Dillingers erster Fall: Als Bauer Huber in Hohenberg bei Schwäbisch Hall tot in seiner Scheune aufgefunden wird, scheint der Fall klar: ein Unglück. Doch Versicherungsvertreter Dillinger kann das nicht glauben. Kurz vor seinem Tod wollte der Bauer nämlich seine Lebensversicherung umschreiben. Aber warum und auf wen? Was hat die Bauersfamilie zu verbergen? Und welche Rolle spielt der Bauunternehmer Deyhle, der nicht nur Bauer Huber im großen Stil Ackerland abgekauft hat? Eine Geschichte um dunkle Familiengeheimnisse, Dorfintrigen und eine Vergangenheit, die nie vorbei ist.
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Rudi Kost
Die Nadel im Heuhaufen
Ein Hohenlohe-Krimi
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Dienstag
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Freitag
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Sonntag
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Nachwort
Mehr von Rudi Kost
Der Autor
Impressum neobooks
Der Polizist schaute nach oben und seufzte. Ich tat ihm den Gefallen, schaute ebenfalls nach oben und seufzte mit. »Wie kann man nur so unvorsichtig sein!«, sagte er.
In den tragischen Momenten des Lebens treibt uns die Sprachlosigkeit unweigerlich zu Banalitäten. Man musste ihm das nachsehen.
Wir blickten hinauf in eine dunkle, viereckige Luke im Holzboden. Dort oben lagerten Heu und Stroh. Gemeinsam schauten wir wieder nach unten.
Fritz Huber lag seltsam verrenkt auf dem Betonboden der Scheune. Eigentlich interessant. Tote liegen immer seltsam verrenkt da, niemals normal verrenkt oder einfach nur so verrenkt.
Wenigstens bestand kein Zweifel, dass der Bauer tot war. Seine Augen waren starr in die Ferne gerichtet. Unter seinem Hinterkopf hatte sich eine Blutlache gebildet. Er trug einen blauen Arbeitsanzug, auf dem ein wenig Heu verstreut war.
Der Polizist war noch jung und etwas blass um die Nase. Er hatte wohl noch nicht viele Tote gesehen.
Ich auch nicht, um ehrlich zu sein. Aber ich war tapfer und ließ mir nichts anmerken.
»Das weiß doch jedes Kind, wie leicht man da abstürzen kann«, sagte er. Noch so eine tiefschürfende Bemerkung.
»Gestürzt. Geschubst. Gesprungen. Wer weiß das schon.«
Der Polizeibeamte sah mich etwas argwöhnisch an. Ich trug mein Lässig-aber-elegant-Outfit: beige Jeans von Boss, einen sandfarbenen Cashmere-Rolli, eine hellbraune Lederjacke von Versace. Er trug seine Uniform.
***
Wir standen im Hof des Anwesens. Vor den Fenstern des Bauernhauses mit seinem schönen Fachwerk verwelkten die letzten Geranien in der milden Herbstsonne.
Mittlerweile hatte sich das halbe Dorf versammelt. Nur die Huber-Bäuerin und der Sohn fehlten. Sie waren weggefahren, so gegen neun Uhr, erfuhr ich von einer Nachbarin. In solchen Dörfern bleibt wenig unbemerkt.
Ich mischte mich unters Volk. Man erzählte sich die Geschichten, die jeder kannte: wie der Sohn vom Reber beim Dachdecken abgestürzt war und sich fast das Kreuz gebrochen hatte, wie dem Hummels-Bauer die Kettensäge ins Bein gefahren war, der Röger vom Baum erschlagen wurde, der Otter die Hand in die Häckselmaschine brachte … Ein Bauernhof ist ein gefährlicher Arbeitsplatz.
Doch unter die Betroffenheit mischten sich auch andere Stimmen. Fritz Huber war offenbar nicht sonderlich beliebt gewesen im Dorf, und sein Tod stimmte die Nachbarn nicht gerade milder.
Als Kommissar Keller auf den Hof fuhr, hätte ich mich am liebsten verdrückt. Aber ich wusste, dass das keinen Sinn hatte, und arbeitete mich langsam vor.
»Und wer hat ihn entdeckt?«, fragte Keller gerade den jungen Polizisten.
