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Tier-Fantasy, Action und Höchstspannung – der Auftakt einer neuen mitreißenden Reihe! Es ist 1:34 Uhr in der Nacht. Alle Welt schläft. Bis auf Elena, Matt und Tima. Sie wissen nicht, warum sie jede Nacht um diese Zeit aufwachen, und sie können nichts dagegen tun. Doch nach und nach offenbaren sich ihnen besondere Gaben: Sie sind Nachtflüsterer und können die Sprache der Tiere verstehen. Tima kann mit Insekten kommunizieren, auf Matt reagieren vor allem Vögel, und Elena schließt Freundschaft mit einem Fuchs. Die Verständigung mit den Tieren wird zum Schlüssel im Kampf gegen eine unheilvolle Macht, die die gesamte Stadt in den Abgrund zu stürzen droht. Gelingt es Elena, Matt und Tima, die tödliche Bedrohung aufzuhalten?
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Seitenzahl: 340
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Tier-Fantasy, Action und Höchstspannung — der Auftakt einer neuen mitreißenden Reihe! Es ist 1:34 Uhr in der Nacht. Alle Welt schläft. Bis auf Elena, Matt und Tima. Sie wissen nicht, warum sie jede Nacht um diese Zeit aufwachen, und sie können nichts dagegen tun. Doch nach und nach offenbaren sich ihnen besondere Gaben: Sie sind Nachtflüsterer und können die Sprache der Tiere verstehen. Tima kann mit Insekten kommunizieren, auf Matt reagieren vor allem Vögel, und Elena schließt Freundschaft mit einem Fuchs. Die Verständigung mit den Tieren wird zum Schlüssel im Kampf gegen eine unheilvolle Macht, die die gesamte Stadt in den Abgrund zu stürzen droht. Gelingt es Elena, Matt und Tima, die tödliche Bedrohung aufzuhalten?
Ali Sparkes
Die Nachtflüsterer
Das Erwachen
Aus dem Englischen von Manuela Knetsch
Carl Hanser Verlag
Elena wachte um 1:34 Uhr auf. Sie musste nicht auf den Wecker schauen, der auf dem Nachttisch stand. Sie wusste, dass es 1:34 Uhr war. Es war immer 1:34 Uhr.
Dies war die siebte Nacht in Folge, und es fühlte sich fast schon normal an.
Dennoch drückte sie auf den oberen Knopf des Weckers. Das matte blaue Licht der Digitalanzeige bestätigte ihr, dass es 1:34 Uhr war. »Da bist du ja wieder, vier Minuten nach halb zwei«, murmelte sie. Sie stand auf. Im Bett liegen zu bleiben und zu versuchen, wieder einzuschlafen, hatte keinen Zweck. Das zumindest hatte sie in der letzten Woche begriffen.
Lautlos öffnete sie die Tür und huschte nach unten in die Küche. Seit der dritten Nacht machte sie sich immer ein heißes Getränk und nahm es mit in ihr Zimmer, zusammen mit einer Handvoll Keksen. Dann setzte sie sich ans Fenster, aß die Kekse und blickte hinunter auf die stille, düstere Straße vor dem Haus. Inmitten von etwas so Verrücktem eine normale Gewohnheit zu entwickeln, gab ihr etwas Sicherheit.
In der ersten Nacht hatte sie die Sache natürlich noch nicht besonders merkwürdig gefunden. Ab und zu einmal nicht schlafen zu können — das kannte schließlich jeder. Sie war um 1:34 Uhr aufgewacht und hatte dann bis fast 6 Uhr in der Früh wach gelegen. Beim Frühstück war sie zwar erschöpft, aber nicht zu müde für die Schule gewesen. Sie hatte es Mum gegenüber nicht einmal erwähnt.
In der zweiten Nacht war es ihr langsam seltsam vorgekommen. Wieder hatte sie um 1:34 Uhr die Augen aufgeschlagen. Dass es um dieselbe Uhrzeit gewesen war wie in der Nacht zuvor — um exakt dieselbe Uhrzeit, auf die Minute genau —, hatte sie allerdings noch nicht gewusst. Das hatte sie erst in der dritten Nacht bemerkt. Vielleicht war ihr in dieser zweiten Nacht bereits das Lied aufgefallen … vielleicht aber auch nicht. Es fiel ihr schwer, sich da festzulegen.
Doch mittlerweile, jetzt, wo sie in der siebten Nacht in Folge am Fenster saß, war ihr alles klar. Es geschah immer um exakt 1:34 Uhr, und was sie zu diesem Zeitpunkt abrupt aus dem Schlaf riss, war eine Art Lied. Im Traum hörte sie einen langen Ton, vielleicht ein Läuten, als würde jemand mit einem Metalllöffel über eine alte Glocke streichen, und danach das Anschwellen einer … Stimme. War es eine Stimme? Es schien etwas Gesungenes zu sein. Ein düsteres und zugleich goldenes Lied, das wie ein Fluss vorbeiströmte … ein dünner, gerader Fluss … ein pulsierender, düsterer goldener Liederstrom — zischend, übersprudelnd und wunderschön.
»Jetzt hör doch auf!«, sagte sie laut. Dass sie mit sich selbst sprach, hatte in der fünften Nacht angefangen. Sie wusste, dass niemand sie hören konnte, solange sie nicht schrie. Mum schlief wie ein Stein. »Ernsthaft … es ist nur ein Geräusch in deinem Kopf. So wie dieses … Ohrdingsbums … Tinnitus oder wie das heißt. Daran ist nichts Geheimnisvolles oder Unheimliches. Und um Punkt 1:34 Uhr springt wahrscheinlich jede Nacht eine große Maschine drüben auf dem Industriegelände an. Oder im Elektrizitätswerk. Irgendetwas macht da Lärm, ich höre es im Schlaf und werde davon wach. Das ist alles.«
Und weshalb kannst du es dann nicht mehr hören, sobald du wach bist?, fragte der streitlustige Kopfkobold, der sie in diesen Nächten am Fenster plagte.
»Es ist nur kurz zu hören. Bis ich mich im Bett aufgerichtet habe, ist es schon wieder vorbei«, erklärte sie.
Alles klar — und weshalb kannst du danach nicht einfach wieder einschlafen?
