Die neuen Kriege in der arabischen Welt - Marc Lynch - E-Book

Die neuen Kriege in der arabischen Welt E-Book

Marc Lynch

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Beschreibung

Als scharfer Beobachter der Aufstände im Nahen Osten seit dem Arabischen Frühling wagt der renommierte Politikwissenschaftler Marc Lynch starke Thesen: Es gibt keinen Weg zurück zu den alten autokratischen Systemen. Die Interventionen des Westens werden keinen Frieden bringen. Der arabische Aufstand Ist noch nicht zu Ende. Lynch analysiert, wie die politische Landschaft einer ganzen Region zerstört wurde. Er zeigt warum manche Staaten in Anarchie versanken und wie Stellvertreterkriege die Arabische Halbinsel erschüttern. Es Ist eine dramatische Geschichte mit weitreichenden Folgen für Europa und die Welt.

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel 1: Die neuen Kriege in der arabischen Welt
Die regionale Ordnung vor dem Aufstand
Nach dem Aufstand
Die neuen arabischen Stellvertreterkriege
Gesellschaften gegen Staaten
Die Islamisten inmitten des Chaos
Die neuen Kriege in der arabischen Welt
Kapitel 2: Der arabische Aufstand
Tunesiens Vorreiterrolle
Von Tunesien in die arabische Welt
»Überleben und weiterkommen«
Wenn alles andere fehlschlägt
Jemens gelenkter Übergang …
Bahrains Tragödie
Kapitel 3: Intervention und Militarisierung
Der libysche Aufstand
Die Bedeutung Libyens für den Übergang in der arabischen Welt
Tunesien
Ägypten
Jemen
Die letzten hoffnungsvollen Tage
Kapitel 4: Der Aufstand in Syrien
Der Aufstand
Die Debatte über die Intervention
Die Organisation des Aufstands
Militärische Eskalation
Der Annan-Plan
Die Bewaffnung eines Aufstands
Vorrücken auf Damaskus
Kapitel 5: Die Chancen für die Demokratie
Von den Parlamentswahlen zur Präsidentschaft
Präsident Mursi
Der Zusammenbruch
Die Regionalpolitik des ägyptischen Militärputsches
Kapitel 6: Autokraten in der Offensive
Die diplomatische Öffnung zu Iran
Tunesiens turbulenter Übergang
Der Zerfall Libyens
Kapitel 7: Die Hölle Syrien
Die Bewaffnung der Rebellen
Die Eskalation der Gewalt
Die rote Linie
Irak und die Syrienkrise
Der sunnitische Aufstand in Irak
ISIS außerhalb Syriens und Iraks
Kapitel 8: Saudische Manöver
Der Krieg gegen den Islamischen Staat
Jemen und die Operation »Entscheidungssturm«
Kapitel 9: Wie wird es weitergehen?
Der arabische Aufstand ist noch nicht zu Ende
Arabische Regime sind nicht die Antwort
Eine Intervention hätte Syrien nicht gerettet
Der islamistische Extremismus greift immer weiter um sich
Das Erbe der neuen Kriege in der arabischen Welt
Anhang
Anmerkungen
Dank
Zum Autor
Die Übersetzer
Impressum

Für Sophia Faith und Alexander Reyes

Vorwort

»Wir kommen heute Nacht. Und es wird keine Gnade geben«, warnte der libysche Staatschef Muammar Gaddafi am 17. März 2011, während seine Truppen unerbittlich auf Bengasi vorrückten, die bedrängte Hochburg des Aufstands, der einen Monat zuvor begonnen hatte. Derweil appellierten Rebellenführer verzweifelt an die internationale Gemeinschaft, zu intervenieren und sie zu unterstützen. Die beginnende Katastrophe konnte man sodann live im Fernsehen verfolgen, inmitten einer Flutwelle von Massenprotesten und deren gewaltsamer Niederschlagung durch die Regime überall in der Region. Die Menschen, die auf die Straße gegangen waren, schauten zu, und das Schicksal der arabischen Aufstände schien ungewiss.

Die Reaktion der Weltöffentlichkeit war ungewöhnlich. Die sonst so zerstrittene Arabische Liga sprach mit einer Stimme und verlangte ein internationales Vorgehen gegen Gaddafi. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete – entgegen allen Erwartungen – eine Resolution, die Militäreinsätze zum Schutz der libyschen Rebellen erlaubte. NATO-Kampfflugzeuge begannen fast unmittelbar danach Luftangriffe zu führen, mit denen die Truppen des Regimes gestoppt und schon bald zurückgedrängt wurden.

Die Luftangriffe brachten jedoch keinen schnellen Sieg. Es folgte ein sechs Monate langes zähes Ringen, bevor ein überraschender Vorstoß der Rebellen nach Tripolis Gaddafis Regime zu Fall brachte. Am 20. Oktober wurde Gaddafi von Rebellen in Sirte getötet. Der Nationale Übergangsrat, die politische Führung der Aufständischen, der als neue libysche Regierung die Macht übernahm, kündigte einen ehrgeizigen Fahrplan für den Übergang zu einem demokratischen Libyen an. Im Frühjahr 2012 schienen sich in Libyen die Hoffnungen der arabischen Aufstände, der US-amerikanischen Strategie einer begrenzten militärischen Intervention und eines besseren Nahen Ostens zu erfüllen.

Doch dann lief alles schief. Dem neuen libyschen Staat gelang es nicht, für Sicherheit zu sorgen, einen politischen Konsens zu finden und effiziente Institutionen aufzubauen, trotz demokratischer Wahlen. Die bewaffneten Gruppen, die für die Revolution gekämpft hatten, weigerten sich, ihre Waffen niederzulegen, und operierten fortan als Milizen, die die Verkehrswege kontrollierten. Am 11. September 2012 verübte die islamistische Miliz Ansar al-Sharia (Libyen) einen dreisten militärischen Angriff auf das amerikanische Konsulat und die CIA-Stützpunkt in Bengasi. Erst einen Monat zuvor hatten die US-Senatoren John McCain, Lindsey Graham und Joe Lieberman auf eine amerikanische Intervention in Syrien gedrängt und auf Libyen verwiesen, wo »die tiefe Dankbarkeit für die amerikanische Hilfe im Krieg gegen Muammar Gaddafi die Grundlage für ein neues, helles Kapitel in den Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern gelegt hat«.1 Die Ermordung des amerikanischen Botschafters Chris Stephens und dreier weiterer US-Bürger durch eine dschihadistische Miliz im Kerngebiet der libyschen Revolution und inmitten chaotischer antiamerikanischer Proteste gab diesem neuen Kapitel einen blutigen Anstrich. Viele sahen darin das traurige Ende der arabischen Aufstände gekommen.

Die Folge des Angriffs in Bengasi war eine gefährliche Polarisierung der libyschen Politik und Gesellschaft, während dschihadistische Gruppen das Sicherheitsvakuum nutzten, um sich neu zu konstituieren. Die ausgebrannte Ruine des Konsulats wurde für Washington über Nacht zu einem Symbol für ganz Libyen, das seine zaghaften Zukunftshoffnungen verloren hatte und zu einem blutigen Albtraum erbittert gegeneinander kämpfender Gruppen geworden war. Während die Vereinigten Staaten erschauderten und die Gewalt der Milizen immer weiter zunahm, zerfiel der libysche Staat zusehends. Die Ölförderung und die gesamte Wirtschaft brachen zusammen. Die von der internationalen Gemeinschaft anerkannte Regierung kontrollierte nur einen Teil des Landes, den Rest beherrschte eine rivalisierende Regierung. Libyen rutschte in einen Bürgerkrieg ab, in dem sich zwei schwer bewaffnete, von ausländischen Mächten finanziell und militärisch massiv unterstützte Koalitionen gegenüberstanden. In dem zersplitterten Gebiet errichteten die Dschihadisten neue Hochburgen.

Die Entscheidung der Obama-Regierung, im Rahmen der NATO und gemeinsam mit ihren arabischen Verbündeten in Libyen militärisch zu intervenieren, wird heute als der entscheidende Wendepunkt der arabischen Aufstände betrachtet – mit Auswirkungen weit über die Grenzen dieses Landes hinaus. Umstritten ist bis heute, welche Lehren aus dieser Intervention zu ziehen sind. Sie erreichte ihr kurzfristiges Ziel, die libysche Zivilbevölkerung zu schützen, und verhinderte ein Blutbad; und sie trug dazu bei, einen der schlimmsten arabischen Diktatoren zu stürzen. Hätte Obama nichts unternommen, hätte man mit Sicherheit Amerika die Schuld gegeben, dass der Aufstand in einem Blutvergießen endete. Doch dass Obama handelte, hatte eine Vielzahl anderer unbeabsichtigter Konsequenzen. Heute glauben einige, das eigentliche Problem sei nicht die Intervention an sich gewesen, sondern das Unvermögen der Vereinigten Staaten, für eine Stabilisierung nach dem Ende des Kriegs zu sorgen. Doch die neue libysche Führung hatte jede Art internationaler Friedenstruppen strikt abgelehnt. Und selbst wenn sie deren Einsatz nicht abgelehnt hätte, das düstere Kapitel der Irak-Besetzung hätte dafür gesorgt, dass Amerika keine Truppen entsandt hätte … und die Einschätzung genährt, dass solche Truppen nicht hilfreich gewesen wären.

Warum beginnt diese Geschichte mit Libyen und nicht mit der Syrienkrise oder der Herausforderung des Islamischen Staats? Weil Libyen zum entscheidenden Wendepunkt für die Transformation der arabischen Aufstände von friedlichen Erhebungen in einzelnen Ländern zu einem regionalen Stellvertreterkrieg wurde. Nach dem schwindelerregenden Erfolg der Protestbewegungen in Tunesien und Ägypten bot der Krieg in Libyen das erste warnende Beispiel dafür, wohin das Streben eines Landes nach einem demokratischen Wandel führen konnte. Der NATO-Einsatz führte den arabischen Demonstranten, aber auch den Autokraten vor Augen, dass ein bewaffneter Aufstand erfolgreich sein kann, wenn man sich Hilfe von außen holt. Er zeigte den arabischen Mächten, dass sie den Westen dazu bringen konnten, ihre Ambitionen mit militärischer Stärke zu unterstützen, bewog jedoch Russland dazu, weitere solche UN-Resolutionen zu blockieren. Der nachfolgende Sturz Libyens in den Bürgerkrieg wurde zu einem Lehrbeispiel für die Gefahren der Intervention und eines Staatszerfalls. Libyen bereitete in vieler Hinsicht den Boden für Syriens Abgleiten in einen mörderischen Bürgerkrieg.

