Die Niederlage des Siegers - Jacques Baud - E-Book

Die Niederlage des Siegers E-Book

Jacques Baud

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Beschreibung

Was geschah am 7. Oktober genau auf dem Schlachtfeld? Warum konnte die Operation »Al-Aqsa Sintflut« überhaupt stattfinden und welche Ziele verfolgte die Hamas? Welche Lehren lassen sich aus den Operationen ziehen, die beide Seiten in den letzten Monaten durchgeführt haben? Um diese und viele andere Fragen zu beantworten, analysiert Jacques Baud den israelisch-palästinensischen Konflikt angefangen bei seinen Ursprüngen. Warum bis heute keine Lösung gefunden wurde und welche Auswirkungen dieser Konflikt auf unsere Sicherheit haben kann, wird in diesem Buch detailliert dargestellt und analysiert. Auch mögliche Lösungsoptionen für die Zukunft von Israel und Palästina werden aufgezeigt. Der Schweizer Ex-Geheimdienstler Jacques Baud blickt unvoreingenommen auf den Konflikt, liefert eine weitsichtige Analyse und plädiert für eine faktenbasierte Sicht auf die Lage sowie für eine aufrichtige Vermittlung.

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Seitenzahl: 609

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Ebook Edition

Jacques Baud

Die Niederlage des Siegers

Der Hamas-Angriff – Hintergründe und Folgen

Aus dem Französischen vonPhilipp Otte

Die Originalausgabe ist unter dem Titel »Opération Déluge d’Al-Aqsa – La défaite du vainqueur« 2024 bei © Max Milo Editions, Chevilly-Larue erschienen.

