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Eine Frau, die erschlagen im Einkornwald gefunden wurde, gibt dem Ermittlerduo Annalena Bock und Karlheinz Dobler vom Kommissariat Schwäbisch Hall Rätsel auf. Offenbar war sie Expertin für IT-Sicherheit. Den Kommissaren wird schnell klar, dass die Tote ein Geheimnis umgibt, das diese unter allen Umständen bewahren wollte. Der Fall wird umso mysteriöser, je mehr sich Bock und Dobler in die Cyberkriminalität einarbeiten. Wer war diese Frau wirklich? Was hat sie im Schilde geführt? Und wem ist sie dabei auf die Füße getreten?
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Seitenzahl: 336
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Rudi Kost
Hohenloher Doppelpack
Kriminalroman
Tod im Einkornwald Sie sind ein ungleiches Duo: die temperamentvolle Annalena Bock, die Großstadtpflanze, frisch (und nicht freiwillig) aus Köln versetzt, und der behäbige Karlheinz Dobler, der nach der Arbeit mit Leidenschaft auf dem Bauernhof der Familie arbeitet. Gemeinsam löst das neue Ermittlerteam vom Kommissariat Schwäbisch Hall die kniffligsten Fälle. Doch bei diesem Mord stehen sie vor einem Rätsel: Wer ist die Frau, die erschlagen im Einkornwald gefunden wurde? Ihren Namen bringen sie zwar schnell in Erfahrung, dennoch bleibt die Tote eigenartig profillos. Offenbar war sie sorgsam darum bemüht, ihre wahre Identität zu verschleiern und eine Fassade aufzubauen, hinter der sie sich verstecken konnte. Als gefragte Expertin im IT-Sicherheitsbereich hatte sie sich einen guten Ruf erarbeitet. Als Bock und Dobler auf Fälle von Cyberkriminalität stoßen, nehmen die Ermittlungen Fahrt auf. Allmählich schält sich heraus, was die Tote tatsächlich im Schilde führte. Doch der beste Plan stößt an seine Grenzen, wenn Gefühle übermächtig werden.
Rudi Kost, in Stuttgart geboren, ist gelernter Journalist, war viele Jahre Redakteur bei Tageszeitungen, unter anderem als Ressortleiter Feuilleton, und arbeitet seit langem als freier Autor und Herausgeber. Er hat Hörfunkfeatures, Schulfunkserien, Hörspiele, PC-Fachbücher und vieles mehr veröffentlicht. Zudem leitete er den von ihm mitbegründeten Koval Verlag für Reiseliteratur und schrieb selbst etliche Reiseführer. Seine Krimiserie um den Versicherungsvertreter Dillinger spielt in Schwäbisch Hall und Umgebung. Mit dem Ermittlerduo Annalena Bock und Karlheinz Dobler wird ein neues Kapitel in der literarischen Krimi-Landschaft Hohenlohe aufgeschlagen. Der Autor lebt in einem kleinen Dorf bei Schwäbisch Hall.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Jenzig71 / photocase.de
ISBN 978-3-8392-7314-2
Gefunden wurde die Leiche von einem Wagen des Polizeipostens Obersontheim, der gerade auf Streife war. Und das kam so.
Polizeimeister Richard Reinhold und Polizeihauptmeister Reinhold Pichler hatten ihren letzten Einsatz hinter sich und saßen nun erschöpft in ihrem Streifenwagen auf dem Parkplatz eines Supermarktes in Obersontheim.
Es war an einem Dienstag um 11.30 Uhr, ein akzeptabler Frühherbsttag im September. Tags zuvor hatte es geregnet, jetzt zeigte sich wieder die Sonne zwischen den Wolkenfetzen, die über den Himmel jagten, pfeilgerade aus Westen.
»Mann, Mann, Mann!«, sagte Reinhold. »Diese Hektik macht mich total fertig.«
»Du kannst dich gar nicht mehr sammeln«, pflichtete ihm Pichler bei. »Es geht Schlag auf Schlag. Ein verdammtes Ding nach dem anderen. Du weißt nicht mehr, wo dir der Kopf steht.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Reinhold apathisch.
»Jetzt machen wir erst einmal Mittagspause.«
»Ist das nicht noch etwas bald?«
»Die haben wir uns verdient. War ein anstrengender Vormittag.«
»Kann man sagen. Vier Strafzettel wegen Falschparkens!«
»Davon einmal im strikten Halteverbot, das kommt erschwerend hinzu.«
»Zwei Blechschäden auf dem Supermarkt-Parkplatz.«
»Auf zwei verschiedenen Supermarkt-Parkplätzen, wohlgemerkt.«
»Mann, Mann, Mann, war heute wieder was los!«
»Was uns Streifenbeamten zugemutet wird, darüber machen sich die Herrschaften auf ihren Schreibtischstühlen keine Vorstellung.«
»Diese hohe Konzentration auf Streife.«
»Auge in Auge mit dem Verbrechen.«
»Dem potenziellen.«
»Poten- was?« Reinhold schaute seinen Kollegen verständnislos an.
»Ein mögliches Verbrechen. Du siehst das denen ja nicht an. Das heißt, dass du immer auf alles gefasst sein musst. Eine Sekunde nicht voll konzentriert, und schon haben sie dich.«
»Was du für Wörter kennst!«
»Deswegen bin ich auch Polizeihauptmeister und du nicht. Holen wir uns was zum Essen.«
Aufgrund seiner Körpermasse hatte Pichler üblicherweise Mühe, sich aus dem Streifenwagen zu winden, was sich nur unter viel Gestöhne bewerkstelligen ließ. Wenn es ums Essen ging, zeigte er allerdings eine erstaunliche Behändigkeit.
Sie gingen auf die Vespertheke des Bäckers zu, Pichler vorneweg. Gravitätisch und hoch erhobenen Kopfes schritt er aus, sich seiner Stellung wohl bewusst. Schließlich war er die Staatsgewalt.
Er orderte vier Leberkäsweckle, ohne Senf, der kleckerte immer so. Reinhold begnügte sich mit einem Schnitzelburger.
Pichler sah ihn misstrauisch an. »Von diesem Appetithäppchen willst du satt werden?«
»Ich muss auf meine Linie achten«, verteidigte sich Reinhold. »Den ganzen Tag im Streifenwagen hocken oder am Schreibtisch, das ist nicht gut.«
Pichler schüttelte den Kopf. Diese jungen Leute von heute! Reinhold brachte, grob geschätzt, etwa 80 Kilo auf die Waage. In Pichlers Augen war das hart an der Grenze zur Magersucht.
»Fehlt noch, dass du ins Sportstudio gehst«, sagte er.
»Ich habe schon ernsthaft darüber nachgedacht.«
»Nutzlose Plackerei! Und es stinkt. Wenigstens gibt’s heiße Weiber dort.«
Reinhold musterte seinen adipösen Kollegen. »Das weißt du aber nicht aus eigener Erfahrung, oder?«
»Man kriegt so einiges mit, wenn man schon so lange Streife fährt wie ich.«
Bepackt mit ihrem kleinen Snack, wie Pichler das nannte, gingen sie zu ihrem Wagen und stiegen ein.