Der sah sich suchend um und wies auf mich: »Der da!«
Keller entdeckte mich und seufzte. »Ich hätte es mir denken können.«
Ich grinste ihn an. »Jeder hat halt so seine Hobbys, Sheriff. Und ich bin in diesem County eben für die Entdeckung der Leichen zuständig.«
Keller zog seine linke Augenbraue in die Höhe. Das hatte er sich von Roger Moore abgeschaut und bestimmt wochenlang vor dem Spiegel geübt. Ich kannte mich da aus. Ich hatte auch mal geübt, aber nach zwei Tagen aufgegeben. »Wie kommt’s, dass ausgerechnet Sie ihn gefunden haben?«
»Ich hatte einen Termin mit ihm.«
»Und warum?«
»Er wollte seine Lebensversicherung ändern. Jemand anders sollte begünstigt werden.«
»Wer sollte das werden?«
»Hat er nicht gesagt.«
»Warum haben Sie nicht gefragt?«
»Ich bin doch nicht neugierig.«
»Und wer war es bisher?«
»Wie üblich. Seine Frau.«
»Warum, um alles in der Welt, wollte er das ändern?«
»Weil ihm die Frau davonlaufen wollte? Weil er seine Frau satthatte? Keine Ahnung. Er hat’s mir nicht verraten. Ich hätte es schon noch erfahren.«
Nun wurde Keller doch etwas nachdenklich.
»Und ausgerechnet, bevor Sie kommen, stürzt er vom Heuboden und bricht sich das Genick. So ein Zufall!«
»Ich glaube nicht an Zufälle«, sagte ich.
Vor allem nicht, wenn es meine Versicherung eine hübsche Stange Geld kostet. Hunderfünfzigtausend Euro, das Doppelte bei einem Unfalltod, sind kein Pappenstiel.
Mittlerweile hatte der Arzt seine Untersuchungen abgeschlossen. Es war der Dorfarzt, den irgendwer aus dem Nachbarort geholt hatte, um das Offensichtliche festzustellen. Er fühlte sich sichtlich unwohl.
»Todeszeitpunkt zwischen acht und zehn Uhr«, sagte er.
»So genau legen Sie sich fest?«, fragte Keller verblüfft.
»Ist ja noch nicht lange her. Man sieht’s an der Blutgerinnung.«
»Todesursache?«
»Er hat sich eindeutig das Genick gebrochen. Aber ob das die Todesursache war …«
»Anzeichen von Fremdeinwirkung?«
»Hören Sie, ich bin kein Pathologe. Dass er eine stark blutende Wunde am Hinterkopf hat, sehen Sie selbst. Ob er sich beim Sturz irgendwo angeschlagen hat oder ob es was anderes war, muss die Obduktion klären.«
»Kannten Sie ihn?«
»Er war mein Patient.«
»Hatte er irgendwelche Beschwerden?«
Der Arzt schaute Keller an und brachte das Kunststück fertig, würdevoll und beleidigt zugleich auszusehen.
»Haben Sie schon mal etwas von der ärztlichen Schweigepflicht gehört?«
Wenn ihm etwas gegen den Strich ging, konnte Keller ziemlich ruppig werden. »Die geht mir am Arsch vorbei. Ich habe hier einen nicht natürlichen Todesfall, wie das im Amtsdeutsch heißt, und ich will wissen, was die Ursachen sind und was ich ausschließen kann. Und ich will es sofort wissen. Also?«
Der Arzt kämpfte mit sich und seiner Würde. Wir Umstehenden verfolgten das Duell interessiert. Ich war amüsiert. Ich kannte den Kommissar und wusste, wer gewinnen würde.
Keller schaute den Arzt grimmig an, wie eine Bulldogge vor dem Zuschnappen. Schließlich gab der Arzt seine Würde auf und war nur noch beleidigt.
»Fritz Huber war kerngesund«, meinte er patzig.
Man sah Keller an, was er dachte. Und dass er es am liebsten laut gesagt hätte.
»Schwindelanfälle oder so was?«, fragte er stattdessen.
»Nicht dass ich wüsste.«
»Verbindlichsten Dank, Herr Doktor«, erwiderte Keller mit ätzender Liebenswürdigkeit und scheuchte den Arzt mit einer Handbewegung weg.
Dann starrte er auf den toten Fritz Huber hinab, zog einen Zigarillo aus der Tasche und begann, darauf herumzukauen. Seit ich ihn kannte, war er dabei, sich das Rauchen abzugewöhnen. Den Zigarillo malträtierte er immer, wenn er wütend war oder nachdenken musste.
Und jetzt musste er entscheiden, ob er den ganzen Apparat in Bewegung setzen sollte.
Er starrte mich an.
Ich starrte zurück.
Er kaute heftig.
Ich nickte ihm zu.
»Manchmal irre ich mich auch«, sagte ich.
Keller schaute mich böse an.
