Horizont ist die Milchstraße gar nicht oder nur sehr schwach zu sehen, im Zenit erscheint sie verwaschen. Aus fast allen, so nicht aus allen Richtungen wirken noch deutlich Lichtquellen ein. Die Wolken sind aufgehellt oder deutlich heller als der Himmel.

Klasse 4: Übergang von ländlichen zu vorstädtischen Regionen

Die Lichtkuppeln der Lichtverschmutzung über den Ballungsgebieten sind noch in allen Richtungen zu erkennen. Das Zodiakallicht ist sichtbar, erstreckt sich bei einsetzender und ausklingender Dämmerung jedoch kaum über die halbe Distanz zum Zenit. Die Milchstraße ist ab einem guten Stück über dem Horizont zwar beeindruckend, doch fehlen ihr noch alle Strukturen, abgesehen von den deutlichsten. Aus Richtung der Lichtverschmutzungsquellen werden die Wolken leicht angeleuchtet, am Zenit sind sie jedoch bereits dunkel.

Klasse 3: Landhimmel

An der Horizontlinie ist die Andeutung von Lichtverschmutzung zu sehen. Die Wolken über den hellsten Himmelsabschnitten sind schwach angeleuchtet, am Zenit jedoch schwarz. Die Milchstraße erscheint vielschichtig, einige Sternenhaufen sind deutlich mit bloßem Auge zu sehen. In Frühling und Herbst ist das Zodiakallicht beeindruckend und auch seine Färbung schwach erkennbar.

Klasse 2: Ort mit sehr dunklem Himmel

Am Horizont ist ein schwaches Luftleuchten zu erkennen. Die Sommermilchstraße erscheint dem bloßen Auge stark strukturiert. Das Zodiakallicht ist hell genug, um nach Einbruch der Dunkelheit und vor Morgengrauen schwache Schatten zu werfen, und hat im Vergleich zu dem Blau-Weiß der Milchstraße eine deutlich gelbliche Färbung. Wolken am Himmel sind nur als dunkle Löcher oder als eine schwarze Leere vor dem sternenübersäten Hintergrund zu sehen. Viele Messier-Sternenhaufen sind mit dem bloßen Auge zu erkennen.

Klasse 1: Ort mit exzellent dunklem Himmel

Das Zodiakallicht, der Gegenschein und das Zodiakalband sind allesamt deutlich sichtbar – das Zodiakallicht in beeindruckendem Maße, das Zodiakalband überspannt das gesamte Firmament. Selbst die M33-Galaxie ist mit bloßem Auge zu erkennen. Die Milchstraßenregionen von Skorpion und Schütze werfen deutliche diffuse Schatten auf die Erde. Das Strahlen von Jupiter oder Venus vermindert die Dunkeladaption des Auges. Das sehr schwache, natürliche Luftleuchten rund 15° über dem Horizont ist deutlich sichtbar. Steht man auf einer von dunklen Bäumen umgebenen Fläche, sind Personen und Gegenstände praktisch unsichtbar. Es ist das Nirwana eines jeden Himmelsbeobachters.

Einführung

Das Dunkel verstehen

Haben Sie jemals Dunkelheit erlebt, junger Mann?

Isaac Azimov (1941)1

Was in Las Vegas geschieht, bleibt nicht in Las Vegas, jedenfalls nichts, was zur Lichtverschmutzung beiträgt.2 Das Licht der Stadt sickert nicht nur in die umgebende Wüste ein, sogar Nationalparks in Nevada, Kalifornien, Utah und Arizona, die den Auftrag haben, ihre »Lichtlandschaften« so »unversehrt zum Wohle künftiger Generationen« zu bewahren wie ihre geografischen Landschaften, berichten von leuchtenden Horizonten und ausgelöschten Sternenhimmeln. Ich bin gerade auf dem Weg zu einem dieser Naturschutzparks, dem Great Basin – zweihundertfünfzig Meilen nördlich der Route 93 durch Nevada, die zweispurig von der Interstate 15 bis Ely verläuft –, um mit eigenen Augen zu sehen, was dort von der Dunkelheit geblieben ist.

Landauf, landab die gleiche Geschichte – dunkle Flecken verschwinden von der Landkarte. Computergrafiken auf Grundlage von NASA-Nachtaufnahmen offenbaren, wie stetig sich das Licht zwischen Ende der 1950er und Mitte der 1990er Jahre ausgebreitet hat. Begleitende Computerberechnungen prognostizieren, dass im Jahr 2025 die gesamten Vereinigten Staaten östlich des Mississippi von einem rot-gelb glühenden Ausschlag übersät sein werden, unterbrochen nur von den grellweißen Pusteln der dicht besiedelten Ballungsräume. Selbst westlich des großen Stroms werden dann nur noch kleine Flecken von nächtlichem Schwarz zu finden sein, allesamt eingekreist von einer Zivilisation, die immer weiter an deren schon heute ausgefransten Rändern nagt. Aber noch ist die Wüste im östlichen Nevada mit dem Great Basin National Park im Zentrum eine der dunkelsten Geografien auf der Landkarte der Vereinigten Staaten. Deshalb bin ich hier, deshalb fliehe ich aus Las Vegas zum vielleicht dunkelsten Fleck in meinem Land.