»Wo stellen wir uns hin?«, fragte Reinhold.
»Wie immer. Fahr in den Einkornwald hoch. Irgendein Seitenweg.«
»Das ist aber noch weit.«
»Wir haben Zeit. Nur keine Hetze, sage ich immer, das macht krank, Herzinfarkt und so.«
»Ich habe aber keine Lust, dort hochzufahren.«
»Herr Polizeimeister, das ist eine dienstliche Anordnung!«
»Jawohl, Herr Polizeihauptmeister.«
»Du weißt, dass ich meine Pause gern in Ruhe mache. Und unbeobachtet.«
Reinhold wusste das, und er wusste auch warum. Nach dem Essen pflegte PHM Pichler seinen Kopf nach hinten zu legen und war im Nu weggeratzt, sein Schnarchen war kilometerweit zu hören. Er konnte das nicht, und das ärgerte ihn jedes Mal.
Gemächlich zockelten sie hinter einem SUV her, der sich ätzend genau an alle Geschwindigkeitsbeschränkungen hielt, als er gewahr wurde, dass hinter ihm ein Streifenwagen fuhr.
Der erste Kreisverkehr, der zweite, und dann die Ortsdurchfahrt.
»Hast du das gesehen?«, fragte Reinhold. »Der ist rechts abgebogen, ohne zu blinken.«
»Wird wohl sein Blinker nicht tun.«
»Ha! Das gibt ein nettes Knöllchen.«
»Nein. Wir haben Mittagspause. Wir sind sozusagen gar nicht im Dienst.«
Reinhold grummelte. Er verteilte für sein Leben gern Strafzettel. »Ein Polizist ist immer im Dienst.«
»Du hast jetzt die einmalige Gelegenheit, von den Erfahrungen eines älteren Kollegen zu profitieren, der schon fast 30 Dienstjahre hinter sich hat«, erwiderte Pichler und gähnte. »Manchmal muss man auch großzügig sein. Ein Auge zudrücken. Du musst auch an das Image unseres Berufsstandes denken. Dein Freund und Helfer.«
Der SUV vor ihnen achtete peinlich darauf, immer zehn Stundenkilometer unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit zu bleiben.
»Das macht der doch mit Absicht«, sagte Reinhold.
»Natürlich macht der das mit Absicht. Der will uns ärgern.«
»Soll ich ihn nicht doch anhalten? Fahrzeugkontrolle?«
»So viel Aufwand nur wegen einem solchen Lahmarsch? Schalt die Beleuchtung ein und gib Gummi, wir haben einen Einsatz.«
»Welcher Einsatz?«
»Unser Pausenbrot wartet.«
Pichler grinste, und Reinhold grinste zurück. Dann schaltete er Blaulicht und Sirene ein und zog an dem SUV vorbei.
Hinter Herlebach ging es hoch in den Wald, der erste Seitenweg kam.
»Hier?«, fragte Reinhold.
»Gefällt mir nicht. Weiter!«
Im zweiten Pfad stand schon ein Auto, aber irgendwann hatten sie eine Stelle gefunden, die Pichler genehm war.
»Dir ist schon klar, dass wir die Obersontheimer Gemarkung schon lange hinter uns gelassen haben?«, sagte Reinhold. »Wir wildern sozusagen in einem fremden Revier.«
»Na und? Wir wollen hier ja keine Mörder fangen, sondern nur in Ruhe Mittagspause machen.«
Sie packten ihr Mittagessen aus der Alufolie und mampften schweigend. Pichler war als Erster fertig. Er wuchtete sich aus dem Streifenwagen und sagte: »Jetzt muss ich erst mal pinkeln.«
Er schlug sich in den Wald. Er war wählerisch und nahm nicht jeden Baum. Eine alte Eiche fand schließlich Gnade vor seinen Augen. Der Eiche war das egal. Im Laufe ihres langen Lebens hatte sich schon manche Sau an ihr gerieben, jetzt kam es auch nicht mehr darauf an.
Gab es Schöneres, als sich in der freien Natur zu erleichtern und dabei dem Vogelgezwitscher zu lauschen?
Pichler strullerte genüsslich, pfiff laut und falsch vor sich hin und ließ seinen Blick schweifen, nach oben in die Baumwipfel, nach links in den Wald, nach rechts in den Wald. Und dann sah er sie.
»Heilige Scheiße!«, rief er.
Sein Strahl versiegte abrupt. Er griff nach seiner Pistolentasche und bekam sie nach dem dritten Versuch auch sofort auf. Er entsicherte die Waffe, denn was nützte eine Pistole, die nicht entsichert war, allerdings war er so nervös, dass sie ihm aus der Hand glitt. Ein Schuss löste sich und hallte dumpf durch den friedlichen Wald. Für einen Moment verstummte das Vogelgezwitscher und setzte dann umso stärker wieder ein. Die alte Eiche war kurz irritiert und schüttelte sich dann. Auch das würde sie überleben.
Reinhold kam angerannt. »Hast du geschossen? Was ist los?«
Das war jetzt peinlich. Über jeden Schuss, der aus einer Dienstwaffe abgefeuert wurde, musste Rechenschaft abgelegt werden. Pichler brauchte ganz schnell eine Geschichte, bei der er auch bleiben konnte.
»Da war ein Schatten«, stotterte er schließlich.
»Was für ein Schatten?«, fragte Reinhold verständnislos.
»Der Mörder.«
»Welcher Mörder?«
Stumm wies Pichler zwischen die Bäume.
»Oh nein!«, stöhnte Reinhold. Dann drehte er sich um und erbrach sich.
Dabei war der Anblick gar nicht so arg schlimm. Es handelte sich um eine junge Frau, die da auf dem Bauch lag und eigentlich ganz hübsch war, soweit sie das beurteilen konnten. Abgesehen natürlich von der blutverkrusteten Stelle an ihrem Hinterkopf.
Nun ja, es war die erste Leiche, mit der Polizeimeister Reinhold konfrontiert war, insofern musste man Nachsicht mit ihm haben.
Er wischte sich den Mund ab. »Und was machen wir jetzt?«, fragte er nervös, wobei er darauf achtete, mit dem Rücken zu ihrem Fundstück zu stehen.
»Nichts.«
»Wieso nichts?«
»Wir sind eindeutig nicht mehr auf der Obersontheimer Gemarkung, hast du selbst gesagt. Die Leiche fällt nicht in unsere Zuständigkeit.«
»Aber das müssen wir doch …«
Pichler pumpte sich zu seinen 112 Kilo polizeihauptmeisterlicher Autorität auf, womit er noch fast jeden Randalierer beeindruckt hatte.
