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Tier-Fantasy, Action und Höchstspannung in der realen Welt - Band 2 der mitreißenden Reihe von Ali Sparkes. Die schlaflosen Nächte gehen weiter.
Es ist 1:34 Uhr. Erneut beginnt der Kampf zwischen Gut und Böse. Seit sie jede Nacht um diese Zeit aufwachen, haben Elena, Matt und Tima die Fähigkeit, mit der Tierwelt zu kommunizieren. Doch als sie bei einem ihrer nächtlichen Streifzüge einer seltsamen Fremden begegnen, begreifen sie: Ihre Begabung lässt sie nicht nur Tiere, sondern alle Sprachen verstehen. Das ermöglicht ihnen, die nahende Bedrohung zu erkennen, die zunächst die Hummeln in Angst versetzt und schließlich die ganze Welt gefährdet: Eine übernatürliche Macht ist dabei, Menschen und Tiere zu vernichten. Gemeinsam mit ihren tierischen Freunden versuchen die drei, die Einwohner der Stadt zu warnen und den gefährlichen Eindringling aufzuhalten.
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Seitenzahl: 340
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Tier-Fantasy, Action und Höchstspannung in der realen Welt — Band 2 der mitreißenden Reihe von Ali Sparkes. Die schlaflosen Nächte gehen weiter. Es ist 1:34 Uhr. Erneut beginnt der Kampf zwischen Gut und Böse. Seit sie jede Nacht um diese Zeit aufwachen, haben Elena, Matt und Tima die Fähigkeit, mit der Tierwelt zu kommunizieren. Doch als sie bei einem ihrer nächtlichen Streifzüge einer seltsamen Fremden begegnen, begreifen sie: Ihre Begabung lässt sie nicht nur Tiere, sondern alle Sprachen verstehen. Das ermöglicht ihnen, die nahende Bedrohung zu erkennen, die zunächst die Hummeln in Angst versetzt und schließlich die ganze Welt gefährdet: Eine übernatürliche Macht ist dabei, Menschen und Tiere zu vernichten. Gemeinsam mit ihren tierischen Freunden versuchen die drei, die Einwohner der Stadt zu warnen und den gefährlichen Eindringling aufzuhalten.
Ali Sparkes
Die Nachtflüsterer
Die Bedrohung
Aus dem Englischen von Manuela Knetsch
Carl Hanser Verlag
Tima war es, die den leblosen Körper entdeckte.
Ein gefrorenes blasses Etwas, das aussah wie ein überfahrenes Tier. Nur dass es menschlich war.
So hatte sie sich ihre Nacht hier draußen nicht vorgestellt.
Wie immer war sie um 1:34 Uhr aufgestanden, hatte ihre schwarzen Jeans, den schwarzen Pullover und die schwarzen Leder-Jazzschuhe angezogen, ihr langes dunkles Haar zu einem akkuraten Seitenzopf geflochten und das Haus verlassen. Alles wie immer.
Wie immer und trotzdem nicht normal. Normalerweise brauchten Elfjährige mindestens neun Stunden Schlaf pro Nacht, und Tima bekam selten mehr als sechs. Als die Schlaflosigkeit begann, hatte Tima das Gefühl gehabt, die Welt um sie herum würde auseinanderbröckeln. Dennoch hatte sie neuerdings eine Art Struktur hineingebracht; eine Struktur, die funktionierte.
Sie ging um 21 Uhr zu Bett, war bis 22 Uhr eingeschlafen, wachte um 1:34 Uhr auf, traf sich mit Matt und Elena in den dunkleren Gegenden der Stadt, kehrte zwischen 4:30 und 5 Uhr zurück, konnte noch ein, zwei Stunden schlafen und stand um 7 Uhr wieder auf, um zur Schule zu gehen. Im Durchschnitt kam sie so pro Nacht auf fünfeinhalb Stunden Schlaf — nur etwas mehr als die Hälfte von dem, was ein Mädchen ihres Alters eigentlich brauchte. Jippie!
Elena ließ sich kopfüber von einem der metallenen Querbalken baumeln, die unterhalb des kegelförmigen Pavillondachs verliefen. Ihr blonder Pferdeschwanz schimmerte im Mondlicht. Der Musikpavillon, eine Konstruktion aus Holz und schmiedeeisernen Elementen, lag inmitten eines gepflegten Anwohnerparks und war eine Art Klubhaus für sie geworden.
»Soll ich dich mal in Schwung bringen?« Tima sprang auf den Holzboden und gab Elenas Schultern einen Schubs. Elena schrie auf.
»Niiiicht! Ich übe noch. Ich könnte runterfallen.«
»Du fällst schon nicht«, sagte Tima.
Elena, die dunkelblaue Jeans, schwarze Turnschuhe und ein schwarzes Sweatshirt trug, wippte in den Kniekehlen wie eine Turnerin am hohen Barren.
»Du wirst immer fitter!« Tima kletterte auf das Geländer, das drei Viertel des Pavillons umgab. Sie umklammerte einen der Stützbalken, zog sich hoch, schwang die Beine über den Balken und ließ sich gleich darauf neben ihrer Freundin nach unten hängen. »Ich frage mich nur, weshalb du neuerdings so besessen davon bist, kopfüber herumzubaumeln … wie eine Fledermaus.«
»Ich bin nicht besessen«, wehrte Elena ab. »Ich versuche nur, fitter zu werden. Wir müssen durchtrainiert sein. Schließlich sind wir nachts draußen, und jederzeit könnte eine Bedrohung —«
»Ja, ich weiß. Ist schon gut«, fiel Tima ihr ins Wort. Mühelos ließ sie sich vor und zurück schwingen, gelenkig durch jahrelanges Tanztraining. »Hast du immer noch Albträume?«
Elena schwang kraftvoller vor und zurück, bekam schließlich den Balken mit den Händen zu fassen und ließ sich auf den Boden hinab. »Damit habe ich keine Probleme«, sagte sie. »Nachts geht’s mir gut.« Sie griff nach ihrem kleinen Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Dann schlenderte sie auf das Wäldchen zu, das gleich hinter dem Park begann.
Tima folgte ihr. Gerade wollte sie Elena fragen, wie die Dinge bei ihr zu Hause liefen, als sie plötzlich einen vertrauten Umriss in der Dunkelheit wahrnahm. »Sieh mal«, sagte sie lächelnd, »hier ist jemand für dich.«
Ein Strahlen breitete sich auf Elenas Gesicht aus, und sie sank neben einer alten Eiche auf die Knie. Eine junge Füchsin wartete dort auf sie. Ihre drei langbeinigen Jungen, beinahe schon ausgewachsene Füchse, spielten in ihrer Nähe. Elena streckte die Hände aus, und das Tier schlüpfte flink in ihre Umarmung. Die Jungfüchse folgten ihrer Mutter, stupsten die menschliche Freundin sanft an, knabberten an ihrer Jeans und ihrem Sweatshirt und spielten Tauziehen mit den Schultergurten, die von ihrem Rucksack herabhingen.