Es ist früher Abend. Ich fahre vor mich hin und beobachte, wie sich die Szenerie draußen allmählich verändert. Die Temperatur fällt, die Tiere beginnen ihre Glieder zu strecken und sich auf Pfoten oder mit Schwingen auf den Weg zu machen. Auch in die Nachtblüher kehrt Leben zurück. Den ganzen Tag über haben die Wüstenfelsen Hitze gespeichert, sich unter der Sonne ausgedehnt und mit ihrer Thermalstrahlung die Falken im Himmel glücklich und die Passagierflugzeuge im Landeanflug unglücklich gemacht. In der Nacht kehrt sich der Energiefluss um, die Temperatur sinkt um dreißig bis vierzig Grad, während die Wüstenfelsen glühen und Wärme abgeben wie Holzöfen im Winter. Im natürlichen Rhythmus von Tag und Nacht heben und senken sich ganze Berge wie die Brust eines schlafenden Wesens.

Im Osten glühen die Bergketten noch im Abendrot, im Westen verlieren ihre Konturen bereits an Schärfe und lösen sich zu Silhouetten auf, während die Dunkelheit an ihnen hinabgleitet und sie schließlich mit ihrem langen Vorhang verhüllt. Wir nennen diese Zeitspanne »Zwielicht«. In der Astronomie gibt es drei graduelle Stadien der Dunkelheit nach dem Schwinden des Sonnenlichts: ein ziviles (auch »bürgerliches« genannt), ein nautisches (auch »mittleres« genannt) und ein astronomisches Stadium. Diese Einteilung stammt aus dem 20. Jahrhundert und meint mit »zivil« den Zeitraum, in dem man nicht mehr ohne Licht autofahren sollte, mit »nautisch« den Zeitraum, in dem die Dunkelheit bereits ausreicht, um die zum Navigieren nötigen Sterne sehen zu können, und mit »astronomisch« den Zeitraum, in dem der Himmel dunkel genug ist, um auch schwächere Sterne erkennbar werden zu lassen. Inoffiziell nennt die Biologin Robin Wall Kimmerer dieses Zwielicht den »langen blauen Moment« – ich liebe diese Definition.

Wir stellen uns gerne vor, dass sich die Dunkelheit über das Land legt, oder dass sie fällt, so als handle es sich um Schnee. Tatsächlich aber steigt Dunkelheit vom Osten her auf und ergießt sich über Land und Wasser, wenn die Erde der Sonne den Rücken zukehrt. Wer jemals den Anbruch der Nacht draußen in der Natur erlebt und zugesehen hat, wie sich die Abenddämmerung über dem östlichen Horizont zusammenballt, als seien es Sturmwolken, der hat den Kernschatten unserer Erde gesehen, in den wir uns hineindrehen. Was wir »Nacht« nennen, ist die Zeit, in der wir in diesem Schatten gefangen sind – ein Schatten, der sich in den Weltraum erstreckt, als sei er die Waffeltüte, auf der die irdische Eiskugel sitzt, nur hundert Mal höher als breit, ihr Scheitelpunkt achthundertsechzigtausend Meilen über uns. Die Morgendämmerung setzt ein, wenn sich die Erde aus dem Kernschatten wieder in die direkte Sonneneinstrahlung hineindreht.

Während ich in Richtung Nordosten aus dem Restlicht hinausfahre, blicke ich in den stetig dunkler werdenden Himmel und frage mich, was er mir wohl enthüllen wird. Venus, der Abendstern, taucht im Fenster der Fahrerseite knapp über der Kontur einer Bergkette auf, dann die ersten echten Sterne, die sich zum Großen Wagen formieren, dieser vielleicht bekanntesten Sternenkonstellation der Weltgeschichte. Einer ihrer Sterne, Mizar, der mittlere von den dreien, die die Deichsel bilden, ist in Wahrheit ein mit bloßem Auge erkennbarer Doppelstern. Bestätigt wurde das im Jahr 1650 durch das Teleskop, den Sternguckern war es schon seit Jahrtausenden bekannt gewesen. Tatsächlich pflegte man lange Zeit seine Sehkraft zu testen, indem man prüfte, ob man Mizars blassen Zwilling Alkor mit bloßem Auge erkennen konnte. Mir will das im Moment nicht gelingen, denn gerade tauchen die ersten hellen Lichter einer Kleinstadt entlang der Straße auf.3