»Ich weiß nicht. Ich schätze, ich habe zu viel um die Ohren. In den frühen Morgenstunden wach zu werden, ist ein typisches Anzeichen für Stress. Das weiß ich. Das habe ich gelesen.«
Sieben Nächte hintereinander …? ERNSTHAFT? Sind Dreizehnjährige schon so gestresst? Ist das normal?
Sie hatte im Internet recherchiert. »Weshalb wache ich jede Nacht um dieselbe Uhrzeit auf?«, hatte sie eingegeben. Die Suchmaschine hatte sehr viele mögliche Erklärungen dafür gefunden: lärmende Nachbarn, eine Gastherme, die mithilfe einer Zeitschaltuhr nachts regelmäßig ansprang, hormonelle Veränderungen, Haustiere, Poltergeister, Blähungen …
Sie wusste, dass es nichts mit dem zu tun hatte, was sie online gelesen hatte. Es war etwas anderes. Etwas völlig anderes. Vielleicht würde sie am Morgen mit Mum darüber sprechen. Vielleicht. Falls es Mum gut ging; falls sie einen guten Tag hatte.
Elena lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und legte die nackten Füße auf das Fensterbrett. Unten auf der Straße lief ein Fuchs über den Gehweg, der immer wieder anhielt, um an den Mülltonnen zu schnuppern. Im schwachen Licht der Straßenlaternen warf er einen langen Schatten. Elena hatte das Tier Velma getauft, weil sie annahm, dass es sich um eine Füchsin handelte. Sie hatte sie in den vergangenen Nächten schon mehrmals gesehen. In drei Nächten war die Füchsin stehen geblieben, und es hatte so ausgesehen, als würde sie für einige Sekunden direkt zu Elena nach oben schauen. Dann war sie wieder ihrer Wege getrippelt.
Die Reihenhäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite schienen sie anzustarren, die Fenster darin wirkten wie dunkle, leere Augenhöhlen. Elena öffnete ihr eigenes Fenster und sog die Nachtluft in sich auf. Sie war süß und kühl, voll von später Maiblüte und frisch gewässerten Gärten. Als sie um 22 Uhr zu Bett gegangen war, hatte es geregnet. Wolken waren vor den am Himmel verstreuten Sternen vorübergezogen, orange getüncht von den fernen Lichtern des Industriegebiets von Thornleigh, dem Tausendbruch. In den städtischen Straßenlaternen steckten Energiesparlampen, die bläuliches Licht abgaben, doch der Tausendbruch wurde von hohen, orange leuchtenden Lampen erhellt, die die ganze Nacht über brannten und dem Schatten des zerklüfteten Abhangs trotzten, der sich drohend neben ihm erhob. Das orangefarbene Licht waberte über den Himmel bis in die stillen Straßen des zwei oder drei Kilometer entfernten Vororts hinein, in dem Elena wohnte.
Elena griff nach einem Buch und setzte sich wieder ans Fenster, um die nächsten Stunden lesend zu verbringen. Mit etwas Cathy Cassidy würde die Zeit wie im Flug vergehen, und in der Morgendämmerung würde sie ins Bett gehen und sich vom Zwitschern der Vögel in den Schlaf singen lassen. Dann könnte sie noch eine Stunde schlafen, bis der Wecker klingelte.
Vielleicht war sie eingeschlafen — vielleicht auch nicht. Alles, an das sie sich später erinnern konnte — in einer dieser holprigen Zeitsprünge, die sie neuerdings immer erlebte —, war, dass sie die Stirn wieder ans Fenster drückte und dass die Nacht dort draußen, hinter dem dünnen Glas, zu ihr durchzusickern schien wie Tränen durch ein Stück Stoff.
Und dass unten auf der Straße eine einsame, schemenhafte Gestalt stand, reglos, eine Pistole auf sie gerichtet.
Am vierten Morgen schleuderte Matts Vater ihn gegen die Wand und verlangte ein paar Antworten.
»Was geht hier vor? Hat dir jemand geholfen? Läuft da irgendwas hinter meinem Rücken? Du willst dir wohl Ärger einhandeln?«
Matt versuchte, ihn von sich wegzudrücken, doch sein Vater war groß und schwer und kräftig gebaut wie eine Bulldogge — mit seinen Hängebacken, den dicken Lidern und seinen glänzenden braunen Knopfaugen sah er auch so aus.
»Das hab ich dir doch gesagt!«, schrie Matt im Versuch, seinen Vater zu übertönen. »Ich bin früh aufgestanden! Das ist alles. Ich habe schon drei Autos fertig. Bist du gar nicht zufrieden damit?«
»Aber warum? Warum bist du früh aufgestanden?« Sein Vater schüttelte ihn, abgestandener Whisky-Atem wehte Matt ins Gesicht. »Was hast du vor?«
Plötzlich spürte Matt die Müdigkeit wie eine Welle über sich hereinbrechen, wie einen Sog, der ihn nach unten zog, ihn ertränkte. »Ich weiß nicht, warum«, murmelte er und sackte unter den Händen seines Vaters zusammen. »Ich wache einfach auf und kann dann nicht mehr einschlafen.«
Sein Gesichtsausdruck dazu musste glaubhaft gewirkt haben, denn jetzt wurde er losgelassen und rutschte langsam an der Betonwand hinunter. Sein Dad überquerte den Hof, stieg über die Rinnsale, in denen die Reste des Seifenwassers zum Gully hinunterliefen, und inspizierte den Honda, den Golf und den Ford. Die drei Autos waren gestern von einer Mietwagen-Firma vorbeigebracht worden und sollten am Vormittag wieder abgeholt werden. Normalerweise wäre Matt um 6 Uhr aufgestanden und hätte noch vor dem Frühstück zumindest eines der Fahrzeuge gewaschen und gewachst, den Innenraum gereinigt.
Heute hatte er, als sein Vater gegen 6:30 Uhr hinunterkam, um nach ihm zu sehen, bereits alle drei Autos geschafft — von innen und von außen. Da er seit 3 Uhr in der Früh an den Wagen gearbeitet hatte, war das kein Problem für ihn gewesen. Ein Auto pro Stunde bedeutete, dass er das Ganze ziemlich gemächlich hatte angehen können. Fast schon lässig.