»Hast du eine Ahnung, was los ist, wenn wir das melden? Wir müssen jede Menge dumme Fragen beantworten, wir müssen haufenweise bescheuerte Formulare ausfüllen und Berichte schreiben. Und wir müssen hier warten, bis die Herrschaften von der Kripo auftauchen, und das kann dauern.«
Was im Klartext hieß, dass er sich sein Mittagsschläfchen abschminken konnte.
»Aber …«, fing Reinhold an. Dann wurde er still und lauschte.
»Hörst du das auch?«, fragte er leise.
»Ich höre nichts«, erwiderte Pichler und bemühte sich krampfhaft, nichts zu hören. Aber es war nicht zu überhören. Hundegebell. Das immer näher kam.
»Er kommt«, flüsterte Pichler.
»Wer kommt?«, fragte Reinhold.
»Der Mörder natürlich.«
»Welcher Mörder?«
»Der Mörder kommt immer an den Ort seines Verbrechens zurück, merk dir das.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Wir verstecken uns hinter den Bäumen. Du machst gar nichts, ich mache.«
Der Hund brach durch das Unterholz, hielt kurz inne und betrachtete die zwei Männer hinter den Bäumen, fand sie allerdings nicht besonders spannend und beschnüffelte die Leiche.
Hinter einem der Bäume würgte es.
Aber PHM Pichler war ganz ruhig geworden. Eiskalt überlegte er. Wo ein Hund war, war sein Herrchen nicht weit, und dann hatte er ihn, den Mörder.
Und da war er auch schon, schwer atmend kam er seinem Hund hinterhergerannt.
Pichler trat hinter seinem Baum hervor, die Waffe beidhändig von sich gestreckt, wie er das mal gelernt hatte.
»Halt! Polizei! Keine Bewegung oder ich schieße! Hände hoch!«
»Was denn nun?«, fragte der Mann. »Keine Bewegung oder Hände hoch?«
Als Karlheinz Dobler und Annalena Bock am Tatort eintrafen, präzise: am Fundort der Leiche, denn noch war nicht klar, was eigentlich Sache war, herrschte dort das übliche Treiben. Der Fundort war mit weiß-rotem Band abgesperrt, überall wuselten Menschen herum und waren beschäftigt.
»Was haben wir?«, fragte Dobler einen der Uniformierten.
»Weibliche Leiche, etwa 35, keine Papiere, kein Handy, nur ein Autoschlüssel.«
»Habt ihr das Auto schon gefunden?«
»Wir suchen noch.«
Dobler ging neben der Leiche in die Hocke und studierte sie aufmerksam. Schlank, sportliche Figur. Sie trug Jogging-Kleidung.
Der großflächige Wald um den Einkorn, den Haller Hausberg, war ein beliebtes Naherholungsgebiet, so hatte es Dobler auf der Fahrt hierher Annalena erklärt, und Schauplatz vielfältiger sportlicher Aktivitäten. Jogger sah man häufig ihre Runden ziehen, eine Frau in Jogging-Kleidung war insofern kein ungewohnter Anblick. Die nicht so Sportlichen begnügten sich mit einem Aufstieg auf den Aussichtsturm auf dem Einkorn selbst. Das war anstrengend genug, aber zum Glück gab es am Kiosk ein Bier.
»Fantastischer Rundblick«, sagte er. »Bei gutem Wetter bis zur Schwäbischen Alb.«
»Soso«, war Annalenas Kommentar dazu.
»Der übliche stumpfe Gegenstand«, stellte Dobler nun fest. »Kann es ein Ast gewesen sein? Liegen ja genügend Äste herum.«
Das könnte durchaus möglich sein, erklärte einer der Kriminaltechniker, das musste eine nähere Untersuchung zeigen. Ein Ast, der als Tatwaffe in Betracht kam, war jedenfalls noch nicht gefunden worden. Aber sie suchten weiter, klar.
»Wann?«, fragte Dobler.
Gestern am späten Nachmittag, auf alle Fälle, nachdem der Regen aufgehört hatte, sonst wären die Kleider nass. Irgendwann zwischen 17 und 20 Uhr nach einer ersten groben Schätzung, die Obduktion würde, wie üblich, Genaueres ergeben.
»Habt ihr schon irgendwelche brauchbaren Spuren?«, schaltete sich Annalena Bock ein.
»Spuren jede Menge«, antwortete der Mann von der Spusi, »aber keine brauchbaren bisher. Hier sieht’s aus, als sei eine ganze Wildschweinherde herumgetrampelt.«
Er bekam einen träumerischen Blick. »Dabei habe ich mich richtig darauf gefreut. Ideale Bedingungen. Der leichte Regen gestern Nachmittag, aber nicht zu heftig, so schöne Fußspuren findest du selten. Aber nein, alles zertrampelt.«
»Ein Kampf?«
»Sieht nicht so aus. Nur Idiotie.«
»Kollegen haben die Leiche gefunden, wurde uns gesagt.«
»Dort drüben.«
Die beiden unfreiwilligen Entdecker der Leiche hatte man hinter das Absperrband verbannt, wo sie ungeduldig und sichtlich nervös warteten, bis sich jemand um sie kümmerte.
»Ach nee!«, sagte Dobler. »Ausgerechnet die zwei!«
Annalena Bock sah ihn fragend an. »Du kennst sie?«
»In Kollegenkreisen als ›Reinhold & Reinhold‹ oder ›Plisch & Plum‹ bekannt. Oder besser, berüchtigt. Das wird ein Spaß! Knöpfen wir uns die beiden Helden mal vor.«
Doch bevor sie dazu kamen, wurden sie von einem Kriminaltechniker gerufen. »Schaut euch das mal an.«
Er kniete vor der alten Eiche. »Ein Einschuss. Ganz frisch. Und das hier«, er deutete darauf, »ich möchte wetten, da hat einer gepinkelt.«
»Gendergerecht bitte!«, sagte Dobler. »Neben dir steht eine emanzipierte Frau.«
»Zeig mir die Frau, die an einen Baum pinkelt«, sagte Annalena Bock.
Dobler kniete sich nieder. »Merkwürdiger Einschusswinkel. Hat da einer Mäuse gejagt?«
Er erhob sich wieder, stellte sich vor den Baum und schaute prüfend um sich. »Ich habe eine ungefähre Ahnung, was da gelaufen ist.«
Der Techniker grinste. »Plisch & Plum?«
»Das Leben kann manchmal grausam sein.«
Dann endlich waren Richard Reinhold und Reinhold Pichler an der Reihe. Reinhold & Reinhold, Plisch & Plum.
Angriff ist die beste Verteidigung, sagte sich Pichler und polterte los, als die beiden Kommissare zu ihnen traten. »Wie lange wollen Sie uns eigentlich hier noch festhalten? Wir müssten schon längst wieder auf Streife sein.«
»Tach, die Herren«, sagte Dobler unbeeindruckt. Er wies auf Annalena. »Ihr kennt sie noch nicht, Kriminalhauptkommissarin Annalena Bock. Schön brav sein, sie beißt manchmal.«
Annalena wollte schon aufbrausen, hielt sich aber zurück. Erst mal sehen, worauf das hinauslief.