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt

insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen

und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-98791-065-4

1. Auflage 2024

© Westend Verlag GmbH, Waldstr. 12 a, 63263 Neu-Isenburg

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

Inhalt

Cover

Vorwort

1. Die Palästinenserfrage

1.1. Der historische Kontext

1.1.1. Der Kalte Krieg

1.1.2. Die Resolution 181

1.1.3. Die Resolution 242

1.2. Das Problem der Grenzen

1.3. Die Jerusalemfrage

1.4. Das Rückkehrrecht

1.5. Das Widerstandsrecht

2. Die israelische Besatzungspolitik

2.1. Die Lage in den besetzten Gebieten

2.2. Die Frage des »jüdischen Staates«

2.3. Die Frage der »Apartheid«

2.3.1. Die Siedlerkolonien in den OPT

2.3.2. Die Unmöglichkeit des Aufbaus einer palästinensischen Wirtschaft

3. Der Kampf gegen den palästinensischen Widerstand

3.1. Der israelische Nachrichtendienst

3.1.1. Die strukturellen Schwächen

3.1.2. Die Selbstüberschätzung

3.1.3 Das Unterschätzen des Gegners

3.1.4. Die Taqiya und der Überraschungsangriff vom 7.10.2023

3.2. Die israelische Strategie im Kampf gegen den Terrorismus

3.2.1. Die Unfähigkeit zu einer ganzheitlichen Überlegung

3.2.2. Die Strategie der Abschreckung

3.2.3. Ein ungeeigneter doktrinaler Überbau für den asymmetrischen Krieg

3.2.3.1 Die Bethlehem-Doktrin

3.2.3.2. Die Dahiya-Doktrin

3.2.3.3. Die Hannibal-Direktive

3.2.4. Außergerichtliche Tötungen

4. Gaza

4.1. Die besondere Situation des Gazastreifens

4.2. Der israelische Sicherheitsapparat rund um Gaza

4.3. Die Islamische Widerstandsbewegung (Hamas)

4.3.1. Geschichte der Bewegung

4.3.1.1. Die Anfänge

4.3.1.2. Das Hervortreten der Hamas

4.3.1.3. Die Terrorstrategie der Hamas

4.3.1.4. Der Einfluss des 11. September 2001

4.3.1.5. Die politische Wende der Hamas

4.3.2. Die Hamas-Doktrin

4.3.2.1. Die Hamas-Charta

4.3.2.2. Ein territorialer und kein religiöser Krieg

4.3.3. Der islamische Widerstand und der Islamismus

4.3.3.1. Die Art des palästinensischen Widerstands

4.3.3.2. Unsere Deutung des Islamismus

4.3.4. Strategie und Operationen

4.3.4.1. Die Art des Widerstands der Hamas

4.3.4.2. Die Raketen

4.3.4.3. Die Brandballons

4.3.4.4. Zusammenarbeit mit der Außenwelt

4.3.5. Struktur

4.3.5.1. Die politische Komponente

4.3.5.2. Die militärische Komponente

4.3.5.2.1. Militäreinheiten der Hamas

Infanterie

Luftabwehr

Spezialkräfte

Kampfschwimmer

Luftwaffeneinheit mit motorisierten Ultraleicht-Hängegleitern

Pioniertruppen

Artillerie

Cyberkrieg

Die »Phantom-Einheit«

4.3.5.3. Die Waffen

4.3.5.3.1. Die Panzerabwehrwaffen

4.3.5.3.2. Die Drohnen

4.3.5.3.3. Die Panzerabwehrdrohnen

4.3.5.3.4. Die Marinedrohnen

4.3.6. Geldmittel

4.3.7. Bezeichnung der Hamas als Terrororganisation

4.4. Weitere palästinensische Widerstandsbewegungen in Gaza

4.4.1. Die Bewegungen sunnitischer Prägung

4.4.1.1. Die Bewegung des Islamischen Dschihad in Palästina (engl. PIJ)

4.4.1.2. Die Volkswiderstandsbewegung (VWB)

4.4.1.3. Die Bewegung Freies Palästina (BFP)

4.4.1.4. Die Humat al-Aqsa

4.4.2. Schiitisch inspirierte Bewegungen

4.4.2.1. Die Volkswiderstandskomitees (VWK, engl. PRC)

4.4.2.2. Die Bewegung der Geduldigen für einen Sieg in Palästina (HASN)

4.4.2.3. Bewegung der Palästinensischen Mudschahedin (BPM)

4.4.3. Weltlich inspirierte Bewegungen

4.4.3.1. Fraktionen der Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden in Gaza

4.4.3.2. Die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP)

4.4.3.3. Die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP)

4.4.3.4. Die Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando (engl. PFLP-GC)

4.4.4. Andere bewaffnete Bewegungen und Gruppen

4.4.4.1. Die Armee der Ummah – Fraktion Bait al-Maqdis

4.4.4.2. Die Armee des Islam (Gaza)

4.4.4.3. Die Armee der Anhänger Allahs

4.4.4.4. Die Legionen der Einigkeit Gottes und des Dschihad in Palästina

4.4.5. Eine gemeinsame Führung der Fraktionen des palästinensischen Widerstands

5. Die Operation Al-Aqsa-Flut

5.1. Die Voraussetzungen

5.1.1. Die Ausweitung der israelischen Siedlungen im Westjordanland

5.1.2. Soziale Spannungen in Gaza

5.1.3. Verschärfung der Haftbedingungen

5.1.4. Entweihung des Haram al-Scharif (Esplanade der Moscheen)

5.2. Die Ziele der Operation

5.2.1. Die strategischen Ziele

5.2.2. Die operativen Ziele

5.2.2.1. Das erste Ziel: Die israelische Division Gaza

5.2.2.2. Das zweite Ziel: Gefangene machen

5.2.3. Die taktischen Ziele

5.3. Der Ablauf der Operation

5.3.1. Falsch gedeutete Hinweise

5.3.2. Eine durch die Ereignisse überforderte israelische Militärführung

5.3.3. Neue Kampftaktiken

5.3.3.1. Aktionen im »Direktkontakt«

5.3.3.2. Die Kampftunnel

5.3.3.3. Die Hinterhalte

5.3.3.4. Dynamische Strukturen der Militärführung

5.4. Die Kriegsverbrechen

5.4.1. Geiseln oder Gefangene?

5.4.2. Die Behandlung der Geiseln durch die Hamas

5.4.3. Der Angriff auf das Musikfestival Supernova

5.4.4. Die 40 enthaupteten Babys

5.4.5. Das in den Ofen gesteckte Baby

5.4.6. Die aufgeschlitzte Frau

5.4.7. Die Vergewaltigungen

6. Die israelische Antwort – die Operation Eiserne Schwerter

6.1. Die erste Reaktion

6.2. Der Aktionsplan

6.3. Wenig klare Ziele

6.3.1. Vorbereitungsphase

6.3.2. Die 1. Phase: Übernahme der Kontrolle

6.3.2.1. Der Krieg um die Krankenhäuser

6.3.2.2. Der Tunnelkrieg

6.3.3. Die 2. Phase: Die Beseitigung von Widerstandsnestern

6.3.3.1. Das Ziel: Die Führung der Hamas

6.3.4. Die 3. Phase: Die Umgestaltung des Gazastreifens

6.4. Die Angemessenheit der Strategien

6.5. Eine schlecht vorbereitete Truppe

6.6. Die Einflussoperationen

6.6.1. Die Hasbara

6.6.2. Die Einflussoperationen

6.6.3. Der Krieg der Zahlen

6.6.4. Die Suche nach einem Erfolg

6.7. Der Gebrauch von Gewalt

6.7.1. Das Recht auf Selbstverteidigung

6.7.2. Die Regeln für Militäreinsätze