Sein Vater lief um die Autos herum, kontrollierte, ob noch Staub auf den Armaturenbrettern lag, knuffte in die Sitze, um zu prüfen, ob sie zu feucht gereinigt worden waren, und strich auf der Suche nach Dreckspritzern mit einem Finger über die Radkappen. Keine Dreckspritzer. Nirgends. Matt wusste, wie man einen Wagen reinigte. Er tat es, seit er zehn Jahre alt war.
»Gut gemacht«, sagte sein Dad schließlich.
Matt riskierte ein Schulterzucken. »Hab halt ein gutes Vorbild.«
Sein Dad schlenderte wieder zu ihm hinüber, legte ihm seine kräftige Hand auf die Schulter und sah ihm forschend in die Augen. »Weshalb schläfst du denn nicht?«, fragte er. »Du brauchst deinen Schlaf. Sonst leidet deine Arbeit darunter.«
Jetzt sprach er von Matts schulischen Leistungen. Es war nur eine kleine Bemerkung gewesen, aber es bedeutete ihm viel, dass sich sein Vater manchmal — nur manchmal — daran erinnerte, dass er noch zur Schule ging. Dass sich seine Welt nicht ausschließlich um Schwämme, Scheibenschrubber und Lackpolituren drehte.
»Weiß ich nicht«, erwiderte er. »Irgendwas weckt mich immer wieder auf. In den letzten drei Nächten, gegen halb zwei. Heute Nacht dachte ich dann, ich könnte genauso gut aufstehen und schon mal was wegarbeiten, damit ich heute Abend vielleicht besser penne.«
Er erzählte nicht, dass er es in der Nacht zuvor bereits mit einem anderen Auto so gemacht hatte … allerdings nur mit einem. Gegen 5:30 Uhr war er damit fertig gewesen und auf der Rückbank des Mercedes in einen leichten, traumlosen Halbschlaf gefallen, bis sein Vater zur üblichen Zeit nach ihm gesehen hatte. Als die Garagentür ins Schloss fiel, war er hochgeschreckt. Dad hatte zwar zu ihm hinübergeschaut, war aber wohl davon ausgegangen, dass er gerade das Innere des Wagens reinigte. Um nicht weiter aufzufallen, hatte Matt, noch völlig benommen, tatsächlich so getan, als poliere er die Scheiben. Sobald sein Vater gegangen war, hatte er sich wieder in den blitzsauberen Ledersitz zurücksinken lassen und bis zum Frühstück ein Spiel auf seinem Handy gespielt.
An diesem Morgen aber hatte er nur gearbeitet. Drei Autos, eins nach dem anderen. Weil er verrückt geworden wäre, wenn er sich nicht abgelenkt hätte. Vier Nächte hintereinander. Immer zur selben Uhrzeit aufgewacht. Was zur Hölle ging da vor sich?
»Schlaf heute Nacht mal durch«, sagte sein Dad und schüttelte ihn nur noch leicht an der Schulter, »und morgen früh fängst du zur üblichen Zeit mit den Wagen an. Geh jetzt frühstücken.« Er drehte sich um und ging durch die Tür zurück in die Wohnung.
Als sie am Frühstückstisch saßen, große Becher mit Tee und Eier auf Toast vor sich, schien sein Vater das Ganze bereits vergessen zu haben. So war es häufig bei seinen Wutausbrüchen: Der plötzlichen Explosion folgte eine geschäftige, vergessliche Stille. Als ob überhaupt nichts gewesen sei. Heute hatte Matt keine Spuren davongetragen, aber selbst wenn er ein wenig geblutet, einen neuen blauen Fleck oder sogar ein blaues Auge gehabt hätte — sein Dad hätte es nicht gesehen.
Mum wiederum hätte Matt in einem solchen Fall etwas Wundcreme oder ein Pflaster gegeben. Sie konnte es also sehen. Aber sie sagte nie etwas dazu. Nicht ein einziges Wort. Außer vielleicht: »Er ist müde.« Oder: »Er hat Stress.«
Wann immer Matt ihr antwortete: »Er ist betrunken« oder »Er ist gewalttätig«, stellte Mum sich augenblicklich taub. Bei Ben hatte sie sich genauso verhalten, als er damals die Wucht von Dads »Müdigkeit« ertragen musste. Ben, vier Jahre älter als sein kleiner Bruder Matteus, war schon vor langer Zeit getürmt und zum Militär gegangen.
Dads Gewalttätigkeiten waren nicht weiter wild. Nichts Lebensbedrohliches, kein großes Ding. In der Schule hatte Matt seinen Ruf als Schläger weg, weshalb es leicht für ihn war, die Spuren der Gewalt als eine Art Kriegsverletzung zu verkaufen, die er sich bei Prügeleien mit anderen Schülern zugezogen hatte. Außerdem konnte Dad auch ganz in Ordnung sein. Wenn alles gut für ihn lief, war er großzügig und fröhlich — sogar liebevoll.
Und Matt war sich ziemlich sicher, dass er Mum nie geschlagen hatte. Das wäre ja wohl auch noch schöner … Zumindest hatte sie nie blaue Flecken oder blutete irgendwo, nur manchmal gingen einige ihrer Sachen zu Bruch.
Das alles war normal. So war sein Leben eben. Und nichts konnte ihn so leicht aus der Ruhe bringen.
Bis jetzt. 1:34 Uhr. Sollte er heute Nacht wieder um 1:34 Uhr wach werden, würde er völlig durchdrehen.
Der Schlafmangel holte ihn ein. Schlagartig bewusst wurde ihm das, als er während der Pause am späten Vormittag mit Ahmed in der Schulkantine abhing. Ahmed erzählte ihm von einem neuen Computerspiel auf seiner Xbox, sein begeistertes Geplapper wollte gar nicht mehr aufhören. Matt war gerade dabei, eine Tüte Erdnussflips zu öffnen, und fragte sich, ob er überhaupt noch die Energie aufbringen würde, sie zu essen, als er plötzlich der Länge nach nach vorne fiel.