Pichler grinste sie an. »Neu hier, was?«
»Neu hier, ja«, sagte Dobler, »aber ein alter Hase.«
»Häsin«, sagte Annalena.
»Ich bin Kriminalhauptkommissar Karlheinz Dobler. Aber wir kennen uns ja, nicht wahr?«
Reinhold & Reinhold nickten. Ihren Mienen nach war das ein Wiedersehen, auf das sie gern verzichtet hätten.
»Na, dann erzählt mal«, sagte Dobler gemütlich.
»Was gibt es da viel zu erzählen?«, brauste Pichler auf. »Wir waren auf Streife und haben die Leiche halt gefunden.«
»Wir sind sozusagen über sie gestolpert«, ergänzte Reinhold. »Also er, sozusagen.« Er wies auf Pichler.
»Auf Streife, soso. Mitten im Wald.«
»Man muss sich ja auch mal die Füße vertreten«, verteidigte sich Pichler.
»Nicht mehr ganz euer Revier hier, oder?«
Pichler stellte sich dumm. »Tatsächlich? Darauf haben wir gar nicht geachtet. Immerhin haben wir die Leiche gefunden, wer weiß, wie lange sie sonst noch dort gelegen hätte.«
»Sehr löblich, Herr Pichler«, nickte Dobler. »Habt ihr irgendwas beobachtet?«
»Nein«, sagten beide wie aus einem Munde.
»Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«
»Nein«, sagte Pichler.
Reinhold trat von einem Bein aufs andere, als müsste er mal dringend. »Er musste einen Schuss abgeben«, platzte er heraus.
»Oijoijoi, einen Schuss! Warum das denn, Herr Pichler?«
Pichler war anzusehen, dass er seinen Kollegen am liebsten ungespitzt in den Boden gerammt hätte.
»Ich habe etwas gesehen«, antwortete er mit verbissener Miene. »Einen Schatten.«
»Aha, einen Schatten. Können Sie den näher beschreiben?«
»Nein.«
»Aber Sie haben auf ihn geschossen.«
»Eine blitzschnelle Reaktion. Wie wir das gelernt haben.«
»Brav, brav, Herr Pichler. Und Sie haben sogar einen Verdächtigen verhaftet, wie ich gehört habe.«
»›Verhaftet‹ ist nicht ganz richtig«, sagte Reinhold. »Festgehalten.«
»Mit Handschellen.«
»Nicht dass er uns noch stiften geht.«
»War das der Schatten, den Sie gesehen haben, Herr Pichler?«
»Könnte sein«, sagte Pichler. Und dann ritt ihn der Teufel. »Aber das herauszufinden, ist ja wohl Aufgabe der Kripo.«
»Und die wird es herausfinden, keine Bange«, sagte Dobler, immer noch in aller Gemütsruhe. »Wer ist denn der Verdächtige, den ihr – festgesetzt habt?«
»Der Waldschrat dort.« Pichler deutete auf einen kleinen, dicken Mann, der mit dem Rücken zu ihnen mit einem Uniformierten sprach. Zu seinen Füßen saß brav ein Hund.
»Aha«, sagte Dobler. »Sonst noch etwas, was ihr mir sagen müsst?«
Reinhold & Reinhold schüttelten den Kopf.
Dobler war mit seinen knapp zwei Metern an sich schon eine imposante Erscheinung, doch wenn er sich aufplusterte, war er geradezu einschüchternd, wenn er auch gewichtsmäßig mit Pichler nicht ganz mithalten konnte.
»Polizeimeister Reinhold, Polizeihauptmeister Pichler«, donnerte er. »Morgen früh, 10 Uhr, mein Büro im Kommissariat. Wir werden eure Aussagen zu Protokoll nehmen. Und dann will ich die wirkliche Geschichte hören, verstanden?«
Reinhold & Reinhold schauten betreten.
»Übrigens, Pichler«, fuhr Dobler fort, »Sie können Ihren Hosenstall wieder zumachen. Wir haben eine Dame unter uns. Nicht, dass die das als Belästigung auffasst.«
Pichler wurde feuerrot. Annalena drehte sich grinsend um und folgte Dobler.
»Scheiße«, sagte Reinhold.
»Du Arschloch«, sagte Pichler.
»Wie meinst du das jetzt?«, fragte Reinhold erstaunt.
Annalena Bock hatte mittlerweile zu Dobler aufgeschlossen.
»Musstest du den armen Mann so erschrecken? Der hätte sich ja fast in die Hosen gemacht.«
»Fast. Wenn er nicht zuvor schon an den Baum gepinkelt hätte.«
»Es hätte ja auch der andere sein können.«
»Der ist selbst zum Pinkeln zu blöd, wenn ihm nicht jemand hilft.«
Die beiden Kommissare waren auf dem Weg zu dem Waldschrat, wie er bezeichnet worden war, und das nicht zu Unrecht. Klein und dick, grüne Kniebundhose und grüne Kniestrümpfe, grüner Janker, grüner Hut mit Gamsbart.
Als er sich umdrehte und ihrer ansichtig wurde, ging ein Strahlen über sein Gesicht, und er kam auf sie zugelaufen. Den Uniformierten, mit dem er eben noch gesprochen hatte, ließ er einfach stehen.
Der Hund allerdings war schneller. Er raste auf die beiden Kommissare zu, und auch ein lautes »Prinz!« konnte ihn nicht stoppen.
»Prinz von Hohenlohe!«, rief der Waldschrat noch lauter. Als sei er gegen eine Wand gelaufen, blieb der Hund abrupt stehen und legte sich flach auf den Boden.
»Auch das noch!«, sagte Dobler.
Annalena sah ihn an. »Was ist? Hast du Angst vor Hunden?«
Dobler seufzte. »Das ist mein Onkel. Etwas verschroben, aber ein lieber Kerl, nur entsetzlich neugierig. Außerdem schaut er zu viel Fernsehkrimis und weiß alles besser.«
»Und der Hund heißt tatsächlich Prinz von Hohenlohe?«
»Der ultimative Stopp-Ruf. Wenn er auf sonst nichts hört, darauf schon.«
Der Waldschrat war jetzt bei ihnen und schüttelte Dobler begeistert die Hand.
»Karli!«, rief er aus. »Ich habe doch gewusst, dass ich dich hier treffe. Und das ist wohl die neue Kollegin?«
Er streckte Annalena die Hand hin.
Dobler räusperte sich. »Darf ich vorstellen, Kriminalhauptkommissarin Annalena Bock, Professor Doktor Nikolaus Dobler, mein Onkel.«
»Professor emeritus«, sagte der Onkel. »Wir wollen doch korrekt sein, nicht wahr? Ich bin Pensionär. Küss die Hand, gnädige Frau. Aber ihr habt ja Prinz noch gar nicht begrüßt! Komm her, Prinz.«
Er klopfte leicht auf sein Bein, der Hund kam auf sie zugeschossen. Dobler wich zurück, aber Annalena kniete sich nieder und streckte ihm die Hand entgegen. Der Hund schnüffelte daran und ließ sich dann von Annalena genüsslich streicheln.
