Fox Runner – Flucht in die Wildnis - Ali Sparkes - E-Book
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Fox Runner – Flucht in die Wildnis E-Book

Ali Sparkes

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Beschreibung

Er ist mutig. Er ist schlau. Und er kann sich verwandeln ... Dex und seine Freunde glauben sich in der sicheren Obhut der Behörde. Doch dann hat Lisa eine Vision, die sie alle zur Flucht zwingt. In der tiefen Wildnis von Exmoor suchen sie ein Versteck und müssen sich dabei auf ihre besonderen Fähigkeiten verlassen, um zu überleben. Schon sind ihnen die Verfolger auf der Spur – allen voran ein Mann, dem sie bisher blind vertraut haben. Als wäre das nicht genug, kommt es in ganz England zu mysteriösen Zwischenfällen: Strommasten werden zerstört und eine Spur der Verwüstung zieht sich durchs Land. Und plötzlich ist Gideon im Visier der Fahnder … Band 3 der actionreichen Fox-Runner-Serie Alle Bände der Fox-Runner-Serie: »Die Macht der Verwandlung« (Band 1) »Der Ruf des Falken« (Band 2) »Flucht in die Wildnis« (Band 3)

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Seitenzahl: 334

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Ali Sparkes

Fox Runner

Flucht in die Wildnis

Aus dem Englischen von Naemi und Nadja Schuhmacher

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Danksagung

Für meine Jungs

Kapitel 1

Ein Kitzeln an seinen Füßen. Vergraben unter der Steppdecke berührten seine nackten Zehen etwas Komisches. Etwas, das ihn kitzelte.

Dex Jones wälzte sich im Bett von rechts nach links, während allmählich lilablassblaues Licht durch seine geschlossenen Augenlider drang. Er drehte sein Kissen auf die kühle Seite, um ein bisschen Erfrischung zu bekommen, legte sich wieder hin und drückte erneut aus einem Instinkt heraus die Beine durch. Da kitzelte etwas.

Vor Schreck zog er die Füße ruckartig zurück und richtete sich in seinem Bett auf, wobei er fast mit dem Kopf gegen das niedrige Regalbrett stieß, das mit Metallwinkeln an der Wand befestigt war. Dex’ Herz raste. Da war etwas Seltsames in seinem Bett. Etwas wirklich Gruseliges. Er flimmerte und hätte sich fast verwandelt, doch er brauchte seine Hände, um die Steppdecke wegzuziehen.

Er holte tief Luft, beugte sich vor, packte das pinkfarbene Bettzeug, schnippte es beiseite – und erschrak fast zu Tode, als er die Augen sah. Starrend, blau, bewegungslos. Leblose Augen im Gesicht eines abgetrennten Kopfes. Es waren die seidig blonden Haare, die seine Zehen gekitzelt hatten. Dex schrie nicht. Er schauderte und kam auf die Beine, dann hämmerte er an die Wand und brüllte: »ALICE!«

Einen Tick zu schnell lief seine achtjährige Halbschwester herbei, was augenblicklich Dex’ Misstrauen weckte. »Was?«, fragte sie unschuldig, zog ihren rosa Morgenmantel enger um sich und sah ihn mit einem aufgesetzten Stirnrunzeln an.

Dex verengte die Augen zu Schlitzen, als er ihren Blick erwiderte, und deutete dann auf den Kopf in seinem Bett. Dieser starrte noch immer reglos an die Zimmerdecke, ein wächsernes Lächeln auf den Lippen. Blutroter Lippenstift war über die Rundung einer steifen Wange verschmiert.

»Oh! Da bist du, Barbie!«, gurrte Alice und klemmte sich, wie der Geist von Anne Boleyn, den Kopf unter den Arm, wobei sie boshaft lächelte. Diese fast lebensgroßen Plastikpuppenköpfe auf ihren schulterförmigen Sockeln verkaufte man in rauen Mengen an kleine Mädchen, die mit Frisuren und Schminke spielen wollten. Üblicherweise stand der Kopf auf Alice’ Frisierkommode, geschmückt mit Bändern und Haarklammern und zugekleistert mit Glitzerlidschatten und Erdbeerduftlipgloss. Das allein war schon ekelerregend, aber die Vorstellung, dass Dex ihn mit den Zehen berührt hatte, konnte das noch toppen. Er zog eine angewiderte Grimasse.

»Wenn du das noch mal machst, steck ich das Ding in Dads Schraubstock und dreh am Hebel, bis die Augen rausploppen!«, knurrte Dex seine Schwester an, doch die rannte bereits kichernd hinaus.

Wieder schauderte Dex, dann sah er sich in dem kleinen Zimmer um, in dem er die letzten paar Wochen geschlafen hatte. Einst hatte es ihm gehört: khakigrün, nasskalt und dunkel. Doch nach seinem Aufbruch letztes Jahr zum Tregarren College war Alice’ Mum, Gina, wie ein Wirbelwind hereingefegt und hatte es mit Hilfe von lila und rosa Farbe neu gestaltet. Kurz darauf hatte auch Alice das Zimmer gestürmt und es mit ihren Puppen vollgestopft. Aus den Wandregalen lächelten Puppen in allen Größen und Formen dümmlich herunter, in den Zimmerecken schmollten sie einem aus kleinen Korbstühlen entgegen oder sie zeigten hinter den rosafarbenen Netzgardinen vor den hohen Fensterbänken ihr irres Grinsen. Babypuppen, Teenager-Puppen, Ballerinen, Bauchtänzerinnen, flippige Straßenkidpuppen, mittelalterliche Königinnenpuppen, und noch mehr Babypuppen. Was Dex in seinem Zimmer auch anstellte, er hatte immer ein hingerissenes, starrendes, süßlich lächelndes Publikum. Und jedes Mal, wenn er sich wirklich den Kopf am Regal über seinem Bett stieß, quiekte eine von ihnen »Ich mag dich mehr als Häschen!« und brach in schwachsinniges Giggeln aus.

Stöhnend sank Dex zurück ins Bett und spähte zu dem Spalt über den Fensterbankpuppen, wo ein schmales Oberfenster gekippt war und etwas frische Luft hereinließ. Abermals durchzuckte ihn ein Flackern, und er holte noch einmal tief Luft. Diesmal nicht, um Mut zu sammeln, sondern weil er gegen den verzweifelten Drang ankämpfte, sich zu verwandeln und das Haus zu verlassen. Seine Zeit hier, seit er und seine Freunde aus den Ruinen des Tregarren College geflohen waren, zog sich unerträglich in die Länge. Und weil das neue College noch nicht ganz fertig war, würde es mindestens zwei weitere Wochen dauern, bis er Alice und ihre Puppen sowie Gina und ihr angespanntes, argwöhnisches Lächeln hinter sich lassen konnte.