Tima war stehen geblieben und sah dem Treiben lächelnd zu. Sie hätte jederzeit dazustoßen können, denn die Füchse waren auch ihre Freunde — für Elena jedoch waren sie wie eine Familie. In diesem Augenblick musste Tima an ihre eigene Familie denken. Nein, nicht an Mum und Dad, die gerade zu Hause in ihren Betten lagen und schliefen, sondern an die Wesen, mit denen sie sich am stärksten verbinden konnte. Ihre Nachtflüsterer-Familie. Zugegeben — so knuffig wie Elenas Nachtflüsterer-Familie war Timas Familie nicht, aber höchst erstaunlich war sie allemal.
Tima lief auf eine Lichtung zu, wo das lange Gras — feucht vom nächtlichen Tau — im bläulich weißen Mondlicht glänzte. Dann strich sie über ein paar Gräser, von denen sich im nächsten Augenblick auch schon ein glitzernder Flügelwirbel erhob. Tima lächelte, dann musste sie laut lachen. »Oh, ihr armen, albernen Dingelchen.« Von all den Insekten, die sie den Sommer über lieben gelernt hatte, waren die Schnaken die bemitleidenswertesten. Mit ihren schiefen, nachgezogenen und fadendünnen Beinchen wirkte ihr Flug nicht gerade anmutig. Sie besaßen keine funktionstüchtigen Mundwerkzeuge — also würden sie nie etwas anderes zu futtern bekommen als winzige Schlucke Nektar. Nachdem sie Monate im Erdboden verbracht hatten, waren ihre restlichen Stunden auf Erden gezählt — nur selten lebten sie noch mehrere Tage. In den meisten Fällen endeten Schnaken als Vogelfutter, ohne überhaupt eine Chance auf Fortpflanzung bekommen zu haben. Und doch waren diese Wesen nun alle hier und versuchten sich an einem Tänzchen für Tima.
Wäre sie letztes Jahr um diese Zeit in einen Schnakenschwarm geraten, hätte sie sich heiser geschrien. Jetzt aber, während die plump herumwirbelnden Beinchen und schmalen Flügel immer wieder ihre Arme und ihr Gesicht streiften, schritt sie leise zwischen den Tierchen hindurch und spürte eine innige Zuneigung zu ihnen.
Plötzlich stieß sie mit dem Fuß gegen etwas. Etwas Dunkles, das — halb verdeckt von den mit Früchten beladenen Ausläufern eines Brombeerstrauches — zwischen den hohen Gräsern lag. Es war groß, und es bewegte sich nicht. Dann sah sie den Stiefel.
Oh Gott. Ein menschlicher Körper.
»ELENA!«, schrie sie, während die Schnaken um sie her auseinanderstoben.
Sekunden später stand das ältere Mädchen neben ihr.
»Ich will gar nicht hinsehen«, jammerte Tima und schlug die Hände vor den Mund. »Ich will ihn gar nicht sehen.«
Elena kniete sich hin und berührte den Körper.
»Ist er kalt?«, fragte Tima atemlos durch ihre Finger hindurch. Ihr Herz raste, Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Elena nickte, zog ihre Taschenlampe hervor und knipste sie an.
»Nicht — dreh ihn nicht um«, flehte Tima. »Lass uns einfach die Polizei oder den Rettungsdienst anrufen.«
Elena sah zu ihr auf, sie wirkte plötzlich müde. »Und denen erklären, weshalb wir um zwei Uhr morgens im Wald sind?« Sie rollte den Körper zur Seite.
Tima kniff die Augen zusammen. Sie wollte nicht in das Gesicht eines Toten blicken.
Dann hörte sie Elena nach Luft schnappen. »Spin!«
Tima blinzelte, öffnete die Augen und sah mit Grausen dabei zu, wie Elena die leblose Person sanft auf den Rücken drehte. Ein vertrautes, bleiches Gesicht glänzte da im Mondschein, die Augen geschlossen, stachelig abstehendes, weißblondes Haar, das an einer Seite des Kopfes ganz platt gedrückt war — und dunkel gefärbt von etwas, das aussah wie Blut. »Oh nein.« Tima stöhnte auf. »Ist er tot?«
Elena presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und legte ihre Finger an den Hals des Jungen. Dann holte sie hörbar Luft und schaute auf. »Er lebt. Ich kann seinen Puls fühlen.« Mit der freien Hand zog sie ihr Handy aus der Tasche.
»Ach, jetzt willst du auf einmal doch Hilfe holen?«, sagte Tima.
Elenas Augen blitzten auf. »Er braucht Hilfe!« Sie beugte sich über ihn und strich ihm ein paar Grashalme von der Wange. »Spin! Spin! Kannst du mich hören?«
Der Junge rührte sich nicht.
Tima konnte kaum glauben, dass Elena seinen Puls wahrgenommen hatte. Spin war immer schon sehr bleich gewesen, doch jetzt war er leichenblass — ja, er sah tatsächlich tot aus.
»Denkst du wirklich, er atmet?«, flüsterte Tima und kniete sich neben Elena auf den Boden.
Elena ging mit ihrem Gesicht dicht an das des Jungen heran, um seine Atmung zu überprüfen. »Ich … glaube schon …«
Im nächsten Moment bekam sie einen derart heftigen Stoß vor den Kopf, dass sie mit einem Aufschrei rückwärts ins Gras fiel.
Spin sprang auf die Füße und griff nun auch Tima an, indem er ihr mit solcher Wucht ins Gesicht schlug, dass sie zur Seite taumelte. Der Geruch von Blut stieg ihr in die Nase.
»Was zur …?!« Elena rappelte sich mühsam zum Sitzen auf, während der Junge sich vor den beiden Mädchen aufbaute. Sein schwarzer Seiden-Trenchcoat blähte sich hinter ihm auf. Spin sah sich nach allen Seiten um und fauchte wie eine wütende Katze. Seine Augen glühten wie Silberkugeln, und zwischen seinen weit auseinandergezogenen Lippen war deutlich sichtbar das zu sehen, was man eigentlich nur als Fangzähne bezeichnen konnte.