»Übrigens hat er mir geflüstert, dass er auch sein Testament ändern wollte«, sagte ich leise zu ihm. Das musste ja nicht jeder hören.
Keller seufzte. »Also gut, das volle Programm.«
Nun würde sich also die Gerichtsmedizin mit der Leiche befassen. Die Spurensicherung würde anrollen und jeden Zentimeter unter die Lupe nehmen – eine mühselige Arbeit in einer Scheune, die staubig und dreckig und voller Spinnweben ist. Hier etwas Brauchbares zu finden, glich wahrhaft der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
»Wo bleibt eigentlich Ihr Gartenzwerg?«, fragte ich.
Da kam er auch schon angewatschelt, der kleine, dicke Berger, Kellers Assistent. Als er mich sah, stöhnte er auf.
»Was macht der denn hier, Chef?«, fragte er.
»Auch wenn Sie’s nicht gern hören, Berger«, meinte ich. »Ich habe die Leiche entdeckt.«
»Aha«, sagte er nur.
Ich nickte Keller zu. »Morgen auf dem Revier fürs Protokoll?«
»Sie können den doch jetzt nicht laufen lassen, Chef!«, protestierte Berger.
»Der läuft von selber«, sagte ich. »Nicht wahr, Chef?«
Keller knurrte. Er hasste es, Chef genannt zu werden.
Und außerdem sah er viel Arbeit auf sich zukommen. Seinem Blick nach gab er mir die Schuld. Ich hatte ihm den Tag gründlich verdorben.
Es gab für mich im Augenblick auf dem Bauernhof der Hubers nichts mehr zu tun. Ich tratschte noch ein wenig mit den Dorfbewohnern, ohne etwas Wesentliches zu erfahren, dann trollte ich mich und setzte die Tour fort, die ich mir für diesen Tag vorgenommen hatte. Es stand ohnehin nur Kundenpflege auf dem Programm.
Normalerweise sind das für mich als Versicherungsvertreter erholsame und auch ergiebige Tage. Wir plaudern über dies und jenes, und die Bauern stecken mir zum Abschied eine Wurstbüchse zu oder was Frisches aus der Hausschlachtung.
Doch heute war ich nicht recht bei der Sache, und den Besuch bei der Witwe Huber an diesem späten Dienstagnachmittag hätte ich gerne vermieden. Ich hasse Kondolenzbesuche. Ich fühle mich immer so hilflos dabei.
Bei den Hubers kam ich jedoch nicht in die Verlegenheit, mir irgendwelche hohle Phrasen abstottern zu müssen.
Ich hatte verweinte Augen und nasse Taschentücher erwartet. Anita Huber und ihr Sohn Gerd jedoch benahmen sich nicht im Mindesten, wie man es von trauernden Hinterbliebenen erwartet hätte. Sie gaben ein Bild stoischer Gelassenheit. Und kamen gleich zur Sache.
»Wann kriegen wir das Geld?«, fragte Anita Huber.
»So schnell geht es leider nicht. In solchen Fällen müssen die Untersuchungen abgewartet werden.«
»Welche Untersuchungen?«
»Erst muss die genaue Todesursache geklärt werden, dann erst kann der Totenschein ausgestellt werden. Und den Totenschein brauchen wir, damit die Versicherung ausbezahlt werden kann.«
Ich hasse es, im Angesicht des Todes über diesen nüchternen Formalienkram zu reden.
Aber bei Anita Huber musste ich mir keine Gedanken machen. Die Frau sah mich nur prüfend an.
»Die Sache ist doch klar, oder? Der Fritz war halt unvorsichtig«, sagte sie.
»Eben das muss untersucht werden«, erwiderte ich.
Ich konnte sie nicht einordnen. Sie musste früher mal hübsch gewesen sein, jetzt wirkte sie verhärmt. Bei meinen Besuchen hier im Hause war ich ihr selten begegnet. Alles Geschäftliche hatte der Huber-Bauer alleine geregelt, ganz, wie es die alte Rollenstruktur wollte. Die Gemahlin durfte nicht mal stumm dabeisitzen.
Ich startete einen Versuchsballon.
»Ihr Mann hatte mich für heute herbestellt. Wissen Sie, warum?«
»Nein.«
»Aber Sie wussten, dass ich kommen würde?«
»Nein.«
»Ihr Mann sagte was von der Lebensversicherung.«
Sie zuckte mit den Schultern. Nicht gerade mitteilsam, die trauernde Witwe. Übertroffen nur von ihrem Sohn. Der machte den Mund nämlich überhaupt nicht auf. Saß nur da und starrte mich an. Apathisch. Auf eigenartige Weise entrückt. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
Ich fuhr zurück nach Schwäbisch Hall. Fritz Huber ging mir nicht aus dem Kopf. Sollte das wirklich nur ein tragischer Unfall gewesen sein? Ich fragte mich, ob es auch nichttragische Unfälle gab.