Der Name der Stadt tut nichts zur Sache, denn wenn es um Lichtverschmutzung geht, könnte sie für Zehntausende andere Städte stehen. Zur Gesamtverschmutzung in den Vereinigten Staaten trägt sie zwar wenig bei, doch welche Kette an Problemen durch unsere Außenbeleuchtungen verursacht wird, lässt sich auch hier feststellen. Sämtliche Lampen sind unabgeschirmt, das mal zum einen. Also schickt eine jede ihre blendenden Strahlen völlig sinnlos in alle Richtungen ins Dunkel hinaus. Holz- oder Maschendrahtzäune trennen Nachbar von Nachbar, doch wie überall in Amerika darf auch hier jeder Hausbesitzer seinen Grund weit über dessen Grenzen hinaus beleuchten – ein gutes Beispiel für das, was Astronomen als light trespass – Lichtgrenzüberschreitung – bezeichnen. Das von diesen unabgeschirmten Leuchtkörpern abgestrahlte Licht ergießt sich aber nicht nur über Nachbargrundstücke und blendet Autofahrer, es leuchtet auch direkt in den Himmel. Das ist pure Energieverschwendung. Die einsame Tankstelle strahlt heller als das Tageslicht, und auch ihre Beleuchtung überschreitet die Grenze des Zapfstellendachs, schießt in den Himmel und löscht Sterne über der Stadt aus. Über jeder Straße baumeln kobraköpfige Streulichtlampen und schicken ihr grelles Licht in die Schlafzimmer, Wohnzimmer, die umgebende Wüste und hinauf zu den Sternen.

Ich erreiche den Stadtrand, der wie im ganzen Land auch hier vom akkumulierten Leuchten dieser allgegenwärtigen Security Lights in den Hintergärten, Vorplätzen und Hauseinfahrten in ein grelles Licht getaucht wird. Vor der Stadtausfahrt folgt noch eine letzte Reklametafel, von unten beleuchtet. Das Licht der Spots prallt von ihr ab und strahlt permanent ins All.

Dann umhüllt Dunkelheit das Auto. Die Scheinwerfer begrenzen die erhellte Welt auf das, was in ihren Kegeln auftaucht. Das Land zu beiden Seiten versinkt, als befände ich mich auf einer Brücke über einem Hunderte Meter tiefen Abgrund. Die Windschutzscheibe mit den sternenartig verteilten Insektenflecken erinnert bald an einen Nachthimmel von van Gogh. Am Straßenrand kauert ein mampfender Hase, der beim Klang des Motors gedankenverloren seine langen Ohren aufstellt. Kurz darauf betritt ein Kojote die andere Fahrbahnseite, seine Augen glühen auf, zwischen den Zähnen hängt ein Hase, der weniger Glück hatte. Eine Schleiereule flattert von einem Begrenzungsstein am Straßenrand auf, fliegt ein paar Schläge lang voraus, als wollte sie mir den Weg zeigen, wechselt dann den Kurs und verschwindet in der Nacht.

In dem Vorort von Minneapolis, in dem ich aufwuchs, gibt es einen Golfplatz, der von einer Straße durchschnitten wird, rechts und links begrenzt von einem weißen Palisadenzaun. Als Teenager fuhr ich einen alten Kastenvolvo, dessen Scheinwerfer sich während der Fahrt ausschalten ließen. Ich pflegte diese abschüssige, kurvige und somit nur vom einseitigen Parklicht des Wagens erhellte Straße mit fünfunddreißig Meilen pro Stunde hinabzurollen. Der rote Kombi, den ich heute besitze, ist zu smart und zu sicher, um mir so etwas zu gestatten – die Scheinwerfer bleiben an, ob ich es will oder nicht. Ich gehe davon aus, dass das auch auf den brandneuen Mietwagen zutrifft, den ich gerade steuere. Aber nein, nachdem ich der unwiderstehlichen Versuchung erlag, obwohl ich auf dieser schnurgeraden Landstraße ganz und gar nicht bloß 35 Mph, vielmehr drei Mal so schnell fahre, drehe ich am Lichtschalter.

Augenblicklich verschwindet die Straße. Mein Magen rutscht eine Etage tiefer und ich habe momentan das Gefühl, als schleudere es mich vom Rand der Erde. Eine Art Angstrausch überwältigt mich, jede Faser meines Körpers will wissen, was ich da tue. Ich schalte die Scheinwerfer ein, mein Herz beginnt wieder langsamer zu schlagen. Vor und hinter mir ist kein anderes Auto zu sehen, kein künstliches Licht erhellt dieses Meer an Schwärze um mich herum. Dann drehe ich wieder am Schalter, ein, aus, ein, aus. Jedes Mal warte ich etwas länger, diesmal lange genug, um meine Augen an den matten Schein des Parklichts zu gewöhnen, lange genug, um die Sternennacht zu sehen, die mir entgegenströmt, über mich hinwegfließt und hinter mir versiegt, lange genug, um mich wie im Starship Enterprise zu fühlen, das gerade ins All hinausbeschleunigt, lange genug, um den Wagen von der Erde abheben und in den Himmel fallen zu fühlen.