Elena kam keuchend auf die Beine — nur um gleich wieder auf den Rücken zu fallen, als eine Druckwelle zu spüren war. Wie aus dem Nichts erschien eine graue Rauchwolke an der Stelle, an der Spin gerade noch gestanden hatte. Als sich die Wolke auflöste … war auch Spin verschwunden.
Tima hielt sich die linke Wange, stieß einen langen, zittrigen Atemzug aus und sah zu Elena hinüber. »Willst du deinen Vampirfreund jetzt immer noch mit Turnübungen beeindrucken?«
»Was zur Hölle ist euch beiden denn passiert?« Matt ließ den breiten Strahl seiner Taschenlampe über Timas und Elenas Gesichter gleiten.
Tima berührte vorsichtig den Kratzer auf ihrer Wange. »Spin ist uns passiert«, murmelte sie.
»Es blutet gar nicht mehr«, sagte Elena. »Die Wunde ist nicht tief.« Sie setzte sich auf eine alte Holzkiste, die neben der Scheune stand, und lehnte sich gegen die alte Bretterwand. Dann schloss sie die Augen, während Tima Matt erzählte, was geschehen war.
Matt wurde fuchsteufelswild und bedachte Spin mit einer Flut von Schimpfwörtern — und nicht eines davon war für die Ohren einer Elfjährigen geeignet. Doch Tima war keine gewöhnliche Elfjährige, genauso wenig wie Elena eine gewöhnliche 14-Jährige oder Matt ein stinknormaler 15-Jähriger war.
Mit einem Seufzer legte Elena die Fingerspitzen auf die Schwellung an ihrer Stirn. Die Stelle tat weh, und es schüttelte sie bei dem Gedanken daran, wie die Beule wohl morgen aussehen mochte.
Matt raste vor Wut. »Dem polier ich die Fresse.«
»Das war keine Absicht«, entgegnete Elena. »Er ist … in Panik geraten. Er war bewusstlos. Wir dachten schon, er wäre tot.«
»Ach ja? Vielleicht war das ja nur wieder einer seiner todwitzigen kleinen Tricks«, platzte es aus Matt heraus. »Sich totstellen, bis der andere nah genug herangekommen ist — und ihn dann angreifen! Und ihr seid auch noch drauf reingefallen.«
»Weshalb sollte er uns angreifen wollen?«, sagte Elena.
Tima setzte sich in die alte Reifenschaukel und begann, vor und zurück zu schwingen. »Man kann nie wissen. Er ist nicht normal.«
»Und wenn schon«, entgegnete Elena. »Du bist ein Mädchen, das Insekten herumdirigiert. Das ist auch nicht gerade normal.«
Matts dunkle Augen funkelten gefährlich. Er griff in seinen Rucksack und zog einen massiven hölzernen Schlagball-Schläger heraus. »Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich ihm eine Lektion erteilen.«
In Elena schrillten alle Alarmsirenen, ihre Stirn begann zu pochen. »Matt … bitte, leg dich nicht mit ihm an. Du weißt, wie schnell er ist. Er könnte es mit uns dreien gleichzeitig aufnehmen und wäre uns immer noch haushoch überlegen. Wir sollten uns einfach von ihm fernhalten. Er hat uns schon seit Ewigkeiten nicht mehr belästigt, und ich glaube wirklich nicht, dass er uns heute Nacht eine Falle gestellt hat. Er war kalt … kalt wie Stein. Ihm ist irgendetwas zugestoßen.«
»Also, wenn man schon an diesen ganzen Vampirquatsch glaubt, dann ergibt es doch Sinn, dass er kalt war. Vielleicht sollte ich den hier« — Matt schüttelte den Schläger — »anspitzen und ihn Spin durchs Herz rammen.«
Tima ließ die Reifenschaukel langsamer werden. »Diese Augen und die Eckzähne und der Rauch … das alles sah wirklich —«
»Okay, genug davon«, sagte Elena. »Spin ist einfach nur … Spin. Wir müssen uns nicht mit ihm abgeben. Und außerdem glaube ich, dass es gar nicht Spin ist, auf den du so wütend bist, Matt. Hab ich recht?« Sie stand auf, nahm ihm die Taschenlampe aus der Hand und begutachtete nun sein Gesicht. Auf einer seiner Wangen zog sich eine lange rote Schramme nach unten. »Das sieht mir nicht nach der Handschrift deines Dads aus. Bist du wieder von Liams Gang gejagt worden?«
Matt entriss ihr die Taschenlampe und brummte: »Das ist nicht deine Baustelle. Ich regel das selbst. Ich hab es schon geregelt.«
Tima sprang aus der Reifenschaukel, schlang die Arme um Matt und betrachtete sein aufgeschürftes Gesicht. »Oh, Matt — das ist ja schrecklich. Was ist denn passiert?«
Matt und Elena sahen sich irritiert an. Tima liebte Umarmungen, und die beiden Älteren hatten sich immer noch nicht daran gewöhnt.
Matt verdrehte die Augen, zog sich aus ihrer Umarmung zurück und setzte sich auf einen Stapel Holzscheite. Dann zog er ein zerknittertes Blatt Papier aus der Jeanstasche. »Ich Trottel bin selbst schuld daran. Warum wollte ich auch unbedingt gewinnen?«
»Gewinnen?«, wiederholte Elena und griff nach dem Zettel. »Was gewinnen?«
»Den Schreibwettbewerb der zehnten Klassen«, murmelte er und sah auf seine Füße.
Einige Sekunden lang starrte Elena ihn stumm an. Matt hatte einen Wettbewerb gewonnen? Nur ein paar Monate zuvor hätte man ihn höchstens zum Schläger des Jahres gekürt. »Wow«, brachte sie schließlich heraus.
»Ja, wow«, wiederholte er. »Ich weiß auch nicht, was da über mich gekommen ist. Jedenfalls hab ich diese Geschichte geschrieben — ›Der Dunkellicht-Dämon‹.«
»Ooookayyyy«, sagte Elena und tauschte Blicke mit Tima.