Mühsam rappelte er sich zum Sitzen auf, verwirrt, die Erdnussflips um ihn herum verstreut. Ahmed starrte ihn mit offenem Mund an, und eine Achtklässlerin mit langen blonden Haaren kam auf ihn zu. Besorgt ging sie neben ihm in die Hocke und fragte: »Ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als ob …«
Ahmed drängte sie zur Seite. »Alter! Hast du die ganze Nacht lang an der Xbox gesessen?«
Die Welt drehte sich, alles war plötzlich rosa, dann stand sie wieder halbwegs gerade und nahm normale Farben an. Matt lächelte schief. »Ja — mordsmäßig lang, Bro!«
Das Mädchen stand auf, zuckte mit den Achseln, hängte sich die Schultasche um und ging davon. Sie kam Matt bekannt vor. Er wollte Danke sagen … Danke dafür, dass sie sich um ihn gesorgt hatte … Aber da Ahmed vor ihm stand und das Mädchen die Schulkantine schon halb durchquert hatte, war es bereits zu spät dafür.
»Echt, Alter — du siehst gar nicht gut aus!«, sagte Ahmed.
»Wahrscheinlich muss ich gleich reihern«, erwiderte er.
Ahmed, der in diesen Dingen ein totales Weichei war, wich sofort zurück.
»Lass gut sein — wir sehen uns dann in Mathe«, sagte Matt beschwichtigend, und im nächsten Augenblick war sein Freund, erleichtert darüber, nicht den Krankenpfleger spielen zu müssen, auch schon verschwunden
Matt war nicht schlecht. Nicht wirklich. Aber sein Herz schlug sehr schnell und er fühlte sich benommen. Er lief zu den Toilettenräumen und hielt die Fäuste unter den kalten Wasserstrahl des Waschbeckens, sein Kopf in der weißen Porzellanvertiefung für die Seife. Das kalte Wasser strömte ihm über die Haut, beruhigte ihn, bevor es sich in einem Wirbel über dem kleinen Abfluss drehte. Nach einigen Minuten war seine Benommenheit weg und sein Herzschlag wieder normal. Er richtete sich auf und betrachtete sein Spiegelbild über dem Waschbecken. Die kurz geschnittenen dunklen Haare waren auf einer Seite des Kopfes feucht, an seinem rechten Ohr klebten die schmierigen Überreste zerquetschter Erdnussflips. Die Haut unter den haselnussbraunen Augen schimmerte bläulich — und passte dadurch hervorragend zu seinen roten, geschwollenen Augenlidern. Sein Gesicht war bleich und wirkte abgemagert. Er sah aus wie ein Zombie.
Aber schlimmer als all das war, dass er kurz, wirklich kurz davor war, in Tränen auszubrechen.
Matteus Wheeler weinte NIE.
Er schlug sich mit den nassen Händen ins Gesicht, froh darüber, dass gerade kein anderer Schüler auf dem Klo war und ihn dabei beobachten konnte. Nein, er würde NICHT weinen, nur weil er unter Schlafmangel litt. Er hatte schon ganz andere Dinge weggesteckt.
Matteus Wheeler weinte NIE.
Das sagte er sich den Rest des Tages immer wieder. Als Mr Thatcher ihn anmeckerte, weil er im Physikunterricht eingenickt war, und die ganze Klasse kicherte. Als ihm das Mädchen aus der Schulkantine noch einmal im Flur begegnete und ihm einen seltsamen Blick zuwarf. Als er am späten Nachmittag bis zum frühen Abend weitere vier Wagen für KOWSKIS GLANZAUTOS reinigte. Er sagte es sich auch, als er um 22:30 Uhr völlig erschöpft ins Bett fiel.
Und als er um Punkt 1:34 Uhr wach wurde, weinte Matteus Wheeler.
»Wo ist der Gin, Fagin?« Tima stemmte die verschwitzten Hände gegen ihr eng geschnürtes grünes Mieder und lächelte dem Jungen zu, der neben ihr auf der Bühne stand.
Der Junge mit dem erkennbar angeklebten Bart schlug ihr vor, es langsam angehen zu lassen: Zu viel Alkohol sei schädlich für ein junges Mädchen. Ein vernünftiger Rat von einem Zehnjährigen für eine Zehnjährige.
Sie protestierte und sagte, der Gin sei das einzig Aufregende in ihrem Leben — doch das war eine Lüge. Ihr Herz schlug in diesem Moment so schnell, dass sie fürchtete, es könnte ihr Kostüm sprengen und dann, nass und pochend, auf der Bühne landen. Ihren Text laut auszusprechen, das allein war gerade unglaublich anstrengend für sie. Aber in der voll besetzten Aula, vor all den Kindern und Eltern — und sogar einem Reporter der Lokalzeitung —, musste sie sich zusammenreißen.
Ohgottohottohgottohgott, wimmerte etwas in ihr, während sie sich durch das Lied kämpfte. Wie hatte sie nur ernsthaft glauben können, dass es eine gute Idee war, die Rolle der Nancy in Oliver! anzunehmen? In einem Musical? Wie hatte sie nur glauben können, dass sie es genießen würde, auf der Bühne herumzustolzieren, zugekleistert mit Schminke, die Haare hochgesteckt wie bei einer Frau aus dem vorvorigen Jahrhundert, mit wehenden Röcken — singend?
»Life is a game of chance …« Ihre Stimme hatte sie noch — gerade noch. Ein dünnes, näselndes Flüstern, das sich durch ihren Hals quetschte. Die anderen Musicaldarsteller spielten zwar weiter, tauschten jedoch besorgte Blicke. Was um Himmels willen war mit Tima los?
Einige Meter über ihrem Kopf umkreiste eine Motte einen gelb strahlenden Bühnenscheinwerfer. Es war ein großer dunkler, summender Falter, und er zog seine Kreise nun immer dichter und dichter neben ihr. Tima begriff plötzlich: Wenn sie jetzt weitersang und ihren Mund offen stehen ließ, um die langen Töne zu halten, würde diese Motte vermutlich auf ihrer Zunge landen.
»… if you don’t mind …« In diesem Moment verabschiedete sich ihre Stimme. Diese klare, starke Stimme, der sie die Rolle verdankte und die alle Einwände beiseitegefegt hatte — dass sie neu an der Schule war, dass die coolen Mädchen sie nicht mochten, dass sie als Tochter arabischer Eltern nicht die richtige Hautfarbe für die Figur der Nancy hatte. Diese Stimme also verließ sie nun. Tima schwieg.
Mr James spielte noch einige Takte auf dem Klavier, während das Publikum begann, auf den Stühlen hin und her zu rutschen und unbehaglich zu raunen. Einige Kinder kicherten nervös. Dann ließ auch Mr James von den Tasten ab und erhob sich von seinem Klavierstuhl, und mit ihm verstummte das kleine Schulorchester.