Huber hatte eine hohe Lebensversicherung. Ungewöhnlich hoch für einen Bauern. Er wollte sie umschreiben lassen. Auch ungewöhnlich. Und kurz zuvor war er tödlich verunglückt. Noch ungewöhnlicher.
Ich war neugierig geworden. Und ein wenig misstrauisch. Ich beschloss, vorerst einmal nicht zu glauben, dass er einfach so vom Heuboden gestürzt war. Bis zum Beweis des Gegenteils.
Zur Entspannung joggte ich noch ein paar Runden durch den Park. Es half nicht viel. Huber joggte mit. Ich wollte es immer noch nicht glauben.
Kochen bringt mich immer auf andere Gedanken. Ich schaute im Kühlschrank nach. Nichts davon machte mich an. Gehen wir also essen, Herr Huber.
In der Innenstadt gibt es ungefähr sieben Restaurants, bei denen man sich nicht den Magen verrenkt. Schon von Berufs wegen sollte ich mich überall hin und wieder blicken lassen. Aber jeder hat so seine Vorlieben. Also ging ich auf einen Teller hausgemachte Kutteln in mein Stammlokal. Damals war das die »Sonne«, als die Familie Würtz noch Regie führte.
Normalerweise plauderte ich mit der Wirtin so ausgiebig, wie es der Restaurantbetrieb zu ließ. Wir tauschten den neuesten Klatsch und ereiferten uns über die Eskapaden der Stadtverwaltung. Aber an diesem Abend war ich ein maulfauler Gast. Ich saß in Hall, war in Gedanke jedoch in Hohenberg. Warum wollte Huber die Versicherung umschreiben? Und auf wen? Hatte das etwas mit seinem Tod zu tun? Oder war doch alles nur Zufall?
Ich würde keine Ruhe haben, bis ich die Antworten wusste. Und ich würde auch keine Ruhe geben, bis ich sie hatte.
Nach dem Essen brauchte ich noch einen Absacker. Ich sah mich in den Kneipen um, fand jedoch niemanden, dessen Gesellschaft mir nach so einem Tag genehm gewesen wäre. Bis ich schließlich auf meinen alten Kumpel Robert traf. Wir hatten fast alle Probleme der Menschheit gelöst, als man uns hinauswarf. Das ist die Tragik des Lebens. Es fehlt immer das letzte Bier zur endgültigen Lösung.
Ich machte mich auf den Heimweg. Die alte Stadt lag still und friedlich da. Es war eine klare, kalte Herbstnacht. Auf der Henkersbrücke schaute ich in die braunen Fluten des Kochers. Da jetzt hinunterfallen! Aber es war nur Wasser, kein Betonboden. Ich würde es überleben.
Außer mir war niemand in der Neuen Straße unterwegs. Für eine Stadt, die je nach Bedarf ihre erste Erwähnung auf das Jahr 1037, 1156 oder 1204 zurückführt, war die Straße tatsächlich noch neu.
Beim großen Stadtbrand von 1728 war ein Großteil der Altstadt abgefackelt. Wo das Feuer haltgemacht hatte, kann man heute noch sehen. Erhalten geblieben waren die mittelalterlichen Fachwerkbauten, den Rest hatte man barock neu erbaut.
Damals war auch die Neue Straße angelegt worden, als Brandschneise und als gerader, schneller Weg zum Löschwasser des Kochers.
Die Horde Jugendlicher, die sich vor der Disco am Hafenmarkt auf einen multikulturellen Dialog vorbereitete, hatte davon garantiert keine Ahnung. Die hatten andere Sorgen. Gleich würde die Schlägerei losgehen. Russen gegen Türken.
Das war nichts Ungewöhnliches hier. Ich machte, dass ich weiterkam.
Hauptkommissar Keller saß an seinem Schreibtisch und bemühte sich erfolgreich, einen miesepetrigen Eindruck zu machen. Es musste ihn ziemlich viel Mühe kosten, das Klischee vom griesgrämigen Kommissar zu kultivieren: schlecht gekleidet, schlecht rasiert, schlecht gelaunt. Jeder hat halt so seine Ticks.
