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Er ist mutig. Er ist schlau. Und er kann sich verwandeln ... Auf dem Tregarren College, der Schule für Kinder mit übernatürlichen Fähigkeiten, fühlt sich Gestaltwandler Dex endlich sicher und hat echte Freunde gefunden. Doch dann tauchen zwei neue Schüler auf, die ein dunkles Geheimnis umgibt. Und gerade als Dex seinen besten Freund Gideon am dringendsten braucht, verändert der sich auf beunruhigende Weise. Plötzlich fühlt sich Dex einsamer als je zuvor. Etwas läuft mächtig falsch – aber niemand nimmt ihn ernst. Denn niemand sonst kann die Gefahr sehen, die sie alle zu vernichten droht … Band 2 der rasant-phantastischen Action-Abenteuer-Serie über Kinder mit Superkräften. Alle Bände der Fox-Runner-Serie: »Die Macht der Verwandlung« (Band 1) »Der Ruf des Falken« (Band 2) »Flucht in die Wildnis« (Band 3, erscheint im Frühjahr 2020)
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Seitenzahl: 383
Ali Sparkes
Fox Runner – Der Ruf des Falken
Band 2
Aus dem Englischen von Leo Strohm
FISCHER E-Books
Für meine Jungs
Das Mädchen in der grauen Kluft flüchtete durch den Wald, aber der Gestaltwandler war ihr dicht auf den Fersen.
Sie lief jetzt schon seit einer halben Stunde, vielleicht sogar noch länger. Auf ihrer Oberlippe hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Das Wesen kam näher, das spürte sie genau. Bis auf das leise Zwitschern der Vögel im Hintergrund konnte sie nur ihren eigenen Atem und das Geräusch ihrer teuren Laufschuhe auf dem Waldboden hören, aber sie wusste ohne den geringsten Zweifel, dass es im nächsten Moment zum Sprung ansetzen würde. Es würde springen, und sie wäre geschlagen. Sie stieß zum Zeichen ihrer Kapitulation einen lauten Schrei aus, hüpfte auf einen umgestürzten Baumstamm, und drehte sich schwer atmend um, die Hände in die Hüften gestützt. Das Wesen stieß sich vom Boden ab.
Es landete fast lautlos neben ihr auf dem Baumstamm. Nicht einmal das Scharren seiner Krallen war zu hören. Es setzte sich auf die Hinterläufe, legte die Lunte um die Vorderpfoten und sah sie mit einem Grinsen an, das so gar nicht zu einem jungen Rotfuchs zu passen schien.
Lisa schnaubte verärgert. Sie ließ sich auf den Hosenboden plumpsen und pickte ein paar Blätterkrümel vom Spann ihrer Laufschuhe. »Du hast auch einen natürlichen Vorteil, Dex!«, maulte sie. Die Fuchsgestalt bebte und wand sich, und dann warf Dex einen prüfenden Blick auf seine eigenen, ziemlich abgeschabten Turnschuhe.
»Was denn, du mit deinen Hundertdreißig-Pfund-Flitzern gegen die alten Treter hier?«, neckte er sie. »Komm, entspann dich mal. Ich bin heute ganz schön außer Puste gekommen. Du wirst eindeutig schneller.«
»Hmm.« Lisa zog eine beleidigte Schnute und verschränkte die Arme vor der Brust. Hoffentlich besserte sich ihre Stimmung bald wieder. Normalerweise war sie nach dem Laufen immer gut drauf, auch, wenn er sie geschlagen hatte … was ihm in Fuchsgestalt jedes Mal gelang. Aber als Mensch hätte er nicht den Hauch einer Chance gehabt.
»Was ist denn los?«, erkundigte er sich, obwohl er wusste, dass er vermutlich keine Antwort darauf bekommen würde.
»Nichts«, knurrte sie und stand auf.
»Noch mehr Botschaften?« Dex warf seiner Freundin einen vorsichtigen Blick zu. Mit ihren schicken Klamotten und den langen, blonden Haaren machte sie eigentlich den Eindruck, als würde sie sich höchstens darüber Gedanken machen, wo sie ihr nächstes Outfit shoppen gehen konnte. Doch leider hatte Lisa in den vergangenen zwölf Monaten mehr Grund zur Sorge gehabt als die meisten anderen Menschen in ihrem ganzen Leben.
»Nichts!«, wiederholte sie mit einem warnenden Unterton in der Stimme.
»Na gut, dann komm, lass uns zu den anderen zurücklaufen«, sagte Dex. »Ich verwandle mich dieses Mal auch nicht, dann ist es gerechter.«
Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Du willst mich doch bloß aufmuntern!«, erwiderte sie, und trotzdem war ihr Interesse geweckt. Für Lisa gab es nichts Schöneres, als zu gewinnen.
»Stimmt!«, pflichtete Dex ihr bei. »Aber du musst mir ein bisschen Vorsprung lassen!« Und schon sprang er auf und rannte zwischen den Bäumen hindurch. Lisa ließ ihm genau fünf Sekunden, bevor sie sich an die Verfolgung machte. Zehn Sekunden später hatte sie ihn bereits eingeholt. Gut so. Hoffentlich zeigte dieser zusätzliche Sprint die erwünschte Wirkung. Denn die Nachrichten, die sie empfing, waren oft sehr düster und unerfreulich, und wurden häufig noch von irgendwelchen Visionen begleitet. Nicht, dass man das bei Lisa jemals mitbekam. Sie hatte nichts Weltfremdes oder Entrücktes an sich, redet nicht mit Geisterstimme und flatterte niemals mit den Augenlidern.
Wenn Lisa in Trance fiel, dann merkte man das höchstens daran, dass sie sich ganz leicht an der linken Schulter kratzte und dabei in eine Richtung starrte. Manchmal kam es ihr so vor, als würde ihr eine Art Kühlkissen auf diese Stelle gedrückt, und es prickelte wie verrückt. »Als würden sie sich mit Stecknadeln draufsetzen und mir dabei ins Ohr brüllen«, hatte sie sich einmal beklagt.
Lisa hielt überhaupt nichts davon, dass die Geisterwelt mit der irdischen Welt kommunizieren wollte – vor allem dann nicht, wenn die Geister ausgerechnet sie dafür benutzen wollten. Aber genau das taten sie seit dem letzten Sommer, und zwar in Scharen. Gleichzeitig war es jedoch keine Frage, dass ihre ungeliebte Gabe sehr nützlich war. Lisa konnte innerhalb weniger Sekunden verlorene Gegenstände wiederfinden. Man musste sie bloß fragen, dann richtete sie den Blick zum Himmel, schnauzte einen an, machte für einen Moment die Augen zu und konnte einem anschließend genau sagen, wo die vermissten Socken oder Schlüssel oder Schokoriegel abgeblieben waren. Manchmal, wenn sie die Schnauze von alledem so richtig voll hatte, konnte sie auch ziemlich giftig werden: »Wieso bist du denn so faul? Versuch’s doch erst mal selber, bevor du damit zu mir kommst!« Sie wusste es immer, wenn jemand sich diese Mühe nicht gemacht hatte.
Ihre Gabe hatte aber auch einen sehr viel weniger erfreulichen Aspekt, und das war das Aufspüren von vermissten Personen. Für gewöhnlich handelte es sich um tote Vermisste oder noch schlimmer: um solche, die demnächst sterben würden.