»Prüfung bestanden. Er mag Sie«, stellte Dobler senior fest.
»Und ich mag Hunde«, sagte Annalena. »Besonders Border Collies. Die sind so lebhaft, so lebendig.«
»Wenn man sie richtig erzieht, sind sie lammfromm und gehorchen aufs Wort.«
»Ich hätte selbst gern so einen«, sagte Annalena sehnsüchtig. »Aber bei meinem Beruf …«
»Sie brauchen viel Auslauf. Als Pensionär habe ich ja genügend Zeit.«
Kommissar Dobler schaltete sich ein. »Wenn ich die Fachsimpelei der Herrschaften mal unterbrechen darf …«
»Karli, Karli, du bist manchmal so ungemütlich.«
»Immerhin haben wir hier eine Leiche liegen. Erzähl mal, Nick, in Kurzfassung bitte.«
»In Kurzfassung! Nun, wie Sie wünschen, Herr Kommissar! Ich bin also mit Prinz durch den Wald gestapft, wissen Sie, Frau Bock, ich mache das jeden Tag, der Hund braucht ja seinen Auslauf, wie gesagt, und ich auch, meint meine Frau. Ich verstehe nicht, wie sie auf diese Idee kommt.« Dabei strich er sich über seinen beträchtlichen Bauch. »Wir waren Pilze sammeln. Wo ist eigentlich mein Korb?«
Suchend schaute er sich um, entdeckte ihn und rannte los.
Annalena prustete los. »Karli!«
Dobler schaute sie säuerlich an. »Ja … Leni. Merk dir eines: Ungestraft darf mich so nur die Familie nennen.«
Nick kam zurück und hielt den halbvollen Korb strahlend Annalena hin.
»Sehen Sie, Frau Bock? Steinpilze, einige Pfifferlinge. Edelreizker, ein junger Parasol. Die Natur beschenkt uns überreich und so köstlich, man muss nur wissen, wo man suchen muss. Ich zum Beispiel …«
»Nick!«, sagte Dobler genervt. »Die Kurzfassung!«
»Kurzfassung, ja. Plötzlich ein Schuss, peng! Prinz rennt los, ich hinterher, dann richtet ein Polizist seine Pistole auf mich, der andere legt mir Handschellen an. Die Kurzfassung. Zufrieden, Herr Kommissar?«
»Einstweilen ja«, antwortete Dobler. »Du musst dich ja ganz schön erschrocken haben.«
»Ach wo! Spannend war das! Durfte ich mal am eigenen Leib erleben, was ich nur aus dem Fernsehen kenne.«
»Kennst du auch die Tote?«
Nick kniete sich neben die Leiche und betrachtete sie eingehend.
»Ich glaube nicht. Ihrer Kleidung nach war sie joggen. Dabei ist das doch gar keine Joggingstrecke.«
»Querfeldein. Waldlauf«, sagte Annalena. »Steigert die Ausdauer, der Waldboden schont die Gelenke, du siehst viel Natur. Manche mögen das.«
»Karli, sag das ja nicht Tante Gretel! Sonst kommt die auf ganz dumme Gedanken für mich! Das Loch im Kopf sieht nach einem stumpfen Gegenstand aus. Bestimmt ein abgebrochener Ast. Nach dem müsst ihr suchen, Karli!«
»Danke, Nick«, sagte Dobler sarkastisch. »Du hast uns auf die Sprünge geholfen.«
»Karlheinz!«, rief jemand. »Wir haben das Auto gefunden!«
Annalena merkte, wie es in ihr zu brodeln begann und dass es nicht mehr weit war bis zu einem Ausbruch, der alles niederwalzen würde, was ihr in die Quere kam.
Typisch für diese Hohenloher Provinzmachos, schimpfte sie in sich hinein, schon wieder wurde ihr männlicher Kollege angesprochen und nicht sie. Sie war ja nur eine Frau, ein Anhängsel. Ein typischer Fall von Diskriminierung durch Ignoranz. Und das beim ersten Fall hier in Schwäbisch Hall, der interessant zu werden versprach.
»Tonto!«, zischte sie ganz leise, eines der wenigen spanischen Wörter, die sie von einem Malle-Urlaub mitgebracht und behalten hatte. Eigentlich bedeutete es schlicht »Dummkopf«. Allerdings sollte man es besser nicht gegenüber einem gestandenen Mannsbild anwenden, der hörte womöglich noch ganz anderes heraus, und das konnte dann ungemütlich werden, auch wenn man die Sprache nicht verstand.
»Wir müssen«, sagte Dobler zu Nick.
»Freilich, freilich. Ich sehe euch ja heute Abend, bin schon gespannt, was ihr zu erzählen habt. Sie kommen doch mit, Frau Bock? Das müssen Sie, keine Widerrede. Bitte, mir zuliebe!«
So leise es Annalena auch gemurmelt hatte, Dobler war es nicht entgangen.
»Beruhige dich!«, sagte er. »Du bist die Neue, die man noch nicht so recht einordnen kann, ich hingegen kenne die meisten.«
»Wahrscheinlich hast du mit ihnen schon im Sandkasten gespielt«, giftete Annalena.
»So ist es«, bekräftigte Dobler gelassen.
Annalena atmete einige Male tief durch und ruderte in Gedanken zurück. Nur natürlich, dass sie sich erst an ihn wandten. Sie musste sich die Anerkennung der Kollegen erst verdienen, nichts mit Frauenbonus.
Als die beiden Kommissare die kurze Strecke zum Parkplatz fuhren, wo das Auto des Opfers gefunden worden war, fragte Annalena: »Was ist denn das für eine Feier, von der dein Onkel geredet hat?«
»Nichts Besonderes«, antwortete Dobler. »Die Familie trifft sich halt wieder mal zu einem gemütlichen Abend.«
»Eine Familienfeier? Und dazu hat mich dein Onkel eingeladen? Da würde ich nur stören.«
»Überhaupt nicht. Das ist keine exklusive Veranstaltung. Wer kann, der kommt. Wer will, bringt jemanden mit.«
»Klingt aber nicht so, als wolltest du mich mit Engelszungen überreden, im Gegensatz zu deinem Onkel.«
Er zögerte. »Die Doblers sind etwas eigenwillig.«
Annalena lachte. »Jetzt hast du mich neugierig gemacht. Vielleicht kann ich meinen eigenwilligen Kollegen Dobler besser einschätzen, wenn ich auch den Rest der Mischpoke kennenlerne.«
Dobler grinste. »Vielleicht will ich gerade das vermeiden. Ein Mann muss seine Geheimnisse haben.«
»Sagt man das nicht von Frauen?«
»Längst überholt. Das war früher mal. Es gibt allerdings ein ernsthaftes Problem.«
»Wusste ich’s doch!«
»Ich habe keine Ahnung, was es zu essen gibt, aber vegetarisch wird’s bestimmt nicht. Die Doblers sind eine Bauernfamilie mit Viehzucht.«
»Ich bin keine dogmatische Vegetarierin.« Spontan sagte sie: »Also abgemacht, ich komme mit. Wenn’s dich nicht stört.«
»Nein«, sagte Dobler.