Keller war Mitte fünfzig, hager, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen. Auf seine Art ein attraktiver Mann. Neuerdings trug er sein dichtes, graues Haar ganz kurz. Wenn er wollte, konnte er durchaus charmant sein. Meistens wollte er nicht. Heute schon gar nicht.
»Sie schon wieder«, brummte er.
Mein Verhältnis zu Keller war nicht eindeutig. Wir waren uns berufsbedingt bei ein paar Fällen über den Weg gelaufen und hatten uns halbwegs vertragen. Ich hatte sogar den leisen Verdacht, dass er mich ganz gut leiden konnte.
»Ich habe Sie doch nicht etwa aus Ihrem Beamtenschlaf geweckt?«, fragte ich so munter, wie es mir um diese Zeit möglich war.
»Sie haben mir einen schönen Mist eingebrockt«, knurrte Keller und linste über den Rand seiner Lesebrille zu mir.
Er schaute noch zerknautschter aus als sonst und kaute schon am frühen Morgen auf einem Zigarillo herum. Kein gutes Zeichen.
»Eine glasklare Geschichte. Aber ich muss meine Zeit verschwenden mit Vernehmungen und Protokollen«, schimpfte er. »Und warum?«
»Weil ich Sie irritiert habe?«, schlug ich vor.
»Weil Sie eine gottverdammte Eingebung hatten!«
»Na, dann will ich euch doch gerne an meinen göttlichen Eingebungen teilhaben lassen«, grinste ich.
Keller nahm mein Gequassel nicht ernst, aber sein Assistent sprang natürlich prompt an. Bergers Haltung zu mir war wenigstens klar. Er mochte mich ganz entschieden nicht. Das beruhte freilich auf Gegenseitigkeit.
»Dillinger, Ihre Meinung interessiert hier überhaupt nicht!«, herrschte er mich an.
So, so. Ein bloßes »Dillinger«, ohne ein »Herr« davor, wie das unter gebildeten und gesitteten Menschen üblich ist. Gut, Keller sprach mich auch so an. Aber Berger war nicht Keller.
»Ein Kerl muss eine Meinung haben, Bergerchen«, sagte ich ganz freundlich. »Haben Sie auch eine Meinung?«
»Von Ihnen schon!«, giftete er. »Sie sind nichts weiter als ein Klugscheißer.«
Hm. Darüber könnte man diskutieren. Aber nicht jetzt. Und nicht mit Berger.
Der Kerl war nur neidisch. Er war etwa so alt wie ich, sah aber lange nicht so gut aus. Klein und dick war er, mit strähnigen Haaren, seine Brille rutschte ihm ständig auf die Nase und das Hemd aus der Hose. Sie gaben ein göttliches Bild ab, er und Keller, wenn sie gemeinsam durch die Stadt trotteten.
»Und überhaupt, Chef«, sagte Berger zu Keller, »weiß ich nicht, was der Dillinger hier zu suchen hat.«
»Schon vergessen, Herr Berger«, sagte ich, wobei ich das »Herr« betonte, »dass der Dillinger so was wie ein Zeuge ist? Ich habe den Toten schließlich gefunden. Ich muss doch das Protokoll unterschreiben, das Sie sicher schon fertig haben. Aber bitte ohne Tippfehler diesmal.«
Berger starrte mich wütend an. Er war ja so leicht auf die Palme zu bringen.
»Fertig jetzt?«, fragte Keller ungerührt. »Dann zu den Fakten. Todeszeitpunkt ist klar, zwischen acht und zehn Uhr, genauer lässt er sich im Moment nicht eingrenzen. Wunde am Hinterkopf. Bei der eigentlichen Todesursache will sich die Gerichtsmedizin im Moment noch nicht eindeutig festlegen. Vielleicht ein Schlag auf den Schädel, möglicherweise eine Folge des Sturzes, von was immer der ausgelöst wurde.«
»Was gefunden?«
Er schüttelte den Kopf.
»Noch nichts. Wenigstens nichts, was als mögliche Tatwaffe in Betracht käme. Blutspuren am Rand der Luke, durch die er gefallen ist. Wahrscheinlich hat er sich beim Sturz angeschlagen.«
»Irgendeine Theorie?«
»Das Geländer oben auf dem Heuboden ist morsch. Vielleicht hat er sich dagegengelehnt, vielleicht ist er ausgerutscht.«
»Oder er ist dagegengesprungen«, gab ich zu bedenken.
Berger mischte sich ein: »Ein als Unfall kaschierter Selbstmord? Wozu das denn?«
»Doppelte Versicherungssumme bei Unfall. Reine Fürsorge. Man tut ja alles für seine Lieben«, sagte ich.