Tima stand da, den Mund fest geschlossen, und starrte wie versteinert auf die Motte. Sie spürte, wie ihr ein Schweißtropfen zwischen den Schulterblättern hinunterlief. In ihren Ohren rauschte es wie von voll aufgedrehten Wasserhähnen, es übertönte die weinerliche Lily, die ihr eine Frage stellte — »Tima, was ist denn los?! —, irgendwo ganz weit entfernt, in einer anderen Dimension.
Jetzt stand auch Mr James auf der Bühne, kündigte dem Publikum eine vorgezogene Pause an und legte seinen Arm um die schlotternde Tima. Die Zuschauer bedachten das Ensemble mit einem schwachen, mitfühlenden Applaus. Tima wurde in den seitlichen Bühnentrakt geführt, nur Sekunden bevor die Motte an der Stelle kreiste, an der das Mädchen kurz zuvor gestanden hatte.
Alle drängten hinter ihnen her, bis Mrs Theroux, die Leiterin der Theatergruppe, anordnete, sie sollten Tima in Ruhe lassen und in die Garderoben gehen. »Lily«, hörte Tima sie sagen, »zieh dir dein Nancy-Kostüm über. Du übernimmst die Rolle in der zweiten Hälfte.« Lily schnappte schockiert nach Luft und konnte ihr Glück zugleich kaum fassen. Ihre Freundinnen aus dem Chor jubelten.
»Setz dich hin«, sagte eine ruhige, tiefe Stimme. Mr James führte Tima zu einem kleinen Holzstuhl, während sich der Bühnenvorhang zuzog und die Geräusche der Zuschauer dämpfte, die sich zum Tisch mit den Erfrischungen begaben.
Tima setzte sich.
»Was ist passiert?«
Tima antwortete nicht. Weil sie es nicht wusste.
»Tima, kannst du mich hören?«
Sie konnte ihn hören. Sie konnte ihn auch sehen. Er sah nett aus: lockiges braunes Haar und blaue Augen. Lily und ihre Freundinnen vergötterten ihn, was einfach nur peinlich war. Mr James war uralt — mindestens 35! Aber er war freundlich zu ihr gewesen und hatte mit Tima an ihren Gesangseinlagen gearbeitet. Und er hatte ihr gesagt, dass sie eine der talentiertesten Schülerinnen sei, die er je gehabt habe.
»Tima — kannst du mich hören?«, wiederholte er. Hinter ihm stand Mrs Theroux, die Ben gerade bat, Miss Lanyard zu holen, die Schulkrankenschwester.
Schließlich nickte Tima, und es gelang ihr, etwas zu sagen. »Tut mir leid.«
»Ist dir übel?«, fragte er. »Fühlst du dich schlapp? Du siehst blass aus. Vielleicht solltest du dich ein wenig hinlegen?«
»Oh ja, ich sollte mich unbedingt ein wenig hinlegen«, erwiderte sie und lachte hysterisch auf. Jeden Abend legte sie sich pünktlich um 21 Uhr hin. Und genau 4 Stunden und 34 Minuten später wachte sie wieder auf. Und bis zum nächsten Abend gab es nichts — absolut nichts —, was sie hätte tun können, um wieder einzuschlafen.
Als Miss Lanyard kam, musste Tima sich auf eine Decke legen, damit sie ihr den Puls fühlen konnte. »Er geht sehr schnell«, sagte die Schulkrankenschwester. »Sie hat etwas Herzrasen. Und sie fühlt sich ziemlich kühl und verschwitzt an. Wo sind ihre Eltern?«
»Sie wollten die Vorstellung morgen Abend besuchen«, sagte Mrs Theroux. »Ich habe schon mit ihnen telefoniert, sie sind auf dem Weg hierher.«
Mum und Dad kamen, umarmten und trösteten Tima lange und nahmen sie mit nach Hause. Ihr Puls raste nicht mehr, es kam ihr nur noch so vor, als läge eine sehr dicke Decke auf ihr. Aus dem Auto auszusteigen und in ihr Zimmer zu gehen fühlte sich an, als müsse sie sich im Wasser vorwärtskämpfen.
»Du bist bloß übermüdet, Mäuschen«, sagte Mum, als sie Tima zudeckte. Sie strich ihr die Haare aus den Augen. »Ooh — du hast ja immer noch etwas Schminke im Gesicht. Na, macht nichts. Morgen früh nimmst du ein schönes heißes Bad.«
»Aber morgen ist Schule«, murmelte Tima in ihr Kissen. »Da ist keine Zeit für so was.«
»Du gehst morgen nicht zur Schule«, sagte Mum. »Ich fahre mit dir zum Arzt. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen, herausfinden, weshalb du nicht mehr schlafen kannst. Allerdings: Wenn ich recht behalten sollte und das alles nur durch die Aufregung um das Musical kam, wirst du heute Nacht wohl wieder durchschlafen. Jetzt, wo alles vorbei ist.«
Tima spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Ja. Nun war wohl alles vorbei. Bestimmt würde Lily die nächsten drei Aufführungen übernehmen und damit doch noch bekommen, was sie wollte: die Hauptrolle. Lily hatte sie immer für sich beansprucht und hätte sie auch bekommen, wenn nicht dieses neue Mädchen — Tima — aufgetaucht wäre und sie zur Zweitbesetzung verdonnert hätte. Tima hatte den Text auswendig gelernt, Tanzschritte eingeübt, die Lieder geprobt und versucht, die gehässigen Kommentare von Lilys treuen Freundinnen zu ignorieren … alles umsonst. Sie hatte sich heute bis auf die Knochen blamiert. Nun war alles vorbei.
»Ich wette, du wirst heute Nacht gut schlafen«, sagte Mum. »Du schläfst ja schon fast. Gute Nacht — und träum was Schönes. Wir sehen uns morgen früh wieder — du nimmst ein herrlich entspannendes Bad und bekommst zum Frühstück süße Hefebrötchen, was meinst du? Danach gehen wir zum Arzt und hören mal, was er dazu meint. Mach dir keine Sorgen. Schhhh. Schlaaafen …« Tima spürte noch den Kuss ihrer Mum auf der Stirn, dann hüllte sie die Erschöpfung ein, und weg war sie.
Klick.