»Wie auch immer, ich dachte eigentlich, die Geschichte wäre — na ja — Schrott. Aber sie ist auf dem ersten Platz gelandet. Vor der versammelten Schule musste ich auf die Bühne, um meinen Buchpreis abzuholen.«
»Und was war daran so schlimm?«, hakte Tima nach. »Das ist doch großartig!?«
»Oh ja, ganz großartig«, grummelte Matt. »Liam Bassiter und seine Kumpels waren so beeindruckt, dass sie beschlossen haben, mich auf dem Nachhauseweg zu vermöbeln — sozusagen als Glückwunsch.«
»Autsch«, sagte Tima. »Ich bin wirklich heilfroh, nicht auf eurer Schule zu sein.«
»Zumindest haben die drei ebenfalls ›Autsch‹ gesagt. Ihr solltet mal deren Gesichter sehen. Ich könnte es locker mit jedem von denen aufnehmen, nur nicht mit allen auf einmal. Gut, dass Glück nicht da gewesen ist. Sie hätte ihnen mit dem Schnabel die Augen ausgehackt.«
Elenas Schultern verkrampften sich. Matts Starenweibchen beschützte ihn mit aller Kraft. Niemand wusste, zu was der Vogel fähig wäre, wenn Matt ihn einmal nicht aufhalten würde. »Du weißt doch, dass du sie niemals …? Und ihre Vogelfreunde auch nicht. Dir ist doch klar, dass du sie nicht angreifen lassen darfst, oder, Matt?«
Er nickte und wich ihrem Blick aus.
»Warte mal …« Elena postierte sich direkt vor seiner Nase und sah ihm in die Augen. »Was ist passiert?«
»Nichts.« Immer noch wich er ihrem Blick aus.
»Quatsch. Irgendwas ist doch passiert. Was?«
»Na ja, da flogen ein paar Möwen über uns in der Luft. Wir waren in der Nähe der Müllkippe.«
»Sag, dass das nicht wahr ist!?« Elena starrte ihn an. »Du hast doch nicht etwa zugelassen, dass sie angreifen?«
»NEIN! Ich hab sie nur dazu gebracht, ein klein wenig … Vogelkacke abzuladen. Ein klein wenig viel Vogelkacke.«
Tima brüllte vor Lachen.
Matt grinste. »Irgendwann konnten die anderen vor lauter Vogeldreck gar nichts mehr sehen«, fuhr er prustend fort. »Und ich hatte Zeit, mich davonzumachen.«
Elena seufzte erleichtert. »Verstehe. Gut. Trotzdem —«
»Jaja, ich weiß, was du sagen willst!«, fiel Matt ihr ins Wort. »Wie geht das noch mal? ›Aus großer Kraft folgt große Verantwortung …‹«
»Na ja. Das Zitat stammt von Onkel Ben in Spider-Man«, erwiderte Elena. »Aber … ja. Stimmt wohl.«
»Sie würden mich nicht mögen, wenn ich wütend bin«, knurrte Tima.
Matt und Elena lachten — es klang extrem lustig, wenn ein zierliches Mädchen wie Tima den unglaublichen Hulk nachahmte.
Plötzlich rief Tima: »Ich habe eine Idee! Wir brauchen Catchphrases für Nachtflüsterer — eingängige Warnungen. Wie wär’s damit …?« Sie senkte erneut ihre Stimme und brummte: »Machen Sie mich nicht wütend, sonst hetz ich meine Motten auf Sie.«
»Machen Sie mich nicht wütend, sonst zerkleinern meine Vögel Sie zu Körnerfutter«, knurrte Matt.
Elena dachte kurz nach. »Machen Sie mich nicht wütend, sonst nehmen meine Füchse das in die Pfoten«, fügte sie dann in normaler Tonlage hinzu.
Matt und Tima lächelten höflich.
Elena seufzte. »Schon gut, daran muss ich noch arbeiten. Wie auch immer. Ich wollte damit nur sagen, dass niemand von unserem … Tier-Dingsbums erfahren darf. Wenn die Leute erst einmal mitbekommen, was da läuft, werden sie uns nicht mehr in Ruhe lassen. Und das fände ich furchtbar. Ich fände es furchtbar, das hier … wieder zu verlieren.« Sie blickte gedankenverloren in die Dunkelheit dieser angenehmen, einladenden Nacht. Es waren diese Nächte, die ihr mittlerweile so viel bedeuteten.
»Ach ja, wo wir gerade davon reden«, sagte Matt. »Dort drüben, auf der anderen Seite des Feldes, wohnt eine kleine Eule, die ich euch gerne zeigen würde. Sie hat das Gesicht eines Serienmörders.«
»Sie ist ein Serienmörder«, korrigierte ihn Tima, »wenn du eine Wühlmaus bist.« Dann liefen sie über das Meer aus wogendem, wisperndem Weizen.
»Ja — nachts wimmelt es nur so von Killern«, stimmte Matt zu.
Zu Hause angekommen, sah Tima sich im Badezimmerspiegel den langen Kratzer an, der über ihre linke Wange lief. Er blutete nicht mehr, leuchtete aber immer noch glutrot. Wie sollte sie das ihren Eltern erklären? Als sie ihnen gegen 21 Uhr einen Gutenachtkuss gegeben hatte, war ihre Haut noch makellos und unverletzt gewesen — jetzt sah es aus, als ob sie sich einen Kampf mit einer Katze geliefert hätte.
Hmmm. Nebenan wohnten Leute, die eine Katze hatten. Also schön … Sie lehnte die Stirn gegen den Spiegel und dachte sich eine Geschichte aus. Sie würde Mum und Dad erzählen, dass sie morgens schon im Garten gewesen war, um … Ja, um was zu tun? Weshalb sollte sie in aller Frühe vor die Tür gehen, noch bevor ihre Eltern aufgestanden waren? Ähm … Sie hatte draußen etwas vergessen. Ihr Handy … auf dem Gartenstuhl. Ja. Das klang plausibel. Sie war wach geworden und hatte gemerkt, dass es nicht da war, dann hatte sie sich daran erinnert, wo sie es liegen gelassen hatte. Also war sie kurz nach draußen in den Garten gegangen, hatte dort die Nachbarkatze gesehen, mit ihr gespielt — und war gekratzt worden.
Kopfschüttelnd knipste Tima das Badezimmerlicht aus. Es war nicht ihre Art, Mum und Dad anzulügen. Früher, als sie noch ein ganz gewöhnliches Mädchen gewesen war, war ihr Leben nicht halb so kompliziert gewesen. Doch seit Mai, seit sie jede Nacht um dieselbe Uhrzeit aufwachte, war das Leben sehr kompliziert geworden. Unglaublich toll — aber kompliziert.