»Das ist doch Blödsinn!«, fuhr Berger auf. »Dillinger, Sie haben eine krankhafte Phantasie!«
»Ei forbibbsch! Wänn’s um dä Mäbbse gäht!«, sagte ich spöttisch.
Berger lief rot an. Er war ein Wendeimport aus Sachsen, der sich krampfhaft bemühte, hochdeutsch zu reden. Ein aussichtsloses Unterfangen. Er mochte es gar nicht, wenn man ihn damit hänselte.
Keller wiegte bedächtig den Kopf.
»Ko scho sei«, sagte er. »Älles scho do gwest.«
Er war auch nicht von hier. Aber als Schwabe von der Ostalb, sozusagen als landsmannschaftlicher Vetter, hatte er einen Bonus. Außerdem: Er konnte Hochdeutsch. Und sprach es auch meist.
Er wechselte wieder in die Amtssprache. »Wir können derzeit jedenfalls kein Verdachtsmoment ausschließen.«
Das Wort »Verdachtsmoment« hörte ich gerne. Es bedeutete, dass der Kommissar die Akte noch nicht geschlossen hatte.
»Was weiß man über den Tathergang?«, fragte ich.
»Vorerst gibt es noch keinen Tathergang, sondern nur einen Todesfall, dessen Ursache wir untersuchen«, belehrte er mich.
»Es war ein Unfall, nichts weiter«, sagte Berger.
»Das glaube ich vorerst mal noch nicht«, erwiderte ich.
»Und warum nicht?«, wollte Berger wissen.
»Sagt mir mein Gefühl.«
»Pah!« Berger plusterte seine Pausbäckchen auf. »Gefühl!«
»Mit dem Wort können Sie nichts anfangen, gell?«
Keller bot mir seine Thermoskanne an. Ich lehnte dankend ab. Wenn ich etwas hasse, dann ist es Kamillentee. Keine Ahnung, weshalb er den trank. Vielleicht half er bei der Ausnüchterung.
Keller konsultierte seine Notizen.
»Also zum Hergang. Gesehen oder gehört hat natürlich niemand etwas. Die Nachbarn waren im Stall oder sonst wo beschäftigt. Ach ja, der Viehhändler war im Dorf, ein gewisser …« Er blätterte in seinen Unterlagen. »… ein gewisser Norbert Czichon. Der war übrigens auch bei Huber. Er hat ihn im Stall nicht gefunden, hat am Haus geläutet, aber keiner hat aufgemacht. Dann ist er wieder gegangen.«
»Sagt er.«
»Sagt er. Irgendwelche Zweifel?«
»Es kommt mir seltsam vor. Ich habe ja auch in der Scheune nachgeschaut, als ich Huber nirgends gefunden habe.«
Keller dachte nach. »Vielleicht hatte er es eilig. Vielleicht war es ihm nicht so wichtig. Er kommt ja regelmäßig vorbei. Und er hatte keinen festen Termin mit Huber.«
»Wann war er bei Huber?«
»Nach seiner Aussage zwischen neun Uhr und halb zehn. Genauer weiß er’s nicht.«
»Da war Huber vermutlich schon tot. Hat den Viehhändler jemand gesehen?«
»Im Dorf ja, bei Huber nein.«
»Was ist mit der Frau und dem Sohn?«
»Alle drei waren wie üblich im Stall. Von sechs bis etwa halb acht. Danach haben sie gemeinsam gefrühstückt. Wie jeden Morgen. Frau und Sohn haben sich umgezogen und sind gegen halb neun nach Schwäbisch Hall gefahren. Einkaufen. Huber ging nicht mit. Was er auf dem Hof vorhatte, wussten sie nicht. Sie haben ihn zuletzt gesehen, als er in die Scheune ging. Er wollte Heu hinunterwerfen. Sagen sie.«
»Wozu er aber nicht mehr kam.«
»Richtig. Auf dem Scheunenboden lag kein Heu.«
»Das grenzt den Todeszeitpunkt zumindest ein, wenn die Hubers um halb neun weggefahren sind.«
Keller schüttelte den Kopf.
»Seit dem Frühstück haben sie den Huber nicht mehr gesehen.«
Ich blieb hartnäckig.