6.7.2.1. Der Begriff »Zivilist«

6.7.2.2. Das Prinzip der Unterscheidung

6.7.2.3. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit

6.7.2.4. Das Prinzip der Vorsichtsmaßnahmen

6.7.3. Eine unnötig brutale militärische Antwort

6.7.4. Die Rechtfertigung für den Einsatz von Gewalt

6.7.5. Die menschlichen Schutzschilde

6.8. Eine unzulängliche Taktik

6.9. Ein Mangel an militärischen Erfolgen

6.10. Die Reaktionen in Israel

6.11. Völkermord, ethnische Säuberung oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

6.11.1. Ethnische Säuberung

6.11.2. Völkermord

6.11.2.1. Die Anstiftungen zum Völkermord

6.11.2.2. Die Klage Südafrikas

6.11.2.3. Die Anordnung des Internationalen Gerichtshofs (IGH)

6.11.2.4. Die israelische Antwort

6.11.2.4.1. Benjamin Netanjahus Erklärungen

6.11.2.4.2. Die Zerstörung des UNRWA: Eine Maßnahme, die den Vorwurf des Völkermords verstärkt

6.11.2.5. Militäroperationen trotz eines Verdachts auf Völkermord

6.12. Verhandlungen und Zugeständnisse

7. Israel und seine Nachbarn

7.1. Die israelische Sicherheitspolitik

7.2. Ein nicht sehr treuer Verbündeter

7.3. Die amerikanische Anwesenheit im Nahen Osten

7.4. Syrien

7.5. Der Iran

7.6. Der Libanon

7.6.1. Der Daseinsgrund der Hisbollah

7.6.2. Ist die Hisbollah eine Terrororganisation?

7.6.3. Die Reaktion der Hisbollah nach dem 7.10.2023

7.7. Vergleich der Sicherheitspolitiken zweier kleiner Länder

8. Die Bedeutung des Palästinakonflikts für unsere Sicherheit

8.1. Eine durch unser politisches Handeln geschürte Radikalisierung

8.2. Der Antisemitismus

8.3. Die Attentate von Mohammed Merah im Jahr 2012

9. Schlussfolgerungen

9.1. Die Reaktion auf den 7. Oktober

9.2. Die Abwesenheit der europäischen Diplomatie

9.3. Eine arabische Welt, die ihre Brüder vergessen hat

9.4. Warum irren wir ständig?

Anmerkungen

Orienierungspunkte

Cover

Inhaltsverzeichnis

Einer der Fehler, den gewisse politische Analytiker machen, besteht darin, zu denken, dass ihre Feinde auch unsere Feinde sein sollten.

Nelson Mandela (1990)

Vorwort

Wenn wir nicht achtgeben, dann könnte Israel verschwinden.1 Nicht etwa, weil es nicht gegen den palästinensischen Widerstand kämpfen würde, sondern gerade, weil es ihn bekämpft.

Die Art und Weise, wie Israel gegen die Palästinenser vorgeht, zieht einen Legitimitätsverlust nach sich, der anscheinend immer weiter voranschreitet. Er wird begleitet und noch vergrößert durch einen generellen Verlust an Glaubwürdigkeit des Westens, bedingt durch die Art seiner Kriegsführung, insbesondere in der Ukraine. Die von Südafrika erhobene Anklage gegen Israel sowie die Entschlossenheit der Huthis im Jemen, den Westen dazu zu drängen, eine Waffenruhe zu fordern, sind Kennzeichen dieser Entwicklung.

Seit vielen Jahren wird Israel dafür kritisiert, wie es den Palästinakonflikt führt. Dessen ungeachtet erfreut es sich einer Straflosigkeit, die niemand wirklich zu erklären versucht hat. In Wirklichkeit gibt es für jene keine objektive Begründung, außer dem Schuldgefühl von Ländern wie Deutschland oder Frankreich, die während des Zweiten Weltkriegs den Holocaust durchgeführt bzw. sich aktiv daran beteiligt haben. Diese Straflosigkeit steht in Zusammenhang mit einem Überlegenheitsgefühl, das von den Europäern gepflegt und von Israel in den Nahen Osten exportiert wird. Es lässt gelten, dass, wie in der Musik, »eine weiße (halbe Note) so viel wert ist, wie zwei schwarze (Viertelnoten)«. Diese Ansicht findet sich in unterschiedlicher Form im französischen politischen Diskurs gespiegelt.

Diese Denkweise veranschaulicht unseren Übergang von einer »rechtebasierten internationalen Ordnung«, geschaffen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, um eine Wiederholung der erlebten Schrecken zu vermeiden, zu einer »regelbasierten internationalen Ordnung«, die dieses Recht relativiert. Selbst ein Land wie die Schweiz, die ihrer Außenpolitik die Achtung des Gesetzes zugrunde gelegt hat, vertritt heute die Vorstellung, sie auf »Regeln« aufbauen zu müssen.

Der »Rest der Welt« jedoch ist an der Beachtung von Gesetzen interessiert, weil diese ihn vor der Gier und Dummheit der westlichen Regierenden schützen. Der Gazakonflikt befindet sich also am Übergang zweier Epochen und zweier Welten: einer Welt, die durch zügellose und unüberlegte politische Entscheidungen zunehmend geschwächt wird, und einer anderen Welt, die versucht, gegen alle Widerstände zu überleben, und dadurch widerstandsfähiger und stärker geworden ist. Diese zweite Welt brauchte eine treibende Kraft. Sie hat diese Kraft mit dem von China und Russland gebildeten eurasischen Block gefunden.

Die Initiative Südafrikas zeugt nicht nur von entschiedenem politischen Mut. Sie offenbart auch die ethische Schwäche der westlichen Länder, die den Schritt zum Teil bewundern, ohne sich die Frage zu stellen, weshalb nicht sie die Initiative ergriffen haben.

Die Tatsache, dass Israel internationales Recht verletzt, wird uns regelmäßig von den Vereinten Nationen sowie von Hilfsorganisationen ins Gedächtnis gerufen. Regelmäßiger Einsatz von Folter, ungesetzliche Tötungen, der Gebrauch von verbotenen Waffen, sexueller Missbrauch von Gefangenen, die zeitlich unbestimmte Inhaftierung von Kindern ohne Anklage sowie willkürliche Festnahmen bilden einen traurigen, prall gefüllten Katalog, wie ihn kein anderes Land der Welt aufweisen kann. Und doch handeln wir so, als sei nichts geschehen … mit einer Form von schlechtem Gewissen. Denn in der Schweiz ist beispielsweise das militärische Verhältnis zu Israel regelmäßig Thema von speziellen vertraulichen Berichten der Schweizer Sicherheitsbehörden für die Regierung.

Unsere Außenpolitik ist zu einer Kanonenbootpolitik geworden, und wir erlauben uns das, was wir von anderen nicht tolerieren. Das ist nicht neu. Die Neuigkeit besteht darin, dass der Rest der Welt beginnt, diese Regeln auch auf uns anzuwenden.