Als Dex sie schließlich wieder eingeholt hatte, saß sie schon zusammen mit Gideon und Mia auf der Lichtung. Gideon lag dösend im sonnenbeschienenen Gras. Er hatte sich den sommersprossigen Arm schützend über die Augen gelegt, während ein Marienkäfer in seinen blonden Wuschelhaaren herumkrabbelte. Mia hatte sich aufrecht hingesetzt, die Arme um die Knie geschlungen und musterte Lisa aufmerksam. Nach ihrer Miene zu urteilen, hatte der zusätzliche Sprint Lisas Laune nicht entscheidend gebessert. Sie hatte sich auf die Knie fallen lassen, zerrte das Haargummi aus ihrem Pferdeschwanz und schüttelte ihre Haare aus. Dabei stieß sie aufgebracht hervor: »Iii-gitt! Ich hasse die!« Sie kratzte sich die Kopfhaut und dann die linke Schulter, so gut sie eben konnte. Mia trat zu ihr und legte ihr besänftigend eine Hand auf den Kopf. Schon eine Sekunde später war Lisas Miene weicher geworden, hatten die Stressfalten auf ihrer Stirn sich geglättet. Selbst aus zwei Metern Entfernung konnte Dex die sanfte, lindernde Wirkung von Mias Heilkräften spüren.
»Geht es ihr gut?«, stieß er hervor, immer noch leicht außer Atem von dem Sprint durch den Wald, und ließ sich neben den beiden Mädchen auf die Knie fallen.
»Alles bestens«, knurrte Lisa mürrisch, aber nicht mehr besonders aggressiv. »Bloß dieses nebulöse, schwammige, unverständliche Gelalle …« Sie verstummte, aber die anderen wussten genau, was sie meinte. Das, was Lisa an ihrer Gabe am allermeisten aufregte, war die Unklarheit, dieses Gefühl, dass gleich irgendetwas passieren würde, ohne wirklich zu wissen, was es war.
»Ist es jemand von uns?«, wollte Mia wissen.
»Ja … nein … ich weiß es nicht!«
»Hör jedenfalls auf, dich deswegen verrückt zu machen. Du weißt doch genau, dass das eh nichts nützt«, ließ Gideon sich unter seinem Arm hervor vernehmen. »Je mehr du dich aufregst, desto weniger kommst du dahinter, was sie von dir wollen!«
Lisa funkelte ihn wütend an, und Dex hatte das Gefühl, dass Gideon gleich ziemlichen Ärger bekommen würde.
»Gideon! Du könntest wirklich ein bisschen mehr Taktgefühl zeigen«, sagte Mia und tadelte ihn mit einem vielsagenden Blick aus ihren hübschen, violetten Augen.
Gideon setzte sich auf und grinste. »Das würde auch nichts nützen, stimmt’s? Sie ist wie ein schlechtgelaunter Hund, der nichts zu beißen hat. Komm, Lisa, lass es raus!« Er schnappte sich einen Apfel aus dem Picknickkorb und warf ihn in Lisas Richtung. Sie fing ihn mit einem blitzartigen Reflex auf und schleuderte ihn umgehend zurück. Gideon wartete ab, bis er nur noch knapp einen Zentimeter von seiner Nasenspitze entfernt war, und stoppte ihn dann ruckartig ab, nur mit einem Augenblinzeln. Trotzdem stieß er einen lauten Schrei aus, als hätte das fruchtige Geschoss ihn tatsächlich getroffen.
»Noch mal?« Er schnappte sich das schwebende Obst und hielt es Lisa auffordernd entgegen.
Doch sie schüttelte den Kopf. »Nein … wenn ich dich nicht treffe, nützt das gar nichts. Es ist viel befriedigender, wenn du in echt schreist.« Sie erhob sich. »Aber trotzdem danke, Gid. Los, gehen wir zurück. Dad wird sich schon wundern, wo wir abgeblieben sind, und ich schätze mal, dass Marguerite gerade ein wundervolles Abendessen zubereitet.«
Dex und Gideon tauschten ein erfreutes Lächeln. Marguerite konnte wirklich phantastisch kochen. Obwohl, eigentlich war alles an Lisas Zuhause phantastisch, angefangen bei dem mit Mosaiken verzierten Swimmingpool in dem wunderschönen, fast drei Hektar großen Garten der Villa bis hin zu ihrem riesigen Gästezimmer mit eigenem Bad. Mia hatte sogar eines ganz für sich alleine! Marguerite war eine phänomenale Köchin und Haushälterin, und der Butler war auch ziemlich cool. Lisas Dad war reich, das ließ sich beim besten Willen nicht übersehen. Lisa fiel das zwar überhaupt nicht mehr auf – sie war schließlich damit aufgewachsen –, aber Dex, Gideon und Mia konnten gar nicht anders, als immer wieder staunend den Atem anzuhalten.
»Stellt euch mal vor, wie es wäre, immer hier zu wohnen!«, sagte Gideon bewundernd, während sie den gewundenen Waldweg entlang zurück zum Anwesen gingen. Der Wald gehörte natürlich auch Lisas Dad und war Teil des Anwesens. »Kein Wunder, dass sie keine Lust gehabt hat, in den COLA-Club zu kommen. Sie hat ja sogar ein eigenes Pferd und alles!«
»Und außerdem ist ihr Dad echt nett.«
Maurice Hardman war ein intelligenter Mann, der irgendetwas mit Metall gemacht und damit wahnsinnig viel Geld verdient hatte. Er freute sich sehr, seine Tochter in den Ferien bei sich zu haben, und es fiel ihm schwer, ihr einen Wunsch abzuschlagen. Nicht einmal den, ein paar ihrer ziemlich merkwürdigen Freunde hierher einzuladen.
»Na ja, mein Dad ist auch echt nett«, murmelte Gid. »Aber er hat mir noch nie ein Pony geschenkt. Oder einen Swimmingpool. Das ist so ungerecht!« Er zog eine übertrieben beleidigte Schnute.
In Wirklichkeit hatte er in seinem kleinen Zuhause in Slough eine sehr schöne Ferienzeit verbracht und seinem Dad von seinen vielen, aufregenden Erlebnissen berichtet. Außerdem hatte er so ausdauernd versucht, den Fernseher nur mit Hilfe seiner Gedankenkräfte hochzuheben, dass sein Dad irgendwann beschlossen hatte, die Fußballübertragung lieber im Radio zu hören – Telekinese sorgt nun mal für jede Menge Unordnung in den Antennensignalen.
Es versetzte Dex einen Stich, wenn er daran dachte, wie viel Spaß die anderen mit ihren Vätern gehabt hatten. Keiner seiner Mitschüler aus dem COLA-Club hatte mehr eine Mutter, und das machte die Väter doppelt wertvoll. Aber Dex hatte seinen Vater seit dem letzten Sommer genau vier Tage lang zu Gesicht bekommen. Während des gesamten ersten Trimesters am Tregarren College in Cornwall hatte er noch auf den Besuch gewartet, den sein Vater ihm in Briefen und Postkarten angekündigt hatte. Ja, er würde zu ihm kommen – bald! Konnte es kaum erwarten, sich das alles anzusehen und herauszufinden, wieso ausgerechnet sein Sohn vom Bildungsministerium – jawohl, vom Ministerium – an diese ganz besondere Schule geholt worden war.