Im selben Moment bereute sie es schon wieder. Ihre impulsive Art hatte sie oft genug in Situationen gebracht, die sie hinterher bitter bereut hatte. Sie unter lauter Fremden. Sie als ebenso Fremde in einer Familie. Sie unter Hohenloher Bauern. Ob das gutging?
Dann sah sie im Gesicht ihres Kollegen mehr zufriedene Freude, als seine zögerliche Zurückhaltung zuvor vermuten ließ, und sie wollte ihn nicht enttäuschen. Dann sollte es eben so sein. Sie würde das schon überstehen.
Auf dem Parkplatz stand nur ein einzelnes Auto, von einem Absperrband umgeben und bewacht von einem Streifenwagen. Die Kollegen stiegen aus, als Dobler und Annalena heranfuhren. Einer der beiden drückte auf den Autoschlüssel, und das Auto, ein dunkelblaues BMW-Cabriolet, fiepte und ließ seine Blinklichter aufleuchten.
»Gut gemacht, Kollegen«, sagte Dobler.
Einer der Beamten zuckte mit den Schultern. »Kein großes Ding, wenn man den Schlüssel hat.«
»Da muss die Spusi ran«, sagte Annalena.
»Schon verständigt. Dauert aber noch, die brauchen erst Verstärkung. Zwei Örtlichkeiten, die sie unter die Lupe nehmen müssen.«
»So lange müsst ihr hier eben Wache schieben.«
»Sind wir gewohnt. Kein Problem, solange uns Plisch & Plum nicht dazwischenfunken.«
Dobler grinste. »Die sind für heute wohl bedient.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte einer der Streifenbeamten.
»Habt ihr euch das Auto schon angeschaut?«, fragte Dobler.
»Das überlassen wir der höheren Gehaltsstufe. Aber wir haben schon mal eine Halterabfrage gemacht. Zugelassen ist der Wagen auf eine Alisa Sandrock, wohnhaft in Schwäbisch Hall.«
»Ist doch schon was. Na, dann wollen wir mal.«
Annalena fiel nicht zum ersten Mal auf, wie locker im allgemeinen der Umgangston untereinander war. Vielleicht lag es daran, dass sich die meisten schon lange kannten. Vielleicht war diese Gelassenheit auch eine Besonderheit dieses Menschenschlags, der ihr ein Rätsel war. Sie würde es herausfinden.
Die beiden Kommissare streiften sich Einweghandschuhe über, öffneten die Türen und schauten in das Auto.
»Aufgeräumt und sauber«, sagte Dobler. »Keine gebrauchten Taschentücher, keine Pizzaschachtel, kein Kaugummipapier. Mein Auto sieht anders aus.«
Er nahm sich das Handschuhfach vor. »Hier ist der Fahrzeugschein. Alisa Sandrock. Sonst nichts, außer dem Handbuch.«
Annalena hatte derweil den Kofferraum geöffnet und hielt eine Handtasche in die Höhe.
»Weibliche Intuition«, sagte Dobler.
»Keine Frau lässt ihre Handtasche offen im Auto liegen«, antwortete Annalena. »Das ist ja wie eine Einladung.«
Dobler trat zu ihr.
Annalena fischte einen Geldbeutel aus der Handtasche. »Ein paar 100 Euro in Scheinen, Kreditkarte, Bankkarte, Führerschein, Handy, abgeschaltet, das muss die Technik knacken, und, da haben wir’s, der Personalausweis. Alisa Sandrock, wie es der Kollege gesagt hat. Hübsche Frau, selbst auf diesem Ausweisfoto, auf dem man nur dumm schauen darf. Das ist sie. Adresse: Hagenbacher Ring. Sagt dir das etwas?«
Dobler nickte. »Damit wäre wenigstens die Identität unserer Toten klar. Sonst noch etwas in der Handtasche?«
Annalena reichte ihm einen ziemlich umfangreichen Schlüsselbund. »Ansonsten der übliche Krimskrams. Auf den ersten Blick nichts, was uns im Moment weiterhelfen könnte. Ich nehme die Handtasche mit und gehe sie später noch einmal gründlich durch.«
»Dann schauen wir uns mal die Wohnung unserer Leiche an«, sagte Dobler.
»Brauchen wir dazu nicht einen richterlichen Beschluss?«
Dobler grinste. »Wir haben etwas viel Besseres. Wir haben die Schlüssel.«
Langsam rollte der Streifenwagen mit Reinhold & Reinhold in Richtung ihres Polizeipostens in Obersontheim. Sie hatten es nicht eilig, auf sie warteten nur unangenehme Fragen und knifflige Berichte. Wie immer saß Reinhold am Steuer, diese Kurbelei bei den vielen Kurven auf dem Land war Pichler zu anstrengend.
Pichler war sauer, auf sich, seinen Kollegen und überhaupt auf die ganze Welt.
»Diesen Dobler habe ich gefressen«, moserte er. »Arroganter Fatzke!«
»Kanzelt uns ab wie Schuljungen«, bestätigte Reinhold.
»Und diese Frau, die Neue, ist auch nicht besser. Und dann so eine Halbverhungerte. Frau Kommissarin! Wenn ich das schon höre! Die soll sich besser um den Haushalt und die Kinder kümmern.«
»Das darfst du heutzutage aber nicht mehr laut sagen. Das ist dis… dis… disqualifizierend.«
»Deswegen sage ich es ja dir.«
Eine Zeit lang herrschte Schweigen. Pichler brütete vor sich hin, dann polterte er los: »Warum musstest du Idiot auch von dem Schatten erzählen, auf den ich geschossen habe!«
»Die Herrschaften sollen ruhig mal sehen, wie gefährlich wir Streifenbeamten leben. Da war doch ein Schatten, oder?«
»Natürlich war da ein Schatten! Aus den Augenwinkeln habe ich ihn gesehen. Kann natürlich auch ein Vogel gewesen sein. Oder ein Blatt, das vom Baum gefallen ist.«
»Oder der Mörder.«
»Hätte alles sein können.«
»In solchen Situationen kann man nicht lange überlegen. Man muss impulsiv handeln«, sagte Reinhold. Eine überaus logische Feststellung.