Sie lief über den dunklen Flur zurück in ihr Zimmer. Es war jetzt 5:15 Uhr in der Früh, und vor sechs würde es nicht hell werden. Um 1:34 Uhr war der Strahl durch ihr Schlafzimmer gefallen, so, wie er es jede Nacht um die immer gleiche Uhrzeit tat. Obwohl er nur einige Sekunden sichtbar war, wurde sie stets wach davon, und neuerdings wachte sie manchmal sogar ein paar Minuten früher auf und wartete auf ihn. Dann lag sie da und lauschte, die Augen weit aufgerissen, während die Vorfreude ihren ganzen Körper zum Kribbeln brachte. In diesen Nächten erhaschte sie einen Blick auf den Strahl, der sie immer an einen dünnen goldenen Strom erinnerte, angefüllt mit Wellen, Wirbeln und Blasen. Die Musik, die ihn begleitete, war ebenso wundervoll — sie klang, als käme sie von weit her, lieblich und geheimnisvoll, ein Weihnachtslied von den Sternen. Alle 24 Stunden brach der Strahl für einige Sekunden durch ihre Welt und verschwand dann wieder, und jedes Mal blieb sie verzückt und benommen zurück.
Was, wenn sie nun eines Nachts erwachte und der Strahl nicht mehr auftauchte?
Sie würde ihn vermissen. Ganz furchtbar. Ja, er hatte ihr Leben vollkommen auf den Kopf gestellt und sie zur Schlaflosigkeit verdammt — aber er hatte auch eine Nachtflüsterin aus ihr gemacht. Er hatte sie in die Dunkelheit hinausgeführt, wo sie auf Matt und Elena getroffen war, die zur selben Zeit wach wurden wie sie, weil ebenjener Strahl auf einer geraden Linie durch jedes ihrer Häuser fiel. Sie alle drei waren nun für immer miteinander verbunden, da nur sie allein den Strahl sehen, hören und spüren konnten. Und nur sie allein konnten sich — zumindest ihres Wissens nach — mühelos mit der Tierwelt verständigen.
Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen nahm sie eine Bewegung wahr, jemanden auf der anderen Straßenseite. Nicht schon wieder Spin, schoss es ihr durch den Kopf. Nein. Er war es nicht. Dort drüben war jemand anderes. Ein Mädchen oder eine junge Frau kauerte auf allen vieren im Gras, am Rand des Weges, der hinunter zum Anwohnerpark und dem Pavillon führte. Weshalb?
Tima huschte aus ihrem Zimmer und lief lautlos die Treppe hinunter. Sie öffnete die Haustür ohne ein Quietschen (vor einigen Wochen hatte sie heimlich die Scharniere geölt) und sprang über die vordere Gartenmauer. Mit einem Blick in den östlichen Nachthimmel überquerte sie die leere Straße und stand kurz darauf neben der Fremden. »Was suchen Sie denn?«
Die junge Frau, vielleicht Mitte 20, hob den Kopf und machte ein überraschtes Gesicht. Sie hatte langes dunkles Haar und trug Kleider, die wie eine Art Motorradkluft aus dunkelgrünem Leder aussahen. Die fremde Frau rang nach Luft.
»Mein Inhaliergerät«, erwiderte sie. »Ich muss es irgendwo hier verloren haben.« Ihr Akzent war nicht leicht zu deuten. Die Aussprache war sehr präzise, fast zu perfekt. Tima fragte sich, ob sie vielleicht aus Skandinavien kam. Solange sie derart angestrengt atmete, war das schwer zu sagen.
»Ich kann Ihnen helfen«, sagte Tima und ging ebenfalls auf die Knie. Allerdings begann sie gar nicht erst damit, im Gras herumzusuchen. Stattdessen sandte sie eine Nachricht an die Ameisen und bat sie darum, ihnen den Inhalator zu bringen. Sie hatte solche Geräte schon gesehen — ein Mädchen aus ihrer Schule benutzte eines gegen ihre Asthmaanfälle. Es war blau, geformt wie ein L, und innen drin steckte ein kleiner Metallbehälter. Dieses Bild übermittelte sie nun auch den übrigen Insekten, die bei der Suche helfen konnten.
Aus den Augenwinkeln sah sie eine kleine Säule aus winzigen Tupfen in der Luft, etwa einen Meter von der Stelle entfernt, an der die Frau suchte: Einige Mücken schwebten über dem Gras. Sie krabbelte auf Händen und Knien hinüber, griff unterhalb der Mücken ins feuchte Gras und zog etwas Kleines, Metallisches heraus. Dann sandte sie den Mücken, die nun in alle Richtungen davonflogen, ein Dankeschön. Das Gerät sah nicht so aus wie die Inhalatoren, die sie bisher gesehen hatte — zum einen war es ganz aus Silber, zum anderen hatte es die Form eines kleinen Kanisters und in einer Ecke eine Art winzigen Fächer. »Ist es das?«
Die Frau, die unterdessen weitergesucht hatte, sah vom Boden auf. »Oh ja! Vielen Dank!« Sie nahm das silberne Gerät an sich, klappte am unteren Ende eine Kappe ab, reckte das Kinn in die Luft wie eine Schwertschluckerin und nahm einen tiefen Zug. Der Inhalator machte einen ziemlich ulkigen Zischlaut.
»Oh, Dank sei den Blühenden Bergen!«, murmelte die Frau und seufzte erleichtert auf. »Schon besser.« Das Zischen hatte aufgehört.
»Blühende Berge? Na, solange man kein Allergiker ist, meinetwegen«, erwiderte Tima lächelnd. »Ich habe eine Schulfreundin, die reagiert allergisch auf alle möglichen Blütenpollen. Sie bekommt Niesanfälle davon. Geht es Ihnen wieder gut?« Sie stand auf. Jetzt, da der Morgen graute, wurde sie langsam unruhig. Ihr Vater könnte jeden Moment aufstehen, denn er hatte heute Frühdienst im Krankenhaus.
»Warte«, bat die Frau, die jetzt ebenfalls auf die Beine kam. Sie war groß und schlank und ziemlich hübsch, ihre Augenwinkel neigten sich ein wenig nach oben. »Kann ich dich etwas fragen?« Sie legte den Kopf zur Seite, so wie Glück es manchmal tat.
Tima hätte erwartet, dass die Frau von ihr wissen wollte, was ein Kind wie sie nachts alleine draußen im Dunkeln verloren hatte. Stattdessen sagte die Fremde: »Wo sind die Sprösslinge?«
Tima blinzelte. »Die Sprösslinge?«
»Ja — die Sprösslinge. Diese … diese kleinen Dinger, die man großzieht.«
Tima runzelte die Stirn. »Kleine Dinger? Meinen Sie Pflanzen oder Kinder?«
»Kinder?« Nun wirkte die Frau reichlich verblüfft.
Tima war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass sie aus Skandinavien stammte. Offensichtlich verstand sie im Englischen nicht alles.