Gina war seine Stiefmutter. Sie war keine böse Stiefmutter. Aber nett war sie auch nicht. Noch bis vor kurzem hatte er all die kleinen fiesen Attacken ertragen müssen, die ihre Beziehung während der vergangenen acht Jahre geprägt hatten. Sie hatte ihn geschubst und geknufft, sein Selbstvertrauen untergraben, seine liebsten Besitztümer weggeschmissen und ihn bei jedem sich bietenden Anlass in den Garten verbannt; manchmal auch ohne Anlass. Dex war erst vier gewesen, als er Gina kennengelernt hatte, nur ein paar Monate nach dem Tod seiner Mutter. Gina hatte ganze Arbeit geleistet, um ihm die Mutter zu ersetzen, die in seinen Erinnerungen bald verblasste, und binnen weniger als einem Jahr war auch eine Schwester dazugekommen. Dex’ Vater hatte kurz darauf Arbeit auf den Ölbohrinseln gefunden. Er war selten zu Hause; die Nordsee schien ihm die angenehmere Gesellschaft zu sein.

Und nun hatten Alice und Gina sich während des letzten Jahres daran gewöhnt, die beiden Männer in der Familie weit entfernt zu wissen. Dex wünschte, sie könnten sich schon bald wieder daran gewöhnen. Sehr bald. Er vermisste Gideon und Lisa und Mia – und Telefonate mit ihnen erwiesen sich als ziemlich schwierig. Er wusste nie, wer vielleicht lauschte. Dex seufzte und stand wieder auf. Er zog an der straff gespannten Schnur, die die rosafarbene Jalousie hielt, so dass normal gefärbtes Tageslicht hereinfiel. In der hereinwehenden Brise roch er wilde Tiere – Tiere, die ein Stück hinter der Grenze des Hinterhofs, wo das Waldgebiet begann, auf Nahrungssuche gingen. Gierig saugte Dex die Luft ein. Er warf einen flüchtigen Blick zur Schlafzimmertür. Es war früh am Morgen. Gina lag noch im Bett, üblicherweise schlief sie sonntags aus. Und Alice würde ihn wahrscheinlich eine Zeitlang in Ruhe lassen, jetzt, wo ihr Puppenstreich so gut funktioniert hatte. Er hatte schätzungsweise eine halbe Stunde oder mehr … reichte das?

Dex rang mit seinem Gewissen, kämpfte mit seinen Instinkten. Rang erneut mit seinem Gewissen. Lehnte sich ungelenk im engen Zimmer zu einer nahen Kommode und öffnete die oberste Schublade. Darin lag ein gefalteter Zettel aus dickem weißen Papier mit einem Staatssiegel. Unter dem Siegel listeten sich die Anweisungen. Nicht verhandelbare Anweisungen, die er sich noch einmal durchlas.

 

Bitte bleiben Sie ruhig und entspannt und genießen Sie Ihren Aufenthalt zu Hause.

Enthüllen Sie NIEMANDEM Ihre COLA-Fähigkeiten – niemals – weder drinnen noch draußen.

Bei Bedenken oder Problemen JEDER Art kontaktieren Sie SOFORT und jederzeit (24 Stunden) den Ihnen zugewiesenen Berater unter der angegebenen Rufnummer.

Denken Sie daran, sich am Wochenende telefonisch bei der Zentrale zu melden (unter der Woche erledigt das Ihr Hauslehrer für Sie).

INFORMIEREN Sie den Ihnen zugewiesenen Berater augenblicklich, wenn sich Ihre körperliche oder seelische Gesundheit in irgendeiner Weise verändert.

Wenn Sie vermuten, dass Ihr COLA-Status von einer Person entdeckt wurde, die nicht schon vorher davon wusste, informieren Sie SOFORT die Behörde.

 

Die Broschüre endete mit der Zusicherung, so schnell wie möglich einen neuen Stützpunkt für die COLAs, die »Children Of Limitless Ability«, einzurichten, das nächste Schultrimester würde im Frühherbst beginnen. Dex wusste, dass sie sich beeilten. Überall im Vereinigten Königreich schwebten über hundert Zwölf- und Dreizehnjährige in Gefahr, jeden Augenblick ihre unfassbaren Geheimnisse preiszugeben. Zunächst hatte es ihn überrascht, dass das Ministerium, das für den Schutz der Kinder mit Grenzenlosen Fähigkeiten zuständig war, so entspannt mit der Situation umzugehen schien. Während der vergangenen zwei Jahre hatte eine Reihe von Kindern plötzlich angefangen, die unglaublichsten Fähigkeiten zu offenbaren – sie hatten Heilkräfte entwickelt, waren unsichtbar geworden, hatten vollkommen überzeugende Illusionen erzeugt sowie telepathische, telekinetische und hellseherische Fähigkeiten gezeigt. All das Zeug, von dem man meinte, es geschehe nur in Büchern oder Filmen, geschah – geschah wirklich –, und zwar ausschließlich bei diesen Kindern. Und eins dieser COLAs war sogar ein Gestaltwandler.

Dex lauschte in den Flur hinein nach Geräuschen aus Ginas Zimmer. Nichts. Leise schloss er seine Schlafzimmertür und wägte dabei weiter die Risiken ab. Natürlich wusste er mittlerweile, dass die Regierung alles andere als entspannt mit der Situation umging. Seit das abgelegene College der COLAs in Cornwall zerstört worden war, wurden in höchsten Kreisen und mit Höchstgeschwindigkeit Maßnahmen ergriffen, um einen neuen, geeigneten und sicheren Ort zu finden. Bis der neue Standort fertig war, wurden die COLAs zu Hause unterrichtet und beschützt. Und wenn sie aus der Rolle fielen, würde die Regierung das erfahren. Sofort. Das wusste Dex. Er konnte es hören. Nicht nur am gelegentlichen zweiten Klicken in der Leitung, sondern in der bloßen Luft, die ihn umgab.