Dass die Entwicklung Libyens nicht hielt, was sie versprochen hatte, traf auch mich persönlich. Ich war damals Kolumnist für die Zeitschrift Foreign Policy, kam regelmäßig mit Mitarbeitern der Obama-Regierung zusammen und war häufig in den Medien. Ich plädierte für eine amerikanische Intervention zur Unterstützung der libyschen Demonstranten: zum einen um die Zivilbevölkerung vor staatlichen Gewaltexzessen zu schützen; zum anderen aber auch um die Führungen anderer Staaten von bewaffneten Repressionen gegen Demonstranten abzuschrecken und die Dynamik der arabischen Aufstände zu gewährleisten. Libyen war seit Bosnien der erste amerikanische Krieg, den ich befürwortete. Dass diese Intervention scheiterte, bewog mich dazu, viele der Argumente für ein amerikanisches Eingreifen im Nahen Osten öffentlich zu überdenken.2 Es verblüfft mich, dass die meisten in Washington aus den Problemen der Libyen-Intervention den Schluss zogen, dass Obama auch in Syrien hätte intervenieren sollen.

Ich habe dieses Buch nicht zuletzt deshalb zu schreiben begonnen, weil ich die Prämissen und Argumente meiner ursprünglichen Analyse nicht nur Libyens, sondern des gesamten arabischen Aufstands überdenken wollte. Ich hoffe, ich kann damit andere ermutigen, dasselbe zu tun. Politikwissenschaftler, Journalisten und Beteiligte all der folgenschweren Ereignisse der letzten fünf Jahre haben eine Vielzahl von Ad-hoc-Analysen veröffentlicht. Viele dieser Analysen sind exzellent, und ich habe in diesem Buch von den Erkenntnissen bedachtsamer, kenntnisreicher und brillanter Wissenschaftler enorm profitiert. Was haben wir im Eifer des Gefechts unterschätzt oder allzu sehr in den Vordergrund gestellt? Welche Schwierigkeiten haben wir übersehen? Und wo haben wir für richtig diagnostizierte Probleme keine adäquaten Lösungen gefunden?

Was wir mit ziemlicher Sicherheit falsch eingeschätzt haben, war der epochal und fundamental transformative Charakter des arabischen Aufstands. Es stimmt, dass die fünf Jahre seit Beginn dieses historischen Aufbruchs enttäuschend waren für alle, die im Nahen Osten auf einen Wandel zum Besseren gehofft hatten. Es ist erst wenige Jahre her, dass die arabische Welt im Begriff schien, eine jahrzehntelange Ära autokratischer Missherrschaft und staatlicher Gewalt hinter sich zu lassen. Die Hoffnungen von Millionen arabischer Staatsbürger, die damals furchtlos auf die Straße gingen und einen Wandel forderten, sind heute verblasst.

Die gesamte Regionalordnung scheint sich im freien Fall zu befinden. Der demokratische Übergang in Ägypten endete mit einem Militärputsch, mit Massenverhaftungen und einem politischen Patt. Syrien, Libyen und Jemen stecken im Sumpf eines zermürbenden Bürgerkriegs. Millionen Flüchtlinge leben unter prekären Bedingungen, ihr Leben ist erschüttert, ihre Häuser sind zerstört, und es gibt kaum Aussicht auf eine Rückkehr zur Normalität. Der Islamische Staat hält sich zäh in seinen syrischen und irakischen Hochburgen, er breitet sich nach Libyen und in andere zerrüttete Staaten aus und inspiriert den globalen Terrorismus. In großen Teilen der arabischen Bevölkerung ist die Demokratie selbst in Misskredit geraten. Der größte kurzfristige Effekt der arabischen Aufstände bestand nicht in einer Demokratisierung, sondern im dramatischen Anstieg von Interventionen in der Region, in Stellvertreterkriegen und erneuter Repression.

Alle diese Probleme erfordern nüchterne Reflexion, aber wir dürfen nicht die falschen Schlüsse ziehen. Für das Fazit, die Aufstände seien gescheitert, ist es viel zu früh. Die eklatanten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Missstände, die die Araber 2011 auf die Straßen trieben, sind seither noch schlimmer und die Enttäuschung der zunehmend selbstbewussten Jugend immer größer geworden. Politische Entscheidungsträger und Experten mögen den Gedanken einer Rückkehr zu stabilen und gefälligen autoritären Regimen tröstlich finden. Aber das ist ein Irrglaube.

Viele der heute kursierenden Schlussfolgerungen sind schlichtweg falsch. Das Scheitern der demokratischen Übergänge liefert nicht den Beweis dafür, dass die Araber nicht reif seien für die Demokratie. Obama hätte Mubarak nicht retten oder den arabischen Aufstand stoppen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Keine einzige Monarchie am Golf ist gegen die Unzufriedenheit ihrer Bevölkerung geschützt. Der Auftrieb dschihadistischer Gruppen bedeutet nicht, dass diese Gruppen das wahre, bisher nur verborgene Gesicht des Aufstands sind. Und ein stärkerer Staat ist keine Lösung für die Übel in der Region. Die autokratischen Regime, deren einziges Bestreben das eigene Überleben ist, sind die Wurzel der Instabilität und haben den Extremismus und die Konflikte in der Region befeuert. Die Autokraten von Damaskus bis Riad sind das Problem und nicht die Lösung.

Es sind düstere Zeiten, aber es ist noch viel zu früh, um die Hoffnung aufzugeben. Der Islamische Staat wird in seiner derzeitigen Form kaum überleben. Die Bürgerkriege werden irgendwann zu Ende gehen. Das Atomabkommen zwischen Iran und den Vereinigten Staaten bietet eine historisch einmalige Chance, die Regionalordnung auf eine neue Grundlage zu stellen. Der derzeitige Sumpf wird wohl ebenso wenig der Endpunkt der politischen Entwicklung in der Region sein, wie es der revolutionäre Taumel im Februar 2011 oder die Wahlsiege der Muslimbrüder 2012 waren. 2016 ist nicht der Endpunkt einer fünfjährigen Entwicklung. Es ist nur eine Station auf dem Weg eines jahrzehntelangen Prozesses, der von tiefgreifenden strukturellen Veränderungen der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in dieser Region gekennzeichnet ist. Zu versuchen, im Interesse der Stabilität die alte Ordnung durch eine engere Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und den arabischen autokratischen Regimen wiederherzustellen, führt geradewegs in die Katastrophe. Autokraten mögen sich in den meisten arabischen Ländern die Macht zurückerkämpft haben. Aber keines der tiefer liegenden Probleme wurde gelöst, ja zumeist ist alles nur noch schlimmer geworden. Wir wissen nicht genau, wann und wo der nächste Massenprotest ausbricht, aber es wird mit großer Sicherheit eine neue Protestwelle anrollen.

In Washington ist man sich zunehmend einig, dass an diesen vielen Fehlern und Versäumnissen die Regierung Obama die Schuld trägt. Auch das ist ein Irrglaube. Die politischen Debatten in den USA neigen dazu, die Rolle der Vereinigten Staaten überzubewerten und die Ereignisse voreingenommen und einseitig zu betrachten. Mit der Realität des heutigen Nahen Ostens hat dies wenig zu tun. Der amerikanische Einfluss auf den arabischen Aufstand war sehr viel geringer, als die meisten Amerikaner und Araber glauben. Das war zum Teil gewollt. Obama versuchte, die arabischen Aufstände zu unterstützen, aber er war auch – zu Recht – davon überzeugt, dass der Erfolg der Aufstände größer sein werde, wenn sich Amerika möglichst wenig einmischt. Kaum einer der arabischen Demonstranten blickte nach Washington, um sich Signale zu holen, und keiner von ihnen hätte den Tahrir-Platz in Kairo oder den Platz der Veränderung in Sanaa verlassen, wenn Obama ihn dazu aufgefordert hätte. Als Außenministerin Hillary Clinton Anfang 2011 nach Kairo reiste, wollten sich die Aktivisten nicht mit ihr treffen; in Alexandria 2012 wurde sie von ägyptischen Aktivisten mit Tomaten beworfen.

Dennoch war Obamas Nahost-Strategie ein Test für Amerikas Rolle in der Region. Entschlossen, den amerikanischen Fußabdruck im Nahen Osten zu verkleinern und sich auf Asien und auf globale Probleme zu konzentrieren, verfolgte Obama eine entschieden minimalistische Strategie. Er zog die amerikanischen Streitkräfte aus dem Irak ab, verzichtete auf eine direkte Militärintervention in Syrien und schloss ein Atomabkommen mit Iran, das in seiner Art ohne Beispiel ist. Am Ende seiner zweiten Amtszeit jedoch herrschte in Washington ein vernehmlicher Konsens darüber, dass diese Politik der Zurückhaltung für das Scheitern der Region verantwortlich sei und dass die Untätigkeit Amerikas der Region ebenso sehr geschadet habe wie der Übereifer der Regierung Bush. Amerikanische Soldaten waren nach Irak zurückgekehrt, und massive, von den Vereinigten Staaten geführte Luftangriffe trafen den Islamischen Staat in Irak und in Syrien. Wenn selbst Obama die amerikanische Militärpräsenz im Nahen Osten nicht dauerhaft hatte verringern können, wer sollte das sonst schaffen?

In meinem Buch The Arab Uprising. The Unfinished Revolutions of the New Middle East von 2012 schrieb ich, ein abschließendes Urteil über die Libyen-Intervention und den gesamten Prozess des Wandels könne nach wie vor nicht gefällt werden. Der arabische Aufstand markiere einen fundamentalen Bruch des Status quo und sei ein epochales Ereignis, dessen Folgen erst nach Jahren offenkundig würden. Die Veränderungen, die sich in diesen synchron verlaufenden, massiven Protesten zeigten, machten eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen undenkbar. Die sich über Generationen hinweg vollziehenden Veränderungen könnten nicht anhand eines einzelnen Wahlausgangs, eines Verfassungsmanövers oder eines Militärputsches beurteilt werden. Sie müssten vielmehr an den neuen Einstellungen und Erwartungen sowie am Verhalten jener Millionen Araber gemessen werden, die plötzlich imstande seien, in einer bis dahin undenkbaren Weise politisch zu handeln.