»Oh nein! Das soll wohl ein WITZ sein!?«, jammerte Tima, drehte sich zur Seite und schlug mit der Faust auf den Nachttisch. Ihr »SpongeBob Schwammkopf«-Wecker ruckelte kurz auf seinen kleinen Metallfüßen und tickte fröhlich weiter, Sekunde um Sekunde. 1:34 Uhr und 10 Sekunden. Und 20 Sekunden. 30, 40, 50. 1:35 Uhr. 10, 20, 30, 40, 50, 1:36 Uhr …
Wenn sie jetzt nichts dagegen unternahm, würde sie auf diese Weise stundenlang einfach nur daliegen, den Wecker im Blick, gebannt und hellwach, auf die Zeiger starren, bis ihre Augäpfel austrockneten, und immer und immer wieder dieses schreckliche letzte Lied auf der Bühne durchleben wie ein Horrorvideo in Endlosschleife.
Tima stand auf und zog Jeans und T-Shirt an. Sie lief hinunter, in die Stille und in die Dunkelheit. Im Dämmerlicht der Straßenlampen, das durch die Glasscheibe in der Vordertür fiel, sah sie ihre roten Lieblingsjazzschuhe stehen und zog sie sich über die nackten Füße. Dann nahm sie ihre flauschige Reißverschlussjacke vom Garderobenhaken. Ihr Herz raste wieder, aber nicht so sehr wie auf der Bühne. Sie war nervös, ja, allerdings eher aufgeregt nervös als ängstlich nervös. Was tust du denn, Tima?, fragte ihr vernünftiges Ich. Du kannst doch nachts nicht allein nach draußen gehen.
Warum nicht?, fragte ihr unbekümmertes Ich. Da draußen ist doch nichts. Niemand sonst. Ich sollte es wissen: Ich habe sieben Nächte hintereinander stundenlang auf diese Straße geschaut. Dort bewegt sich nie irgendetwas, abgesehen von der ein oder anderen Ratte bei den Mülltonnen.
Tima schloss vorsichtig die Haustür auf, öffnete sie langsam und ließ den Schlüssel in ihre Hosentasche gleiten. Lange würde sie nicht draußen bleiben. Vielleicht würde sie nicht einmal den Vorgarten verlassen. Sie musste nur einmal etwas anderes tun. Etwas, das dieses ewig gleiche Muster aufbrechen würde, dieses ständige Aufwachen und erneut Aufwachen und erneut Aufwachen und — WUMMS. Die Tür war hinter ihr ins Schloss gefallen, und sie stand alleine draußen.
Der Geruch irgendeiner nächtlich duftenden Pflanze stieg ihr in die Nase. Er war wundervoll, berauschend. Tima lief über das silbrig glänzende Gras, um die knirschenden Schritte über die mit Kieselsteinen ausgelegte Einfahrt zu vermeiden, auf der Dads Mercedes stand. Es war eine warme Nacht. Tima zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf. Eine leichte Brise spielte mit ihrem langen Haar und sorgte dafür, dass das Pampasgras auf dem Rasen ihr verschwörerisch zuflüsterte.
Sie verließ den Garten und lief auf dem Gehweg am Nachbarhaus vorüber. Schließlich überquerte sie die Straße, um zu der kleinen, quadratischen Grünfläche für die Anwohner zu gelangen, auf der ein weiß gestrichener, schmiedeeiserner Musikpavillon stand. Eine Motte flog an ihr vobei. Anders als bei der Motte, die sie auf der Bühne beobachtet hatte, machte es ihr hier überhaupt nichts aus. Andere Insekten tanzten in dem fahlen Licht der Straßenlampen. Wenn sie auch nur einem dieser Insekten in einem geschlossenen Raum begegnet wäre, hätte sie Panik bekommen. Doch nicht hier draußen. Nicht heute Nacht. Die Insekten waren in Ordnung. Tima war in Ordnung.
Ihr Herz pochte nicht mehr wie wild. Sie setzte sich auf die niedrige Mauer, die die kleine Grünfläche umgab, und begriff, dass sie sich zum ersten Mal seit einer Woche fast wieder normal fühlte. Wie konnte das sein nach dem, was sie an diesem Abend erlebt hatte? Sie wusste es nicht. Und wieso fühlte sie sich überhaupt entspannt und normal, wo sie doch alleine draußen im Dunkeln saß? Das alles ergab keinen Sinn.
Vielleicht war es ein Traum. Vielleicht war nichts davon wahr. Die Motte flog wieder an ihr vorbei, angezogen vom falschen Mond einer Straßenlampe. Und nur um zu testen, ob es tatsächlich ein Traum war, streckte Tima die Hand aus und rief sie in Gedanken zu sich.
Die Motte blieb in der Luft stehen und flatterte dann in einem Bogen zurück. Sie steuerte direkt auf Timas geöffnete Handfläche zu und ließ sich darauf nieder.
Tima hielt den Atem an. Es kitzelte, als die Motte ihre winzigen Insektenfüßchen bewegte und langsam mit den Flügeln schlug. Sie sah den Haarflaum auf dem Kopf des Insekts, den Kupferstaub entlang seiner braunen Flügelspitzen, den feingliedrigen Saugrüssel, der sich wie eine Kindertröte aus dem Gesicht rollte.
Ein Traum. Aber … das Kitzeln? Es musste von etwas herrühren, das sie im Schlaf fühlte, in ihrem Bett. Vielleicht saß dort zu Hause ja gerade tatsächlich ein Insekt auf ihrer Hand. Sie schüttelte sich und ließ die Traummotte davonfliegen. In Sekundenschnelle war sie verschwunden. Tima zitterte, stand auf und rannte zurück zu ihrem Haus.
Komm schon! Wach auf! Wach endlich aus diesem Traum auf!
Sie erreichte das Mäuerchen zum Vorgarten, hüpfte hinüber, um nicht auf die knirschenden Kiesel treten zu müssen (egal — es ist nur ein Traum!), und schlug sich dabei das Knie an den Ziegelsteinen auf.
Der stechende Schmerz und das Blut fühlten sich ziemlich echt an. In der Küche angekommen, holte sie ein Pflaster und klebte es sich auf die Wunde. Auch dabei kam sie sich absolut nicht vor wie in einem Traum.