Es lässt sich natürlich über die Art und Wiese streiten, wie die schiitischen Huthis aus dem Jemen ihrer Unterstützung für eine Waffenruhe in Gaza Ausdruck verleihen. Aber handeln sie anders als der Westen, wenn dieser unilateral Embargos verhängt und Schiffe aus oder mit Kurs auf Russland durchsucht? In diesem Zusammenhang ist die von Südafrika erhobene Anklage wegen Völkermordes eine Zäsur: Auf diese Weise holt sich der globale Süden die Macht vom Norden zurück.

Selbstverständlich nimmt das Imperium diese Unabhängigkeitsbekundung nicht einfach hin, sondern reagiert mit Luftschlägen im Jemen. Sollte der Jemen demnach auch New York oder Washington angreifen? Wir würden dies als »Terrorismus« bezeichnen.

Wir können die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs nicht vorwegnehmen, und es ist durchaus möglich, dass er sich in Verfahrensfragen verstrickt. Was aber das Grundlegende betrifft, so ist der Begriff »Völkermord« in allen Köpfen präsent, und die diesbezüglich ehrlichen Experten zögern nicht, sich zu diesem Thema klar zu äußern. Das bedeutet, wir würden ein Land unterstützen, das einen Völkermord begeht. Selbst Deutschland, das sich schwer damit tut, seinen historischen Komplex zu überwinden, und Israel unterstützt, wird beschuldigt, eine politische Kontinuität in Bezug auf Völkermorde einzunehmen …

J. Baud

»Die konventionelle Armee verliert, wenn sie nicht gewinnt. Die Guerilla gewinnt, wenn sie nicht verliert.«

 

Henry Kissinger (Foreign Affairs, 1969)

1.Die Palästinenserfrage

Die Palästinenserfrage dreht sich um vier Probleme:

die Aufteilung der Gebiete,die Jerusalemfrage,die Grenzen Israels,das Rückkehrrecht.

1.1. Der historische Kontext

Während die Idee, das jüdische Volk solle über ein Land verfügen, an sich große Zustimmung erhält, haben die israelischen Behörden nahezu alle erdenklichen Fehler begangen, um jene zu delegitimieren. Weil es sich gewaltsam durchsetzen wollte, hat Israel nie versucht, seine Nachbarn vom Mehrwert zu überzeugen, den es für die Region haben könnte. Daher spricht der offizielle israelische Diskurs eher von der biblischen Tradition als vom internationalen Recht, um sein Dasein zu rechtfertigen. Die Debatten über das Alter des Namens »Palästina« sind Scheinbeweise, die die Nichtbeachtung der UN-Entscheidungen rechtfertigen sollen. Nichtsdestotrotz haben die Zionisten selbst diesen Begriff vor 1948 benutzt.

Unser Ansinnen besteht nicht darin, in ganz offensichtlich komplexen Fragen, sowohl auf kultureller als auch wissenschaftlicher Ebene, eine Entscheidung zu treffen. Hier vermischen sich Glaube und Geschichte. Vielmehr wollen wir aufzeigen, dass Rechte und politische Entscheidungen unvermeidlich angreifbar werden, wenn man sie auf biblische Texte gründet. Wie auch bei der Frage des westlichen Krea­tionismus sind biblische Rechtfertigungen an sich angreifbar: Die Bibel war nie ein Geschichtsbuch oder Kataster, sondern die Trägerin einer geistigen Botschaft. Vor einigen Jahrhunderten konnte eine wörtliche Lesart der Bibel als Ersatz für Wissenschaft dienen und die Kirche eine politische Botschaft daran anlehnen. Mit der heutigen Entwicklung von Wissenschaft und Archäologie führt ein Verständnis der Bibel als wissenschaftlicher Text eher zu einer Diskreditierung der mit ihr verbundenen politischen Botschaft.

Davon abgesehen (ohne einen theologischen Streit beginnen zu wollen, den kompetentere Experten beleuchten könnten): Selbst eine Bibeluntersuchung würde eher dazu neigen, den Palästinensern recht zu geben. Nach biblischer Überlieferung hat Gott das Gebiet des heutigen Palästina Abraham »und seinen Nachkommen« zugesprochen. Nach der Überlieferung zählen Ismael, Stammvater des palästinensischen Volkes, und Isaak, als Stammvater des israelitischen Volkes, zu diesen Nachkommen. Die Tatsache, dass Ismael der uneheliche Sohn Abrahams gewesen ist, macht keinen Unterschied, da Gott laut Genesis verkündet: »Aber auch den Sohn der Magd will ich zu einem großen Volk machen, weil auch er dein Nachkomme ist« (Genesis 21:13)1. Anders formuliert: Hält man sich an die biblische Überlieferung, dann haben die Juden nicht mehr Recht auf das Gebiet Palästinas als die Palästinenser, die Nachfolger der Stämme, welche das Land seitdem bewohnen.

Die Idee eines jüdischen Staates kommt eigentlich erst am Ende des 19. Jahrhunderts in Europa auf – mit dem Entstehen des Zionismus im Kontext der erwachenden Nationalismen und in der Folge der Dreyfus-Affäre. Sie führt zur Balfour-Erklärung im November 1917, durch die sich Großbritannien verpflichtet, die Schaffung einer jüdischen »Heimstatt« in Palästina zu fördern – in Aussicht auf einen Zerfall des Osmanischen Reiches. Seit Ende des Krieges treibt die Gewalt zwischen jüdischen und arabischen Gruppen in Palästina die Briten dazu, ihr Versprechen zu erfüllen.