»Andersherum: Es könnte gleich nach dem Frühstück passiert sein, weil er nicht mehr dazu kam, das Heu hinunterzuwerfen.«
»Muss nicht so sein. Wer weiß, was er sonst noch getan hat?«
»Was ist mit einem Motiv?«
»Das einzige Motiv, das ich bisher sehe, haben Sie ins Spiel gebracht. Das mit der Lebensversicherung hat mich stutzig gemacht. Kommt es häufiger vor, dass die Ehefrau als Begünstigte gestrichen wird?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Habe ich noch nie erlebt. Außer nach einer Scheidung.«
»Stand da bei den Hubers etwas an?«
»Keine Ahnung. Aber besonders mitgenommen haben Frau und Sohn auf mich nicht gewirkt.«
Ich erzählte von meinem kurzen Gespräch mit den so eigenartig gefassten Hinterbliebenen. Mein Eindruck deckte sich mit dem von Keller.
»Haben Sie die Hubers danach gefragt?«, wollte ich wissen.
Keller tat unschuldig: »Noch nicht.«
Ich merkte, worauf es hinauslief.
»Haben Sie sich im Dorf schon umgehört?«, fragte Keller nun mich wie beiläufig.
Nun spannte es auch Berger.
»Chef, das ist aber nicht in Ordnung, dass der Dillinger sich da einmischt!«, protestierte er.
Keller und ich schauten uns an. Kellers Gesicht war undurchdringlich, ich grinste.
»Rein professionell, Berger«, sagte ich. »Schließlich geht es um meine Versicherung.«
»Gudden Daach, de Härrn«, verabschiedete ich mich in meinem besten Sächsisch. Es war genauso grauenhaft wie Bergers Hochdeutsch.
***
Im Büro duftete es nach Räucherstäbchen. Sonja legte die Handflächen aneinander und verbeugte sich.
»Namaste«, sagte sie.
Meine Partnerin sah umwerfend aus wie immer. Ich hätte mich jeden Morgen neu in sie verlieben können. Mit ihren zweiunddreißig Jahren hatte sie auch genau das richtige Alter dazu. Sie war einfach zum Anbeißen. Ein geschmeidiger, sportlicher Körper. Außerdem war sie blitzgescheit, ungeheuer tüchtig, ausnehmend hübsch und leider unbelehrbar lesbisch.
War vielleicht besser so fürs Betriebsklima.
Sonja war derzeit auf dem Indientrip. Das war so, seit sie im hiesigen »Indian Forum« eine Ayurveda-Behandlung ausprobiert und dabei ein nettes Mädchen kennengelernt hatte. Tatsächlich, das gibt es in Schwäbisch Hall, ein »Indian Forum«. Sogar mit echten Indern, Restaurant, Yoga, Ayurveda und diesem ganzen Zeugs. Wir sind halt weltläufig, wir Hohenloher.
Seitdem trug sie im Büro einen seidigen Hauch von Etwas. Türkisfarbene Pluderhosen, darüber eine Art geschlitzten Rock. Ein enges, kurzärmeliges Oberteil aus demselben Stoff, das den Bauch frei ließ, einen flachen, harten Bauch übrigens. Sie sah aus wie eine Tempeltänzerin.
Es stand ihr gut.
Sie hatte schon die Zen-Phase hinter sich mit ausgiebigen Meditationen, einen Rückfall in die Hippie-Ära mit wallenden Gewändern und Zöpfchen im Haar und ebenso die vegane Periode, die mich allerdings zutiefst verstört hatte: Wie kann man von Gemüse allein glücklich werden?
Irgendwie war das alles hormongesteuert und hing mit ihren jeweiligen Partnerinnen zusammen.
Das war schon in Ordnung so. Nur hatte sie sich diesmal die falsche Jahreszeit ausgesucht. Wir mussten die Heizung schon ganz schön hochdrehen. Hoffentlich legte sich dieser Fimmel wieder, bis der Winter kam.
Ich erzählte ihr von Huber. Sie hatte schon die kurze Notiz in der Zeitung gelesen, ohne zu wissen, dass es uns betraf. Natürlich war kein Name genannt worden.
Normalerweise hätte sich Sonja jetzt an den ganzen Formularkrieg gemacht. Zuverlässig und schnell wie immer. Ich bat sie, damit noch zu warten.
»Da ist etwas faul. Es war vielleicht wirklich nur ein Unfall. Es könnte aber auch ein Mord gewesen sein«, sagte ich.
»Und wenn schon«, sagte Sonja. »Mord ist auch ein Unfall. Zahlen müssen wir so oder so, das weißt du genau.«
»Nicht wenn der Begünstigte der Mörder ist.«
Sie sah mich überrascht an.
»Mal wieder auf dem Kriegspfad?« Ich sah ein wohlbekanntes Glitzern in ihren grünen Augen. »Nun erzähl schon«, sagte sie.