Doch dies, so warnte ich, garantiere nicht, dass die neue Ordnung notwendigerweise besser sei. Jede Welle der Massenmobilisierung in der modernen arabischen Geschichte habe stets mit der Etablierung einer noch stärker repressiven Autokratie geendet. Die so machtvoll mobilisierte Öffentlichkeit sei über Generationen hinweg von Autokratie, Korruption und Vetternwirtschaft sowie von einem erdrückenden staatlichen Sicherheitsapparat geprägt worden. Alte Eliten blieben an ihrem Platz. Die Kultur der Öffentlichkeit sei von Jahrzehnten des islamistischen Aktivismus geprägt, mit dem sich neue Verhaltensweisen und Glaubenssysteme eingeschliffen hätten. Die Konflikte der vorausgehenden zehn Jahre, besonders in Irak, hätten erschreckende neue Formen des religiösen Hasses und eine ganze Generation von Flüchtlingen hervorgebracht. Die neue Öffentlichkeit, in den ruhmreichen Tagen der Aufstände so glorreich geeint und optimistisch gestimmt, berge in sich bereits den Keim des Populismus und der Spaltung. Der Aufstand, so schrieb ich, könne zu einer neuen Demokratie, aber ebenso gut auch zu einem neuen Despotismus führen.

Die Hoffnungen und Befürchtungen, wie sie in meinem Buch The Arab Uprising beschrieben wurden, haben sich weitgehend erfüllt. Der Generationenwandel war real. Junge Araber überall in der Region sind heute vernetzt, mobil, ungeduldig; und sie sind sich ihres Potenzials klar bewusst. Selbst die Regime, die überlebt haben, wurden von dem Prozess der Konfrontation und Einbindung von Gegnern tiefgreifend verändert. Die arabischen Medien und das durch die sozialen Medien geprägte informationelle Umfeld wird nie mehr dasselbe sein wie in den trostlosen 1970er und 1980er Jahren, als die Verbreitung von Informationen und Ideen staatlich kontrolliert wurde und die Menschen aus Angst vor Überwachung ihre politischen Ansichten für sich behielten. Die heutige arabische Politik ist grundlegend anders als damals, und arabische Staatsbürger haben völlig neue Erwartungen, Fähigkeiten und Erfahrungen.

Vorerst sind diese hoffnungsvollen langfristigen Tendenzen gegenüber der langen Liste von Schrecknissen, die über die Region hereingebrochen sind, in den Hintergrund getreten. Seit Ende 2012 ist fast alles schiefgelaufen. Die Aufstände haben zwar den Status quo erschüttert, aber keine besseren Alternativen aufgebaut. Libyen und Jemen, Syrien und Irak wurden im Zuge der Aufstände irreparabel zerrüttet. In Ägypten haben die Aufstände dazu geführt, dass aus einer brüchigen Autokratie eine neue, noch repressivere, in den Augen der Weltöffentlichkeit illegitime und politisch instabile Form der direkten und personenzentrierten Militärherrschaft wurde. Sie haben eine Welle der religiösen Spannungen und des Radikalismus ausgelöst, die die nationalen Identitäten tiefgreifend umgestaltet haben. Selbst der IS muss als eine Bewegung verstanden werden, die nicht die religiöse Frömmigkeit anspricht, sondern ihre Attraktivität aus der Entschlossenheit gewinnt, die alte Ordnung zu zerschlagen und durch eine neue Utopie zu ersetzen.

Wer die arabischen Aufstände optimistisch betrachtet, hat vergessen, wie weit die Autokraten der Region tatsächlich zu gehen bereit waren, um einen positiven Wandel zu verhindern. Baschar al-Assad hat Syrien in Brand gesteckt, um an der Macht zu bleiben. Mit ganz wenigen Ausnahmen haben die arabischen Führer bewiesen, dass sie bereit sind, für ihren Machterhalt alles zu tun. Sie haben die Volkserhebungen mit blutiger Gewalt, politischer und wirtschaftlicher Beteiligung und einer manipulativen Identitätspolitik zurückgedrängt. Sie haben die Schlachten um ihr politisches Überleben nicht nur im eigenen Land geschlagen, sondern auf den vielen neuen Schlachtfeldern der Region.

Deshalb erzählt dieses Buch die Geschichte der subversiven Kraft der arabischen Aufstände aus einer regionalen Perspektive. Es betont die Zusammenhänge zwischen den vielen komplizierten, lokalen politischen Schlachten und stellt sie in den Kontext eines großen politischen Kriegs um die Regionalordnung. Damit soll jedoch nicht die besondere Bedeutung der lokalen Politik oder die Verantwortung der politischen Akteure in den einzelnen Ländern kleingeredet werden.

Doch deren Entscheidungen und die Herausforderungen, die sie zu bewältigen hatten, bleiben unverständlich, wenn sie nicht im großen Zusammenhang der neuen Kriege in der arabischen Welt gesehen werden. Die lokale Politik konnte sich dem langen Kräftemessen zwischen Iran und Saudi-Arabien, den Auseinandersetzungen zwischen der Türkei, Katar und Saudi-Arabien um die sunnitische Führungsrolle, dem Konflikt zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten und der Muslimbruderschaft sowie der anhaltenden Infragestellung der Weltordnung durch kleine und gewaltbereite dschihadistische Gruppen nicht entziehen.

Wo immer möglich, beziehe ich mich in meiner Darstellung der Ereignisse auf arabische Quellen: auf eigene Gespräche, soziale Medien, die Fülle von Aufsätzen, Artikeln und Fernsehsendungen, die online zur Verfügung stehen. Ich versuche, lokale Akteure zu Wort kommen zu lassen, sie aber stets in ihrem extrem polarisierten und politisierten Kontext zu sehen. Man erweist der Debatte über die arabischen Aufstände einen schlechten Dienst, wenn man sich auf eine kleine Zahl von Gewährsleuten beschränkt, die komplizierte interne Debatten erklären sollen. Der Intensität der polarisierten politischen Debatten, die in fast allen Ländern des Übergangs geführt werden, sollte Rechnung getragen werden. Jede Beschwörung dessen, was »das Volk« will, sollte sofort als der politische Anspruch betrachtet werden, der sie ist. »Die Syrer«, »die Libyer« oder andere Bevölkerungsgruppen in den Bürgerkriegen dieser zerrissenen Länder haben nie gemeinsam irgendwelche Forderungen erhoben. Wenn man diese internen Debatten sichtbar macht, wird man die neue Politik in der Region sehr viel besser verstehen, als wenn man das Narrativ nur der einen Seite übernimmt – obwohl es natürlich sehr viel einfacher ist, mit diesem oder jenem zu sympathisieren.

Die sozialen Medien öffnen mir ein Fenster zu diesen Debatten. Soziale Internetplattformen, auf denen Millionen von Arabern tagtäglich ihre Gedanken mitteilen, bieten einen einzigartigen Einblick in diese internen Debatten, wenn man mit methodischer Strenge und analytischer Vorsicht herangeht und diese Mitteilungen durch Erfahrungen vor Ort und die historische Perspektive ergänzt. Die sozialen Medien bieten Wissenschaftlern einen wahren Fundus an Belegen und Einsichten, denn sie durchbrechen das von Regimen lange ausgeübte Informationsmonopol. Zu diesem Reichtum an Datenmaterial aus den sozialen Medien kommt in diesem Buch ein breites Spektrum an traditionellen Quellen hinzu: die konventionellen Medien, Umfrageergebnisse sowie zahlreiche persönliche Interviews und Gespräche mit politischen Entscheidungsträgern und Aktivisten in Washington, Europa und im gesamten Nahen Osten.

Dieses Buch stützt sich auch auf die Politikwissenschaft. Sie schärft den Blick für die strukturellen Triebkräfte von Ereignissen, für Vergleichsperspektiven und Differenzierungen. Lokal geführte Debatten und Argumente vermitteln essenzielle Erkenntnisse über gelebte Erfahrungen und die fundierten Entscheidungen der Menschen, die von den Ereignissen unmittelbar betroffen sind und diese Ereignisse voranbringen. Beide Quellen müssen einander ergänzen. Zieht man nur die Ansichten der Menschen in Betracht, die in die Geschehnisse involviert sind, wird die Analyse leicht von deren augenblicklichen Leidenschaften und Fehleinschätzungen verzerrt. Wir müssen immer den lokalen Kontext mitberücksichtigen, ohne die einseitige Perspektive unserer Gewährsleute vor Ort zu übernehmen. Viele Ägypter waren fest davon überzeugt, dass ihr Militärputsch einzigartig in der Geschichte der Militärputsche war. Viele Syrer erkannten nicht die unausweichliche Logik, die jedem Bürgerkrieg bei einer Intervention von außen zugrunde liegt. Beide irrten sich, mit verheerenden Folgen. Politikwissenschaftler andererseits laufen Gefahr, Theorien falsch anzuwenden, indem sie lokale Zusammenhänge oder Besonderheiten unberücksichtigt lassen oder die Erwartungen und Prioritäten lokaler Akteure verabsolutieren. Aus diesem Grund versuche ich, beide Seiten einzubeziehen, auch wenn eine solche Synthese keine Seite zufriedenstellt.

Dieses Buch bezieht den gesamten Nahen Osten ein, angefangen mit dem qualvollen Übergang in Ägypten und Tunesien bis zu den Kriegen in Syrien, Irak, Libyen und Jemen. Statt detailliert und ausführlich die Geschichte jedes einzelnen dieser Länder zu erzählen, möchte ich ein Grundgerüst für das Verständnis der neuen Politik in der Region bereitstellen. Ich möchte darlegen, was schiefgelaufen und was zu erwarten ist. Erfreulicherweise gibt es heute eine Fülle herausragender Untersuchungen zu den meisten dieser Länder, aus denen ich schöpfe und auf die ich alle Leser verweisen möchte, die diese Themen vertiefen möchten.