Weitere Tiergerüche zogen durch das Fenster herein, und Dex faltete das verzierte Papier zusammen und legte es zurück in die Schublade. Eine halbe Stunde. Bestimmt eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde. Wenn er von hier startete, müsste er sich nur um Alice und Gina Sorgen machen – und die mussten es früher oder später sowieso erfahren. Sollte er es wagen? Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf das elektrische Pulsieren der Überwachungsgeräte in der Luft. Jep … heute hatten Mike und Dave Dienst. Mike, der Kreuzworträtsel liebte, und Dave, der gern mit leiser Stimme von den Beziehungsproblemen mit seiner Freundin erzählte. Wahrscheinlich kampierten sie auf der Straße vor dem Haus, so unauffällig es in dem dunkelblauen Lieferwagen ging, der seit Mitte Mai ein paar Hausnummern weiter parkte. Dex grinste. Sie wussten immer noch nicht, was es eigentlich war, über das sie Rückmeldung geben sollten – falls sie es jemals zu sehen bekamen.

»Gut«, murmelte Dex im Selbstgespräch. Während er sich die Jeans anzog, ein T-Shirt überstreifte und in seine Turnschuhe schlüpfte, traf er eine Entscheidung. »Heute sehen sie es vielleicht. Wenn sie hinsehen.« So soll es dann sein, beschloss er. Und im Nu hatte er sich verwandelt. Binnen einer Sekunde war er am Fenster und balancierte auf dem dünnen Metall des Rahmens. Seine stechenden Augen nahmen das kleinste Detail jeder Bewegung im Garten wahr, das Brachland dahinter und den dunklen Wald, der hinter der Kolonie aus Schrebergärten lag. Er sprang einen halben Meter in die Tiefe auf den harten Betonsims, hielt inne, um zu lauschen, und schoss dann empor in die Lüfte.

Kapitel 2

Der Gedanke, dass er dies erst zum dritten Mal tat, war unfassbar. Als die Erde unter ihm wegfiel und er Dunststreifen frühmorgendlicher Wolken aufwirbelte, hatte Dex ein Glücksgefühl, so einzigartig wie dieser Moment. Wenn er das plumpe, schwere Gewicht der menschlichen Form abschüttelte und sich in den schnellsten Falken des Planeten verwandelte, übertraf das jede Vorstellung. Wäre er in der Lage gewesen, Worte zu rufen, hätte er aus voller Kehle JAAAAH!!! geschrien. Das ging aber nicht, und so stieß er einen schrillen Vogelschrei aus: Kraah – Kraah – Karaaah!

Als die Häuser tief unten klein wie Streichholzschachteln wurden, ging er in den Senkflug über, tauchte mit seinem Wanderfalkenkörper in Korkenzieherkreisen durch die aufsteigende Wärme, die ihn wieder nach oben tragen wollte. Sein Sturzflug gen Erdboden war so rasant, dass die Luft um ihn herum rosa zu werden schien, doch als sich seine Augen an die schärfere Sicht gewöhnten, sprangen die Einzelheiten zurück in den optimalen Fokus, sogar bei 225 Kilometern pro Stunde. Unter ihm lag die gefährliche Kurve seiner Straße, die grauen Dächer der Häuser wirkten im Morgenlicht stumpf. Eine Schlangenlinie aus grünen Rechtecken, das waren die Gärten, und die angrenzende Landschaft in einem blasseren Grün, das war das Brachland. Das alles wurde zu einem Flickwerk von Kleingärten, und, sich nach Osten hin ausbreitend, lag in dunkler Anmut der Wald.

Quer über diesen Flickenteppich verteilt, konnte er hundert oder mehr Lebewesen sehen, die sich regten, nach Futter suchten; manche von ihnen flohen bereits in Panik. Zwei Tauben flatterten ängstlich in Richtung des schützenden Waldes. Dex’ Freudenschrei klang für sie wie eine Todessirene, und er wusste ohne den geringsten Zweifel, dass er eine von ihnen aus freiem Flug packen könnte, wenn er sich dazu entschied, und zwar mit einer solchen Leichtigkeit, als würde er am Strand einen Kieselstein aufheben. Tauben waren flink und wendig, doch Dex, der Wanderfalke, sah alles voraus, bevor es geschah, so schnell war er.

Und darüber dachte er nach. Als Falke hatte er noch nicht getötet. Keine Falkenmutter hatte ihn das Töten gelehrt, doch er wusste genau, wie man jagte. Die Taube würde flattern und kreisen und versuchen, ihm auszuweichen, doch er würde sie mitten in der Luft mit seinen Greifvogelklauen packen. In einer Umarmung des Todes würden sie gemeinsam gen Erde sinken, und währenddessen würden seine Krallen sich mit jeder hoffnungslosen Anstrengung, die die Taube unternahm, tiefer in ihren Leib bohren, sein Schnabel würde durch das regenbogengraue Federkleid an ihrem Nacken dringen und ihr das Rückgrat brechen. Seine Beute wäre tot, bevor sie den Boden berührten, und dort würde er sie mit dem graugesprenkelten Mantel seiner Flügel zudecken, wie ein Schutz bietendes Elternteil, für ein oder zwei Sekunden bloß, und dann würde er frühstücken.

Doch heute war der Glückstag der Tauben. Dex hatte durchaus vor zu jagen, bevor er in das puppenverseuchte Schlafzimmer zurückkehrte, aber nicht als Falke. Er beendete seinen Sturzflug und beschrieb in der feuchten aufsteigenden Luft über den Schrebergärten einen Bogen. Den dampfenden Komposthaufen entströmte ein berauschender Duft, und Mäuse und Wühlmäuse gruben sich panisch in ihre Löcher. Dex glitt tief über Bambusstockwigwams dahin, an denen sich späte Feuerbohnen wanden, schwebte über morsche Hütten und volle Regentonnen hinweg, bis er auf dem niedrigen Ast einer Eiche am Waldrand landete. Er wartete kurz, pausierte, suchte die Umgebung nach Frühaufstehern ab, Gärtnern, Joggern oder Hundespaziergängern. Nichts. Gut. Er war beschwingt, aber auch müde und hungrig. Dex sank auf den Waldboden und verwandelte sich von Falke zu Fuchs.