Von 1920 bis 1930 teilt sich die zionistische Bewegung in zwei Strömungen, die zur Zionistischen Weltorganisation (WZO) und zur Bewegung Revisionistischer Zionismus (RZ) (aus dem 1925 die Weltunion Zionistischer Revisionisten hervorgeht) werden. Diese »revisionistische« Strömung hat rein gar nichts mit dem heutigen Revisionismus zu tun, der mit dem Holocaust verbunden wird. Sie hingegen forderte die »Revision« der britischen Entscheidung, Transjordanien (Ostjordanien, das heutige Jordanien) an die Haschimiten (die von Ibn Saud aus Mekka vertrieben worden waren) zu übergeben. Sie wollten es stattdessen an das Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan anschließen, um die »Jüdische Heimstatt« zu bilden. Die WZO ist zu jener Zeit in der Mehrheit und steht politisch eher links, während es sich bei der RZ um eine rechte Organisation handelt, aus der in den fünfziger Jahren der Likud hervorgehen wird (dem auch Benjamin Netanjahu heute angehört).

Die Hagana ist der bewaffnete Arm der WZO auf der operativen Ebene. Im Jahr 1931 löst sich ein bewaffneter revisionistischer Zweig von ihr ab. Er nennt sich zunächst Hagana Bet (»Hagana B«), bevor er 1935 zur »Irgun Zwai Leumi« (Nationale Militärorganisation) wird, deren gewöhnliche Bezeichnung Irgun ist. Sie ist rechtsextrem und ihre Mitglieder stammen zu einem Großteil vom Betar, der Jugendorganisation des RZ, die politische Büros in ganz Europa unterhält, insbesondere in Paris, Warschau, London und New York. Die Grundzüge seiner Doktrin sind seit 1923 in einem Artikel mit dem Namen »Die eiserne Mauer« festgehalten, geschrieben von Wladimir Jabotinsky, dem Führer der revisionistischen Bewegung.2 Der Dok­trin liegt die Idee zugrunde, die zionistische Bewegung in Palästina sei ihrem Wesen nach kolonial. Und wie in allen Ländern der Welt müssten die »zivilisierten oder wilden« Kolonisten der einheimischen Bevölkerung die Stirn bieten, bis diese nicht mehr kampffähig sei. Die Kolonisierung müsse also im Schutz einer »eisernen Mauer« stattfinden, die anfänglich von Soldaten gebildet werde. Wir befinden uns damals 25 Jahre vor der Unabhängigkeit Israels! …

Am 30. Januar 1933 kommen die Nazis in Deutschland an die Macht. Am Folgetag versichern die deutschen Zionisten in ihrem Zentralorgan, der Jüdischen Rundschau, sie seien die Einzigen, die wirksam die Interessen der Juden verteidigen könnten, nicht etwa die traditionellen jüdischen Organisationen.3 Die deutschen Zionisten teilen selbstverständlich nicht die Naziideologie, aber sie stellen schnell fest, dass es eine Interessenkonvergenz gibt, die es auszunutzen gilt: Die Nazis wollen sich der jüdischen Präsenz in Deutschland »entledigen«, und die Zionisten streben danach, Palästina zu bevölkern. Am 16. März beginnen sie Verhandlungen mit der neuen deutschen Regierung, um Möglichkeiten auszuloten, die Emigration der Juden zu erleichtern.4

Der »spontane« weltweite Boykott gegen Deutschland, der am 23.3.1933 von den amerikanischen jüdischen Bewegungen gestartet wird5, trifft auf den Widerstand der Zionisten. Sie schreiben unverzüglich ein Telegramm an Hitler und betonen, dass »die palästinensischen Juden nicht zu einem Boykott gegen deutsche Güter aufgerufen haben«6. Am 1.4.1933 antwortete Propagandaminister Joseph Goebbels mit einem Boykott gegen jüdische Geschäfte in Deutschland.7

Zu diesem Zeitpunkt bildeten sich in Deutschland durch die dort lebenden Juden nebeneinander zwei Strategien heraus:

die Strategie der jüdischen Gemeinde (»Assimilanten«), die versuchte, der deutschen Politik eine andere Stoßrichtung zu geben, um ein normales Miteinander mit den Nazibehörden zu ermöglichen; diejenige der zionistischen Bewegung (»Nationalisten«), die eine Politik der Assimilation für unmöglich hält. Sie denkt, der Moment sei gekommen, um die von der Balfour-Deklaration versprochene nationale jüdische Heimstatt zu schaffen, indem die Politik der Nazis zu diesem Zweck instrumentalisiert würde.

Es erscheint logisch, dass die Nazis weit weniger gewillt waren, sich von der jüdischen Gemeinde eine Politik aufdrängen zu lassen, als ihre Ausreise zu organisieren. Dies erklärt, weshalb sich die Nazis nach anfänglichem Zögern bereitgefunden haben, die Zusammenarbeit mit den Zionisten zu nutzen.