Ich bin sehr versucht, die Lichter auszulassen und länger als nur ein paar Wimpernschläge durch die Dunkelheit zu fahren. Doch so glücklich mich der Kick auch macht, mit verwegenen hundert Sachen durch die nächtliche Wüste zu »rasen« und mich von der Erde ins All katapultiert zu fühlen, so gerne bin ich doch am Leben. Ich bremse auf 20 Mph ab. Es kommt mir wie Fußgängertempo vor. Also lösche ich sogar das Parklicht und stecke den Kopf aus dem Fahrerfenster. Der warme, trockene Luftstrom huscht vorbei, der Asphalt rollt unter den Rädern hinweg. Ich bin auf direktem Weg zur Milchstraße, die sich überm Horizont von einer zur anderen Seite des Himmelszelts erstreckt. Wie von Geisterhand rollt der Wagen aus und bleibt mitten auf dem Highway 93 inmitten der Wüste des Great Basin stehen. Kein Auto oder Truck vor oder hinter mir zu sehen, und wenn etwas käme, wäre es ja sichtbar, lange bevor ich mich in Bewegung setzen müsste. Es sei denn natürlich, sein Fahrer wäre ebenfalls mit ausgeschaltetem Licht unterwegs und starrte ebenfalls auf diesen so ganz und gar anderen Highway da droben.

Die Erde bei Nacht, ca. im Jahr 2000 (© C. Mayhew & R. Simmon [NASA/GSFC], NOAA/NGDC, DMSP Digital Archive)

To know the dark, go dark, rät der amerikanische Gelehrte und Erzähler Wendell Berry. Doch betrachtet man sich die nächtlichen Kontinente unseres Planeten auf Fotos, die von einem Satelliten geschossen wurden, dann scheinen sie in Flammen zu stehen. Über die ganze Erdkugel verteilt sich das gleißende Licht von Straßenlaternen, Parkplätzen, Tankstellen, Shoppingcentern, Sportstadien, Bürohäusern, Wohnhäusern oder zeichnet klare Grenzen zwischen Land und Wasser. Hie und da zieht sich sogar eine Leuchtspur in die Ozeane hinaus: die Scheinwerfer von Fischerbooten, die den Kalmaren pralle Mittagssonne vorgaukeln.4 Wären all diese Lichter nutzbringend, wäre das etwas anderes. Einige leisten tatsächlich gute Dienste – sie leiten unsere Wege, geben uns ein Gefühl der Sicherheit, verschönern punktuell unsere nächtlichen Landschaften –, aber die meisten sind pure Verschwendung. Das Licht, das wir auf Fotos aus dem All über die nächtliche Erde ausgebreitet sehen, oder aus einem Flugzeugfenster, oder aus den oberen Stockwerken eines Wolkenkratzers, ist das Licht, dem wir es gestatten, in den Himmel zu leuchten oder unsere Augen zu blenden, ohne dabei wesentlich zu erhellen, was zu beleuchten es angebracht wurde – und das auch noch zu hohen Energiekosten. Die natürliche Dunkelheit der Nacht ist unerlässlich für unsere Gesundheit und für die Gesundheit unserer irdischen Natur, das hat der Mensch schon früh verstanden, doch viele andere Aspekte beginnt er gerade erst zu verstehen. Jedes Geschöpf leidet unter dem Verlust der Nacht.

Unser lichtgesättigtes Zeitalter ermöglicht uns kaum noch die Vorstellung von einer Zeit, in der die Nacht wirklich dunkel war. Dabei ist das noch gar nicht so lange her. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde zur Beleuchtung der Außenwelt schlicht und einfach die eine oder andere Art von Feuer benutzt – Fackeln, Kerzen, oder diese funzligen, stinkenden, unzuverlässigen Laternen. Das waren zwar schon deutliche Verbesserungen ihrer frühesten Vorgänger (aufgespießte und angezündete ölige Fische und Vögel, oder an die Zehen geklebte Glühwürmchen), aber wie schwach war doch ihr Licht … Eine einzige 75-Watt-Glühbirne strahlt hundertmal heller als eine Kerze. Der Historiker E. Roger Ekirch berichtet, dass vormoderne Beobachter sarkastisch von Kerzen sprachen, die »die Dunkelheit sichtbar« machten. Und ein französisches Sprichwort sagt: »Bei Kerzenlicht sieht jede Ziege wie eine Dame aus.« Reisende hielten Mondlicht für die sicherste Option, um nachts nicht vom Weg abzukommen, weshalb die Mondphasen auch wesentlich genauer beobachtet wurden als heute. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts verfügten dann schon viele europäische Städte über rudimentäre Straßenbeleuchtung. Doch das für uns so selbstverständliche elektrische Licht kam erst Ende des 19. Jahrhunderts in Gebrauch, in welcher Form auch immer. Seither schwand die Dunkelheit unserer Nächte zusehends dahin.