Praktisch jeder, der in jenen aufregenden Tagen der arabischen Aufstände über die Ereignisse schrieb, prognostizierte, der Wandel werde ein langer und schwieriger Prozess mit ungewissem Ausgang sein. Selbst in den aufregendsten Tagen der Tahrir-Proteste war klar, wie schwierig es sein würde, eine dauerhafte und substanzielle politische Demokratisierung zu erreichen. Die Aktivisten, die Anfang 2011 diese hoffnungsvollen Aufstände vorangetrieben haben, mussten schwere Niederlagen einstecken. Viele haben sich in eine kaum mehr wiedererkennbare Richtung weiterentwickelt: aus idealistischen Protodemokraten sind gewalttätige Radikale oder Apologeten des Regimes geworden. Doch die unterschwelligen Kräfte, die so viele arabische Bürger auf die Straße brachten, wirken in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik weiter. Autokratische Regime geben vor, sie hätten alles wieder unter Kontrolle. Vielleicht glauben sie es tatsächlich. Aber es stimmt nicht. Ihre entschlossenen Anstrengungen, die Kräfte des Wandels zu unterdrücken, sie einzubinden oder umzulenken, haben lediglich dazu geführt, die Möglichkeiten für friedliche Reformen zu kappen. Aber friedliche Proteste mit Gewalt niederzuschlagen und demokratische Institutionen zu diskreditieren, ohne die eigentlichen Missstände zu beheben, wird nur den Weg zu noch gefährlicheren Ausbrüchen ebnen.

Der Appell, als Antwort auf diese Tragödie das alte System der arabischen Staaten wiederherzustellen, verkennt eklatant das Problem, mit dem heute der Nahe Osten konfrontiert ist. Wie der Islamische Staat, so schlagen auch die erneut herrschenden arabischen Autokraten die Rückkehr zu einer Vergangenheit vor, die es nie gegeben hat. Ihre Vision einer Restauration der Autokratie stellt dem Chaos von heute die angebliche Stabilität und Berechenbarkeit der jüngeren Vergangenheit entgegen. Autoritäre Regime entsprächen zwar nicht den westlichen Werten, so argumentieren sie, aber sie funktionierten. Um das Chaos beherrschbar zu machen, bedürfe es einer starken Hand, die nur eine arabische Führung im alten Stil und ein mit umfassenden Machtbefugnissen ausgestatteter Sicherheitsstaat gewährleisten könne. Eine absolutistische Monarchie wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar oder auch eine Militärdiktatur wie Ägypten nach dem Putsch mag verlockend erscheinen, wenn man sie mit den Schrecknissen eines zerfallenden Libyen oder der in den Untergang taumelnden Länder Syrien und Irak vergleicht.

Aber dieser Weg ist eine Illusion. Die arabischen Aufstände sind ja gerade deshalb ausgebrochen, weil die Autokraten das Versprechen eines annehmbaren Lebens nicht einlösen konnten. Das Jahrzehnt vor den arabischen Aufständen war keine Epoche der Stabilität, der Reformen und der wirtschaftlichen Verbesserungen. Die autokratische Vergangenheit war eine Zeit der gescheiterten Regierungsführung, der wachsenden konfessionellen Spannungen und der immer drängenderen Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung. Die Aufstände sind nicht deshalb gescheitert, weil die Araber nicht reif gewesen wären für die Demokratie oder weil die Islamisten die Naivität hoffnungsvoller Liberaler geschickt ausnutzten. Der arabische Aufstand ist gescheitert, weil die Regime, die durch ihn herausgefordert wurden, ihn niederzwangen. Das vorliegende Buch handelt davon, wie dieses Verbrechen begangen wurde … und was als Nächstes geschieht.

Kapitel 1 Die neuen Kriege in der arabischen Welt

Am 30. September 2015, nach einem offiziellen Hilfsgesuch der Regierung Baschar al-Assad, schickten die Russen Jagdflugzeuge nach Syrien. Sie begannen sofort mit der Bombardierung insbesondere der das Assad-Regime bekämpfenden Rebellen. Ein Regionalkonflikt weitete sich zu einem noch stärker international geführten Krieg aus, da nun russische Kampfflugzeuge im selben Luftraum wie die Vereinigten Staaten und ihre Koalitionspartner operierten, die massive Bombenangriffe gegen den IS flogen.

Russlands Eingreifen diente der Entlastung von Assads Streitkräften. Diese waren unter Druck geraten durch ein neues und gut bewaffnetes Bündnis islamistischer Hardliner, das von Saudi-Arabien, Katar und der Türkei unterstützt wurde und im Norden gegen die erschöpften Truppen Assads schon weit vorgerückt war. Wenige Wochen zuvor hatten sich die Türkei und die Vereinigten Staaten über die Nutzung eines wichtigen türkischen Luftwaffenstützpunkts verständigt, der dazu genutzt werden konnte, Schutzzonen für Rebellen einzurichten. Die russische Intervention führte erwartungsgemäß zu einer verstärkten regionalen Unterstützung der Rebellen: Die arabischen Staaten beeilten sich, neue Waffen in das Kriegsgebiet zu schicken, und die mit ihnen verbündeten Rebellen versuchten mit vereinten Kräften, ihr Territorium zu halten. Am 24. November schoss die Türkei einen russischen Kampfjet ab, der ihrer Darstellung nach den türkischen Luftraum verletzt hatte. Als sich der Staub gelegt hatte, waren weder Assad noch die Rebellen einem Sieg näher gekommen. Binnen weniger Monate geriet der russische Einsatz ins Stocken, und ein Ende des zermürbenden syrischen Bürgerkriegs schien so weit entfernt wie eh und je.

Syrien war jedoch nur einer von drei Konfliktherden, die sich zu einem militärischen Sumpf ausweiteten und die gesamte Region erschütterten. Am 26. März 2015 begann eine saudisch geführte Koalition mit einer Militärintervention in Jemen, um die schiitische Huthi-Bewegung zurückzudrängen, die bereits Sanaa erobert hatte und auf Aden vorrückte. Die Saudis und ihre Partner, die Vereinigten Arabischen Emirate, wollten den abgesetzten Präsidenten Abd Rabbo Mansur al-Hadi an die Macht zurückbringen, der 2012 in einem Referendum als einziger Kandidat nach einem vom Golf-Kooperationsrat vorgelegten Übergangsplan gewählt worden war. Zu ihren Verbündeten in Jemen gehörten nach Unabhängigkeit strebende Kräfte im Süden, die mit der Muslimbruderschaft verbundene Islah-Bewegung und stillschweigend auch al-Qaida. Ihnen standen, von Iran unterstützt, nicht nur die Huthi gegenüber, sondern auch Kräfte des abgesetzten Präsidenten Ali Abdullah Saleh, eines langjährigen Verbündeten Saudi-Arabiens.

Die Architekten der saudischen Intervention betrachteten den politischen Zusammenbruch in Jemen hauptsächlich unter dem Aspekt der regionalen Ambitionen Irans. Sie propagierten die Intervention in Jemen als neues Modell für ein gemeinsames militärisches Vorgehen der Golfstaaten gegen Iran, unabhängig von den Vereinigten Staaten. Doch viele Monate später hatte der Einsatz nur wenige seiner Ziele erreicht. Die monatelangen Bombardierungen hatten großes menschliches Leid, aber kaum politischen Fortschritt gebracht. Dasselbe galt für den Einsatz von Bodentruppen nicht nur aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, sondern auch aus Ägypten, dem Sudan und sogar Kolumbien. Auch der Krieg in Jemen hatte sich zu einem zermürbenden militärischen Feldzug entwickelt, der zahlreiche Menschenleben forderte, aber keine politische Perspektive eröffnete.

Libyen steckte gleichfalls in einem Bürgerkrieg mit vielen verschiedenen Gruppierungen, einem hohen Maß an internationaler Intervention und wenig Aussicht auf ein siegreiches Ende. In diesem militärischen Sumpf tobte sich der regionale Machtkampf zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar, nicht Iran, aus. Gleich zwei Regierungen beanspruchten die Macht im nachrevolutionären Libyen. Zerrissen von politischer Polarisierung und hilflos gegen die gut bewaffneten Milizen, war der libysche Staat weitgehend zusammengebrochen. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten stellten sich hinter General Khalifa Haftar, um die von der Türkei und Katar unterstützten islamistischen und regionalen Kräfte militärisch zu besiegen. Schon bald kam es zu Luftangriffen, weil trotz eines offiziellen UN-Embargos viele Waffen ins Land gelangten. Die zunehmende Präsenz von Dschihadisten des Islamischen Staats in Libyen verschärfte die Situation, während UN-Vermittler sich bemühten, eine akzeptable Koalitionsregierung auf die Beine zu stellen, um den Kämpfen ein Ende zu setzen.

Im Fortgang dieser Kriege legte sich der IS wie ein Schatten über die gesamte Region. Der Welt wurde damit in Erinnerung gerufen, dass der von der amerikanischen Invasion und Besetzung des Irak entfesselte irakische Bürgerkrieg nie wirklich ein Ende gefunden hatte. Mit der Einnahme Mossuls im Juni 2014 und der Ausrufung eines islamischen Kalifats durch Abu Bakr al-Baghdadi rückte dieses Problem erneut in den Fokus der weltweiten öffentlichen Aufmerksamkeit. Nur wenige Jahre zuvor hatte die globale dschihadistische Bewegung kurz vor dem Scheitern gestanden. Die Tötung Osama bin Ladens im Mai 2011 durch die Amerikaner war für al-Qaida ein schwerer Rückschlag gewesen, symbolisch wie operativ. Ende der 2000er Jahre hatten das Sunni Awakening, das sunnitische »Erwachen«, und die US-geführte Koalition dem Islamischen Staat in Irak schwere Verluste zugefügt. Das arabische Aufstandsmodell eines friedlichen Wandels hatte die ideologische Vision al-Qaidas zunächst massiv diskreditiert. 2015 jedoch hatten sich Ableger von al-Qaida und des IS in Syrien, Jemen und Libyen, auf dem Sinai und in ganz Nordafrika wichtige Positionen erobert und verübten regelmäßig Terroranschläge in der ganzen Welt.