»Und jetzt müssen wir deswegen vortanzen und uns einen Haufen blöder Fragen gefallen lassen. Wir müssen uns gut überlegen, was wir sagen, sonst haben die uns am Arsch.«
»Was sagen wir denn?«
»Klappe halten. Ich muss nachdenken.«
Das mit dem Nachdenken war aber so eine Sache. Das menschliche Gehirn arbeitet sehr effizient und hat sich deshalb einige raffinierte Strategien zurechtgelegt. Vor allem spart es Energie, wo es nur kann. Fähigkeiten, die man lange nicht benutzt hat, werden sozusagen ins Hinterstübchen verschoben und müssen erst mühsam wieder hervorgekramt und gewissermaßen neu gelernt werden. Wozu, sagt sich das Gehirn, soll ich Energie verschwenden auf Dinge, die nur selten gebraucht werden?
Das war das Problem bei Pichler.
Sie hatten Oberfischach hinter sich gelassen und fuhren den Berg hinab, am Mühlhof vorbei. Vor sich sahen sie die Straße, die sich nach Mittelfischach schlängelte, und sie sahen ein Auto, das nicht gerade langsam die Kurven schnitt.
»Hast du den gesehen?«, fragte Reinhold.
»Was?« Pichler schreckte hoch.
»Fährt wie eine gesengte Sau.«
Da war das Auto auch schon vorbei an ihnen.
»Ha!«, sagte Pichler. »Aalener Kennzeichen. Einer von der Ostalb! Den kaufen wir uns.« Irgendwie musste Pichler seinen Frust ja loswerden.
»Wie jetzt?«, fragte Reinhold.
»Umdrehen. Das volle Programm. Blaulicht. Sirene. Überholen. Stoppen«, befahl Pichler. »Nun mach schon, du lahme Ente!«
Und Reinhold tat, wie ihm geheißen. Kurz vor Herlebach hatten sie den Aalener eingeholt.
Pichler ging gewichtigen Schrittes auf ihn zu. Ein einzelner Mann am Steuer, das er deutlich sichtbar mit beiden Händen festhielt, wie man das aus amerikanischen Filmen kannte.
»Fahrzeugkontrolle«, sagte Pichler. »Papiere, aber ein bisschen plötzlich!«
Der Mann, kurz geschnittene dunkle Haare mit grauen Strähnen, modische Brille mit schwarzem Rand, markantes kantiges Gesicht, nicht unsympathisch eigentlich, kramte die Fahrzeugpapiere aus dem Handschuhfach und reichte sie durch das Fenster.
Pichler kam der Mann bekannt vor. Wo hatte er dieses Gesicht schon mal gesehen? Auf einem Fahndungsplakat vielleicht?
»Bitte schön, Herr Wachtmeister«, sagte er freundlich.
Pichler straffte sich. »Polizeihauptmeister, bitte schön! Und wo bleibt der Führerschein?«
Der Fahrer griff in sein Sakko, den Führerschein hatte er wohl in der Brieftasche, und sah plötzlich eine Pistole vor seiner Nase.
»Ganz langsam die Hand aus der Jacke nehmen! Aussteigen!«, befahl Pichler. »Aber keine Fisimatenten!«
Reinhold nickte bekräftigend und mit finsterem Gesicht, obwohl er keine Ahnung hatte, was diese Fisidingsbums waren.
»Hände auf das Autodach! Beine breit!«, kommandierte Pichler weiter. Dann tastete er den Mann ab.
»Sauber«, sagte er.
»Hätte ich Ihnen sagen können«, erwiderte ihr Opfer.
Pichler schaute ihn streng an. »Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
»Das Böse lauert überall«, ergänzte Reinhold.
Pichler beugte sich in das Wageninnere und entdeckte nichts, was ihm verdächtig schien.
Er ging prüfend um das Auto herum und sagte: »Licht!«
»Dann muss ich wohl wieder einsteigen«, meinte der Fahrer.
Unwirsch wedelte Pichler mit der Hand. »Blinker links! Blinker rechts.«
Brav führte der Fahrer alles aus.
Noch einmal ging Pichler um das Auto herum. Er ärgerte sich. Da war nichts, was man dem Fahrer ankreiden konnte, nicht einmal die Reifen waren abgefahren. Und es fuchste ihn gewaltig, dass dieser Herr alles gelassen über sich ergehen ließ und auch noch freundlich lächelte. Sehr verdächtig! Ein schlechtes Gewissen hatte schließlich jeder, der von der Polizei kontrolliert wurde.
»Für heute haben Sie noch einmal Glück gehabt«, sagte Pichler mürrisch. »Gnade vor Recht.«
Der Fahrer lächelte noch breiter. »Es ist erfreulich, wie diensteifrig unsere Streifenbeamten sind. Aber am richtigen Umgangston müssen wir noch arbeiten.«
Er reichte Pichler eine Visitenkarte. Der wurde aschfahl, als er sie las.
»Heute bin ich privat unterwegs«, sagte der Mann mit der markanten Brille. »Morgen um 10 Uhr will ich Sie beide in meinem Büro in Aalen sehen. Pünktlich!« Er klang jetzt nicht mehr ganz so freundlich.
»Das geht nicht«, sagte Reinhold. »Da sind wir mit Kommissar Dobler verabredet, wir sind nämlich wichtige Zeugen in einem Mordfall. Wir …«
»Klappe, du Affe!«, presste Pichler hervor.
Der Mann winkte ihnen durch das offene Fenster zu und brauste davon.
Wortlos reichte Pichler seinem Kollegen die Visitenkarte.
Auch der wurde bleich. »Haben wir jetzt tatsächlich unseren Polizeipräsidenten in die Mangel genommen?«
Die Hagenbachsiedlung auf einer Anhöhe im Westen von Schwäbisch Hall hatte auch ihre kuscheligen Ecken mit Einfamilienhäusern und Bungalows. Dominiert indes wurde sie von den bis zu zehngeschossigen Hochhäusern, die in den 1970er-Jahren entstanden waren. In einem davon hatte Alisa Sandrock gewohnt.
Dobler klingelte.
»Sie wird dir wohl nicht mehr aufmachen können«, sagte Annalena.
»Sie nicht, aber vielleicht ein Ehemann oder Lebensgefährte oder Mitbewohner.«
»Ehering hatte sie keinen.«
»Das hat nichts zu sagen.«
Nichts geschah.
Beim vierten Versuch hatte Dobler den Schlüssel gefunden, der die Haustür öffnete. Sie stapften hoch in den dritten Stock, wo sich die Wohnung befinden musste.
Wieder probierte Dobler die Schlüssel durch, und als er gerade den richtigen ausfindig gemacht hatte, ging gegenüber die Wohnungstür auf. Die neugierige Nachbarin, der Schrecken aller Ermittler.
»Kann ich helfen?«, fragte sie, eine ältere Frau im geblümten Kittelschurz, den die traditionsbewusste Hausfrau nur auf dem Haller Jakobimarkt erstand und nirgendwo sonst.
»Wir wollten zu Frau Sandrock«, sagte Annalena.
»Aha«, sagte die Frau im Kittelschurz. »Wieso haben Sie einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?«
Ein kurzer Blickwechsel zwischen Annalena und Dobler, dann wiesen sie sich aus.
»Oh Gott!« Die Frau schlug die Hand vor den Mund. »Ist Frau Sandrock verdächtig?«
»Können wir das vielleicht drinnen bei Ihnen besprechen?«, fragte Annalena.