Er wusste natürlich nicht, dass es sich bei diesem College keineswegs um ein Internat für besonders intelligente Schülerinnen und Schüler handelte. Vielmehr war es eine Schule speziell für »Children Of Limitless Ability« (daher die Abkürzung COLA), also »Kinder mit Grenzenlosen Fähigkeiten«. Sie alle besaßen außergewöhnliche Gaben und waren zum Beispiel Telekinetiker, Hellseher, Heiler oder Illusionisten. Und Dex war der einzige Gestaltwandler an der ganzen Schule. Im Verlauf von achtzehn Monaten waren genau einhundertneun solcher Kinder mit Grenzenlosen Fähigkeiten aufgespürt und hier zusammengebracht worden.
Wenn Dex’ Vater ihn besucht hätte, dann hätte er vor dem Betreten des Schulgeländes eine ausführliche Einweisung bekommen. Die Vorschriften besagten, dass kein Schüler außerhalb der sehr sorgfältig überwachten »Entwicklungsstunden« seine Kräfte anwenden durfte, aber natürlich war es praktisch nicht möglich, dass sich alle jederzeit an die Regel hielten. Wer den Weg über die holprigen Klippenpfade von Tregarren bis hinunter zum tosenden, blau-grünen Meer ging, der begegnete garantiert mindestens ein, zwei Kindern, die Tennisbälle in der Luft schweben ließen, vor den Augen des Betrachters verblassten oder aus ihren Handflächen ein Feuerwerk gen Himmel steigen ließen.
Es gab nur wenige Väter oder Stiefmütter, die nichts von den Fähigkeiten ihres Kindes ahnten, aber Dex’ Dad gehörte dazu. Er war nur kurz zu Hause gewesen und hatte die wenigen, kostbaren Stunden dann vor allem mit seiner Frau Gina und ihrer gemeinsamen Tochter Alice geteilt. Dex hatte schlicht keine Gelegenheit gehabt, ihm von alledem zu erzählen.
Gideon registrierte Dex’ gedankenversunkenen Gesichtsausdruck und konnte sich denken, was der Grund dafür war. »Na, du hast deinen Dad wohl kaum zu Gesicht bekommen, was?«
Dex seufzte. »Wenn man die Minuten zusammenzählt, in denen Gina ihm nicht irgendwas ins Ohr gebrüllt oder Alice auf seinem Rücken gehockt hat wie eine Klette in einem rosa Kleid … eine halbe Stunde vielleicht, würde ich schätzen.«
»Eine halbe Stunde ist doch mehr als genug.« Gideons Stimme klang tadelnd. Er konnte nicht glauben, dass niemand aus Dex’ kleiner Familie etwas von seinen Kräften wusste. »Du musst es ihm sagen, Dex! Er muss es erfahren!«
»Ja … na ja … wie gesagt, das waren immer bloß ein paar Minuten und … wie soll ich das sagen? Jedes Mal, wenn ich ganz kurz davor war, wollte Alice ihm schon wieder irgendeine von ihren ekligen Puppen zeigen, oder Gina hat … ihm die Schultern massiert!« Dex verzog angewidert das Gesicht. Er empfand nicht das Geringste für seine Stiefmutter. Sie hatte ihn regelmäßig geschlagen und gepiesackt und ihn aus dem Haus ausgesperrt, weil er angeblich »undankbar« gewesen war oder die »falsche Einstellung« an den Tag gelegt hatte. Aber natürlich hatte sich Ginas Haltung auf wundersame Weise geändert, nachdem Owen Hind sie aufgesucht und ihr eröffnet hatte, dass Dex ein »ganz besonderer Junge« sei und darum eine spezielle Ausbildung an einem hervorragenden Internat bekommen würde, und zwar kostenlos.
Während der Weihnachtsferien hatte Dex gar nicht gewusst, was schlimmer war – die alte Gina, die gehässig und lieblos, aber wenigstens ehrlich war (solange sein Vater es nicht mitbekam), oder die neue, überfreundliche Gina, die ihm eine Extraportion Pommes auf den Teller schaufelte und ihn »Liebling« nannte. Aber natürlich bekam er gelegentlich mit, dass sie ihn mit berechnenden Blicken ansah. Sie überlegte krampfhaft, welchen Vorteil sie und ihre Tochter davon haben konnten, dass sie ein »Genie« in der Familie hatten. Und sie hatte Angst. Angst, dass Dex, der etliche Zentimeter gewachsen war und dem die frische Meeresluft und das gute Essen am Internat sichtlich gut getan hatten, womöglich auf die Idee kam, seinem Vater von den vielen kleinen Gemeinheiten seiner Stiefmutter in der Vergangenheit zu erzählen.
Gina wusste natürlich nicht, dass Dex manchmal sogar dankbar war für ihren bösartigen Charakter. Er fragte sich oft, ob seine erste Verwandlung jemals stattgefunden hätte, wenn sie ihn nicht im vergangenen Herbst in den Garten gesperrt hätte. Danach hatte er sich versehentlich im Gartenhäuschen eingeschlossen, war in Panik geraten, und damit hatte dann alles begonnen. Zuerst hatte es so ausgesehen, als könnte er sich nur verwandeln, wenn er extreme Angst, Panik oder Wut empfand. Denn das nächste Mal war es passiert, als zwei Schlägertypen an seiner alten Schule seinen Freund Clive verprügelt hatten. Fast wahnsinnig vor Wut hatte er die beiden in die Flucht gejagt, blutüberströmt und aus voller Kehle brüllend. Noch am selben Tag war Owen auf der Bildfläche erschienen.
Gideon konnte die Vorstellung, wie Gina Robert Jones’ Schultern massierte, immer noch nicht abschütteln und verzog das Gesicht. »Igitt!«, sagte er mitfühlend. »Aber, Dex, hat er dich denn gar nicht gefragt? Ist er denn nicht neugierig? Ich meine, nichts für ungut, Kumpel, du bist wirklich ein schlaues Köpfchen, aber dass du kein Genie bist, sieht doch ein Blinder! Dazu bist du nicht schrullig genug. Also, zumindest nicht auf die normale Art und Weise.«
Dex fragte sich, wie man wohl auf normale Art und Weise schrullig war, aber dann dachte er nicht länger darüber nach. »Nein … er hat mich kein einziges Mal gefragt. Ehrlich gesagt, wenn ich mit einem Wort beschreiben müsste, wie mein Dad sich in meiner Gegenwart benommen hat, dann würde ich sagen … nervös.«
»Nervös? Das ist doch nicht dein Ernst.«
»Doch.« Vorsichtig stieg Dex über einen von Efeu überwucherten Baumstamm hinweg. Mia und Lisa hatten bereits einen kleinen Vorsprung. Er ließ sich zwar nichts anmerken, aber Gideon konnte die ganze Enttäuschung, die ganze Wut hinter seiner verbitterten Miene deutlich erkennen.