Der Grund für den Wiederaufstieg der Dschihadisten lag im Scheitern der arabischen Aufstände und in den Möglichkeiten, welche die neuen Kriege in der Region geschaffen hatten. Der Militärputsch in Ägypten im Juli 2013 hatte die Muslimbrüder zerschlagen und damit die mächtigste Konkurrenz der extremistischen Organisationen massiv geschwächt. Der Putsch hatte die von der Muslimbruderschaft verfolgte Strategie einer friedlichen demokratischen Partizipation der Lächerlichkeit preisgegeben und die alten Argumente der Dschihadisten für einen gewaltsamen Kampf bestätigt. Der staatliche Zusammenbruch in Libyen, in Ägypten und in Jemen hatte dschihadistischen Gruppen Raum gegeben, sich neu zu organisieren, Waffen zu beschaffen und neue Hochburgen zu errichten. Auch der Krieg in Syrien hatte den einstmals verpönten dschihadistischen Bewegungen umfangreiche finanzielle und militärische Unterstützung verschafft und den sunnitischen Aufstand im Irak neu entfacht. Und schließlich hatte auch der libysche Bürgerkrieg dem wiedererstarkten Dschihadismus eine weitere neue Front eröffnet.

Weniger als drei Jahre nachdem Präsident Obama den Einzug der Demokratie in Ägypten verkündet und die US-Truppen triumphal aus Irak abgezogen hatte, fand er sich in der Situation, ein neues Militärregime in Ägypten anerkennen und schwere Bombenangriffe gegen den selbsterklärten Islamischen Staat im östlichen Syrien und im westlichen Irak führen zu müssen. Luftangriffe und militärische Hilfsmissionen, an denen sich mehr als ein Dutzend Länder beteiligten, konnten zwar verhindern, dass ISIS (Islamischer Staat in Irak und Syrien) weitere Territorien eroberte, nicht aber dass sich die Organisation trotz des immer stärkeren inneren und äußeren Drucks in der Region festsetzen konnte. Während ISIS den Kampf in Syrien und Irak fortsetzte, bildete dieses Modell eine wachsende regionale und globale Bedrohung. Jetzt verübten Terroristen blutige Anschläge in Tunesien und in Jemen, in Ägypten, Libyen, Somalia und Paris und beriefen sich dabei ideologisch oder organisatorisch auf den IS.

Im Nahen Osten hatte es kaum jemals zuvor gleichzeitig eine solche Vielzahl von Kriegen und Interventionen gegeben. Eine neue Form der Regionalpolitik ist entstanden, in der Netzwerke ihre politischen und militärischen Aktivitäten über Ländergrenzen hinweg entfalten und Staaten gegen ihren Zerfall kämpfen. In Jemen, Libyen, Irak und Syrien fanden lediglich die am stärksten international geführten heißen Kriege in einer Region statt, in der staatlicher Zusammenbruch, Terrorismus und Unruhen immer weiter um sich griffen. Ägypten war mit einem eskalierenden Aufstand auf der Sinai-Halbinsel und zunehmend auch in den Städten des Landes konfrontiert. Der Terrorismus zielte wiederholt ins Herz der tunesischen Tourismusbranche, aber auch auf schiitische Moscheen in Saudi-Arabien und Kuwait. Unter der Last der Flüchtlinge und der transnationalen Gewalt brachen Libanon und Jordanien fast zusammen. Bahrain war nach der gewaltsamen Niederschlagung religiös motivierter Proteste immer noch nicht zur Ruhe gekommen. Diese Auseinandersetzungen überschnitten sich: Dschihadisten des Islamischen Staats gingen von Syrien nach Libyen, um dort zu kämpfen; libysche Dschihadisten gingen nach Tunesien, um die Touristenorte anzugreifen; Staatsbürger aus Saudi-Arabien, Bahrain und Kuwait gingen nach Syrien, um für oder gegen den Islamischen Staat zu kämpfen.

Alle diese Kriege in der Region und alle diese inneren Unruhen sind Teil einer größeren Geschichte. Die gescheiterten demokratischen Übergänge des sogenannten Arabischen Frühlings, der Aufstieg des IS und die diversen Kriege im Nahen Osten werden oft als getrennte Ereignisse betrachtet. Das sind sie nicht. Der Übergang in Ägypten, der Bürgerkrieg in Syrien, der Zusammenbruch Libyens, der Aufstieg des IS und der Erfolg des Übergangs in Tunesien sind vielmehr Teil einer einzigen Geschichte. Der arabische Aufstand war ein einheitliches Geschehen, das die gesamte arabische Welt in einem gemeinsamen, enorm wirkmächtigen Narrativ der Hoffnung auf Wandel einte. Dessen Scheitern in den einzelnen Ländern wurde oft mit den jeweils dort herrschenden Bedingungen erklärt. Doch diese Kämpfe um die Zukunft der arabischen Welt waren und sind ihrem Wesen nach regionale Machtkämpfe. In Umfragen der letzten fünf Jahre waren fast 70 Prozent der Araber der Ansicht, die Einmischung von außen behindere die Reformen in ihrem Land.3 Mit den einprägsamen Worten des maßgeblichen saudischen Experten Abd al-Rahman al-Rashed vom April 2015 ist »die Region ein einziges großes Spielfeld, ihre Kriege hängen alle zusammen«.4 Er hat recht, auch wenn die Schlussfolgerungen, die er aus dieser Beobachtung zog, größtenteils falsch waren.

Der Aufstand in der arabischen Welt und sein Scheitern waren ein durch und durch internationales Phänomen. Er war geprägt von der Verschiebung globaler und regionaler Machtdynamiken, von schweren Erschütterungen einer brüchigen und stagnierenden regionalen Ordnung sowie einem rapiden und tiefgreifenden Wandel der Medien und der Informationstechnik. Die Akteure bewegten sich auf vielen Feldern, sie holten sich Anregungen und materielle Unterstützung von Befürwortern und Gegnern aus dem Ausland. Über Ländergrenzen hinwegreichende Netzwerke gleichgesinnter Bewegungen und Einzelpersonen – von Islamisten wie Antiislamisten, Sunniten wie Schiiten, Liberalen wie Monarchisten – traten an die Stelle nationaler Narrative. Ideen, Strategien, Hoffnungen und Ängste wanderten schnell und entschlossen von einer Protestbewegung zur anderen und von einer Regierung zur anderen. Bedrängte Regime lernten vom Erfolg und Scheitern benachbarter Regime. Protestbewegungen beurteilten die Aussichten friedlicher oder gewalttätiger Aktionen auch nach den Ergebnissen anderswo, genau wie ihre Unterstützer.

Internationale Kräfte mischten in jeder Phase der regionalen Unruhen mit – vom Beginn des Aufstands bis zu den Auseinandersetzungen um den Übergang und den Stellvertreterkriegen und -aufständen. Es lässt sich nicht erklären, warum in fast allen arabischen Ländern soziale Protestbewegungen entstanden, die ihre Wurzeln gleichzeitig in den Verhältnissen des jeweiligen Landes hatten. Und mit Ausnahme Tunesiens – und auch das nur mit Abstrichen – lässt sich das Ergebnis des Übergangs ohne externe Faktoren nicht erklären. Die Bürgerkriege in den arabischen Ländern wurden maßgeblich durch den Zustrom von Geld, Informationen, Menschen und Waffen aus anderen Ländern bestimmt. Alle Beteiligten sahen sich als Akteure in einer einzigen großen regionalen Arena – und diese Wahrnehmung gestaltete die politische Wirklichkeit. Die Rolle Saudi-Arabiens, Irans, Katars, der Türkei und der Vereinigten Arabischen Emirate in der regionalen Politik drängte zudem den oft polarisierenden Einfluss der Vereinigten Staaten in der Region zurück.

Diese neue politische Realität spiegelte sich in den arabischen Medien und in der Rhetorik der politischen Eliten. Viele Araber sahen es genauso. Im Frühjahr 2012 befragte das Meinungsforschungsinstitut Gallup Menschen in der gesamten Region, ob die Aufstände ihrer Ansicht nach eher dem Wunsch nach innenpolitischer Veränderung oder dem Einfluss aus dem Ausland geschuldet seien.5 Das Ergebnis war überraschend: Die Öffentlichkeit in den revolutionären Ländern war generell der Ansicht, dass den Aufständen innenpolitische Motive zugrunde lagen. Die Rolle des Auslands wurde von nur 7 Prozent der Libyer, 9 Prozent der Tunesier, 11 Prozent der Ägypter und 19 Prozent der Jemeniten hervorgehoben. In den Ländern dagegen, in denen die Proteste weniger stark ausgeprägt waren, zeigten sich die Menschen eher geneigt, die Bedeutung externer Faktoren einzuräumen: 29 Prozent der Iraker, 37 Prozent der Algerier, 32 Prozent der Jordanier und 31 Prozent der Palästinenser. Rund 20 Prozent der Öffentlichkeit in den revolutionären Ländern fanden, dass beide Faktoren eine Rolle spielten; in den Ländern, in denen es keinen Aufstand gab, waren es dagegen fast 50 Prozent.

Ein Jahr später, als in einigen dieser Länder der Übergangsprozess schon zu scheitern drohte, fragte das Arab Barometer in einem Dutzend arabischer Länder nach dem Einfluss der Nachbarstaaten auf die Entwicklung der Demokratie in ihrem Land.6 Nur 34 Prozent der Befragten in der Region waren der Ansicht, die Nachbarstaaten hätten eine sehr positive oder eine überhaupt in irgendeiner Weise positive Rolle gespielt. In Tunesien, dem ersten arabischen Land, in dem ein Aufstand begann, sahen nur 21 Prozent der Befragten ihre Nachbarstaaten in einer positiven Rolle; 55,8 Prozent betrachteten Reformforderungen von außen als inakzeptabel. In Ägypten schätzten 34 Prozent der Befragten die Rolle ihrer Nachbarstaaten für die demokratische Entwicklung als positiv und 36 Prozent als negativ ein, und nur 16,6 Prozent beurteilten sie »weder positiv noch negativ«; dagegen betrachteten 45 Prozent der Ägypter Reformforderungen von außen als inakzeptabel. Für Tunesien und Ägypten, die beiden wichtigsten Staaten des arabischen Aufstands, war also eine Einmischung von außen nicht wünschenswert. In Jemen dagegen sahen 41,3 Prozent der Befragten ihre Nachbarländer positiv, und 48,2 Prozent erachteten den Druck von außen als legitim. Die Libyer, die durch eine ausländische Intervention befreit worden waren und eine tiefe Krise staatlicher Lähmung erlebten, waren sogar noch aufgeschlossener: 54,3 Prozent beurteilten die Rolle der Nachbarstaaten positiv und nur 17 Prozent negativ; 56,6 Prozent begrüßten den Reformdruck von außen.