Kein Kontinent leuchtet heller als Nordamerika und Europa. Schon heute erleben rund zwei Drittel aller Amerikaner und Europäer keine wirkliche Nacht, keine echte Dunkelheit mehr. Fast jeder von uns lebt in einer Region, die als lichtverschmutzt gilt. Als der amerikanische Naturalist und Schriftsteller Henry Beston die Vereinigten Staaten 1928 von Cape Cod aus vor »Licht und immer mehr Lichtern« warnte, dürften das die meisten der damals lebenden hundertzwanzig Millionen Amerikaner als heftig übertrieben empfunden haben, denn sie wohnten ja fast alle noch in ländlichen Gebieten ohne Strom. Doch schon sieben Jahre später war Beston drauf und dran, recht zu bekommen: 1935 ordnete Präsident Roosevelt die Gründung der Rural Electric Administration an, und damit sollte sich die Geografie der Nacht in den Vereinigten Staaten für immer verändern. Mitte der 1950er Jahre hatten die meisten Amerikaner elektrisches Licht, ob in Städten, Vorstädten oder auf dem Land. In dem halben Jahrhundert, das seither verging und in dem die amerikanische Bevölkerung die Dreihundertmillionenmarke überschritt, hat sich dieses Licht unaufhörlich und fast unbemerkt ausgebreitet. Könnten wir aus dem Dunkel der dreißiger Jahre (oder der 1950er, oder sogar noch der 1970er) in das heutige Dunkel springen, gäbe es wohl kaum jemanden, der sich von dieser dramatischen Überschwemmung mit elektrischem Licht nicht geblendet fühlen würde. Nur weil dessen Ausbreitung so mählich stattfand, wiegen wir uns in dem Glauben, dass unsere Nächte noch ebenso dunkel oder fast so dunkel seien wie früher.5

Angesichts dieser Tatsache, und in Kenntnis des Ausmaßes, »in dem die stetig zunehmende Lichtverschmutzung den Himmel besudelt«, entwickelte der amerikanische Astronom John Bortle 2001 eine Skala zur Beschreibung der verschiedenen Stadien himmlischer Dunkelheit ohne optische Hilfsmittel, die von der schlechtesten Klasse 9 bis zur Klasse 1 reicht, von der hellsten bis zur dunkelsten Nacht. Er hoffte, eine solche Skala würde sich »nicht nur als erhellend, sondern auch als nützlich für Beobachter« erweisen, wenngleich ihm klar war, dass er so manchen damit schockieren würde. Bortles Differenzierungssystem mag hie und da spitzfindig oder inkongruent erscheinen, aber es offeriert uns eine Sprache, die uns zu definieren hilft, was wir meinen, wenn wir von den unterschiedlichen Schattierungen der Dunkelheit sprechen, oder wenn wir festzustellen versuchen, was wir verloren haben, was wir noch haben und was wir zurückgewinnen könnten.6

Den meisten von uns ist das hellere Ende von Bortles Skala – seine Klasse 9: »Innerstädtischer Himmel« oder seine Klasse 7: »Vorstädtisch-städtischer Übergang« oder auch seine Klasse 5: »Vorstadthimmel« – nur allzu vertraut, denn das sind die Dunkelheitsgrade, die wir fast alle als normal empfinden. Doch Bortles Skala zeigt uns damit auch, was wir bereits verloren haben. Tatsächlich dürften die meisten Amerikaner und Europäer, vor allem junge, kaum jemals oder noch nie eine Nacht erlebt haben (und können sie sich vielleicht nicht einmal mehr vorstellen), die dunkel genug war, um der Klasse 3 anzugehören: dem »Landhimmel«, bei dem nur »die Andeutung von Lichtverschmutzung am Horizont zu sehen ist«, oder gar der Klasse 2: dem »Ort mit sehr dunklem Himmel«. Und was Bortles Klasse 1 betrifft, diesen Himmel, der so dunkel ist, dass »die Milchstraßenregionen von Skorpion und Schütze deutlich sichtbare, diffuse Schatten auf die Erde werfen«, fragen sich viele Amerikaner, ob eine solche Dunkelheit in den Lower 48, den kontinentalen Kernstaaten der USA, überhaupt noch existiert. Auch wenn Gerüchte über die Existenz einer Klasse 1 aus den Wüsten im östlichen Oregon und südlichen Utah, aus der Prärie von Nebraska und der texanisch-mexikanischen Grenzregion dringen, lässt sich doch nicht leugnen, dass Bortle mit dieser Klasse den Grad an Dunkelheit beschrieben hat, den die Menschen im längsten Teil ihrer Geschichte erlebt haben, während er für die Bewohner der modernen westlichen Welt bereits zu etwas völlig Irrealem wurde.