»Wieso ist er denn nervös? Vor allem, wenn er gar nichts weiß!«
»Er hat mir wirklich noch nie eine einzige Frage gestellt. Noch nie! Wenn ich anfange, etwas über den COLA-Club zu erzählen, und sei es über den Fußballplatz oder den Lido oder Owens Überlebenstraining, dann fängt er jedes Mal an zu grinsen und nickt … und dann wuschelt er mir durch die Haare und wechselt das Thema. Das ist … merkwürdig. Als ob er etwas weiß und es bloß nicht zugeben will.«
»Am besten, du platzt einfach damit raus!«, sagte Gideon. »Irgendwann schaust du ihm in die Augen und sagst: ›Dad, ich kann mich in einen Fuchs verwandeln.‹ Dann hört er dir garantiert zu.«
Dex starrte seinen Freund einfach nur zweifelnd an.
»Von mir aus!«, seufzte Gideon dramatisch. »Dann zeigst du’s ihm eben! Das kann er nicht ignorieren.«
Dex seufzte. »Vielleicht ist es ja das Beste, dass er es nicht weiß. Ich glaube, er würde das nicht verkraften. Während der ganzen Zeit zu Hause hat er sich irgendwie … ich weiß auch nicht … so kühl und reserviert benommen. Er hat mich kaum angeschaut. Und als sie ihn Anfang letzter Woche früher als geplant auf die Bohrinsel zurückgerufen haben (genau wie an Weihnachten, ha, ha!), da war er richtig erleichtert.«
Ein Stück vor ihnen war Lisa erneut stehen geblieben, und Mia sah sie besorgt an.
»Was ist denn los?«, wollte Gideon wissen, als sie bei den beiden Mädchen angelangt waren. Lisa rieb sich schon wieder die Schulter und machte einen ziemlich gestressten Eindruck.
»Heute wollen sie überhaupt keine Ruhe mehr geben!«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich glaube, ich muss noch ein bisschen laufen.« Manchmal hatte Lisa das Gefühl, dass sie das unentwegte Gekeife der Geisterwelt nur loswurde, indem sie vor ihm davonlief. Aber jetzt wurde auch Dex von einem ziemlich unguten Gefühl befallen. Was immer da versuchte, Lisas Aufmerksamkeit zu bekommen, es machte sich jetzt auch bei ihm bemerkbar.
»Geht ihr mal wieder zum Haus«, sagte er zu Mia und Gideon. »Ich laufe noch ein Stück mit Lisa.«
Sie nickten verständnisvoll und machten sich auf den Weg zu den noch weit entfernten Toren der Hardman-Villa.
»Auf geht’s«, meinte Dex und verwandelte sich. Er rannte los, weil er wusste, dass sie versuchen würde ihn einzuholen. Sein Plan ging auf. Lisa stieß einen empörten Schrei aus und machte sich an die Verfolgung. Nach wenigen Minuten wurde er langsamer und wartete, bis sie ihn eingeholt hatte. Dann liefen sie nebeneinander her.
Weißt du vielleicht, worum es geht?, fragte er sie per Gedankenübertragung, aber sie schüttelte nur den Kopf.
Ist zu undeutlich, sendete sie zurück. Ich glaube … au weia! Pass auf, Dex – HUNDE!
Dex verfluchte sich innerlich, weil er seinen Fuchssinnen nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Seit mindestens zwei Minuten hatte er »HUND« eindeutig auf seinem Radar gehabt. Er hatte nur geglaubt, dass sie noch ein ganzes Stück entfernt waren. Waren sie ja auch, aber als der Labrador und seine Besitzer eine kleine Anhöhe erreicht hatten, da konnten sie das zwölfjährige Mädchen, das neben einem Fuchs her joggte und sich dabei telepathisch mit ihm unterhielt, klar und deutlich erkennen. Jetzt war es natürlich zu spät, sich wieder in einen Menschen zu verwandeln. Also verschwand Dex einfach im Unterholz, wie flüssiges, rotglühendes Metall, und Lisa rannte weiter den Hügel hinauf und tat so, als hätte sie noch nie im Leben einen Fuchs gesehen.
Bis später!, meldete sie sich noch ein letztes Mal per Gedankentransfer. Dex entfernte sich immer weiter vom Hauptweg, so lange, bis er die Menschen und den Hund weder hören noch riechen konnte. Er verschnaufte unter den wachsigen, grünen Blättern eines Rhododendronbusches und überlegte. Sollte er sich in Dex, den Jungen, zurückverwandeln und ein Stück weiter oben wieder zu Lisa stoßen? Oder war es besser, einfach als Fuchs zurück zur Villa zu laufen? In Menschengestalt mit Lisa Schritt zu halten, würde sehr mühsam werden. Eigentlich war Dex ein ziemlich sportlicher Junge, aber im Vergleich zu seinem Fuchskörper kam ihm sein menschlicher immer furchtbar schwerfällig und unbeweglich vor. Beim Laufen hätte er sich am liebsten jedes Mal sofort in einen Fuchs verwandelt. Und manchmal fühlte er sich als Fuchs irgendwie natürlicher … ein Gedanke, der ihm gelegentlich ein wenig Sorgen bereitete.
Während er noch darüber nachdachte, schlugen urplötzlich seine Fuchsinstinkte an. Er merkte, wie seine Nackenhaare sich sträubten und tödliches Entsetzen in seine Nase drang. Es war der Geruch eines anderen Fuchses, eines Fuchses in Todesangst, so kräftig, dass Dex buchstäblich mit allen Vieren in die Luft sprang und seine Ohren sich in den Zweigen über ihm verfingen. In diesem Augenblick sauste ein kupferfarbener Blitz direkt vor ihm durch den Wald. Eine Füchsin, die eine panische Botschaft direkt in seine Gehirnwindungen schickte. »FLIEH!« Dex zögerte keine Sekunde. Er jagte ihr hinterher und spürte im selben Moment, dass sie von wahrhaft grausamen Kreaturen verfolgt wurden.
Dex war schnell, aber die Füchsin war noch schneller. Er sah nur noch die weiße Spitze ihrer Lunte aufblitzen, dann war sie aus seinem Blickfeld verschwunden. Aber hinter sich nahm er ein brausendes Donnern wahr. Der ganze Boden bebte, als würde sich ein rasanter, tödlicher Eisenbahnzug auf Schienen nähern. Zuerst wusste er nicht, was das sein sollte. Der Hund vielleicht, obwohl … das musste etwas anderes sein. Die meisten Hunde waren dümmliche, tapsige Geschöpfe, die niemals in der Lage gewesen wären, einen Fuchs zu übertölpeln und oft einfach nur spielen wollten.
Die meisten Hunde, meldete sich da eine kalte Stimme in seinem Kopf zu Wort, während er sich einen Weg zwischen elastischen Zweigen hindurch bahnte und dabei eine Spur aus abgerissenen Blättern hinterließ. Aber was ist mit Jagdhunden? Kaum hatte Dex diesen Gedanken zu Ende gedacht, da konnte er sie auch schon riechen. Sie waren nur noch wenige hundert Meter entfernt. Hunde. Pferde. Menschen. Eine dreifache Gefahr. Und während sich jetzt das nackte, kalte Grauen um seine Kehle und seine Schultern legte, konnte er auch das heisere Gebell der Hunde hören. Hunde, die weder spielen noch Stöckchen holen und auch keine Naschereien wollten. Hunde, die Blut schmecken wollten. Sein Blut.