Bei aller Bedeutung lokaler Faktoren überrascht es doch, wie ähnlich die Entwicklung an sehr unterschiedlichen lokalen Schauplätzen verlief. Für die Menschen vor Ort, die die arabischen Aufstände miterlebten, war es offenkundig, dass alle diese Proteste eng miteinander verknüpft waren. Viele Ereignisse vollzogen sich gleichzeitig in der gesamten Region, sie begannen nicht in einem bestimmten Land oder blieben auf dieses Land begrenzt. Und auch der Verlauf der Aufstände selbst war ein länderübergreifendes Geschehen. Der politische Führungswechsel in einem Land – angefangen mit der Entmachtung Hosni Mubaraks und der Tötung Muammar Gaddafis bis zum ägyptischen Militärputsch – beeinflusste die politische Entwicklung in anderen Ländern, die sich in einer völlig anderen Situation befanden. Der Zerfall von Staaten oder auch Kriege wirkten sich stets auf die Nachbarstaaten aus. So erschütterten die Geschehnisse in Syrien die sunnitische Politik in Irak, und die Entwicklung Libyens hatte verheerende Folgen für Mali. Globale Ereignisse wirkten sich gleichzeitig auf vielen Schauplätzen aus: Die Proteste gegen den antiislamischen Film Innocence of Muslims im September 2012 zum Beispiel flammten gleichzeitig in Dutzenden arabischer Staaten auf; und eine so wichtige diplomatische Initiative wie die Bemühungen um eine Verhandlungslösung im Atomstreit mit Iran und das Scheitern der israelisch-palästinensischen Gespräche bestimmten die politische Dynamik der gesamten Region auf allen Ebenen.

Der Aufstand versprach anfangs einen Wandel in Gesellschaften, die nach Jahrzehnten das Joch despotischer Regime abgeschüttelt hatten. Beginnend in Tunesien, sich nach Ägypten ausbreitend und dann praktisch alle arabischen Staaten erfassend, brachten diese Aufstände Millionen Menschen mit der Forderung nach politischem, sozialem und wirtschaftlichem Wandel auf die Straße. Trotz ihrer lokalen Besonderheiten waren diese Aufstände durch gemeinsame Themen, Slogans, Aktionen, Erwartungen und Hoffnungen eng miteinander verbunden. Die Proteste gingen quer durch alle ideologischen Lager, propagierten gewaltlosen Widerstand und setzten sich über traditionelle konfessionelle und religiöse Gräben hinweg. Keiner Regierung oder einzelnen Bewegung verpflichtet und gestärkt durch die weit verbreiteten Kommunikationstechniken, durchkreuzten diese Protestbewegungen alles, was man von der Politik in der arabischen Welt bis dahin kannte.

Die herrschenden Regime reagierten hart auf diese beispiellose Herausforderung, um sich vor Ansteckung zu schützen. Das war nicht anders zu erwarten. Die arabischen Regime kannten bis dahin nur eine einzige Maxime: Machterhalt um jeden Preis. Und bei der Niederschlagung der Massenproteste in der Region hatte diese Strategie auch jetzt Erfolg. Die einstmals stolze Revolution auf dem Tahrir-Platz in Ägypten endete mit einem Militärputsch, mit blutiger Gewalt, der Wiederherstellung der alten Ordnung und einer erstickenden Welle der Repression und des Neopopulismus. Jemen und Libyen versanken im Bürgerkrieg. Der Aufstand in Bahrain wurde von den Truppen der mit dem dortigen Regime verbündeten Golfstaaten niedergeschlagen. Das blutige Patt in Syrien wurde durch das Auftauchen des selbsternannten Islamischen Staats beendet, der sich mit seinen irakischen Vorläufern vereinigte, um Territorien zu erobern und ein absurdes Kalifat auszurufen. Die Araber, die sich, oft zu einem hohen persönlichen Preis, den Aufständen angeschlossen hatten, fühlten sich verraten.

Das heißt nicht, dass dem Aufstand oder dem, was ihm folgte, eine finstere Verschwörung zugrunde lag oder dass die Ereignisse einem ausgeklügelten Masterplan folgten. Die Bedeutung des nationalen, innenpolitischen Umfelds und die Rolle lokaler Akteure in der Region lassen sich nicht leugnen, ganz im Gegenteil. Die Rivalität zwischen Staaten, sozialen Gruppen und politischen Bewegungen entfesselte Kräfte, die bald unkontrollierbar wurden. Stellvertreter hielten nicht, was sie versprochen hatten, oder liefen aus dem Ruder. So ziemlich alle Pläne gingen schief. Keiner der Akteure besaß die Macht, die Ereignisse so zu gestalten, wie sie in den Königspalästen ersonnen oder in den staatlich kontrollierten Medien propagiert worden waren. Angesichts der extremen Unsicherheit und der schier unerschöpflichen Ressourcen, die ihren Ambitionen von außen zur Verfügung gestellt wurden, gerieten die lokalen Akteure reihenweise ins Schleudern. Unter derart instabilen Bedingungen führte der Zustrom von Waffen nicht zu mehr Einfluss, sondern zu Gewalt, Chaos und Radikalisierung. Den Revolutionären gelang es nicht, ihre mobilisierende Kraft für die Gründung stabiler politischer Parteien einzusetzen. Lokale Milizen rissen die Macht an sich, ohne Rücksicht auf das Wohl des Landes. Die Islamisten warfen alles in die Waagschale, um in den neu entstehenden Systemen das Sagen zu haben. Zu deren Abwehr suchten die Liberalen doch wieder den Schulterschluss mit dem Militär und den Monarchen am Golf – mit verheerenden Folgen. Das Scheitern des arabischen Aufstands liest sich wie ein Katalog unbeabsichtigter Folgen und falscher Strategien.

Die Bemühungen der Vereinigten Staaten und der Regionalmächte, die Ereignisse in diesen Ländern im Übergang zu kontrollieren, nahmen einen vorhersehbaren Verlauf. Fast alle Versuche der Regionalmächte, durch die Unterstützung einzelner Fraktionen von außen einzugreifen, verfehlten ihr Ziel und machten oft alles nur noch schlimmer. Die iranische Unterstützung schiitischer Milizen in Libanon, Syrien und Irak führte zwar zur militärischen Stärkung Irans, heizte aber die konfessionellen Konflikte weiter an. Die Aktivitäten der arabischen Regime und der Türkei hatten noch verheerendere Folgen. Zum Sturz Baschar al-Assads in Syrien führten sie nicht. Der von den Golfstaaten vorgelegte Übergangsplan für Jemen scheiterte kläglich. Nach der internationalen Intervention gegen Gaddafi wurde Libyen zu einem tief gespaltenen, gescheiterten Staat. Das ägyptische Militärregime, dessen Rückkehr an die Macht von externen Kräften gefördert wurde, schien auch mit Milliarden Dollar Finanzhilfen unfähig, die Stabilität des Landes wiederherzustellen und die am Boden liegende Wirtschaft aufzurichten. Und mit dem Aufstieg des Islamischen Staats gewann eine dschihadistische Bewegung neuen Zulauf, die man unter Kontrolle zu haben glaubte und die in der eigenen Bevölkerung zunehmend Sympathien gewann. Der Wiederaufstieg autokratischer Regime, die wachsende Militarisierung, Stellvertreterkriege, aber auch eine Vielzahl neuer, aggressiver dschihadistischer Bewegungen – all das entsprach nicht der von den Aufständischen in der arabischen Welt erhofften Entwicklung. Keiner von denen, die Anfang 2011 auf die Straße gingen, wollte die Monarchien stärken, eine Eskalation der Gewalt und Repressionen autokratischer Regime oder eine größere militärische Einmischung in die politischen Auseinandersetzungen in seinem Land. Keiner von ihnen rief zum Dschihad und zur Errichtung eines neuen Kalifats auf, zu konfessioneller Polarisierung oder zur brutalen Unterdrückung des islamistischen Mainstream. Doch die Ereignisse entzogen sich der Kontrolle derjenigen, die sie in Gang gesetzt hatten.

Aber nicht nur der arabische Aufstand veränderte das Ordnungsgefüge in der Region, sondern auch die internationalen Bemühungen um ein Atomabkommen mit Iran. Iran an der Entwicklung von Atomwaffen zu hindern war seit mehr als einem Jahrzehnt vorrangiges Ziel der amerikanischen und internationalen Diplomatie. Insbesondere Israel warnte seit langem vor den verheerenden Folgen eines iranischen Nukleararsenals. Doch für die meisten Akteure in der Region war das Problem der Atomwaffen nur Ausdruck eines größeren Ringens mit Iran um die Macht in der Region. Das iranische Atomprogramm diente zwar der Rechtfertigung eines breitgefächerten Systems von Sanktionen gegen Teheran und der Kämpfe gegen Irans Stellvertreter in der Region, aber es war nicht die Hauptsorge der arabischen Regime. Ihre Sorge war vielmehr, dass der Atomdeal (wie erfolgreich auch immer er die Verbreitung von Nuklearwaffen verhindern würde) einer regionalen Ordnung den Boden entzog, die auf die Bekämpfung des iranischen Einflusses gegründet war.