Und ich erzählte, wie ich den Toten gefunden hatte, berichtete von meinem Gespräch mit Keller und dem seltsamen Verhalten der beiden Hubers.
»Hast du sie allen Ernstes im Verdacht?«, fragte Sonja.
Ich zuckte mit den Achseln.
»Ich will einfach wissen, was passiert ist. Irgendwo müssen wir ja anfangen.«
»Was wissen wir über die Hubers?«, fragte Sonja.
Ich fuhr meinen Computer hoch und öffnete unsere interne und höchst geheime Datenbank, in der wir alle Fakten, vor allem aber Klatsch und Tratsch über bestehende und potenzielle Kunden sammeln.
Ich druckte den Datensatz in zwei Exemplaren aus und gab eines davon Sonja. Sie hatte mittlerweile einen Ayurveda-Tee aufgegossen. Er schmeckte furchtbar.
***
Fritz Huber war siebenundfünfzig Jahre alt geworden. Er stammte aus dem Dorf. Sozusagen alter Adel. Seine Vorväter waren seit Urzeiten hier ansässig und hatten sich im Laufe der Zeit zu den größeren Bauern emporgearbeitet. Zwei jüngere Schwestern waren ausbezahlt worden. Die eine war, wie praktisch, mit einem Landwirtschaftsmechaniker verheiratet, von der anderen wusste ich nichts.
Anita Huber war sechs Jahre jünger und die Tochter eines Kleinbauern aus dem Nachbardorf. Außer ein paar mageren Äckern hatte sie vermutlich nicht viel in die Ehe eingebracht.
Sie hatten für dörfliche Verhältnisse spät geheiratet, er mit zweiunddreißig, sie mit sechsundzwanzig, und bei der Hochzeit musste Anita unübersehbar im sechsten Monat gewesen sein. Ihr Sohn jedenfalls kam drei Monate nach der Hochzeit zur Welt.
Das war keine Schande, und deshalb wurde auch kein Geheimnis daraus gemacht. Zu jenen Zeiten heiratete man aus genau diesem Grund oder weil auf einen Hof eben eine Bäuerin gehört. Möglichst eine, die was mitbrachte. Liebe stellte sich automatisch ein. Oder auch nicht.
Manchmal wurde die Zukünftige vermutlich auch auf ihre Gebärfähigkeit getestet. Schließlich braucht ein Hof Nachfolger. Und Arbeitskräfte.
Gerd, der Heiratsgrund, war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt. Dann musste es im Hause Huber dieses Jahr ja eine Silberhochzeit gegeben haben, fiel mir auf. Ich hätte gratulieren sollen.
Soweit ich es mitbekommen hatte, verstanden sich Vater und Sohn nicht besonders. Aber das war ja nun keine Seltenheit.
So viel also wussten wir. Mehr würde ich bestimmt von den Nachbarn erfahren.
Als Versicherungsvertreter ist man für seine Stammkunden auch so etwas wie ein Beichtvater. Nach dem Arzt. Und vor dem Pfarrer. Die Leute brauchen jemanden, dem sie von ihren Kümmernissen erzählen können. Und nach Hubers Todessturz würde die Gerüchteküche brodeln.
»Na, dann schwing dich mal auf nach Hohenberg«, sagte Sonja.
Ich schüttelte den Kopf und seufzte.
»Das muss bis morgen warten. Ich habe heute Nachmittag einen anderen Termin.«
Sie verstand. Ihr Grinsen hätte ich im günstigsten Fall als anzüglich bezeichnet. Vielleicht auch als hämisch. Mitleidig war es auf keinen Fall.
Ich ging.
Zur Stärkung genehmigte ich mir im Eiscafé gegenüber noch einen Sgropino.
***
Mein Liebesleben lässt sich kurz und bündig mit einem Wort beschreiben: chaotisch. Das derzeitige Chaos hieß Helena, war zweiundzwanzig, sah süß aus, wenngleich die Eltern bei der Namenswahl doch etwas zu optimistisch gewesen waren, und hatte einen erfreulich üppigen Busen. Uns hatte die Not zusammengebracht. Sie arbeitete bei der Bausparkasse – ein Kleinstadtkind aus Heilbronn, das es erst vor kurzem nach Schwäbisch Hall verschlagen hatte und das noch dabei war, sich einen Freundeskreis aufzubauen. Sie war allein, und ich war’s derzeit auch wieder mal. Und als Mann von sechsunddreißig hat man auf dem Single-Markt nicht mehr unbedingt die große Auswahl. So trösteten wir uns gegenseitig. Es war nett, aber auch nicht mehr.