»Na ja, Töchter und Söhne — Kinder eben — werden manchmal auch Sprösslinge genannt«, erklärte Tima. »Aber vielleicht meinen Sie doch eher junge Pflanzen, Keimlinge. Kann das sein?«
Die Frau nickte und hob die Augenbrauen. »Verstehe. Ja, Keimlinge. Bitte: Wo werden die kleinen Pflanzen großgezogen?«
»Also, meine Eltern fahren immer in eine Gärtnerei nach Hazletown — das ist ungefähr eine halbe Stunde von hier. Da kaufen sie unsere Pflanzen und all das. Und dann gibt es noch ein Gartencenter oben am Cranmere House — dieses Schlösschen, Sie wissen schon. Schauen Sie doch einfach noch mal online, da finden Sie bestimmt den genauen Anfahrtsweg.«
»Online«, wiederholte die Frau nachdenklich. »In Ordnung. Ich danke dir.« Sie machte kehrt und verschwand zwischen den Bäumen.
Verwirrt sah Tima ihr nach. Dann bemerkte sie, dass sich im Osten schon blassgoldene Streifen am Horizont abzeichneten. Sie rannte zurück ins Haus, lief auf Zehenspitzen die Treppe hinauf und schlüpfte in ihr Zimmer, nur Sekunden, bevor ihr Vater auf den Flur trat, um sich seiner morgendlichen Dusche zu widmen.
Drüben im Wäldchen holte die Frau ihren Rucksack von einem der Bäume herunter. Er lag hoch oben, auf dem Ast, auf dem sie zuvor geschlafen hatte. Sie kontrollierte ihre Waffen. Zwar konnte sie jetzt wieder richtig atmen, ihr Herz schlug jedoch immer noch ein wenig zu schnell. Der Grund dafür war weder die Luft in Thornleigh, noch waren es die Wirkstoffe aus dem Inhalator. Bei ihrer Ankunft hier war sie auf vieles gefasst gewesen, aber nicht darauf. Wie hatte dieses Mädchen nur ihre Worte verstehen können, als sie beiläufig ihren Dank an die Blühenden Berge geschickt hatte? Nicht nur, dass diese Formulierung hier, nach allem, was sie wusste, gänzlich unbekannt war — sie hatte sie auch ganz unbewusst in ihrer eigenen Sprache gemurmelt.
Und diese Sprache konnte das Mädchen unmöglich schon einmal gehört haben.
»Am meisten enttäuscht mich«, sagte Mr Rosen, »dass es bereits so aussah, als hättest du die Prügeleien und die ganze Zeitvergeudung endgültig hinter dir gelassen. Ich dachte wirklich, dass du nach allem, was dir im letzten Schuljahr passiert ist, ein neues Kapitel aufgeschlagen hättest.« Er strich gedankenverloren über eine Pflanze — eine von vielen, die sich auf dem Regal in seinem Büro drängten. Mr Rosen hatte eine Schwäche für Pflanzen. Seit er im letzten Frühling hier an der Schule angefangen hatte, hatte er sein Büro mit vielblättrigen Freunden gefüllt, um die er sich mit Bedacht kümmerte. Selbst die Pflanzen in seinem Aquarium waren in einem erstklassigen Zustand.
Matt starrte nach unten auf seine abgetragenen Schulschuhe und die dreckige Hose und kochte innerlich. Er hatte ein neues Kapitel aufgeschlagen. Er hatte die Kämpfe und das Zeitvertrödeln hinter sich gelassen. Und dann war Liam Bassiter aufgetaucht.
»Von deinen Lehrern habe ich gehört, dass du in den letzten Monaten tatsächlich Fortschritte gemacht hast«, fuhr der Direktor fort. Er ließ die Pflanze Pflanze sein, ging hinüber zu dem hohen, mit Metall eingefassten Fenster und blickte hinunter auf den Schulsportplatz und den dahinterliegenden Wald. »Wir dachten wirklich, dass dein Unfall und der kurze Krankenhausaufenthalt im Mai einschneidende Erfahrungen gewesen sind, die dein Leben verändert haben.«
Tja, was das angeht, hast du recht, dachte Matt. So was bleibt nun mal nicht aus, wenn man mit einem Gott der Unterwelt kämpft, der deine komplette Heimatstadt abschlachten will. Nein, schon gut, gern geschehen.
»Und jetzt muss sich der arme Mr Janssen mit dir rumärgern, weil du prügelnd und fluchend durch den Schulgarten getrampelt bist und seine Arbeit zunichtegemacht hast. Ich bin sehr enttäuscht von dir.«
Der arme Mr Janssen? Mr Janssen hatte die Statur eines Bären und Matts und Liams Köpfe gegeneinandergeschlagen, als sie in sein blödes Zucchinibeet gestolpert waren. Matt war sich ziemlich sicher, dass sie beide eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen hatten.
Natürlich hatte er geahnt, dass da noch etwas kommen würde. Nach der Sache mit den Vögeln gestern — er hatte sich schlapp gelacht, während die anderen herumgetaumelt waren und sich Möwenschiss aus den Augen gewischt hatten — war nichts anderes zu erwarten gewesen. Bei der Anwesenheitsprüfung heute Morgen hatten Liam, Ahmed und Tyler ihm vernichtende Blicke zugeworfen. In Physik hatten sie von hinten gegen seine Stuhllehne getreten und Todesdrohungen gemurmelt. Als es zur Pause klingelte, hatten sich die drei zusammen mit zwei Trittbrettfahrern dicht an seine Fersen geheftet. Da er wusste, was nun folgen würde, war er schnurgerade zur Schulbibliothek gelaufen — die aber just an diesem Tag wegen irgendwelcher Neubestückungen geschlossen blieb.
Und dann ging es los. »Oh nein — sag bloß, du kannst dich heute gar nicht hinter deinen Büchern verstecken?«, fauchte Liam hinter ihm.
Matt drehte sich um und schob sich an ihm vorbei, wobei er ihn absichtlich anrempelte. »Nettes Gekritzel«, sagte er mit verächtlichem Blick auf die aufwendigen einrasierten Muster in Liams fuchsrotem Buzzcut.
Sie blieben so dicht an ihm dran, dass sie ihm ein paarmal auf die Hacken traten und gegen seinen Rucksack stießen. Dabei hielten sie die ganze Zeit über nach Lehrern Ausschau. Matt verließ das Bibliotheksgebäude und ging auf den Musiktrakt zu. Er hatte keine Angst, er war wütend — und startklar. Mit Liam konnte er es jederzeit aufnehmen — was er kurz darauf hinter den Mülltonnen auf dem Schulhof unter Beweis stellte. Der Rest der Gang sah zu, fieberte mit und feuerte Liam flüsternd an, um ja keinen der Lehrer auf sich aufmerksam zu machen. Noch vor wenigen Wochen waren diese Typen Matts Kumpels gewesen.