Sie machte sich einen Kakao und nahm ihn mit nach oben in ihr Zimmer. 2:17 Uhr. Alles klar. Anscheinend war dies hier kein Traum. Das mit der Motte war verrückt gewesen, aber vielleicht hatte ihre Hand nach etwas geduftet, das Falter gerne mochten. Tima hoffte, dass sie nicht noch weitere Insekten anziehen würde. In Gedanken sah sie sich schon vor einem Schnakenschwarm davonrennen. Sie stellte sich ans Fenster, nippte an ihrem Kakao und kicherte über den Unsinn, den ihr übermüdetes Gehirn neuerdings fabrizierte. Zumindest war es besser, als im Bett liegen zu bleiben und zuzulassen, dass immer dieselben negativen Gedanken in ihrem Kopf kreisten.
Draußen auf dem dunklen Fensterbrett bildete eine vorbeiziehende Ameisenarmee eine perfekte Kreisform und marschierte dann weiter.
Sein Name war Matt. Matteus Wheeler. Er war Elena in der Schule bislang nicht weiter aufgefallen, da er im Jahrgang über ihr war und — nun ja — ihr sicher niemals in der Bibliothek oder im Musikzimmer über den Weg gelaufen wäre.
Er war einer dieser Schüler, die immer Ärger hatten, und er hing häufig mit den toughen, älteren Jungs rum, die immer lauthals angaben und ihr hinterherriefen, wenn sie vorbeilief. Elena machte sich nichts daraus, es ging ihr nicht allein so. Die Jungs pöbelten viele Schüler an. Sie ignorierte es immer und reagierte nie. Wenn jemand darauf reagierte, kam nur noch Schlimmeres von der Gang. Man musste so tun, als ob es einen gar nicht interessierte. Und meist interessierte es Elena auch nicht.
Das Problem war nur, dass Elena durch den Schlafmangel nicht mehr alles so locker wegsteckte. Sie war gerade auf dem Weg in den Musiktrakt, ein flaches Gebäude aus hellen Betonklötzen und mit schwarzem Ziegeldach, als einer der Jungs beschloss, ihr das Kornett wegzunehmen. Ein echter Brüller … Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte Jed Thomason, ein langer Kerl mit fettigen roten Haaren und einem mickrigen, wie aufgeklebt wirkenden Oberlippen-Bärtchen, ihr auch schon den Instrumentenkoffer aus der Hand geschlagen.
Überrascht und verärgert schrie sie auf und blaffte ihn an: »Gib’s mir sofort zurück!«
»Komm und hol’s dir doch!«, erwiderte Jed grinsend und hielt das Kornett so hoch, dass sie nicht herankam.
»Boah, echt witzig!«, sagte Elena, doch die ironische Antwort blieb ihr im Hals stecken. Sie hatte keine Energie für so etwas. Deshalb sprang sie einfach in die Luft und versuchte, nach dem schwarz-silbernen Köfferchen zu greifen, woraufhin Jed es — natürlich — noch höher hielt. Dann tat er so, als wollte er es ihr zurückgeben. Als sie es seufzend wieder in Empfang nehmen wollte, warf Jed es — natürlich — über ihren Kopf hinweg zu Ahmed Sayid hinüber. Und Ahmed warf es zu Callum Matheson. Es hätte den ganzen Tag so weitergehen können, die Jungs machten sich beinahe in die Hose vor Lachen. Warum auch nicht, dachte Elena. Im Ernst, weshalb sollte man sich Komödien im Theater ansehen, wenn man genauso gut im Kreis stehen und das Blechblasinstrument irgendeines Mädchens durch die Gegend pfeffern konnte? Eine bühnenreife Darbietung — allerbeste Unterhaltung!
Elena blieb stehen und wandte den Blick von dem Spektakel ab. Ihr Kopf sank nach unten, ihr Körper schien abzuschalten. Die Welt um sie herum wirkte plötzlich gedämpft, und sie schaute auf ihre Füße, als sähe sie durch dünnes Gewebe hindurch: verschwommen und weich. Elena ließ die Schultasche von der Schulter gleiten; zu schwer. Sie machte kein großes Aufhebens darum, sondern verfiel einfach in den Energiespar-Modus wie ein unbenutzter Laptop. Stand-by.
Die aufgekratzten Teenager lärmten noch eine halbe Minute weiter, dann hörte Elena jemanden sagen: »Es reicht. Hört auf damit!« Als das Geschrei immer noch kein Ende nahm, erklang noch einmal die Stimme, diesmal lauter: »Ich hab gesagt: HÖRT AUF DAMIT!« Daraufhin fielen einige Kraftausdrücke. Und dann wurde ihr der Instrumentenkoffer zurückgegeben. Verwirrt hob sie den Kopf. Vor ihr stand Matt Wheeler. »Nun nimm schon«, murmelte er, und sie bekam schließlich den Tragegriff zu fassen und nahm den unendlich schweren Koffer entgegen. Sie sah noch einmal zu Matt hoch — und in diesem Augenblick wusste sie es. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen, und die Lider waren gerötet. Seine Haut wirkte gräulich. Und als er ihr den Koffer gereicht hatte, hatte seine Hand leicht gezittert.
Sie wusste es. Sie wusste es einfach. Sie öffnete den Mund und flüsterte: »1:34 Uhr.«
Eine Sekunde lang starrte Matt sie nur an. Dann blinzelte er, schüttelte den Kopf und ging davon. Der Rest der Gang hängte sich an seine Fersen, und ihre Pfiffe und Schreie galten nun ihm. »Uowuowouw! Wer hat denn da eine Freundin?«, gluckste Jed wie ein Sechsjähriger im Süßigkeiten-Rausch. Als die Gruppe um die Ecke des Musiktrakts bog, sah Elena noch aus den Augenwinkeln, wie Matt ihm gegen die Brust boxte und Jed der Länge nach auf den Rasen fiel.
Auf dem Weg zu ihrem Kursraum musste Elena plötzlich unbändig lachen. Und später, im Kreis mit den anderen Musikern — zwei Klarinettisten und einem Flötenspieler, die sich durch »Solveigs Lied« aus Peer Gynt quälten —, spürte sie, dass sich noch mehr Gelächter in ihr ausbreitete, dass es sie regelrecht schüttelte und sich alles in ihr verkrampfte. Sie ließ immer wieder Noten aus, weil ihr Brustkorb sich ruckartig zusammenzog und ihre Schultern bebten.