In der zweiten Jahreshälfte 1933 lädt die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD)8 Leopold von Mildenstein, einen SS-Offizier des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), zu einem sechsmonatigen Aufenthalt nach Palästina ein. Ziel ist, den jüdischen Nationalismus zu fördern, der den Zionisten durch den Anstieg des deutschen Nationalismus gerechtfertigt erscheint. Im Übrigen adressiert die ZVfD am 21. Juni einen Brief an die deutsche Regierung, worin sie ihr eine erweiterte Zusammenarbeit für die Schaffung eines Staates in Palästina vorschlägt und sich dabei auf die beiderseitigen nationalistischen Ziele beruft.9

Die Verhandlungen führen zum Erlass der Verordnung 54/33 vom 10.8.1933. Sie genehmigt die Schaffung zweier Verrechnungsbanken unter Aufsicht der ZVfD, um die Finanzierung der Auswanderung nach Palästina zu erleichtern.10 Eine Bank in Deutschland, die Palästina-Treuhandstelle zur Beratung deutscher Juden GmbH (PalTreu), sowie eine Bank in Palästina, die Anglo-Palestine Bank, werden eröffnet. Dieses System erlaubt es, unter Umgehung des Boykotts und der Beschränkungen für den Export von Devisen das Vermögen der Juden nach Palästina zu überweisen. Hinzu kommen vergünstigte Wechselkurse und finanzielle Anreize. Es erlaubt ebenfalls, die von Großbritannien auferlegten Einwanderungssperren nach Palästina für Personen, die keine 1 000 britische Pfund Sterling in bar bei sich tragen, zu umgehen. Das System funktioniert folgendermaßen: Möchte eine jüdische Person nach Palästina auswandern, so verkauft sie ihren Besitz und zahlt das Geld bei der PalTreu ein. Diese kauft davon Verbrauchsgüter und exportiert sie nach Palästina. Vor Ort werden diese Güter von der palästinensischen Bank veräußert und der Erlös wird den Einwanderern ausgezahlt. Das Prinzip ist nicht neu. Es wird im Mittleren Osten weiterhin unter dem Namen Hawala verwendet.

Von dieser »Win-win-Lösung« profitierten beide Seiten: Seitens der Zionisten wird die Auswanderung der Juden nach Palästina begünstigt; seitens der Nazi-Regierung wird der Boykott gegen Deutschland umgangen und die Ausreise der jüdischen Bevölkerung gefördert. Der Mechanismus dazu ist im Palästina-Transfer (Ha’avara-Abkommen) zwischen der ZVfD und der deutschen Regierung vom 25.8.1933 niedergelegt.11 Ein kleines Handbuch für die jüdische Auswanderung wird herausgegeben, um die Behördengänge zu erleichtern und Ratschläge für die Auswanderung zu geben.12

In den Jahren 1933–1934 zeigt sich, dass Großbritannien seine Palästinapolitik nicht »revidieren« wird. Jabotinsky sucht daher die Unterstützung eines anderen Akteurs im Mittelmeerraum: Er findet das faschistische Italien, wo er drei Jahre lang gelebt hat und dessen Sprache er fließend spricht. Am 29.3.1936 werden die Kasernen des ersten Betar-Marinegeschwaders an der Marineakademie von Civitavecchia eingeweiht.13 Anscheinend wurde ihm ein Schiff zur Verfügung gestellt, mit dem er aufseiten der italienischen Marine 1935 vor Abessinien gekämpft haben soll.14

Verärgert durch den schleppenden Verlauf des Ha’avara-Prozesses (Palästina-Transfer) verabschiedet Hitler 1935 ein Gesetzespaket, das die Rechte der Juden in Deutschland noch weiter einschränkt (Nürnberger Gesetze), um sie zur Auswanderung zu zwingen.

Im Jahr 1936 starten die palästinensischen Araber einen gewalttätigen Aufstand, angeführt von Hadj Amin al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem. Die Briten können den Aufstand nur knapp und mit großer Brutalität unterdrücken. Diese Unterdrückung führt zu einem Verschwinden eines Teils der palästinensischen Eliten. Sie werden zehn Jahre später, im Moment der »Teilung«, fehlen. London entsendet eine Untersuchungskommission, genannt »Palestine Royal Commission« (auch bekannt unter der Bezeichnung »Peel Commission«), die im Juli 1937 eine Teilung des Landes und die Schaffung zweier Staaten empfiehlt. Der mit Haftbefehl gesuchte Amin al-Husseini findet in Deutschland Unterschlupf. Er verlangt vom Führer, die Gründung eines arabischen Staats in Palästina zu unterstützen.15 Aber Hitler möchte sich nicht in einer »Dreierkonstellation« wiederfinden: Er unterstützt die Zionisten nicht aus Sympathie oder um ihnen einen Staat zu geben, sondern um die Juden in Deutschland »loszuwerden«, unter Umgehung des ihm aufgezwungenen Embargos.

Unter den Naziführern bilden sich zwei Sichtweisen heraus: Eine besteht darin, den Ha’avara-Prozess fortzuführen, um vorrangig alle Juden zu vertreiben und später das Problem dieses Judenstaates zu »regeln«; die andere, von Adolf Eichmann empfohlene Sichtweise, will die Juden auf die ganze Welt verstreuen. Letztendlich entscheidet sich Hitler im Herbst 1937 dafür, seine »Zusammenarbeit« mit den Zionisten fortzusetzen.16

Im Jahr 1938 muss der am Spanischen Bürgerkrieg teilnehmende Mussolini sein Bündnis mit Deutschland festigen. Er verabschiedet also seinerseits Rassengesetze, bricht mit der Unterstützung der Zionisten um Jabotinsky und vertreibt sie aus Italien. Dieser Bruch verstärkt die Spannung zwischen »nationalistischen« Zionisten und »assimilatorischen« Juden, die für die Situation verantwortlich gemacht werden, und führt zu Spaltungen innerhalb der zionistischen Bewegung als solcher.