Er steckte einige harte Schläge ein, hörte gleich darauf aber mit Genugtuung, wie Liam, dem er den Arm auf den Rücken gedreht hatte, vor Schmerzen schrie. Dann aber mischten plötzlich alle mit — fünf gegen einen. Dem verräterischen Ahmed konnte Matt noch einen heftigen Boxhieb in die Magengrube versetzen, bevor er selbst zu Boden ging, und nun lag er da und wurde gegen eine der schweren Müllcontainer aus Metall gedrückt, während sie auf ihn eintraten. Als es klingelte, ließen seine Angreifer augenblicklich von ihm ab und gingen lachend davon. Der ganze Spuk hatte nicht einmal eine Minute gedauert.
Einen Moment lang lag Matt einfach nur da. Schließlich stand er auf, klopfte sich den Staub von den Kleidern und lief zuerst in die Jungentoilette, um sich ein wenig zu waschen, und von da aus weiter zum Englischunterricht in den A-Trakt, wo die Erweiterungskurse gegeben wurden. In diesen Kursen für leistungsstärkere Schüler war keiner der anderen — Matt war hierherkatapultiert worden, nachdem er mit seiner Geschichte diesen blöden Preis gewonnen hatte. Die Englischstunde und der Matheunterricht danach verliefen ruhig. Dann war Mittagspause: Zeit für die zweite Runde.
Dieses Mal verfolgten sie ihn bis in den Speisesaal, wo er sein Essen kaute, während Liams Gefolge ihn mit Pommes bewarf, sobald die Pausenaufsicht in die andere Richtung sah. Als Matt aufstand, um nach draußen zu gehen, kam er sich vor wie der Rattenfänger von Hameln: Nun waren es schon sechs Jungs, die ihm, auf Action aus, aufgeregt folgten. Nur Sekunden nachdem er unten am Sportplatz angekommen war, wurde er auch schon angegriffen. Sie rissen ihm den Rucksack vom Rücken, kippten ihn auf dem Rasen aus und bewarfen ihn mit den Vogel- und Naturkundebüchern, die er sich aus der Schulbibliothek ausgeliehen hatte.
Er konnte sich nicht daran erinnern, auch nur an Glück gedacht zu haben. Das Vogelweibchen wartete oft auf einer Straßenlaterne auf ihn, wenn er aus der Schule kam. Heute aber musste es schon früher in der Nähe gewesen sein. Als er nämlich auf dem Rücken lag und mit Liam rang, während die anderen ihn mit Fußtritten traktierten, bildete sich am Himmel über ihnen eine dunkle Wolke. Ein Blick nach oben verriet Matt, dass es sich um einen gewaltigen Schwarm Stare handelte. Er wollte noch NEIN! rufen, um Glück von ihrem Vorhaben abzubringen — denn er war sich sicher, dass auch sie unter den Vögeln war, ja, dass sie die anderen anführte. Doch im selben Moment bekam er von Liam einen Schlag in den Magen, sodass ihm die Luft wegblieb.
Dann schossen die Vögel herab.
Sie gingen auf die ganze Gruppe los, stießen immer wieder mit ihren Schnäbeln und Krallen zu und griffen die Jungen an, die schreiend in alle Richtungen davonrannten.
»NEIN!«, brüllte Matt, als er endlich wieder zu Atem gekommen war. »Glück! STOPP!«
Der Großteil der Vögel beendete den Angriff und erhob sich wieder in die Luft, doch Glück und ein gutes Dutzend weiterer Stare attackierten Liam immer noch. Umringt von einem kreischenden Vogelschwarm, floh er über den Schulsportplatz in Richtung des neuen Schulküchengartens.
Matt jagte ihm hinterher, wobei er Glück immer wieder zurief, dass sie aufhören sollte.
Schließlich ließ Glück tatsächlich von Liam ab und flog mit den übrigen Staren in die Bäume.
Liam drehte sich um. Er hatte rote Kratzspuren im Gesicht und warf sich sofort auf Matt. Ineinander verkeilt, stolperten sie geradewegs in das engmaschige Netz, das der Schulgärtner aufgespannt hatte, und landeten im Zucchinibeet. Grün-weiße Pampe spritzte um sie herum auf, bevor sie über ein Folienzelt hinwegrollten, dabei das blättrige Grünzeug platt walzten und anschließend auf einige Melonen krachten — ein weiteres, diesmal blutrotes Gemetzel, bei dem es nur so spritzte. Das Ganze sah aus wie in einem drittklassigen Horrorfilm.
Mr Janssen jätete gerade Unkraut in einer anderen Ecke des Gartens. Wutentbrannt richtete er sich auf und raste wie ein wild gewordener Stier auf die beiden Jungen zu. Er packte Matt und Liam im Nacken, wobei sie beinahe vom Boden abhoben, stieß ihre Köpfe zusammen und brüllte: »IHR DÜRFT HIER NIECHT SEIN! IHR DÜRFT HIER NIECHT SEIN!« Durch seinen Akzent klang er dabei fast wie der Terminator. Dann schleppte er die beiden über den Sportplatz zurück, wobei er ununterbrochen schimpfte. Erst als sie vor der Tür des Schuldirektors standen, ließ er sie wieder los.
»Deine Mutter und dein Vater werden ebenfalls enttäuscht von dir sein«, fuhr Mr Rosen fort, strich sich durchs dunkle, grau melierte Haar und wandte sich vom Fenster ab.
Augenblicklich war Matt wieder im Hier und Jetzt. »Mein Vater? Werden Sie es ihm erzählen?«
Mr Rosen schwieg eine Weile und neigte den Kopf zur Seite. »Matteus — ich kann dich wohl kaum von der Schule suspendieren, ohne deinen Vater darüber zu informieren, oder?«
Matt spürte Panik in sich aufsteigen. Und Wut. Es war nicht seine Schuld gewesen, er hatte sich nur gewehrt und war nicht auf einen Kampf aus gewesen. Im Lauf seiner Schulzeit war er schon in viele Prügeleien verwickelt gewesen, und nicht ein einziges Mal hatte er auch nur ein Wort dazu gesagt, wenn man ihn deswegen vor den Schuldirektor geschleppt hatte. Er hatte weder gejammert noch jemand anderem die Schuld gegeben. Er hatte nie jemanden verpfiffen. Das war nicht seine Art. Aber jetzt … Wenn die Schule seinen Vater darüber informieren sollte, würde es zu Hause für ihn noch sehr viel schlimmer kommen als am Morgen bei den Mülltonnen oder eben im Zucchinibeet.