Die Freude fühlte sich sanfter an als bei seiner Verwandlung in den Falken; er war daran gewöhnt, doch er wusste, der Fuchs war sein wahres Wesen. Möglicherweise würde er lernen, die verschiedensten Gestalten anzunehmen, doch sein erster Instinkt würde immer der Fuchs bleiben. Dex, der Fuchs, trabte durch den Wald, wobei er jetzt eine gänzlich andere Tierschar in Angst und Schrecken versetzte. Waldbewohner hatten vor einem Wanderfalken wenig zu fürchten; ein Wanderfalke jagt auf weiter, offener Fläche, an Klippen, auf Feldern und Lichtungen, doch ein Fuchs kam fast überall hin. Dex hatte leichte Schuldgefühle. Vor seiner Flucht aus dem Schlafzimmer hätte er sich runterschleichen und ein kleines Frühstück einnehmen sollen. Dann hätte das Kaninchen, das er jetzt verfolgte, noch etwas länger leben können. Doch er wusste jetzt, dass er jagen musste. Nicht nur, weil er als Fuchs Hunger hatte, sondern, weil er als Falke verhungern, es vielleicht nicht mal bis nach Hause schaffen würde. Der Höhenflug, der Senkflug und die Korkenzieherakrobatik hatten ihn eine Riesenmenge Energie gekostet. Kein echter Wanderfalke würde das aus Spaß machen.

Deshalb hielt Dex am Rand einer kleinen Lichtung mitten im Wald inne, still und leise, und beobachtete das Kaninchen eine Weile, dann sprang er. Er tötete es auf der Stelle, wobei der Junge in ihm immer noch einen Stich fühlte. Er fraß schnell und effizient, ließ wenig für die Aasfresser des Waldes übrig, und wischte sich die Schnauze und die Pfoten sorgfältig an einem trockenen Grasbüschel ab. Nach seiner ersten erfolgreichen Jagd hatte er sich in einen Jungen zurückverwandelt und nicht bemerkt, dass noch verkrustetes Blut in seinen Haaren klebte, bis Owen ihn ganz komisch angestarrt hatte. Igitt!

Die Mahlzeit tat ihre Wirkung. Dex spürte eine Woge der Energie und sah sich glücklich um. Vielleicht einen knappen Kilometer entfernt trieb sich eine Füchsin mit ihren fast ausgewachsenen Welpen herum. Er konnte sie eindeutig wittern. Einen Fuchsrüden nahm er nicht wahr, und das war auch gut so. Er war nicht aufgelegt für einen Kampf mit den ansässigen Prachtkerlen. Er wandte sich von der Fuchsfamilie ab, nachdem er zunächst noch einen Impuls aus Ruhe und Gleichgültigkeit in ihre Richtung geschickt hatte, nur für den Fall. Obwohl er nie in der Lage gewesen war, wirklich mit einem anderen Fuchs zu sprechen, konnte er anderen Tieren Impulse schicken – und sie ihm. Eine Mischung aus einfacher Telepathie und Duftstoffen, vermutete er. Ein guter Geruchssinn war in der Wildnis von großer Bedeutung, und seine feinere Nase hatte im vergangenen Jahr auch seine erste Verwandlung in die Fuchsgestalt angekündigt. Ja – Geruch und Telepathie –, das hatte er bereits mehr als einmal erlebt. Tatsächlich hatte ihm früher in diesem Jahr eine Füchsin das Leben gerettet, als sie in einem Wirbel aus Rot an ihm vorbeischoss und ihm die Botschaft »Flieh!« direkt in seine Gehirnwindungen schickte, Sekunden bevor sich eine Meute Jagdhunde mitsamt berittenen Jägern unter donnerndem Getrappel näherte.

Beim Spazierengehen genoss Dex jeden Schritt. Als Fuchs fühlte er alle Muskeln, Sehnen, Organe und Bänder in perfektem Einklang arbeiten. Alles war, wie es sein sollte: Die Luft spielte mit dem weißen Fächer seiner Schnurrhaare, die seine Schnauze zart umrahmten, Reisig und Blätter drückten sanft gegen die weichen graurosa Sohlen seiner Pfoten. Um ihn herum entspannte sich der Wald, seine Bewohner schienen zu spüren, dass er satt war und an weiterem Jagen nicht interessiert. Die Farben und Muster sangen ihm zu. Eine Ewigkeit schien es her zu sein, dass er zum letzten Mal in dieser Gestalt durch einen Wald spaziert war. Braune und gelbe Pilzkorallen wanden sich in hübschen Wellen um alte Baumstämme; juwelenhelle Büschel von Beeren glitzerten in den blassgoldenen Säulen, die sich zwischen den Bäumen auftaten, Eichenrinde schälte sich wie ein gefrorener Wasserfall, glänzende schwarze Käfer kraulten durch die grünen und braunen Strömungen.

Aus der Ferne erklang eine Glocke: Der Klang der Rathausuhr hallte durch die laue Luft. Acht Schläge. Dex hielt inne, eine Pfote erhoben, die Ohren leicht angelegt und gespitzt. Acht Uhr. Er seufzte, was sich wie ein geflüstertes Knurren anhörte. Er sollte sich jetzt wirklich auf den Rückweg machen. Er war schon zwanzig Minuten unterwegs, Alice konnte jederzeit ihren Puppenbau stürmen, oder Gina kühl an die Tür klopfen, um ihm zu sagen, dass er sich unter der Dusche beeilen sollte. Der Fuchs seufzte wieder und lief zum Waldrand, sprang in die Höhe und verwandelte sich in der Luft in einen Falken. Der Falke sauste zwischen den Bäumen hervor, vollführte diesmal aber keine Kunststücke. Dex nahm die Häuser und Gärten und die Straße unter sich ins Visier und entdeckte das Dach des dunkelblauen Lieferwagens. Er wusste, dass es eine dumme Idee war, doch er konnte einfach nicht widerstehen. Wie wahrscheinlich war es, dass Mike oder Dave in genau diesem Augenblick in den Himmel schauen würden? Dex grinste innerlich, flog sanft hinunter zu dem Lieferwagen und landete auf dem gerillten Metallgestell des Dachs, vorsichtig, damit seine Klauen kein Geräusch auf der Oberfläche machten. Trotzdem hörte er plötzlich Dave sagen, als wäre er eben aus einem Schlaf erwacht: »Was war das?«

»Was?«, fragte Mike, der ein Getränk aus einem Plastikbecher schlürfte.

»Äh … nichts«, entschied Dave. »Ich glaube, ich bin gerade fast eingeschlafen. Ich hasse diesen Job.«

»Tja, nun, … könnte schlimmer sein«, murmelte Mike, ging jedoch nicht näher darauf ein, inwiefern es schlimmer sein könnte.