Die Verwerfungen der regionalen Ordnung infolge des Aufstands in der arabischen Welt und des Atomdeals mit Iran heizten die neuen Stellvertreterkriege im Nahen Osten kräftig an. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und andere Regime am Golf demonstrierten ein Selbstvertrauen, das durch ihr reales Gefühl tiefer Verunsicherung Lügen gestraft wurde. 2015 rühmten sich die Machthaber am Golf eines neuen Modells des militärischen und politischen Handelns in der Region, das die jahrzehntelange Abhängigkeit vom Westen und die damit verbundene Zaghaftigkeit beenden sollte. Während sie ihre Muskeln spielen ließen, schienen sie zu glauben, sie hätten die Welle des Volksprotestes aufgehalten und bei der Neugestaltung der Region die Führung übernommen. Ihre militärischen Anstrengungen brachten jedoch weder in Syrien noch in Jemen den gewünschten Erfolg. Vielmehr konnte ihre Diplomatie das Atomabkommen mit Iran nicht verhindern, ihre entscheidende Allianz mit Washington wurde schwer belastet, und der Sturzflug der Ölpreise bedrohte die Grundlage ihrer innenpolitischen Stabilität.

Angeheizt wurden die neuen Kriege in der arabischen Welt von dem fieberhaften Bemühen der alten Ordnung, sich gegen diese unaufhaltsamen Veränderungen zu behaupten. Die Folgen waren katastrophal. Der Putsch in Ägypten brachte ein instabiles, gewaltbereites und unberechenbares Militärregime an die Macht, das dem Land Jahre der inneren Unruhen zu bringen verspricht. Die Repressionen gegen die Muslimbrüder in der gesamten Region machten Strategien einer friedlichen Partizipation zunichte und ebneten extremen dschihadistischen Ideen und Organisationen den Weg. Die Einmischung ausländischer Mächte in die Kriege in Syrien, Libyen und Jemen hat diese Staaten zerstört, unfassbares menschliches Leid gebracht und den Aufstieg des Islamischen Staats in Syrien und in Irak befördert. Die saudisch-iranische Rivalität entfesselte aggressive neue Formen des Glaubenskampfes. Und die rigorose Weigerung der alten Eliten, einen schrittweisen Wandel zuzulassen, hat die Region zu einem weitaus schlimmeren Schicksal verurteilt: dem Aufstieg des Islamischen Staats, aber auch der Entfesselung anderer, noch viel bedeutsamerer Kräfte, die in seinem Fahrwasser in Erscheinung treten werden.

Die regionale Ordnung vor dem Aufstand

Der Aufstand in der arabischen Welt, der im Dezember 2010 in Tunesien begann, erfolgte in einem entscheidenden Augenblick der regionalen Geschichte. Als Präsident Obama im Januar 2009 sein Amt antrat, genoss er breiten nationalen und internationalen Rückhalt für sein Versprechen, ein Jahrzehnt des Krieges zu beenden. Obamas Hauptaugenmerk galt der Wiederaufnahme der israelisch-palästinensischen Friedensgespräche, dem Abzug der US-Truppen aus Irak und der Neugestaltung der Beziehungen zur muslimischen Welt.

Obamas Hoffnung auf Wandel stellte eine Regionalordnung in Frage, die sich nach der Invasion und der Besetzung des Irak unter der Bush-Regierung konsolidiert hatte. Die Regionalpolitik war in der Konfrontation zweier Blöcke festgefahren: eines »Widerstandsblocks« (auch »Achse des Widerstands« genannt) unter Führung Irans und eines »gemäßigten Blocks« sunnitischer Autokraten unter Führung Saudi-Arabiens. Diese beiden Blöcke führten ihre Stellvertreterkriege auf diversen Schauplätzen, auch im besetzten Irak, in Libanon, Jemen und Palästina. Die autokratischen Regime der Region, die vermeintlich die Zügel fest in der Hand hatten, kämpften in Wirklichkeit mit wachsenden wirtschaftlichen Problemen und neuen Formen des politischen Protests.

So unpopulär die Politik der Bush-Regierung auch war, sie definierte dennoch die regionale Ordnung des Nahen Ostens im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts: Es war eine zutiefst amerikanische Ordnung. Mit ihren gewaltigen Ölreserven und aufgrund ihrer strategischen Lage war die Region für die Supermächte während des Kalten Kriegs von besonderem Interesse gewesen. Doch die Vereinigten Staaten waren auch aufgrund ihrer besonderen Beziehung zu Israel in der Region involviert. Die Rivalität der Supermächte, der Zugang zum Öl und der arabisch-israelische Konflikt bestimmten nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang die Politik in der Region.

Das änderte sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre. Nachdem die Sowjetunion als globaler Rivale ausgeschieden war, konnten die Vereinigten Staaten im Nahen Osten ein neues Ordnungsgefüge schaffen, in dem alle Wege nach Washington führten. Die Bildung einer arabischen Koalition zur Mithilfe bei der Befreiung Kuwaits von der irakischen Besatzung 1990 markierte den Übergang von der Ordnung des Kalten Kriegs zu einer amerikanisch dominierten regionalen Ordnung. Die Operation »Wüstensturm« einte traditionelle Verbündete der USA wie Ägypten und Saudi-Arabien und Gegner wie Syrien sowie (stillschweigend) auch Israel. Da es keine ernstzunehmende Alternative zu den Vereinigten Staaten gab, waren die regionalen Akteure gezwungen, sich zwischen der Einbindung in die amerikanisch dominierte Ordnung und der politischen Isolierung als »Schurkenstaaten« zu entscheiden. Eine große Öffentlichkeit sah diese amerikanisch dominierte Regionalordnung kritisch, was in Washington gelegentlich zu Kopfzerbrechen über einen »Antiamerikanismus« führte. Diese weit verbreitete Feindseligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten hatte jedoch kaum Auswirkungen auf die Außenpolitik der autokratischen Regime, die sich sicher wähnten, diese feindselige Stimmung der Öffentlichkeit ignorieren zu können.

Die Führungsrolle der USA in dieser schwierigen Koalition bedeutete jedoch unablässige Wartung und Pflege. In den 1990er und 2000er Jahren führte Amerika endlos lange, wenngleich ergebnislose Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern sowie zwischen Israelis und Syrern; Washington stand damit im Zentrum fortwährender diplomatischer Aktivitäten. Gleichzeitig hielten die Vereinigten Staaten am Dual Containment fest, der »doppelten Eindämmung« als politischer Leitlinie gegenüber Irak und Iran, was eine Verstärkung ihrer militärischen Präsenz am Golf erforderlich machte. In den kleineren Golfstaaten entstanden dauerhafte amerikanische Militärstützpunkte, nachdem die antiamerikanische Stimmung in der saudi-arabischen Bevölkerung einen Abzug der Amerikaner aus dem Land notwendig gemacht hatte. Die Überwachung der Flugverbotszonen und der Sanktionen gegen Irak bedeutete ein beständiges militärisches Engagement und provozierte eine Vielzahl politischer Krisen innerhalb der Vereinten Nationen und in der gesamten Region. Die sich immer deutlicher abzeichnende humanitäre Katastrophe aufgrund der Wirtschaftssanktionen gegen Irak, für die man vorrangig die Vereinigten Staaten verantwortlich machte, wurde in weiten Teilen der arabischen Öffentlichkeit zu einem wichtigen Thema. Die wachsenden Feindseligkeiten gegenüber den USA halfen den arabischen Diktatoren nur, ihre repressiven Methoden zu rechtfertigen, über die Washington bereitwillig hinwegsah.

Der Umgang der USA mit ihrer dominanten Position veränderte sich um die Jahrtausendwende grundlegend. In den 1990er Jahren bemühten sie sich gemeinsam mit ihren autokratischen Verbündeten um den Erhalt des Status quo. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf Washington und New York schwenkte die Bush-Regierung auf eine aggressive neue, revisionistische Strategie in der Region um. Die autokratischen Regime – ein Status quo, der jahrzehntelang als akzeptabel gegolten hatte – wurden jetzt als Brutstätte von Extremismus und Gewalt betrachtet und erschienen nicht mehr hinnehmbar. Die US-Regierung und ihre Verbündeten betrachteten den Sturz Saddam Husseins als den entscheidenden Katalysator für die Umgestaltung der Region. In diesem Punkt immerhin sollten sie recht behalten – die Folgen allerdings hatten sie sich ganz anders vorgestellt.

Die Irak-Invasion, der auf allen Ebenen geführte massive Krieg gegen den Terror und die »Freiheits-Agenda« zur Förderung des demokratischen Wandels veränderten das Machtgleichgewicht in der Region auf tiefgreifende Weise – und die Vereinigten Staaten bezahlten dafür einen hohen Preis. Saddams Sturz führte zu einer enormen Stärkung der Macht Irans. Nachdem Irans wichtigster militärischer Rivale ausgeschaltet war, konnten von Teheran unterstützte Gruppen im neuen Irak politische Führungspositionen einnehmen. Die erschrockenen Golfstaaten verstärkten ihre Anstrengungen, den iranischen Einfluss zurückzudrängen, indem sie von Amerika immer größere Sicherheitsgarantien verlangten und sich immer enger an die Seite Israels stellten – der einzigen Macht, die ein Gegengewicht zu einem zunehmend erstarkenden Iran bilden konnte. Hunderttausende amerikanische Soldaten schlugen für scheinbar unabsehbare Zeit ihr Quartier in Irak und in Afghanistan auf, während Zahl und Aufgaben der Militärstützpunkte am gesamten Golf dramatisch anstiegen. Mit dem globalen Krieg gegen den Terror mischten sich die Vereinigten Staaten immer mehr in das Leben und die Politik, in Wirtschaft, Gesetzgebung und Rechtsprechung, in das Bildungssystem, die Medien und den offiziellen religiösen Sektor der arabischen Bevölkerung ein. Gleichzeitig hielten sie jedoch entschlossen an ihrer Unterstützung Israels fest, obwohl gar kein ernstzunehmender Friedensprozess im Gange war und obwohl Israel äußerst fragwürdige Kriege gegen die Palästinenser und die Hisbollah führte. Nicht zufällig war dies ein Jahrzehnt sowohl des radikal gesteigerten amerikanischen Interventionismus als auch eines dramatisch wachsenden Antiamerikanismus.