Der Klang eines Waldhorns ließ das Gebell zu einem wilden, ungezügelten Kläffen anschwellen. Die Hunde hatten seine Fährte aufgenommen, ganz ohne Zweifel. Dex erstarrte für einen Moment. Wohin sollte er sich jetzt wenden? Der Füchsin hinterher oder in eine andere Richtung? Letzten Endes folgte er seinem Fuchsinstinkt und jagte ihr nach – vielleicht kannte sie ja ein gutes Versteck. Er flitzte durch das Unterholz und hatte dabei unentwegt ihren warmen Duft in der Nase, auch wenn sie weit und breit nicht zu sehen war.
Dex flüchtete einen steilen, mit Eschen und Holunderbüschen bewachsenen Abhang hinunter, so schnell, dass seine Pfoten kaum die Erde berührten. Dann nahm er ganz in der Nähe, an der tiefsten Stelle des Wäldchens, den Duft eines Baches wahr, und ihm fiel ein, dass eine Fährte im Wasser viel schwerer zu verfolgen ist als an Land. Er duckte sich unter einem Dornengestrüpp hindurch, spürte, wie die scharfen Spitzen seine Ohren streiften, und sah etliche kleinere Tiere in heller Panik das Weite suchen, weil ein wildes Raubtier plötzlich mitten durch ihre eben noch friedvolle Welt stürmte.
Er musste fast auf dem Bauch kriechen, um unter den Dornen hindurchzukommen, die auf einer Strecke von etlichen Metern bis dicht über den Waldboden hingen, aber als er sich dann unter dem Gestrüpp hervorgearbeitet hatte, sah er, dass sich ein Stück weiter vorne etwas bewegte – das war der Bach! Dex platschte in das bräunliche Wasser, so dass eine kleine Flutwelle entstand und durch das seichte Kiesbett lief. Viel zu laut! Er konnte geradezu spüren, wie die Hunde reagierten und sich in seine Richtung wandten, konnte ihre Erregung riechen. Dex wandte sich nach Westen und arbeitete sich durch den Bachlauf. An manchen Stellen war das Wasser nur wenige Zentimeter tief, an anderen versank er bis zu den Hüften, und manchmal, wenn seine Pfoten gar keinen Kontakt mehr zu dem Schlamm und den Kieselsteinen hatten, musste er sogar schwimmen. Allerdings kam er dabei nur unerträglich langsam voran.
Verwandle dich! Verwandle dich!, drängte eine Stimme in seinem Kopf, die er als Owens erkannte. Es wäre wirklich das einzig Sinnvolle gewesen, aber Dex war so in Panik, dass er auf keinen Fall anhalten konnte, und obwohl er verzweifelt versuchte, sich zu verwandeln, wollte es ihm einfach nicht gelingen. Dazu musste er stehen bleiben – gleichmäßig atmen – sich konzentrieren – aber er war sich nicht sicher, ob ihm dafür noch genügend Zeit blieb. Jetzt hörte er die Hunde bereits durch die Dornenhecke brechen, hörte die aufgeregten Rufe der Jäger nicht weit dahinter. Eine solche Angst, wie sie jetzt durch seine Adern pulsierte, hatte er noch nie zuvor empfunden. Es war, als hätten seine Eingeweide sich einfach aufgelöst, und in seinem Kopf herrschte eine einzige, dichte Wolke der Verwirrung. Stück für Stück schien seine Kraft nachzulassen, so dass er, wenn es so weiterging, irgendwann einfach im Bach liegen bleiben und ertrinken würde.
Diese furchtbare Schwäche wäre ihm womöglich zum Verhängnis geworden, hätte er nicht genau in diesem Augenblick ein Loch in der Uferböschung entdeckt. Das war ein Fuchsloch, kein Zweifel! Ein ziemlich enges – vielleicht sogar zu eng für die Hunde? Aber das wusste er nicht genau. Die Füchsin jedenfalls war nicht dort drin, denn es gab keine frischen Duftspuren. Dex zögerte nicht länger und zwängte sich ohne Umschweife in das Loch. Glatt und dunkel schmiegte sich die Erde an seinen Körper, und er wühlte sich immer tiefer und tiefer hinein. Kleine Wurzeln streiften seine Schnauze, seine Ohren, und boten seinen Krallen Halt, so dass er sich noch tiefer ins Erdreich hineinarbeiten konnte. Dex wurde von seiner Angst vorwärtsgetrieben, spürte ihren heißen Atem in seinem Nacken, doch die Erde – wie sie sich anfühlte, wie sie roch – und dazu das dumpfe Echo in seinen Ohren, das alles sprach zu ihm, hielt ihn fest und war tröstlicher als jedes Bett es hätte sein können.
Schon nach wenigen Sekunden weitete sich der enge Tunnel zu einer kleinen Kammer, die gerade groß genug war, dass Dex sich darin umdrehen konnte. Auf dem Boden lagen ein wenig altes Gras und ein paar kleine Tierknochen. Das war definitiv ein Fuchsbau, keine Frage, allerdings zum Glück unbewohnt. Ein Kampf mit einem Fuchsrüden war das Letzte, was Dex jetzt gebrauchen konnte. Er suchte die ganze Kammer ab, setzte sämtliche Sinne ein, um sich in der Düsternis zu orientieren und einen zweiten Ausgang zu finden. Aber es gab keinen. Er saß in der Falle. Und wenn die Hunde bis zu ihm vordringen konnten, dann würde sie zur tödlichen Falle werden.
Dex legte die Lunte auf die Erde, drückte sich so weit wie möglich nach hinten und richtete den Blick auf das blasse Licht, das durch die gewundene Tunnelröhre in die Höhle fiel. Von hier bis zur Öffnung waren es schätzungsweise sieben Meter. Er keuchte schwer und beinahe lautlos, aber sein Herzschlag dröhnte wie Donner durch seinen Schädel. Die Hunde waren jetzt im Wasser … und die Pferde auch. Er konnte das schwere metallische Kratzen ihrer Hufeisen auf den Kieselsteinen am Bachgrund hören, und vor ihnen das Platschen Dutzender Hundepfoten. Männerstimmen ertönten. Dex erstarrte. Sie näherten sich dem Eingang zu seinem Versteck. Wenn sie schon bis hierhin vorgedrungen waren, dann nahmen die Hunde garantiert den Angstschweiß wahr, den er bei seiner Flucht in das Loch an der Uferböschung verströmt hatte. Seine einzige Hoffnung ruhte nun darauf, dass das Loch zu klein, die Hunde zu groß sein könnten.
Noch nie im Leben hatte Dex etwas ähnlich Furchteinflößendes gehört wie den Lärm der Hunde vor der Öffnung des Fuchsbaus. Ihr unheilvolles Gebell steigerte sich immer mehr, wurde lauter und drängender. Sie wussten, dass er da drin war. Sie wussten, dass er in der Falle saß. Unter freudigem Jaulen fingen sie an, in der Erde zu scharren und einzelne Brocken herauszureißen. Dann stieß einer der Jäger einen triumphierenden Schrei aus. »Wir haben ihn!« Noch hatte keiner der Hunde es geschafft, in den Bau einzudringen. Vielleicht hatte er ja noch eine Chance. Wie lange würden sie es wohl versuchen? Wie lange würde er diesen Zustand der grässlichen, grauenhaften Furcht wohl noch ertragen müssen?