»Das Kind geht jedenfalls niemals irgendwohin«, murrte Dave. »Muss so ein Computer-Nerd sein. Geht niemals irgendwohin.«

»Nein – kein Computer. Die Geräte hätten angeschlagen«, sagte Mike. »Er steht auf Natur und so’n Zeug, oder? Hält sich einen Vogel. Der Vogel tut mir leid. Toll, wenn du den ganzen Tag im Käfig hockst, wenn du, na ja, ein wildes Tier bist? Das ist nicht richtig.«

»Ja, stimmt – wem sagst du das«, erwiderte Dave voll Mitgefühl. »Weißt du was?«

»Was?«, fragte Mike, obwohl er nicht so klang, als ob es ihn wirklich interessierte.

»Ich hätte jetzt absolut nichts gegen eine Tüte leckere Maltesers.«

So interessant ihr Gespräch auch war, Dex wusste, dass er jetzt die Fliege machen sollte. Außerdem konnte er auch im Haus etwas von Mikes und Daves Gesprächen mithören, manchmal, bei bestimmten Wetterbedingungen, wenn er sich in einen Fuchs verwandelte. Einmal, als Gina und Alice ausgegangen waren, und er daheimblieb, hatte er sich eine Stunde als Fuchs in den Flur gesetzt und einfach Mike und Dave zugehört. Er mochte Mike und Dave lieber als Martin und Philip, die die andere Schicht übernahmen. Tatsächlich taten sie ihm leid – er konnte sich keinen langweiligeren Job vorstellen als die staatliche Überwachung seines Hauses. Vor einiger Zeit hatte er aufgehört, es ihnen übelzunehmen. Damals hatte er mitbekommen, dass sie ihm, Gina und Alice sogar rüber ins Einkaufszentrum folgen mussten. Dex empfand es als absolut öde, mit Gina und Alice unterwegs zu sein, doch tatsächlich hob sich seine Stimmung ein wenig, weil zwei andere arme Trottel sein Leid teilten.

Er hatte nie versucht, Mike oder Dave an der Nase herumzuführen – oder die beiden anderen Männer, die dafür bezahlt wurden, ihn zu beobachten und zu belauschen. Es erschien ihm nicht gerecht. Immerhin wussten sie nichts von seinen Spezialfähigkeiten und taten nur ihre Arbeit. Heute jedoch war er in leicht rebellischer Laune. Sein Flug und seine Jagd hatten ihn seinen Humor wiederfinden lassen, und als Dave fortfuhr, nach Maltesers zu jammern, tauchte eine lustige Idee in seinem Kopf auf. Statt den Weg zurück übers Haus zu nehmen, flog er lautlos die Straße hinunter bis zu der Ecke, wo der Zeitungskiosk schon offen hatte. Er landete in der vermüllten Gasse dahinter, verwandelte sich schnell in einen Jungen, wissend, dass noch etwas Kleingeld in seiner Jeanstasche steckte. Er schlenderte an den Kiosk und kaufte eine Tüte Maltesers, ohne dem Jungen an der Kasse in die Augen zu sehen. Draußen schlich er sich zurück in die Gasse, nahm den Rand der roten Plastiktüte zwischen die Zähne und verwandelte sich mit einem Sprung zurück in einen Falken.

Die Packung zog viel mehr an seinem Schnabel, als er erwartet hätte, und er war froh, dass er sie nur kurz würde halten müssen. Er schnellte die ruhige Straße hinauf und ließ die Packung mit zielgenauer Präzision über der Windschutzscheibe des Lieferwagens fallen. Er hörte noch Daves Aufschrei, bevor er an Höhe gewann und einen engen Kreis zog, um wieder hinter das Haus zu kommen. Er schoss geradewegs durch das Oberlichtfenster und landete auf dem zerkratzten Eisenrahmen seines Bettgestells. Sofort verwandelte er sich zurück in einen Jungen und sank zu Boden. Er platzte fast vor Lachen, als Gina drei Sekunden später eintrat.

»Was ist nur los mit dir?«, fragte sie, das blasse Gesicht in widerwillige Falten gelegt.

Dex richtete sich auf und schüttelte, immer noch grinsend, den Kopf. »Ich … ähm … hab nur an was echt Witziges gedacht«, sagte er. Er wusste, dass er vor Gina auf der Hut sein musste. Sie war nicht mehr die Tyrannin von früher, nicht, seit die Regierung sie überzeugt hatte, ihr Stiefsohn sei ein »Genie« und brauche eine besondere Ausbildung fern von zu Hause. Gina war schlau genug und begriff, dass Dex’ »Besonderheit« irgendwann einmal von Vorteil für sie sein könnte – sie schien sogar zu spüren, dass er sich verändert hatte. Dass spezielle Kräfte in ihm schlummerten, auch, wenn sie keine Ahnung hatte, was das für welche waren. Ebenso wenig wie Alice. Nicht einmal sein Vater wusste davon, obwohl Dex versucht hatte, es ihm zu erzählen.

Nein – Gina mochte ihre schneidende Unfreundlichkeit abgelegt haben, doch er konnte ihr immer noch nicht vertrauen. Dex und sie hegten dieser Tage ein merkwürdiges Verständnis füreinander. Beiden war klar, dass der jeweils andere wusste, dass sich die Dinge geändert hatten. Keiner hatte das Bedürfnis, Fragen zu stellen oder etwas zu erklären – sie hielten einander einfach auf Sicherheitsabstand. Gina tat das Nötigste für ihn: Sie machte die Wäsche und das Essen und ab und an nahm sie ihn zu einem Ausflug mit Alice mit. Sie fragte nie nach seinem Leben, und Dex gab nie etwas preis. Keine wirklich angenehme Situation, aber zumindest besser als früher.

Bei Alice verhielten sich die Dinge natürlich anders. Sie stellte sehr wohl Fragen, aber sie war acht und ein Mädchen, und er konnte ihr einfach befehlen, dass sie sich vom Acker machen soll. Doch er wusste, eines Tages würde er es ihr sagen – es ihr zeigen. Sie stritten zwar häufig, aber trotzdem hatte er sie gern. Er würde es eher ihr zeigen als Gina. Gina würde ihn wahrscheinlich mit einem Besenstiel schlagen und den Kammerjäger rufen.

»Du hast einen Anruf«, sagte Gina ausdruckslos und ignorierte seine sinkende Laune. Sie zog das schnurlose Telefon aus der Tasche ihres orangefarbenen Steppkleides und reichte es ihm, bevor sie sein Zimmer verließ und die Tür schloss.