Aber auch der Arbeiterzweig der Zionisten steht dem in nichts nach. Zwischen dem 26.2. und dem 2.3.1937 hält sich Feivel Polkes, ein Agent des Nachrichtendienstes der Hagana (auf Kosten des RSHA), in Berlin auf, um Kontakte zu den deutschen Geheimdiensten zu knüpfen. Als Ausgleich dafür sollen die Bedingungen für die Auswanderung der Juden nach Palästina verbessert und die Aktivitäten des Nachrichtendienstes der Hagana finanziert werden. Nach der Ermordung des Anführers der schweizerischen Nazipartei Willhelm Gustloff (1936) und einem Attentatsversuch auf Konrad Henlein, den Führer der »Sudetendeutschen Heimatfront« in der Tschechoslowakei, möchte Deutschland seine nachrichtendienstliche Kompetenz in Bezug auf die Aktivitäten von jüdischen Organisationen im Ausland ausbauen. So wird Polkes zum Kontaktmann zwischen der Hagana und den deutschen Nachrichtendiensten, die in Palästina unter dem Deckmantel der deutschen Presseagentur DNB17 operieren. Laut einem Bericht der CIA (der 1960 während des Eichmann-Prozesses verfasst wird) werden Polkes monatlich 20 Pfund von den Deutschen ausbezahlt.18 Sein Ansprechpartner in Deutschland ist kein Geringerer als Adolf Eichmann, der Palästina im Oktober 1937 einen Besuch abstattet … bevor er zu einem der Hauptarchitekten der Deportation der Juden wird.19

Aber dies ist nicht der einzige Faktor. Vom 6. bis 15.7.1938 kommen auf Initiative des Präsidenten Roosevelt 32 Länder auf der Konferenz von Évian zusammen, um eine Lösung für die jüdische Auswanderung zu finden. Aber keines der Teilnehmerländer verpflichtet sich, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Dieser Misserfolg ist zu einem Großteil den zionistischen Organisationen zuzuschreiben, darunter derjenigen von Frau Golda Meir. Sie befürchten, diese Initiative schade ihren Bemühungen, die Juden zur Emigration nach Palästina zu bewegen.20

Anfang 1940 löst sich eine von Avraham Stern geführte Gruppe von radikalen revisionistischen Zionisten von der Irgun. Sie sind gegen die Abkehr von Italien. Seine Fraktion, zunächst »Wahre Irgun« getauft, wird Ende 1940 zur Lochamei Cherut Israel (Lechi), besser bekannt unter dem Namen Gruppe Stern. Wladimir Jabotinsky wird dieser rechten Fraktion nicht mehr Herr: Die Gruppe Stern nutzt bewusst terroristische Gewalt und verantwortet den Tod einiger Hundert Juden und Araber in Palästina.21 Für sie ist die britische Bedrohung wichtiger als die durch die Nazis. In der Tat besetzt Großbritannien nach der französischen Niederlage 1941 Syrien, aus Angst, es könnte in deutsche Hände fallen, und dehnt so seinen Einflussbereich in der Region aus. Die Gruppe Stern schlägt daher über die deutsche Botschaft in Beirut dem Dritten Reich eine Zusammenarbeit vor, um die Briten im Nahen Osten zu bekämpfen.22

Diese widernatürliche Nähe zwischen den Zionisten und dem Naziregime ruft bei den Amerikanern Misstrauen gegen die jüdische Gemeinde hervor. Seit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten 1941 sieht das FBI eine Bedrohung durch jüdische Spionage zum Nutzen der Nazis. Die Verhaftung von Herbert Karl Friedrich Bahr, einem der Spionage für die Gestapo verdächtigten jüdischen Flüchtlings, lässt die amerikanischen Ängste Wirklichkeit werden. Er wird zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt. Aus diesem Grund nehmen die Vereinigten Staaten während des Kriegs nur sehr wenige jüdische Flüchtlinge auf, die vor dem Naziregime fliehen.23

Insbesondere in Frankreich ist die Lesart der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs sehr karikaturartig. Als aktive Teilnehmer am Holocaust können sich die Franzosen nie von einer binären Vorstellung von der Wirklichkeit lösen. Die von der französischen Regierung gemachte Verbindung von »Judentum« mit »Zionismus« ist eine der Triebfedern des heutigen Antisemitismus. Sie erlaubt kein besonnenes Verständnis der komplexen Situation der Ukraine oder Palästinas.

Im Oktober 2015 erklärt Benjamin Netanjahu:

»Zu jener Zeit wollte Hitler die Juden nicht vernichten, er wollte sie vertreiben.«24

Er erregt damit international Missfallen, aber er hat recht. In den 1930er Jahren hatte nicht das Töten aller Juden für die Nazis Priorität, sondern ihre Vertreibung aus Deutschland. Die Zionisten haben daher versucht, ihr Ziel einer Besiedlung Palästinas mit der Politik der Nazis zu vereinbaren. Sie haben lediglich pragmatisch die Strategie angewandt, sich mit denen zu verbünden, die der eigenen Sache dienen können. Seit 1940 macht der Krieg in Europa und dem Mittelmeerraum die Umsiedlung nach Palästina praktisch unmöglich. Das setzt Deutschland unter Druck, eine andere »Endlösung« für die vermeintliche Judenfrage zu finden.