Da, plötzlich, ertönte ein lautes, metallisches Knirschen. Der Jäger hatte die Hunde offensichtlich weggezerrt und sich einen Spaten geschnappt. Halb wahnsinnig vor Angst überlegte Dex, ob der Tunnel an irgendeiner Stelle breiter wurde oder ob er überall gleich schmal war wie am Eingang. Eine eiskalte Faust ballte sich in seiner Magengrube, als ihm klar wurde, dass seine Tasthaare kurz hinter dem Eingang eine Erweiterung registriert hatten. Die ersten paar Sekunden waren noch ein ziemlicher Kampf gewesen, aber danach hatte er sich freier und schneller bewegen können. Er wusste es genau. Der Jäger musste lediglich ein, zwei Minuten lang graben, dann hatten die Hunde freie Bahn. Sie würden ihn nach draußen schleifen, wo dann alle das langsame Sterben eines Fuchses hautnah miterleben konnten. Wie lange noch? Dreißig Sekunden vielleicht, mehr nicht!
Grundgütiger, verwandle dich endlich, Dex!, blaffte ihn die Stimme in seinem Kopf erneut an. Dex wusste nicht, ob sein Unterbewusstsein womöglich mit Owens Stimme sprach oder ob Owen tatsächlich eine telepathische Verbindung mit ihm aufgenommen hatte. Das wäre zwar das erste Mal gewesen, aber denkbar war es durchaus, vor allem, wenn er gerade bei Paulina Sartre war.
Allerdings wäre es sinnlos gewesen, sich jetzt zu verwandeln. Die Höhle war schlicht und einfach zu klein. Hätte er sich verwandelt, er hätte sich selbst zerquetscht. Das Blut rauschte in seinen Ohren, als wollte es auf den letzten verbliebenen Kreisläufen noch einmal alles geben. Aber bald schon würde es sich in einem letzten Schwall aus seiner Kehle ins Freie ergießen. Dex spürte bereits, wie seine Lebenskraft immer schwächer und schwächer wurde. Er steckte fest, konnte sich nicht bewegen, auch wenn sein gefangener Geist immer noch um sich schlug und brüllte und flatterte wie eine Motte unter einem Glas. Es war hoffnungslos. Er hatte keine Chance mehr. Aber sollte sein Leben wirklich ein solches Ende nehmen? Das war doch nicht möglich! Das Schicksal hatte ihm doch eine Aufgabe zugedacht! Warum hätte er dem Mordanschlag des ehemaligen Schuldirektors entgehen sollen, nur um jetzt von geifernden Hunden aus einem Erdloch gezerrt und unter Schreien in Fetzen gerissen zu werden?
Die Spatengeräusche verstummten. Ein Ruf ertönte, dann entlud sich die ganze aufgestaute Jagdlust der Hunde in einem freudigen Getöse, als sie wieder auf den Bau losgelassen wurden. Einer nach dem anderen würden sie zu ihm vordringen, und gleich der erste würde ihn nach draußen zerren. Er würde das Tageslicht wiedersehen, nur um wenige, blutgetränkte Sekunden später endgültig in die ewige Dunkelheit verbannt zu werden, während seine Mitmenschen jubelnd dabei zusahen und ihm ihre Finger entgegenstreckten, um die Stirnen ihrer Kinder mit seinem Blut zu bestreichen.
Er konnte schon das Geifern des Leithundes hören, als dieser sich durch den engen Tunnel zwängte. Er konnte das alte Fleisch zwischen seinen Zähnen und den salzigen Schweiß in seinen Nackenhaaren riechen. Dex machte die Augen zu und schickte eine allerletzte Botschaft ab, nur für den Fall, dass Lisa sie hören konnte.
Stecke fest. Komme nicht mehr raus. Tut mir leid.
Jetzt spürte er einen kräftigen Schlag im Nacken.
Gleich würden die ersten Reißzähne seine Haut durchstoßen. Doch nichts dergleichen geschah. Dex schlug die Augen auf und merkte, dass der Jagdhund noch gar nicht in seiner Nähe war. Immer noch etliche Meter entfernt, arbeitete er sich mühsam weiter auf seine Beute zu. Was? Noch ein Schlag in den Nacken? Nein, das war ein harter Erdklumpen gewesen. Jetzt war auch das metallische Knirschen wieder zu hören, dieses Mal allerdings direkt über ihm. Die Jäger mussten mitbekommen haben, wie lang der Gang war, und hatten beschlossen, ihn auszugraben, um ihn ganz sicher zu erlegen. Kaum war diese Erkenntnis zu ihm durchgedrungen, rieselte noch mehr Erde auf seinen Kopf und seinen Nacken. Dazu wurde es plötzlich hell. Kleine Kieselsteine perlten links und rechts an ihm herab.
Das Loch wurde größer und immer größer. Jetzt könnte ich mich verwandeln! Ich könnte mich verwandeln!, dachte Dex. Aber konnte er das wirklich? Er platzierte sich direkt unter dem Loch. Ihm war klar, dass seine letzte Hoffnung nur sehr schwach und dürftig war. Einer der Jäger würde ihn bestimmt mit dem Spaten erschlagen, bevor er sich verwandeln konnte. Doch dann spürte er den heißen Atem des Leithundes an seinen Hinterläufen und ihm war klar, dass er keine andere Möglichkeit hatte. Er stieß sich ab und schnellte zum Licht.
Sobald er sich aus der Erde befreit hatte, wurde er von einer Faust brutal im Nacken gepackt. Ein Mann drückte den sich windenden Fuchs an seine Brust und legte ihm den anderen Unterarm fest um die Kehle. Dex trat um sich und riss das Maul auf, um seinem Angreifer wenigstens einen allerletzten Biss zu verpassen. Gleich würde er von einem Dutzend Hunde in Stücke gerissen werden, da konnte er wenigstens einen guten letzten Eindruck hinterlassen.
Doch als er bei der anschließenden Rauferei seine Zähne in die Hand des Mannes schlug, da wurden ihm drei Dinge auf einmal klar. Erstens waren weit und breit keine Hunde zu sehen – die steckten alle noch unter der Erde oder versuchten zumindest, unter die Erde zu kommen. Zweitens waren auch weit und breit keine anderen Menschen zu sehen. Auch sie standen ein ganzes Stück entfernt mit den Rücken zu ihnen im seichten Wasser des Baches und warteten darauf, dass das blutige Schauspiel endlich seinen Lauf nahm.
Und drittens kam ihm der Geschmack des Blutes irgendwie bekannt vor.