Seit ich Bortles Skala kenne, denke ich über die Dunkelheit in den Orten nach, die ich besucht habe, in denen ich gelebt und die ich geliebt habe, wie beispielsweise den Ort an dem See im Norden von Minnesota, an dem ich als Kind meine erste wirkliche Dunkelheit erlebte und Erfahrungen mit der Nacht sammelte. Auch ich begann mich nun zu fragen, ob es in meinem Land noch irgendeinen Klasse-1-Flecken gibt, beziehungsweise ob es in den Lower 48 überhaupt noch irgendwelche Orte gibt, wo natürliche Dunkelheit herrscht, oder ob inzwischen tatsächlich schon jede Ecke meines Landes vom Licht verschmutzt wurde.

Ich beschloss, es herauszufinden und von den hellsten Nächten in die dunkelsten zu reisen, von grell beleuchteten Städten, wo die öffentliche Lichtversorgung, wie wir sie heute kennen, einst begann, zu Regionen, wo noch eine Dunkelheit der Klasse 1 herrschen könnte. Unterwegs wollte ich aufzeichnen, wie die Nacht sich verändert hat, was diese Veränderung bedeutet, was wir gegen sie unternehmen könnten und ob wir überhaupt noch etwas dagegen tun können. Vor allem aber wollte ich begreifen, wieso künstliches Licht beides sein kann, ein unbestreitbar wundervoller, ja, zauberhafter Stimmungsmacher und zugleich der Verursacher von einer so langen Liste an Kosten und Problemen. Ich wollte mit Städten wie Las Vegas (auf den NASA-Fotografien das grellste Pixel weltweit) und Paris (der »Stadt des Lichts«) beginnen. Ich wollte nach Spanien reisen, um »die dunkle Nacht der Seele« des Johannes vom Kreuz zu erkunden, und zum Walden Pond, um mit Henry David Thoreau in Kontakt zu treten. Ich wollte Naturwissenschaftlern, Medizinern, Aktivisten und Schriftstellern begegnen, die alle darum bemüht sind, das Bewusstsein für den Wert der Dunkelheit und für die Gefahren der Lichtverschmutzung zu schärfen. Ich wollte den Epidemiologen kennenlernen, der als erster eine Verbindung zwischen künstlichem Licht und steigender Krebsrate herstellte; den emeritierten Astronomen, der die weltweit erste Dark-Sky-Organisation gründete; den Geistlichen, der die unerlässliche Notwendigkeit des Zweifels im Angesicht eines »unumstößlichen Wissens« predigt; und den Mann, der mit seinem Einsatz unzähligen Nachtzugvögeln in mehreren amerikanischen Großstädten das Leben gerettet hat. Das wollte ich, und das habe ich getan. Und die Geschichten, die diese und noch viele andere Menschen mir erzählten, wurden zur Grundlage der Geschichte, die ich nun erzählen werde.

Als Erstes kontaktierte ich Chad Moore, den Gründer des »Night Sky Teams« vom amerikanischen National Park Service. Seit mehr als einem Jahrzehnt erforscht Moore die verschiedenen Grade von Dunkelheit in den amerikanischen Nationalparks, und ich wollte von ihm wissen, was ich seiner Meinung nach auf meiner Reise in die Nacht vorfinden würde.

»Nun«, meinte er, »wenn du diese Rampe von der Neun zur Eins runterrutschst, dann ist das kein sanftes Gleiten. Das ist … echt holprig.« Er erklärte, dass der Unterschied zwischen einer 9 und einer 5, oder zwischen einer 5 und einer 2 auf der Bortle-Skala, für jeden offensichtlich sei, der Unterschied zwischen einer 9 und einer 8 oder zwischen einer 2 und einer 1 aber nur sehr schwer feststellbar. »Da ist so viel Unschärfe im Spiel, dass es leicht zu Fehlinterpretationen kommt. Außerdem, wenn du gerade schlecht drauf bist, dann machst du vielleicht eine Fünf draus, und wenn du in Topstimmung bist, erklärst du’s zu einer Drei … dabei ist es in Wirklichkeit eine Vier.«

Das leuchtete mir ein. Aber gibt es denn überhaupt noch irgendwo Orte der Klasse 1 in den Vereinigten Staaten?