»Dex?«, fragte eine Mädchenstimme. »Dex? Oh, um Gottes willen. Sag mir, dass ich gerade nicht in der Schürze deiner Stiefmutter gewesen bin. O – das ist zu eklig! Ich konnte hören, wie das Telefon gegen ihre dicke Haut schlägt. Bäh!«

»Hi, Lisa«, grinste Dex. »Nett, dass du dich meldest.«

»Worüber hast du denn jetzt gelacht?«

»Ach – das erzähl ich dir ein andermal«, seufzte er, lehnte sich in seinem Bett zurück und schickte ihr eine Filmsequenz, in der Maltesers eine Hauptrolle spielten.

Lisa Hardman kicherte. »Das hast du nicht!«, sagte sie.

Es gab eine Pause, in der beide gleichzeitig an den zwei parallellaufenden Gesprächen feilten. Das »normale« Gespräch, das üblicherweise total fad war, wurde von Mike und Dave im Lieferwagen aufgezeichnet. Das andere Gespräch benötigte keine Leitungen oder Telegraphenmasten – es funktionierte telepathisch. Lisas unfassbare Fähigkeiten als Medium ermöglichten das.

Nicht jeder konnte mit Lisa auf diese Weise Botschaften austauschen. Einige COLAs bekamen es ein bisschen hin, manchmal, wenn Not am Mann war oder sie unter Stress standen, aber nur Dex konnte, soweit er wusste, ein richtiges Gespräch mit Lisa führen, das in den Tiefen seines Geistes über mehrere Grafschaften hinweg stattfand. Es hatte etwas damit zu tun, dass er ein Teilzeitfuchs war, vermuteten sie. Manchmal war es ein bisschen diffus, und es half auf jeden Fall, zunächst eine andere Art von Kontakt herzustellen, um die Unterhaltung in Gang zu bringen. Aus diesem Grund rief Lisa ihn an und drang nicht einfach unangekündigt in seinen Geist ein.

»Wie geht’s deinem Dad?«, fragte Dex laut. Maurice Hardman hatte dieses Jahr einen Autounfall gehabt und erholte sich langsam davon.

»Gut«, sagte Lisa und griff den Faden auf, indem sie von der Physiotherapie ihres Vaters erzählte, der Hauskrankenpflegerin und allen möglichen anderen Allgemeinplätzen. Wenn das ein wenig farblos klang, lag das daran, dass sie auf telepathischem Weg eine gänzlich andere Konversation führten.

Dex – du musst herkommen. Du musst so schnell wie möglich herkommen und mich besuchen.

Ich kann nicht, antwortete Dex. Du weißt doch, dass sie mich die ganze Zeit beobachten!

Sieh mal, Dex, kam ihre gereizte Antwort, es ist nicht so, dass ich dich vermisse, oder so! Das hier ist wichtig. Ich kann es jetzt nicht erklären – es ist zu schwer, wenn wir gleichzeitig laut Blödsinn reden müssen. Und ich bin mir auch immer noch nicht sicher, was genau … es ist. Aber es hat mit Gideon zu tun. Du musst zu mir kommen!

Als er den Namen seines besten Freundes hörte, hielt Dex den Atem an. Gideon hatte dieses Jahr Schreckliches durchgemacht. Er konnte den Gedanken, dass er weiterhin in Schwierigkeiten steckte, nicht ertragen.

Was? Was ist mit Gideon?

»Jedenfalls, ich gehe jetzt mit ihm spazieren«, sagte Lisa laut und monoton. Ich hab’s dir doch gesagt! Ich weiß es nicht! Noch nicht! Du musst herkommen. Hör auf, mit mir zu streiten und verwandle deinen Pelzpopo in einen Federpopo und komm hier her! »Er macht wirklich gute Fortschritte. Er würde sich so freuen, wenn du uns besuchst. Vielleicht können wir Owen nach einem Pass fragen und dich hier runterbringen.« Lisa wusste ganz genau, dass weder Owen noch ein anderer COLA-Lehrer jemals einen derartigen Pass ausstellen würden. Alle COLAs standen zu ihrer eigenen Sicherheit unter Hausarrest, bis das neue College fertig war.

»Ich schau mal, was ich tun kann, Lisa«, sagte Dex. »Ich würde liebend gern für eine Weile den Abflug machen, aber ich tu, was man mir sagt. Ich will keine Schwierigkeiten bekommen.« Alles klar! Ich komme. Ich kann nur nicht sofort. Heute ist es zu spät. Ich mache mich morgen bei Tagesanbruch auf den Weg – dann sollte ich zum Frühstück bei euch sein. Kannst du so lange warten?

»Nein, Schwierigkeiten wären blöd«, stimmte Lisa mit ausdrucksloser Stimme zu. »Aber vielleicht erlauben sie es dir ja.« Ja – okay. Das muss reichen. Ich versuche mehr rauszufinden. Meine Schulter fühlt sich an wie ein Eisblock, aber es wäre nett, wenn irgendjemand einfach mal SAGEN würde, was los ist. Gott, wie die mich heute nerven!

Dex grinste. Wenn Lisa Botschaften aus der Geisterwelt empfing (und als mächtigstes COLA-Medium empfing sie unglaublich viele), konnten diese manchmal so sinnlos und verwirrend wie aufdringlich sein. Als ihre »Gabe« zum ersten Mal in Erscheinung trat, hatte Lisa dagegen angekämpft und jede Mitarbeit verweigert. Die Geister, die sich um ihre Dienste bemühten, schienen sich auf ihre linke Schulter zu stützen, denn immer, wenn eine besonders mächtige Vision oder Botschaft durchkam, wurde die Stelle so kalt, dass es weh tat. Dex konnte sie jetzt vor sich sehen, im Korridor ihres wunderschönen Anwesens, am Telefon, wie sie sich erbittert die Schulter rieb und mit stechendem Blick ins Jenseits starrte.

»Ich frag Gina und Owen und sag dir dann Bescheid«, schloss Dex, Mikes und Daves Überwachungsgeräten zuliebe.

»Okay – ruf mich dann an! Tschüss!« Mit einem letzten telepathischen Impuls legte Lisa auf. Sofort morgen früh, Dex! Sofort morgen früh!

Dex legte das Telefon weg und merkte, dass seine Hände zitterten. Was war los mit Gideon? Er wünschte, er könnte ihn anrufen und fragen, aber das war unmöglich. Selbst, wenn er wüsste, dass etwas nicht stimmte, könnte Gideon wahrscheinlich nicht darüber reden. Auch er hatte sicher herausgefunden, dass all ihre Telefongespräche abgehört wurden. Und überhaupt, wenn Lisa nicht wusste, was das Problem war, war es höchst unwahrscheinlich, dass Gideon eine Ahnung hatte. Lisa war ein Mensch mit übersinnlichen Fähigkeiten, eine Hellseherin, ein Medium und eine Rutengängerin. Gideon war ein Telekinetiker. Er brachte einen Fernseher dazu, durch die Diele zu tanzen, aber er hörte keine Geister sprechen, und er sah auch nicht in die Zukunft.