Owen schrie nicht auf, als er gebissen wurde. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, zu laufen. Er war kräftig, und der Fuchs war nicht schwer. Er stürmte die steile Uferböschung hinauf und dann durch den Wald, schneller als Dex ihn jemals hatte rennen sehen. Nach ungefähr zwei Minuten im Vollsprint – Dex wurde dabei so durchgeschüttelt, dass er Angst hatte, ihm würden gleich sämtliche Zähne ausfallen – ließ Owen ihn einfach auf einen Blätterhaufen fallen und brüllte: »DEX, VERWANDLE DICH! Und zwar VERDAMMT ZÜGIG!«
Einen Augenblick später sank Dex unter dem Gewicht seines menschlichen Körpers noch tiefer in das Laub ein. Er sah, wie Owens verzerrtes Gesicht sich vor Erleichterung entspannte, und wollte aufstehen, sackte jedoch wieder zurück in das Laub. Er wollte etwas sagen, doch seine Zähne klapperten so schnell, dass er kein Wort herausbrachte. Seine Kehle fühlte sich an wie versteinertes Holz, und er zitterte am ganzen Leib. Der Tod hatte ihn verschont, aber jetzt dauerte es paar wenige Sekunden, bis Dex wieder wusste, wie es war zu leben.
Owen kniete sich neben ihn und suchte ihn oberflächlich nach Verletzungen und Wunden ab. Abgesehen von einigen wenigen Kratzern, die von dem Dornengestrüpp stammten, deutete nichts auf den entsetzlichen Gräuel hin, das er gerade eben durchgemacht hatte. Dex merkte, wie er die Augen in die Höhlen rollte. Er wollte nur noch schlafen.
»Nein, Dex, das geht jetzt nicht!«, fluchte Owen und versuchte ihn auf die Beine zu ziehen. »Wir müssen weiter. Die Jäger sind uns auf den Fersen.«
Er hatte recht. Auch wenn der Schock und die Erschöpfung sich auf seine Ohren geschlagen hatten, konnte Dex trotzdem hören, wie die Jagdgesellschaft immer näher kam. Er versuchte erneut, sich aufzurappeln, und schaffte es, sich auf die Knie zu stützen, bevor er wieder zurücksank. Owen stieß einen besorgten Seufzer aus und legte Dex über seine Schulter. Dieser baumelte für einen Augenblick ungeschickt hin und her, bis er sich an Owens Hals geklammert hatte. Nach einigen Schritten waren sie bei einer dicken Eiche angelangt. Owen setzte Dex ab und lehnte ihn gegen den Stamm. »Versuch dich hinzustellen«, sagte er. »Du musst so natürlich wie nur möglich wirken. Wir können ihnen unmöglich davonlaufen!« Als Dex den Kopf kraftlos zur Seite sinken ließ, nahm Owen sein Gesicht in beide Hände. »Dex! Konzentration! Nicht einschlafen! Du bist noch längst nicht in Sicherheit … du riechst nach Fuchs. Also los jetzt, aufwachen und klettern!«
Benommen hob Dex den Blick. Tatsächlich hatte der Baum mehrere leicht erreichbare Äste. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er nur wenige Sekunden gebraucht, um da hinaufzuklettern, aber jetzt kam es ihm vor, als wären seine Gliedmaßen in Beton eingegossen. Owen versetzte ihm einen kräftigen Schubs. Dex wollte gerade anfangen, ihm mit klappernden Zähnen seine Situation zu erklären, da ertönte erneut das Jagdhorn. Wie ein Stromstoß jagte die Panik durch seinen Körper, und er drehte sich instinktiv um und erklomm hastig den Baum. »Höher, höher!«, stieß Owen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Im allerletzten Moment hatte er es geschafft. Als er auf dem vierten Ast, drei Meter über dem Boden, angelangt war, kam eine braun-weiße Hundemeute den Pfad entlanggesaust und versammelte sich auf der Lichtung unter der Eiche. Die Meute lief geradewegs auf Owen zu, ohne ihn jedoch zu beachten. Stattdessen sprangen sie den Baumstamm an. Owen wandte sich um und blitzte den Anführer der Jagdgesellschaft, der auf einer kastanienbraunen Stute näher kam, verärgert an. Er trug einen roten Jagdrock und hielt eine kleine Peitsche in der Hand.
»Ich dachte, sowas wäre verboten«, knurrte Owen ihn an. »Rufen Sie sofort Ihre Hunde zurück!«
»Sondergenehmigung, guter Mann. Wir führen hier eine Schleppjagd durch … und manchmal gerät uns eben versehentlich ein Fuchs in die Quere«, übertönte der Anführer mit lauter Stimme das Hundegebell. Immer mehr berittene Jäger drängten auf die Lichtung, gefolgt von den Treibern, die zu Fuß waren. »Und jetzt sind Sie bitte so freundlich und treten beiseite. Er muss da oben im Baum sitzen. Er ist verletzt. Es ist besser, wenn wir ihm den Gnadenstoß geben.«
»In diesem Baum sitzt niemand, außer meinem Neffen«, erwiderte Owen mit versteinerter Miene. »Füchse können nicht klettern.«
»Das würde ich so nicht behaupten. Das sind schlaue kleine Biester«, erwiderte der Jagdführer. Dann beugte er sich nach vorne und verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln. »Obwohl … vielleicht hat Ihr Neffe ja ein Herz für Ungeziefer und hat sich das Vieh ins Hemd gesteckt.«
»Dex! Siehst du da oben irgendwo einen Fuchs?«, rief Owen. Dex beugte sich nach unten und erwiderte: »Nein. Außer mir ist hier niemand!«
Der Anführer hob erstaunt den Blick.
»Du hast ihn versteckt! Du kleiner Bastard! Komm sofort runter!«
»Unterstehen Sie sich, so mit meinem Neffen zu sprechen«, fauchte Owen ihn an. Der Jagdführer sah ihn zwar trotzig an, aber die Entschlossenheit und die Unbeugsamkeit in der Stimme seines Gegenspielers hatte er durch- aus wahrgenommen. Sein Pferd stampfte unruhig mit den Hufen.
»Ruft die Hunde zurück!«, bellte er dann unvermittelt. Mehrere Jäger kamen herbeigeeilt und zerrten die enttäuschten Jagdhunde weg. Der Anführer trieb sein Pferd bis unter den Baum und wendete es mit einem scharfen Ruck. »He, Junge!«, rief er mit deutlich hörbarer Verachtung in der Stimme. »Lass den Fuchs los! Das ist ein Schädling! Er hat bereits die Hälfte der Hühner auf Coopers Farm auf dem Gewissen. Man hat uns gebeten, ihm den Garaus zu machen.«
Dex beugte sich nach unten und streckte beide Arme aus, hielt sich nur mit den Beinen fest. »Sehen Sie?«, sagte er. »Kein Fuchs!« Jetzt war es offensichtlich, und der Jäger stieß einen lauten Fluch aus.
Da ertönte irgendwo in seinem Rücken ein lauter Schrei. Alle drehten sich aufgeregt um. Die Hunde verschwanden genau so schnell, wie sie gekommen waren, und ließen die Jäger alleine unter der Eiche zurück. Der Anführer starrte Owen mit hochgezogener Oberlippe an, riss sein Pferd herum und jagte den Hunden nach. Die Treiber blieben noch einen Augenblick lang stehen und machten sich dann ebenfalls auf den Weg. Gleichzeitig ließ Dex sich nach unten gleiten, bis er erschöpft am Fuß des Stamms saß. Nur einer der Treiber war ein wenig hinter den anderen zurückgeblieben. Er starrte ihnen hinterher, doch dann drehte er sich noch einmal um und blickte erst Dex und dann Owen an. Sein Gesicht kam Dex irgendwie bekannt vor – und das überhebliche, ein wenig spöttische Grinsen erst recht. Er hatte dieses Grinsen schon öfter gesehen, und zwar am Tregarren College, im letzten Schuljahr. Owen schüttelte langsam den Kopf, und der Junge spitzte die Lippen, nickte und schloss sich wieder der Jagdgesellschaft an.