»Natürlich.« Die Frau trat auf die Seite und ließ die beiden Kommissare eintreten. »Entschuldigen Sie meinen Aufzug, ich war gerade am Putzen.«
Sie zog den Kittelschurz aus, und darunter kam ein elegantes anthrazitfarbenes Kostüm zum Vorschein, zu dem sie eine weiße Bluse trug.
»Frau Bollinger, nicht wahr?«, fragte Dobler. Er hatte das Namensschild unter der Klingel registriert.
Die Dame nickte.
»Wie kommen Sie darauf, dass Frau Sandrock verdächtig sein könnte?«, fragte er weiter.
»Wenn die Kripo sie sprechen will.«
»Es gibt einen anderen Grund, weshalb wir hier sind«, sagte Annalena. »Alisa Sandrock wurde ermordet aufgefunden.«
»Ermordet? Puh, das muss ich erst einmal verdauen. Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Sie wies auf eine Couchgarnitur, die genauso gediegen-wuchtig war wie der Rest der Einrichtung.
»Auf den Schreck brauche ich erst einmal einen Kaffee«, sagte Frau Bollinger. »Sie auch?«
Die beiden Kommissare nickten.
Annalena folgte Frau Bollinger in die Küche, wo diese mit Filter und Kaffeepulver hantierte.
»Was können Sie uns über Alisa Sandrock sagen?«, fragte Annalena.
»Nicht viel. Wir sind uns ab und zu im Treppenhaus begegnet und haben dann ein wenig miteinander geredet, belangloses Zeug. Eigentlich habe ich sie gar nicht gekannt. Sie war sehr zurückhaltend.«
»Seit wann hat sie hier gewohnt?«
»Seit gut vier Jahren. Das weiß ich deshalb so genau, weil sie kurz nach dem Tod meines Mannes eingezogen ist.«
Mittlerweile war der Kaffee durchgelaufen. Sie stellte die Kanne auf ein Tablett, zusammen mit Tassen, einem Kännchen Milch und einer silbernen Schale mit Würfel- und Kandiszucker. Es ging elegant zu bei Frau Bollinger.
Sie stellte das Tablett auf den Couchtisch, und endlich setzte sich auch Dobler, der sich bis dahin in der Wohnung umgeschaut hatte. Ohne dass sie das abgesprochen hätten, überließ er das Gespräch weiterhin Annalena.
»Wissen Sie, was Alisa Sandrock gearbeitet hat? Und wo?«, fragte diese.
Frau Bollinger schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hatte offenbar keine geregelten Arbeitszeiten. Sie ist zu völlig unterschiedlichen Zeiten gekommen und gegangen, manchmal war sie tagelang zu Hause, manchmal tagelang weg. Anfangs habe ich versucht, sie etwas auszuhorchen, man will ja wissen, mit wem man Tür an Tür lebt, aber sie hat mich abblitzen lassen. Ziemlich brüsk. Seitdem habe ich sie nie mehr etwas Persönliches gefragt.«
»Trotzdem bekommt man im Lauf der Zeit so einiges mit über seine Nachbarn.«
»Wissen Sie, ich gehöre nicht zu den alten Frauen, die nichts anderes zu tun haben und deshalb ihren Nachbarn hinterherspionieren. Sie wollte keinen Kontakt, also gab es keinen Kontakt, punktum. Wie schon gesagt, sie war sehr zurückhaltend. Man könnte es auch abweisend nennen.«
»Geheimnisvoll?«
»So könnte man es auch interpretieren. Aber ich hatte kein Interesse daran, dieses Geheimnis zu lüften, wenn es denn eines gab. Soll jeder so leben, wie er mag, wenn er niemanden stört. Und das hat sie nicht. Sie war nicht laut, sie hat sich mit niemandem angelegt, sie hat sich nie über etwas beschwert, manchmal hätte man fast vergessen können, dass nebenan noch jemand wohnt.«
»Lebte sie allein?«
»Wieder. Vor drei oder vier Wochen, ich weiß es nicht mehr genau, ist ihr Freund ausgezogen. Mit dem hat sie ungefähr ein Jahr zusammengelebt. Aber wissen Sie, was komisch ist? Man hat zuvor keinen Streit gehört, und die Wohnungen hier sind wirklich hellhörig. Normalerweise geht so eine Trennung doch nicht geräuschlos über die Bühne.«
»Hat der Freund auch einen Namen?«
»›Kevin Klotz‹ stand auf dem Klingelschild. Ein durchaus sympathischer Mensch, aber genauso verschlossen und undurchsichtig wie sie. Wie ist denn Frau Sandrock zu Tode gekommen, wenn ich fragen darf?«
»Sie wurde im Einkornwald erschlagen. Wohl beim Joggen.«
»Ja, gelaufen ist sie häufig. Ich habe sie hin und wieder gesehen in ihren tollen Klamotten.«
Annalena erhob sich aus ihrem Sessel.
»Nun, das war’s fürs Erste. Vielen Dank, Frau Bollinger, für den ausgezeichneten Kaffee, kein Vergleich mit dem Gesöff in unserer Amtsstube.«
Frau Bollinger war sichtlich geschmeichelt. »Immer wieder gern.«
»Darauf kommen wir mit Vergnügen zurück, wenn sich noch Fragen ergeben. Wundern Sie sich übrigens nicht, später wird noch die Spurensicherung kommen und die Wohnung von Alisa Sandrock genauer unter die Lupe nehmen. Haben Sie übrigens einen Schlüssel?«
»Wozu denn!«
»Blumen gießen im Urlaub?«
»Frau Sandrock hat nie etwas Derartiges gesagt. Wahrscheinlich hatte sie keine Blumen.«
Hatte sie in der Tat nicht. Die Wohnung von Alisa Sandrock war wie ihr Auto: sauber und aufgeräumt. Die beiden Kommissare gingen durch die drei Zimmer, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Alles war karg möbliert. Nirgendwo ein Bild an der Wand, keine Fotos, kein Nippes.
»Unpersönlich, steril, ungemütlich«, fasste Dobler zusammen. »Eine Wohnung ohne Emotionen. Hier möchte ich nicht meine Abende verbringen müssen.«
»Bei mir sieht es auch ungemütlich aus«, sagte Annalena. »Na ja, nicht so aufgeräumt.«
»Du bist ja auch erst seit vier Wochen hier.«
»Schon viel zu lange«, sagte Annalena.
Dobler ging darauf nicht ein. »Alisa Sandrock lebte seit vier Jahren hier. Da richtet man sich doch ein, da macht man es sich gemütlich, da sammelt sich so einiges an.«
»Es sei denn, man ist schon länger hier, als ursprünglich geplant war. Oder rechnet damit, dass man jederzeit wieder verschwinden muss.«
»Oder man mag es so karg«, ergänzte Dobler. »Man nennt das minimalistisch, ist schwer im Trend.«