»Es gibt hie und da einen Fleck, und dann vielleicht auch noch die nötige Kombination aus den diversen Aspekten, die gemeinsam einen dieser seltenen Momente ergeben, in denen sich ein solcher Ort in den USA oder dem Rest der Welt mit einer Eins vergleichen lässt,« erklärte er. »Ich würde gerne glauben, dass ich es mal gesehen habe, dass ich mal einen kurzen Blick auf eine Klasse Eins erhascht habe. Aber dazu braucht’s eine Menge Sorgfalt. Einfacher ist’s, wenn man sich ein Flugticket nach Australien kauft und an Alice Springs vorbei raus ins Outback fährt… Es könnte eine Weile dauern, bevor du diese Kombination hier in den Vereinigten Staaten findest.«

Die Satellitenbilder von der Erde bei Nacht erzählen von zwei Welten – von den illuminierten Zivilisationen in den entwickelten und den Schwellenländern, und von der Dunkelheit in den armen Ländern oder unbewohnten Regionen. Chad hat recht, es wäre sicher einfacher, irgendwohin zu fliegen, in irgendein abgelegenes exotisches Gebiet. Aber ich wollte die Nacht unbedingt im eigenen Land oder wenigstens an einem problemlos erreichbaren Ort finden. Ich wollte die Dunkelheit sehen, die wir in unserem Alltag erleben.

Schließlich beschloss ich, meine Reisen auf Nordamerika und Westeuropa zu begrenzen. Erstens hat dort die Geschichte des künstlichen Lichts begonnen, das sich heute über fast die ganze Erde erstreckt, und dort wird sie auch weitergeschrieben. Es ist das abendländische Denken über das Dunkel und das Licht, und es ist die westliche Technik, von denen die Nacht in der entwickelten Welt geprägt wurde und wird.7 Zweitens werden vermutlich nur wenige von uns mal eben nach Australien fliegen können, um an Alice Springs vorbei ins Outback zu fahren, aber jeder erlebt die Nacht dort, wo er liebt und lebt und arbeitet.

Und praktisch jeder kann sich, wenn er nur will, auf die Suche nach echter Dunkelheit in seiner eigenen Heimat begeben, so wie ich gerade auf einem State Highway im östlichen Nevada.

»Unsere Sonne ist ein Stern in einem scheibenförmigen Gewimmel aus mehreren hundert Milliarden Sternen,« schreibt der Astronom Chet Raymo.8 Dieses scheibenförmige Gewimmel ist unsere Milchstraßengalaxie. Und das, was sich gerade dreidimensional über der dunklen Wüste von Nevada wölbt, ist der äußere Arm dieser Spirale, auf den wir von unserer innergalaktischen Position aus blicken. Raymo erzählt:

Ich habe oft ein Modell der Milchstraßengalaxie auf den Boden eines Seminarraums gebaut, indem ich eine Packung Salz im Muster eines Windrads ausgeschüttet habe. Das ist eine beeindruckende Demonstration, aber der Maßstab ist falsch. Wenn ein Salzkörnchen tatsächlich einen typischen Stern darstellen soll, dann müsste jedes Korn Tausende Meter entfernt vom anderen liegen. Ein numerisch und dimensional präzises Modell der Galaxie würde Zehntausender Salzpackungen bedürfen, ungleichmäßig verteilt in einem flachen Ring, der größer sein müsste als der Querschnitt der Erde.9

Das heißt, jeder Stern in unserem Nachthimmel – jeder einzelne, der je von einem Menschen mit bloßem Auge gesehen werden konnte – ist Teil unserer Galaxie, und in der gibt es »mehrere hundert Milliarden Sterne«. Jenseits unserer Galaxie finden sich unzählige andere Galaxien – eine jüngste Schätzung nennt die Zahl von fünfhundert Milliarden.10 Es kommt ein Punkt, ziemlich früh sogar, an dem man von den Dimensionen des Universums schlicht überwältigt wird. Solche Distanzen und Zahlen martern das Hirn ebenso wie der Versuch, das Unbegreifliche zu begreifen, oder wie die persönliche Erkenntnis, dass unser Sternenhimmel bloß ein winzig kleines Beet in einem leuchtenden Garten von schier unvorstellbaren Ausmaßen ist.

Aber natürlich haben wir Menschen zu jeder Zeit unserer Geschichte unserer Phantasie Raum gegeben. Alte Kulturen erdachten Sternbilder nicht nur anhand von sichtbaren einzelnen Sterngruppen, sondern sogar anhand der schwarzen Gebilde aus Gas und Staub zwischen Erde und Milchstraße, die sich unseren Blicken wie Rauchfahnen darbieten. Eine Ewigkeit lang stellte der Mensch sich sogar tatsächlich vor, dass es sich dabei um Rauch oder um Dampf, oder, ja, um Milch handeln könnte. Erst im Jahr 1609 konnte Galileo mithilfe seines Teleskops bestätigen, was er bereits vermutet hatte: Das Leuchten der Milchstraße ist das gesammelte Licht unzähliger Sterne.11

Der Mensch hat in diesen unzähligen Sternen, in ihren Haufen und Farben und Konstellationen, oder in den »Sternschnuppen«, diesen Schauern aus Staub und Eis, von jeher Schönheit gefunden. Und weil sie so schön sind, erschien ihm das überwältigende Ausmaß des Universums weniger unheilvoll und die Schönheit des eigenen Planeten noch wundervoller. Aber wenn die Dimensionen und Entfernungen in unserem Nachthimmel denn so unermesslich sind, dass sie praktisch bedeutungslos für uns werden, dann sollten wir doch versuchen, Bedeutung dort zu finden, wo wir gehen und stehen. Es steht uns dazu kein anderer Ort zur Verfügung. Das macht uns der Nachthimmel klar.