Schließlich rief Mr Gould, der Musikleher, gereizt: »Elena, was ist denn los mit dir?«
Aus ihrem Mundstück drang nur noch unkontrolliertes Getröte und Gequietsche. Alle drehten sich zu ihr um. »Tut mir leid«, stammelte sie und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich muss nur andauernd so … lachen.«
Mr Gould sagte den anderen, sie sollten fünf Minuten Pause machen, dann nahm er sie zur Seite. »Elena — du lachst nicht«, sagte er stirnrunzelnd, »du weinst.«
Sie starrte ihn ausdruckslos an. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Wangen nass von Tränen waren. Was um alles in der Welt …?!
»Willst du vielleicht mal zur Schulpsychologin gehen?«, fragte Mr Gould, der sich offensichtlich überfordert fühlte, mit Blick auf die anderen Schüler.
»Ähm … ja«, sagte sie. »Das ist vielleicht eine ganz gute Idee.«
Der Besuch bei der Schulpsychologin — einer netten Frau namens Janet — war furchtbar. Elena versuchte ihr zu erklären, dass sie nicht wirklich geweint hatte, doch Janet schien ihr nicht zu glauben.
Also erzählte sie der Psychologin, dass sie seit einigen Nächten nicht mehr so gut schlafe. Janet sah sehr ernst aus, sagte ihr, dass sie zum Arzt gehen sollte, und meldete sie für den Rest des Schultags krank.
Etwas verblüfft verließ Elena daraufhin schon am frühen Nachmittag die Schule, zur Abwechslung einmal nicht begleitet von 800 weiteren Schülern. Das Köfferchen mit dem Kornett in der Hand, schlenderte sie ziellos die Straße entlang und dachte über Matteus Wheeler nach. Weshalb war er nett zu ihr gewesen? Weshalb hatte er die anderen davon abgehalten, sie weiter zu schikanieren?
Weil es ihm genauso geht. Hast du sein Gesicht gesehen, als du »1:34 Uhr« gesagt hast? Ja. Nur eine Sekunde lang, ehe er geblinzelt hatte, da hatte sie es gesehen: Bestätigung.
Er wusste Bescheid. Sie hatte es bereits geahnt, als sie ihn in der Schulkantine hatte umkippen sehen. Nun war sie sicher. Das Wissen darum jagte ihr Schauer über den Rücken. Doch was nun? Sie würde mit ihm reden müssen. Aber wie? In der Schule? Keine Chance. Sie runzelte die Stirn, überlegte, was sie über ihn wusste. Sie hatte gehört, dass seine Eltern im Westen der Stadt einen Salon für Autopflege betrieben. Wir hieß der Laden noch mal? Kowolski? Klowski? Matts Familie stammte aus Polen, wenn sie sich recht erinnerte. Aber da er einen so typisch englischen Nachnamen wie Wheeler hatte, war er vermutlich nur zur Hälfte Pole. Vielleicht könnte sie ja herausfinden, wo er wohnte.
Sie ging nicht nach Hause, um sich hinzulegen. Zum einen deshalb, weil sie nicht einschlafen würde — das klappte tagsüber nie. Zum anderen deshalb, weil sie online recherchieren musste und es bei ihr zu Hause derzeit keine Internetverbindung gab. Stattdessen lief sie die Hauptstraße entlang bis zur Stadtbibliothek von Thornleigh. Da die anderen Kinder noch in der Schule waren, würde sie dort nicht allzu lange auf einen freien Computer warten müssen. Sie hatte Glück. Als sie die Stadtbibliothek betrat, stand gerade eine ältere Dame von einem der Computer-Arbeitsplätze auf. Elena ergatterte ein Zeitfenster von 30 Minuten und fand schließlich, wonach sie gesucht hatte.
KOWSKIS GLANZAUTOS. Das war es. Eine schlichte, einseitige Website informierte darüber, wo sich der Autopflege-Salon befand und welche Service-Angebote es dort gab. Und jetzt? Sollte sie gleich dorthin laufen und darauf warten, dass Matt von der Schule nach Hause kam? Was, wenn er seine Kumpels mitbrächte? Elena schüttelte sich. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren.
Als sie sich daran erinnerte, was sie als Letztes zu ihm gesagt hatte, schien die Antwort auf der Hand zu liegen.
1:34 Uhr.
Ein aufgeschürftes Knie ließ sich nicht so einfach damit erklären, dass man geträumt hatte. Tima wusste, dass sie in der vergangenen Nacht tatsächlich draußen gewesen war und sich verletzt hatte — der Beweis dafür war auch bei Tageslicht eindeutig zu sehen. Und das Ganze wäre auch nicht weiter dramatisch gewesen, hätte sie sich nicht plötzlich an die Sache mit der Motte erinnert.
Mum und Dad nahmen natürlich an, sie sei wegen ihres Totalausfalls auf der Bühne niedergeschlagen und beschämt — und das war sie auch —, aber was sie wirklich durcheinanderbrachte, war die Motte. Denn seit wann kamen denn bitte schön Motten angeflogen und setzten sich auf Hände, wenn man sie darum bat? Davon hatte Tima noch nie gehört.
Sie lieh sich Mums Laptop aus und recherchierte im Internet darüber, indem sie eingab: »Können Motten dressiert werden?« Wie sich herausstellte, konnten manche tatsächlich abgerichtet werden, aber dafür brauchte man eine komplette Ausrüstung, viel Zeit und Übung — und überhaupt: Was glaubte sie denn eigentlich, was passiert war? Dass eine gezähmte und dressierte Motte ganz zufällig vorbeigeflogen kam, als sie ihre Hand aufgehalten hatte?
Die Geschichte spukte Tima unentwegt im Kopf herum, sie konnte gar nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken — auch eine Folge des Schlafmangels, wie sie festgestellt hatte. Durch die Schlaflosigkeit verhielt man sich in vielerlei Hinsicht merkwürdig, und dazu gehörte auch, dass man sich zwanghaft und endlos mit den kleinsten Nebensächlichkeiten befasste. Der Besuch bei der Ärztin lenkte Tima eine Weile ab. Frau Dr. Jarvis untersuchte sie, kontrollierte ihre Augen, ihre Ohren und die Atmung. Sie sprachen über Schlafapnoe — Atemstörungen, von denen man nachts plötzlich wach werden konnte.