Auch Dex konnte nicht in die Zukunft sehen, doch es war die Gegenwart, die ihn beunruhigte. Schon gestern war es ihm schwergefallen, mit Alice und Gina zu Hause festzusitzen. Heute würde er es kaum ertragen.

Kapitel 3

Sonntage zu Hause waren oft langweilig und öde. Auch dieser bildete keine Ausnahme. Dex schlug das Angebot aus, mit Gina und Alice zum stadtauswärts gelegenen Riesensupermarkt zu fahren. Stattdessen machte er es sich mit einem Buch zum Thema Überlebenstraining gemütlich, das Owen ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Owen war der erste Erwachsene gewesen, der Dex’ Gestaltwandlung miterlebt hatte. Das war nun ein knappes Jahr her. Owen arbeitete als Lehrer und war gleichzeitig auch Regierungsbeamter: eine schräge Mischung aus Autoritätsperson und Freund. Dex verdankte Owen sein Leben – und nach den Abenteuern der vergangenen Monate verdankte Owen umgekehrt wohl auch Dex sein Leben.

Owen hatte es sich zur persönlichen Aufgabe gemacht, den COLAs Selbständigkeit zu lehren – ganz besonders Dex, Gideon, Lisa und Mia. Das bedeutete nicht, sie zum Zähneputzen anzuhalten oder ihnen zu zeigen, wie man eine Dose Bohnen öffnet. Owens Unterricht zielte auf etwas ganz anderes ab. Er sah es als seine Verantwortung, ihnen beizubringen, wie sie in der Wildnis überlebten: Nahrung, Unterschlupf und eine Wärmequelle zu finden – fernab von Ortschaften und Städten, tief in den Wäldern. Anfangs hatte Dex angenommen, Owens Unterrichtsthemen abseits des Lehrplans dienten nur dem Spaß und dazu, die Verbindung zu seinen seltsamen Schützlingen zu stärken. Mit der Zeit hatte er Owens Denkweise aber verstanden.

»Menschen fürchten alles Andersartige«, hatte Owen ihm einmal gesagt. »Und kaum etwas kann andersartiger sein als ein COLA. Und unter den COLAs wiederum ist niemand andersartiger als du, Dex. Vielleicht wirst du dich irgendwann von den Menschen fernhalten müssen.«

Dex war der einzige Gestaltwandler. Es hatte noch einen anderen gegeben, einen Jungen, der sich in einen Wolf verwandeln konnte. Er war jedoch getötet worden, bevor er überhaupt ans Tregarren College kommen konnte. Somit war Dex der einzig Verbliebene. Es gab hundertneun COLAs, und nur ein Einziger konnte seine Gestalt verändern.

Andere Dinge hatte Dex mit den übrigen Schülern gemeinsam. Beispielsweise waren all ihre Mütter gestorben. Jeder einzelne COLA hatte seine oder ihre Mutter in den ersten vier Lebensjahren verloren. Niemand wusste, warum. Es gab keinerlei Anhaltspunkte, die auf eine Verbindung zwischen diesen Frauen hindeuteten, außer ihrem plötzlichen, ansonsten aber unauffälligen Tod. Die Medien unter den COLAs hatten selbstverständlich versucht, in der Geisterwelt Antworten zu finden, doch ohne Erfolg. Keine Mutter eines COLA hatte jemals Kontakt aufgenommen.

Dex blätterte eine Seite seines Buches um und betrachtete ein Bild, auf dem Männer einen Erdofen bauen. Wie so oft dachte er an all die anderen COLAs, die über ganz Großbritannien verstreut waren, und fragte sich, auf welche Weise sie sich wohl die Zeit vertrieben. Er malte sich aus, wie die Teller-Brüder ihre großartigen Imitationskünste zum Spaß einsetzten, wie Barry unsichtbar in seinem Zuhause umherschlich, wie Spook Williams sich daheim aufspielte und neue Pailletten für seinen lächerlichen Magierumhang verlangte.

Die Kinder mit Grenzenlosen Fähigkeiten waren alle ungefähr gleich alt und sie waren überall im Land entdeckt worden. (Nur ein Mädchen spürte man im Ausland auf, doch auch sie war in England geboren.) Sie waren allerdings ganz unterschiedlicher Herkunft. Da war Gideon, der mit seinem Vater in einer Sozialwohnung in einem Londoner Außenbezirk wohnte. Und da gab es Lisa, die in einer luxuriösen Villa in Somerset lebte. Lisa und ihr Vater besaßen ein Pony und einen reinrassigen Araberhengst. Gideon hielt mit seinem Vater einen Wellensittich.

Viele von ihnen hatten Geschwister. Einige wurden von ihren Großeltern aufgezogen, andere hatten neben ihren Dads liebevolle neue Stiefmütter. Manche, dachte Dex niedergeschlagen, hatten Väter, die nie da waren. Er schlug eine weitere Seite seines Buchs auf. Der Autor war ein Experte, der die Welt vom Nordpol bis zur Sahara bereist und nur dank seiner Fähigkeiten und seines sorgfältig gepackten Rucksacks überlebt hatte. Robert Jones liebte seinen Sohn – da war sich Dex sicher –, aber er schien sich gleichzeitig auch vor ihm zu fürchten. Seit er ein Gestaltwandler war und zu den COLAs gehörte, hatte er seinen Vater nur dreimal gesehen. Bisher hatte er es nicht geschafft, ihm zu erklären, was passiert war, hatte es nicht geschafft, die erstaunliche Veränderung in seinem Leben mit ihm zu teilen. Sein Vater entfernte sich immer weiter von ihm. Es war, als wüsste er bereits alles, konnte aber nicht den Mut aufbringen, sich der Realität zu stellen. Bald, dachte Dex. Ich muss es ihm bald erzählen. Oder ich zeige es ihm. Nächste Woche kommt er zurück, und dann WERDE ich es ihm zeigen. Robert Jones hatte seinem Sohn etwas Geld geschickt und ihn vertröstet – ihm aber versprochen, Zeit mit ihm zu verbringen, sobald er zurück sei.