Matt presste die Lippen zusammen und starrte an Mr Rosen vorbei durch das Fenster. In den Himmel. Er hätte Glück und ihren Schwarm rufen sollen, bevor der Kampf überhaupt losgegangen war. Er hätte dafür sorgen sollen, dass die Stare Liam Angst einjagten. So hätte er sich all das ersparen können. Welchen Zweck hatten seine Superkräfte als Nachtflüsterer, wenn er sie nicht anwenden durfte? Typisch für Elena, dass sie einem mit »Verantwortung« kam.
Als Mr Rosen ihm plötzlich die Hand auf die Schulter legte, zuckte er erschrocken zusammen.
»Matt«, sagte der Direktor nun mit sanfterer Stimme. »Ich bin nicht blöd. Mr Janssen hat mir zwar erzählt, dass es fünf oder sechs gegen einen gewesen sind, aber das hätte ich mir auch selber denken können. Es ist kein Geheimnis, dass es zwischen dir und deinen … alten Freunden etwas ungemütlich geworden ist. Weshalb erzählst du mir nicht einfach, was vorgefallen ist?«
Matt schüttelte den Kopf und starrte wieder auf die Melonenpampe an seiner Hose. »Das mit dem Garten tut mir leid«, sagte er. »Wenn Mr Janssen einverstanden ist, helfe ich ihm dabei, alles wieder in Ordnung zu bringen. Aber bitte suspendieren Sie mich nicht. Und bitte sagen Sie es nicht meinem Vater.«
Mr Rosen nahm die Hand von seiner Schulter und setzte sich auf die Kante des abgenutzten Schreibtischs. »Was würde denn passieren, wenn dein Dad davon erfährt, Matt?«
»Gar nichts«, erwiderte Matt. Viel zu schnell.
Mr Rosen blinzelte kurz hinter seiner Brille, dann rieb er sich sekundenlang die Nase. Schließlich sagte er: »Mein Dad hat mich ständig grün und blau geprügelt, als ich noch ein Kind war.«
Matt schwieg.
»Mit 16 bin ich von zu Hause ausgezogen — nur, um von ihm wegzukommen.«
Matt schluckte.
»Hast du das auch vor, Matt?«
»Ich geh zur Marine.«
Mr Rosen nickte seufzend. »Da gibt es gute Jobs. Noch besser hast du es dort aber, wenn du einen höheren Schulabschluss vorweisen kannst und eine Offizierslaufbahn beginnst.«
Matt schluckte wieder. Nur fünf kärgliche Stunden Schlaf pro Nacht — das machte mürbe. Dünnhäutig. Als die fünf über ihn hergefallen waren, hatte er keine Träne vergossen. Weshalb nur war ihm jetzt zum Heulen zumute? Er konzentrierte sich auf die tropischen Fische in Mr Rosens Aquarium — leuchtend blaue, rote und orangefarbene kleine Kraftbündel schossen dort zwischen den hellgrünen Wasserpflanzen umher. Je länger er hinsah, umso mehr Fische sammelten sich in der nächstgelegenen Ecke des Aquariums und erwiderten seinen Blick. Er wandte sich ab und dachte an etwas anderes.
»Matt — ich werde dir einen Deal vorschlagen«, sagte Mr Rosen. »Gemäß den Vorschriften muss ich zu diesem Vorfall auf dem Schulgelände ein Formular ausfüllen und es umgehend an deine Eltern schicken. Aber es könnte ja sein, dass dieses Formular auf meinem übervollen, wirklich sehr unaufgeräumten Schreibtisch untergeht … falls du diese Sache heute für beendet erklärst und auf sich beruhen lässt. Fall nicht unangenehm auf. Geh weiter in die Bibliothek und lerne. Es ist noch nicht zu spät, um die Weichen für einen höheren Schulabschluss zu stellen, vielleicht kannst du sogar studieren. Du musst dem Ärger einfach aus dem Weg gehen.«
»Vielen Dank, Sir«, sagte Matt mit heißen Wangen und belegter Stimme.
»Und ja — ich denke auch, dass du Mr Janssen dabei helfen solltest, die Schäden im Schulgarten zu beheben«, fügte der Direktor hinzu. »Mach dir keine Sorgen, Liam und Co. werde ich nicht zu ihm schicken. Liam erhält eine zweiwöchige Suspendierung, genau wie die anderen. Ich hoffe, das verschafft dir ein wenig Ruhe — und Zeit, dich zu berappeln.«
»Danke, Sir«, sagte Matt noch einmal. Und es gelang ihm sogar, dem Mann dabei in die Augen zu sehen.
»Geh jetzt nach Hause. Und halt dich von allem fern, was Ärger bedeuten könnte.«
Fünf Sekunden nachdem er durchs Schultor gegangen war, saß Glück schon auf seiner Schulter. Matt hob die Hand, um den glänzend schwarzen Vogelkopf zu streicheln, und Glück rieb den Schnabel an seinen Fingern und zwitscherte leise. Matt schniefte laut, dann rannte er nach Hause — bei KOWSKIS GLANZAUTOS stand seine nächste Schicht an. Er durfte wirklich nicht mehr so ein Weichei sein.
Grübelnd lag Spin in seinem dunklen Kokon. Grübeln konnte er ausgezeichnet. Hätte er sich selbst im Spiegel sehen können, wäre er sehr zufrieden damit gewesen, wie sehr er dem klassischen Bild eines Grüblers entsprach: das hagere Gesicht mit den hohen Wangenknochen, die Licht und Schatten im perfekten Winkel einfingen; das weißblonde, über den Augenbrauen sanft verwuschelte Haar; sein Mund, der trotz einer wie gemeißelt wirkenden Oberlippe nicht mehr war als eine schmale, gerade Linie; die blaugrünen Augen, in denen es dunkel und gefährlich loderte.
Die Begegnung mit der Frau hatte Spuren hinterlassen. Klebrige Spuren. Sie hatte ihm mit irgendeiner Leimkugel ins Gesicht geschossen, und er hatte kaum etwas davon mitbekommen. Er hatte lediglich ein Stechen gefühlt und dann: Blackout. Was war es gewesen? Eine Art Paintball-Markierer?
Bevor die Fremde aufgetaucht war, hatte er sich um seinen eigenen Kram gekümmert und sich mit einem dieser besoffenen Typen angelegt. Nichts ahnend präsentierte er diesem gerade seine Eckzähne, als er plötzlich ein höfliches Hüsteln hörte.
Er hielt inne. Hinter ihm. Jemand stand hinter ihm.