Also, let us go dark.

Klasse 9

Von sternklarer Nacht zur Straßenbeleuchtung

Es will mir oft scheinen, dass die Nacht noch farbiger ist als der Tag.

Vincent van Gogh (1888)1

Der hellste Lichtstrahl auf Erden schießt von der Spitze der schwarzen Pyramide des Luxor Casinos in Las Vegas ins All. Neununddreißig im Diamantschliff verblendete Xenonlampen, eine jede davon knapp zwei Meter hoch, einen Meter breit (mehr war auf diesem Raum nicht möglich) und von Spiegeln reflektiert, markieren wie Stecknadeln auf der Weltkarte den hellsten Fleck auf Erden. New York, London, Paris, Tokio, Madrid und inzwischen auch jede Menge Städte in China mögen zwar ihrer größeren geografischen Ausdehnung und höheren Einwohnerzahlen wegen insgesamt mehr Licht ins All schicken als diese Wüstenstadt im amerikanischen Südwesten, aber die Einschränkung »insgesamt« sagt schon alles. Denn ein Narr, der da glaubt, dass es irgendwo auf der Welt ein strahlenderes Häusermeer gäbe als den Las Vegas Strip.2

Die Ausweitung der Lichtverschmutzung in den Vereinigten Staaten, zwischen Ende der 1950er Jahre und 1997, sowie eine Prognose der Lichtverschmutzung im Jahr 2025 (© P. Cinzano, F. Falchi [Universität Padua], C. D. Elvidge [NOAA National Geophysical Data Center, Boulder]. Royal Astronomical Society. Aus: Monthly Notices of the Royal Astromical Society, mit freundlicher Genehmigung von Blackwell Science)

Ich stehe an der Ecke Las Vegas Boulevard und Bellagio Drive und bin von Kopf bis Fuß in künstliches Licht getaucht, gebadet im akkumulierten grellen Schein der Tausenden Geschäfte, Zentausenden Häuser und fünfzigtausend pfirsichfarbenen Hochdruck-Natriumdampflampen, mit denen die Stadt ihre Straßen beleuchtet und die ich vor erst einer Stunde schon aus dem Flugzeug leuchten sah. Vom Flughafen ist es nur eine kurze Fahrt zum Strip– der Luxor-Strahl an seinem Südende blendet dich sofort–, und in Nullkommanichts wirst du vom Licht verschluckt. Die Casinos ragen im grellen Schein der zehn Millionen Glühbirnen all der glitzernden Blinkleuchtreklamen in die Höhe. Digitale Anzeigentafeln und LED-Reklamen brüllen dich von allen Seiten an: Rote Lichter, lila Lichter, grüne Lichter, blaue Lichter. Importierte Palmen reihen sich eine an die andere, bis sie hinter den illuminierten Eisenfüßen des Pariser Eiffelturms vom Las Vegas Casino verschwinden– eine exakte Nachbildung des Originals, nur halb so hoch, und von Fahrbahnseite tanzt ein unentwegter Strom aus Scheinwerfern auf dich zu, auf der anderen aus grellroten Rücklichtern von dir weg. Von einem rubinroten Reklametruck lächelt eine Blondine im weißen Bikini: Strip ist eine einzige riesige Outdoor-Mall, in die ständig Konservenmusik eingeleitet wird und aus der die Wüstennatur hinausgedrängt wurde. Manche Leuchtreklamen sind greller als andere, einige Gebäude gleißender angestrahlt, aber illuminiert ist hier alles: der Boden unter meinen Füßen, die Kleidung an meinem Körper, die bloße Haut meiner Hände, Arme und meines Gesichts– keine Oberfläche bleibt verschont, sogar die Luft scheint von Licht erfüllt zu sein. Ich laufe durch diese Allgegenwart wie durch einen unsichtbaren, geruchlosen Nebel. In diesen ersten Jahren unseres neuen Jahrtausends leben wir in einer Welt, die heller ist als zu jeder anderen Zeit in ihrer Geschichte, und sie wird Jahr für Jahr noch heller. Wenn sich denn in einer Stadt diese Tatsache spiegelt, dann in Las Vegas.

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