Diese neue Regionalordnung verfestigte sich im Laufe der Zeit. Arabische Regime gewöhnten sich an den massiven amerikanischen Interventionismus, nachdem sie festgestellt hatten, dass ihr persönliches Überleben dadurch nicht bedroht war. Sie befürworteten eine Bündnisstruktur, die hauptsächlich auf der Eindämmung Irans basierte und nicht Demokratie und Menschenrechte, sondern vorrangig die Terrorbekämpfung zum Ziel hatte. Sie konnten gut damit leben, dass es in der Beziehung zwischen Israelis und Palästinensern keine Fortschritte gab. 2010 standen nur noch Iran und Syrien außerhalb dieser amerikanisch dominierten Ordnung, und beide Staaten waren bestrebt, Teil dieses neuen Ordnungsgefüges zu werden. Syrien, das sich der US-geführten Koalition gegen Irak angeschlossen und in den 1990er Jahren an den Friedensgesprächen mit Israel beteiligt hatte, suchte die diplomatische Zusammenarbeit mit Washington. Und was noch viel wichtiger war: Auch Iran betrachtete Atomverhandlungen jetzt nicht mehr als Hindernis, sondern als einen Weg, seine Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und der internationalen Gemeinschaft insgesamt neu zu gestalten.

Die Bewertung der Aufstände in der arabischen Welt und des Atomdeals mit Iran hängt weitgehend davon ab, wie man die Ordnung in der Region in den zehn Jahren davor sieht. Die 2000er Jahre werden heute seltsamerweise als eine Epoche der relativen Stabilität im Nahen Osten dargestellt – eine Zeit der engen Kooperation Washingtons mit seinen Verbündeten in der Region, nicht als eine Zeit der Spannungen. In der Rückschau ist das jedoch eine reichlich bizarre Verfälschung. Tatsächlich war die erste Dekade des 21. Jahrhunderts zutiefst von Gewalt und Instabilität geprägt. Sie war gekennzeichnet von der Besetzung des Irak, von aufeinanderfolgenden Kriegen Israels gegen die Palästinenser und die Hisbollah sowie von eskalierenden konfessionellen Spannungen und dschihadistischer Gewalt. Irans Einfluss war keineswegs eingedämmt, sondern hatte sich weit nach Irak hinein ausgedehnt. Das Land kam dem Besitz von Atomwaffen immer näher. Der Aufstand in der arabischen Welt verdeutlichte, wie brüchig die vermeintliche Stabilität der autokratischen Regime tatsächlich war.

Ein genauerer Blick auf diese regionale Politik zeigt, wie falsch eine nostalgische Sicht dieser Ordnung vor Beginn der Aufstände ist. Es war der lange kalte Krieg zwischen den von Iran und Saudi-Arabien geführten Blöcken, der die Politik in der Region gestaltete. Und dabei spielten geopolitische ebenso wie konfessionelle Aspekte eine große Rolle. Gleichzeitig fanden tiefgreifende Auseinandersetzungen innerhalb des sunnitischen Lagers statt, die jeden auf bloß konfessionellen Differenzen beschränkten Erklärungsversuch der Konflikte zu simpel erscheinen lassen. Die Rivalität zwischen Katar und Saudi-Arabien sowie der Kampf zwischen Islamisten und den Regimen waren oft bedeutsamer als der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Darüber hinaus war dieses Jahrzehnt auch durch eine immer mächtiger werdende Welle der Opposition in der Bevölkerung und einen erstaunlich raschen Wandel des medialen Umfelds bestimmt, wodurch die autokratischen Regime von allen Seiten unter Druck gerieten.

Das regionale Machtgleichgewicht war in den 1990er Jahren einigermaßen stabil gewesen. Mit der US-geführten Irak-Invasion 2003, welche die »Achse des Bösen« brechen und amerikafreundliche, moderate Kräfte stärken sollte, kippte dieses Gleichgewicht zugunsten Irans. Der Sturz Saddam Husseins eliminierte den einzigen militärisch potenten arabischen Nachbarn Irans und ließ den Golfstaaten nur noch wenige gangbare Bündnisoptionen gegen Teheran offen. Die Vereinigten Staaten verstärkten ihr militärisches und politisches Engagement am Golf erheblich, gerieten jedoch in Irak und in Afghanistan zunehmend in den Sumpf einer endlosen Aufstandsbekämpfung. Da alle Ressourcen in diese Kampagnen flossen, verlor die Bush-Regierung die Lust an einer Ausweitung ihrer Kriege auf Syrien oder Iran. 2007/2008, auf dem Höhepunkt des Konflikts, waren mehr als 160.000 amerikanische Soldaten im Kampfeinsatz in Irak. Dieses massive militärische Engagement bildete zwar in gewisser Weise ein Gegengewicht zur Macht Irans, diente aber zugleich dem Schutz der irakischen Zentralregierung, die von schiitischen Politikern dominiert wurde. Demokratische Wahlen mit Regeln, die primär von Washington diktiert waren, stärkten die schiitische Mehrheit in Irak, was viele sunnitische Führer am Golf als einen unausweichlichen Schulterschluss Bagdads mit Teheran interpretierten. Saudi-Arabien und andere Golfstaaten verspürten die dringende Notwendigkeit, ein Gegengewicht gegen die wachsende Macht Irans zu schaffen.

Die arabische Welt polarisierte sich in zwei breiten Koalitionen: einem »gemäßigten Block« sunnitischer Diktatoren, die mit den Vereinigten Staaten (und indirekt auch mit Israel) verbündet waren; und einem »Widerstandsblock« mit Iran, Syrien, der Hisbollah und der Hamas. In diesem kalten Krieg bekämpften sich die Hauptakteure fast nie direkt. Vielmehr führten sie ihren Kampf um politischen Einfluss mittels Stellvertreterkriegen und rivalisierenden Interventionen in den schwachen Staaten der Region.7 Der kalte Krieg wurde in den panarabischen Medien, in transnationalen Netzwerken und leicht zugänglichen arabischen politischen Systemen geführt. In Libanon kämpfte die von den Saudis unterstützte Allianz des 14. März gegen die von der Hisbollah und von Syrien dominierte Allianz des 8. März (auch Widerstands-Koalition genannt). In Irak unterstützten alle Nachbarn – angefangen mit Iran und Syrien bis hin zu Saudi-Arabien, Jordanien und der Türkei – bewaffnete Gruppen, Stämme, politische Parteien und einzelne Politiker. In Palästina demonstrierten die Regionalmächte ihre Macht durch Unterstützung der Hamas oder verschiedener Fraktionen der Palästinensischen Autonomiebehörde.

Nur selten stand die breitere Öffentlichkeit geschlossen hinter einem dieser Blöcke. Einigende Elemente wie die Feindschaft gegenüber Israel und das Drängen auf mehr Demokratie bildeten ein Gegengewicht zum vertikalen Druck einer Polarisierung entlang konfessioneller Bruchlinien. Der Krieg der Hisbollah gegen Israel 2006 zum Beispiel stieß in der arabischen Öffentlichkeit auf fast einhellige Zustimmung. Die Diskrepanz zwischen der offiziellen Position der meisten arabischen Regime und der Einstellung einer großen Mehrheit der arabischen Öffentlichkeit wurde in dieser Zeit offenkundig. Die arabischen Regime ließen Kritik in den Medien, ja sogar Protestkundgebungen gegen Israel und die Vereinigten Staaten zu, um ein Ventil zu schaffen, von innenpolitischen Problemen abzulenken und Washington zu beweisen, dass sie nicht noch mehr Zustimmung zu seiner Politik riskieren konnten.

Diese Bipolarität gab einer Vielzahl regionaler Allianzen, Initiativen und Strategien Sinn und Bedeutung. Die sich verschärfende iranisch-saudische Rivalität und das neue Bündnismuster folgten zwar primär realpolitischen Überlegungen, wurden aber von konfessionellen Konflikten bald immer stärker überlagert. Das Abgleiten des Irak in einen brutalen, konfessionell motivierten Bürgerkrieg trug die Feindseligkeiten zwischen Sunniten und Schiiten auch in Viertel, wo dieser Hass zuvor nie eine Rolle gespielt hatte. Saudi-Arabien konnte diese wachsenden konfessionellen Spannungen besonders gewinnbringend instrumentalisieren. Die Betonung der tiefen konfessionellen Kluft zwischen Sunniten und Schiiten konnte die Attraktivität des Iran für jene Araber schwächen, die ansonsten den Widerstand gegen Israel und gegen eine amerikanisch dominierte Regionalordnung befürworteten. Der konfessionelle Konflikt diente auch der Rechtfertigung von Repressionen gegen schiitische Staatsbürger in der Östlichen Provinz Saudi-Arabiens, die als potenzielle Handlanger einer iranischen Subversion dargestellt wurden. Dieses Bemühen, im öffentlichen Diskurs den schiitisch-sunnitischen Konflikt für den Kampf gegen Iran zu instrumentalisieren, dokumentierte der jordanische König Abdullah 2004 mit seiner Warnung vor einem »schiitischen Halbmond«, der den Nahen Osten bedrohe.

Eine regionale Ordnung, definiert von moderaten sunnitischen Autokraten, die gemeinsam gegen eine radikale schiitische Bedrohung kämpfen, verschleierte jedoch die großen internen Rivalitäten. Saudi-Arabien strebte nach der Führungsrolle in einer gegen Iran geeinten arabischen Welt, stieß dabei jedoch auf eine Vielzahl von Herausforderern. Einige der alten Mächte waren in den 2000er Jahren allerdings bereits aus dem Rennen. Irak war komplett zusammengebrochen und zu einem Schlachtfeld geworden, auf dem die tatsächlichen Mächte und keine stellvertretenden Akteure gegeneinander kämpften. Ägypten wurde – trotz seines Anspruchs auf die Führungsrolle in der arabischen Welt – von inneren Wirren um die Präsidentschaftswahl 2005 zerrissen und fügte sich weitgehend den politischen Präferenzen Saudi-Arabiens. Syrien, selbst eine Regionalmacht, war zum Zankapfel der anderen Mächte in der Region geworden. Im Jahr 2005 sah sich Syrien durch Massenproteste nach der Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri gezwungen, sich nach fünfzehn Jahren Besatzung aus Libanon zurückzuziehen. Die von den Saudis unterstützte Allianz des 14. März betrat jetzt die Bühne der libanesischen Politik, während Syrien Sanktionen und die Strafverfolgung vor einem Sondertribunal für Libanon drohten. Doch 2008 bemühten sich Saudi-Arabien, die Türkei und die Vereinigten Staaten nachdrücklich um engere Beziehung zu Syrien in der Hoffnung, Assad von Iran fernzuhalten.