Die ganze letzte halbe Stunde war der pure Wahnsinn gewesen, aber das Wahnsinnigste daran, das wurde Dex jetzt klar, das war die Begegnung mit Spook Williams.
Auf dem Rückweg zur Villa musste Owen Dex immer wieder tragen oder stützen. Dex beharrte zwar darauf, dass er alleine gehen konnte, doch ständig gaben seine Knie nach, und er sank wieder zu Boden. Mit der Jagdgesellschaft schienen ihn auch die letzten Kraftreserven verlassen zu haben. Jetzt spielte sein Herz verrückt, und ein Kälteschauer nach dem anderen jagte ihm über Hals und Schultern, so dass ihm die Haare zu Berge standen und seine Zähne wie wild klapperten. Er wollte nur noch schlafen. Ob er es jemals bis zur Villa schaffen würde?
Owen zog ihn immer wieder auf die Beine, redete auf ihn ein, sah ihn prüfend an, und jedes Mal nickte Dex und rappelte sich wieder auf und sagte, dass alles in Ordnung sei. Dabei war er noch nie im Leben weniger in Ordnung gewesen als jetzt. Er brachte ja kaum ein Wort über die Lippen. Jede Silbe wurde von einem angestrengten Keuchen begleitet. An der Grenze zum Hardman-Anwesen wurde er schließlich von einer gewaltigen Übelkeit gepackt, stolperte in ein Gebüsch und musste sich übergeben.
Anschließend rollte er sich, von kaltem Schweiß umhüllt, unter dem nächsten Baum zu einer Kugel zusammen, so lange, bis Owen ihn wieder auf die Beine zog. »Na, komm schon, Dex. Wir sind gleich da«, sagte er. »Du schaffst das.« Dex starrte ihn nur verständnislos an, so dass Owen ihn schließlich seufzend auf seine Schultern nahm. Mit stetigen, entschlossenen Schritten trug er den halb bewusstlosen Jungen die lange Schottereinfahrt zur Villa entlang, bis Evans, der Butler, und Marguerite ihm entgegeneilten, um zu helfen. Es dauerte nicht lange, bis sie Dex in sein Zimmer geschafft hatten. Marguerite ließ ein warmes Bad ein, während Evans ihm behilflich war, die völlig durchnässten und verschmutzten Kleider auszuziehen. Nachdem Dex sich zitternd und bebend in das warme Wasser gelegt hatte, schickte Owen Gideon zu ihm.
»Er hat einen Schock«, hörte Dex Owen sagen. »Er muss sich aufwärmen, dann braucht er unbedingt ein Glas Zuckerwasser – das bereitet Marguerite ihm gerade zu – und dann muss er schlafen.«
Als Gideon ins Badezimmer trat, sah er sehr besorgt aus. Er setzte sich auf den Korkdeckel der Truhe neben der großen Badewanne und musterte Dex unsicher. »Alles klar, Dexy-Boy?«, fragte er und lächelte matt. Dex nickte schwach. Das warme Wasser tat zwar gut, aber es würde noch eine ganze Weile dauern, bis wieder alles »klar« war. »Was ist denn eigentlich passiert?«, wollte Gideon wissen. Er stützte sich auf den geschwungenen Wannenrand und biss sich auf die Lippe.
Dex sagte: »Fuchsjagd.« Es klang schwach und heiser. Gideon sah ihn entsetzt an.
»Du meinst … du meinst sie haben …« Doch dann kam Marguerite zur Tür herein.
»Schluss jetzt!«, bestimmte sie und scheuchte Gideon nach draußen. »Du sollst bloß aufpassen, dass er nicht ertrinkt, du sollst ihn nicht mit Fragen bombardieren!« Sie war eine kräftige Frau, und es dauerte keine zwei Minuten, bis sie Dex aus der Wanne geholt, abgetrocknet und ins Bett gesteckt hatte. Er ließ sich in die frischen, glatten Laken sinken und trank, wie befohlen, lauwarmes Zuckerwasser durch einen Strohhalm. Sobald er genügend Kräfte gesammelt hatte, stellte er den Becher auf den Nachttisch, machte die Augen zu und ließ sich dankbar vom sanften Grau des Schlafs umhüllen.
Er schlief zwölf Stunden am Stück und wachte dann zusammen mit den anderen rechtzeitig vor dem Frühstück am nächsten Tag auf. Er setzte sich auf und wusste zunächst gar nicht genau, was gestern eigentlich passiert war – nur, dass es etwas Außergewöhnliches gewesen sein musste. Sein ganzer Körper tat ihm weh. War er vielleicht in eine Schlägerei geraten?
»Wie fühlst du dich, Dex?«, ließ sich jetzt eine müde Stimme vernehmen. Er wandte den Kopf und sah, wie Gideon sich genüsslich unter seiner Decke streckte. Die blonden Haare standen kreuz und quer von seinem Kopf ab. »Gestern hat Owen gesagt, dass du einen Schock hast. Hast du den immer noch oder können wir jetzt frühstücken?«
Dex lachte über die vorsichtige Frage seines Freundes. »Nein, kein Schock mehr.« Er runzelte die Stirn, als ihm die Ereignisse des gestrigen Tages langsam wieder bewusst wurden. »Ist Owen noch da? Was macht er überhaupt hier?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Gideon. »Aber anscheinend will er nach dem Frühstück mit uns reden. Trotzdem, super, dass er gekommen ist, oder? Es hätte nicht viel gefehlt, und die Hunde hätten dich gefressen!«
Dex grinste, aber gleichzeitig schauderte er. Gideon setzte sich auf und blickte ihn erwartungsvoll an. »Na, los, nun sag schon, was passiert ist. Ich hab die ganze Nacht darauf gewartet.«
Dex erzählte ihm, wie er sich ins Unterholz geflüchtet und Lisa alleine hatte weiterlaufen lassen, wie die Füchsin an ihm vorbeigesaust war … und dann die ganze unerfreuliche Episode seiner panischen Flucht, die in einem Fuchsbau geendet hatte.
»Warum hast du dich denn nicht verwandelt?«, wollte Gideon wissen.
»Zuerst ist alles viel zu schnell gegangen«, erwiderte Dex und rieb sich die Stirn, während er versuchte, sich an die Einzelheiten zu erinnern. »Ich bin einfach losgerannt, reiner Fuchsinstinkt. Und außerdem ist die Verwandlung in einen Menschen schwieriger als die in einen Fuchs. Ich hätte mich richtig konzentrieren müssen, aber dazu war einfach keine Zeit. Und als ich dann im Fuchsbau gesteckt habe, war nicht genügend Platz. Ich hätte mich praktisch selbst lebendig begraben.« Erneut lief ein Schauder durch seinen Körper, und er ballte die Fäuste, um das Zittern im Zaum zu halten. Die Erinnerungen, die vor seinem geistigen Auge aufblitzten, waren alles andere als erfreulich.
»Und was dann?« Gideon wippte auf seiner Matratze ganz leicht auf und ab vor Anspannung. Er liebte gute Geschichten.