Dex merkte, dass er das Buch gar nicht las; viele Passagen konnte er sowieso schon auswendig. Er schlug es zu und verließ sein Zimmer. Zwei Stunden waren bereits vergangen seit seinem unerlaubten Flug über dem Lieferwagen und seiner Schokoladenlieferung. Er grinste und fragte sich, was Mike und Dave wohl von der Sache hielten. Er verwandelte sich in einen Fuchs, setzte sich auf die Türmatte und lauschte.

Zuerst hörte er nur das Rauschen und Fiepen der elektronischen Ausrüstung im hinteren Teil des Lieferwagens. Es erstaunte ihn, dass Mike und Dave dort den ganzen Tag sitzen konnten ohne Ohrenschmerzen zu bekommen. Aber natürlich waren die Geräusche für das menschliche Ohr kaum wahrnehmbar. Nach einer Minute hörte er ein Rascheln aus Mikes Richtung, das nach einer Zeitung klang, und Dave seufzte.

»Ich denke, wir sollten das melden«, sagte Dave. »Nein, ich bin mir sogar sicher.«

»Was? Es regnet Maltesers vom Himmel?«, bohrte Mike nach. »Da hätten wir ganz schnell eine Sondereinheit hier. Tödliche Schokobombenaffäre …« Er kicherte.

»Aber es ist schon eigenartig. Es ist wirklich eigenartig«, sagte Dave und klang dabei angespannt und beunruhigt. In Dex meldete sich das schlechte Gewissen. »Unsere Anweisungen lauten, beobachten, verfolgen, den Überblick behalten. Und wir sollen nach einem Vogel Ausschau halten. Nach allem, was auf einen ungewöhnlichen Vogel hindeutet. Du weißt schon, vielleicht einer, der Nachrichten überbringt, oder so …?«

Mike seufzte. »Ja, Kumpel, ich hab die Anweisungen doch auch bekommen. Wir haben keinen Vogel gesehen.«

»Sie haben auch gesagt«, beharrte Dave, »irgendwas Ungewöhnliches. Irgendwas. Irgendwas Seltsames. Und wenn vom Himmel fallende Maltesers – kurz nachdem ich gesagt hab, ich hätte gern welche – nicht seltsam sind, dann weiß ich auch nicht.«

»Gut«, sagte Mike. »Mach die Meldung. Los jetzt …«

Dave atmete auf. »Du gibst mir also Rückendeckung? Du wirst bestätigen, wie es war.«

»Ich habe es nicht gesehen – ich hab es nur gehört«, antwortete Mike. »Du hast gesagt, es sind Maltesers, nicht ich. Es könnte alles Mögliche sein – von einem Kind geworfen oder von einer Krähe fallen gelassen.«

»Genau!«, rief Dave.

»Pssst!«

»Genau!«, wiederholte Dave nun etwas leiser. »Von einem Vogel!«

»Hast du ihn gesehen?«

»Nein.«

»Irgendein Beweis?«

»Na ja, da liegt definitiv eine Tüte Maltesers unter der Vorderachse. Da bin ich mir sicher. Sie ist an der Windschutzscheibe runtergerutscht. Aber da wir eigentlich gar nicht hier drin sein dürften, habe ich keinen Plan, wie ich rausspringen und sie holen soll.«

Mike fing keuchend an zu lachen. »Hey, weißt du was?«, prustete er und verstellte seine Stimme. »Du hast recht. Wir haben hier eine verdächtige Maltesers-Situation! Wir müssen Verstärkung anfordern! Hol das FBI her, sie sollen das Süßigkeitenbergungskommando leiten!«

Jetzt fühlte sich Dex wirklich schuldig. Er hatte das eigentlich nur zu Daves Erheiterung getan – jetzt wurde ihm klar, wie dumm das gewesen war. Er verwandelte sich wieder in einen Jungen, kehrte zu seinem Buch zurück und wünschte sich, der Tag würde schneller vorübergehen. An den Wochentagen bescherte ihm wenigstens sein Nachhilfelehrer einige Stunden Ablenkung. Das war ein älterer, aber sehr kluger Mann namens Mr Gibbs. Er übte mit Dex jedes einzelne Schulfach auf einem behelfsmäßigen Schreibtisch im Esszimmer. Dex mochte ihn und hatte das Gefühl, er wüsste von den COLA-Fähigkeiten, die sein Schüler besaß. Das Thema Wildtiere behandelte er immer mit breitem Grinsen und wissendem Blick. Außerdem rief er täglich für Dex bei der Meldezentrale an und war auf unterhaltsame Weise schnippisch, wenn sie ihn zu lange in der Leitung warten ließen.

Heute Morgen hatte Dex schon bei der Meldezentrale angerufen, während Gina und Alice fernsahen. Dabei musste er ein Passwort nennen und einige Sicherheitsfragen beantworten. Die Person am anderen Ende der Leitung beendete jeden Anruf mit demselben Hinweis: »Wenn du irgendwelche Ängste oder Sorgen hast, ruf uns sofort an, Dex.« Seit dem Gespräch mit Lisa hatte Dex nun jede Menge Ängste und Sorgen, aber er dachte nicht im Traum daran, die Meldezentrale anzurufen. Wenn er seit seiner Aufnahme in den COLA-Club im letzten Jahr eins gelernt hatte, dann, dass nicht jede Autoritätsperson zwangsläufig auf seiner Seite stand.

Er hatte einen schrecklichen Frühling erlebt und war in den Wochen vor der Zerstörung des Tregarren College davon überzeugt gewesen, dass ominöse Tests an den Schülern durchgeführt wurden. Es ging sogar so weit, dass er aufhörte, im College zu essen und zu trinken, bis er herausgefunden hatte, was alle so müde und ausgelaugt werden ließ. Wie sich herausstellte, hatte das College nichts damit zu tun. Stattdessen hing alles mit dem armen Gideon zusammen.

Alice und Gina kehrten mit ihren Einkäufen zurück und der Tag zog sich weiter hin. Abends aßen sie Hühnchencurry und sahen sich eine Quizshow an, zu der Alice mit vollgestopftem Mund alberne Antworten einwarf.

»Wie heißt die Hauptstadt von Australien?«, begann der unnatürlich blonde Moderator mit fragendem Blick. »Ist es A: Sydney oder B: Alice Springs …«

»Känguruuu!« rief Alice. »Bambus … Kuchen.«

Dex musste lachen. Alice war schon schwer in Ordnung, trotz ihrer Vorliebe für Puppen.

»… oder D: Wellingt-«