Wenn Netanjahu allerdings behauptet, Hitler sei durch al-Husseini zur Vernichtung der Juden angeregt worden, und er so versucht, die Verantwortung für den Holocaust auf die Palästinenser25 zu schieben, dann lügt er. Es existiert ein Protokoll ihrer Diskussion vom 28.11.1941, welches den Vorwurf nicht bestätigt.26 Im Übrigen wird die von Dieter Wisliceny, einem Assistenten Eichmanns, beim Nürnberger Prozess geschilderte Beteiligung des Großmufti am Holocaust heute von den meisten Historikern verworfen. Nach deren Einschätzung habe der Großmufti schlichtweg seine Haut retten wollen.27 Was den angeblichen Einfluss Amin al-Husseinis auf Hitler angeht, so wird er ebenfalls von zahlreichen Historikern infrage gestellt.28 Allerdings soll al-Husseini bei der Rekrutierung von Freiwilligen für bosnische Einheiten geholfen haben, um die Serben unter Tito in Jugoslawien zu bekämpfen, ohne eine Verbindung zum Mittleren Osten. (Diese Einheiten wurden innerhalb der Waffen-SS geschaffen – nach der Bildung einer »Jüdischen Brigade« in der britischen Armee.) Übrigens haben die Nazis niemals die Idee einer arabischen Unabhängigkeit in Palästina unterstützt: Sie waren weder »pro-jüdisch« noch »pro-arabisch«, sondern strebten danach, den Einfluss und die Anwesenheit des Britischen Empires zurückzudrängen.29 Ein Ziel, das sie – folgerichtig – mit den Zionisten teilten.

1.1.1. Der Kalte Krieg

1945 befindet sich das Mittelmeer größtenteils in den Händen von Großbritannien und Frankreich. Stalin betrachtet zu der Zeit die Schaffung eines jüdischen Staates als eine Gelegenheit, gleichzeitig den britischen Imperialismus zu bekämpfen und perspektivisch einen Zugang zum Mittelmeer zu bekommen. Er sieht darin einen gerechten Ausgleich für die Unterstützung, die er den Juden im Krieg zukommen ließ. Er rechnete dabei mit der Unterstützung der zionistischen Führer in Palästina, wie etwa Golda Meir, die Sozialisten sind und aus der Sowjetunion stammen. Deshalb unterstützt er seit 1946 heimlich die jüdischen antibritischen Kämpfer mit Waffenlieferungen. Die UdSSR ist damals in der UNO eine der glühendsten Vertreterinnen der Schaffung eines jüdischen Staates.30

Das Schrumpfen des Palästinensergebiets

Abbildung 2 – Die Ausweitung Israels. Bis in die 1920er Jahre gibt es eine geringe jüdische Präsenz in Palästina (a). Der in der Resolution 181 vorgeschlagene Teilungsplan (b) ist lediglich ein Vorschlag. Die derzeit für Israel angenommenen Grenzen sind diejenigen des Waffenstillstands von 1949 (c). Der Krieg vom Juni 1967, der von Israel gegen Länder begonnen wurde, die darauf nicht gefasst waren, hat zur Besetzung des Golan, des Westjordanlands und des Gazastreifens geführt (d).

Aber nach der Schaffung des Staates Israel bevorzugen seine Staatsführer den Westen. Die UdSSR beginnt daher, die Palästinenser zu unterstützen, die gezwungen waren, ihren Grund und Boden zu verlassen. Es entsteht dementsprechend ein marxistischer palästinensischer Widerstand, den die Palästinensische Befreiungsorganisation und die Fatah dominieren und der bis in die 1980er Jahre anhalten wird.

Die Beziehungen zwischen der jüdischen Gemeinde und der UdSSR bleiben jedoch in den Köpfen präsent. Im Westen wird zu dieser Zeit die Angst vor dem Kommunismus auch auf die jüdische Gemeinde übertragen, aus deren Mitte eine große Zahl sowjetischer Spione jener Zeit stammt, wie etwa das Ehepaar Rosenberg oder ­Rudolf Abel, die erst später enttarnt werden. Die Vereinigten Staaten bleiben misstrauisch gegenüber jüdischen Asylsuchenden. Visa werden ihnen in sehr geringem Maße ausgehändigt. Dieser Zustand unterstreicht wiederum die Notwendigkeit, ihnen einen Staat zu geben.

1.1.2. Die Resolution 181

Die CIA hat ihre Zweifel, was die Glaubwürdigkeit der Juden angeht. Am 28.11.1947, dem Vortag der Abstimmung über eine Teilung Palästinas bei den Vereinten Nationen, verfasst sie einen Geheimbericht unter dem Titel: »Die Folgen der Teilung Palästinas«. Sie erwähnt die Stationierung von jüdischen Geheimagenten sowie den Transport illegaler Einwanderer und Waffen vom Schwarzen Meer nach Palästina. Mit einer erstaunlichen Hellsichtigkeit warnt die CIA vor der Annahme des Teilungsplans und sieht die daraus möglicherweise resultierende Gewalt voraus:31

»Auf lange Sicht wird kein Zionist in Palästina mit den territorialen Regelungen des Teilungsplans zufrieden sein. Selbst die konservativeren Zionisten werden darauf hoffen, den gesamten Negev, Westgaliläa, die Stadt Jerusalem und letztlich ganz Palästina zu erhalten. Die Extremisten werden nicht nur ganz Palästina, sondern auch Transjordanien beanspruchen. […]

Im Chaos, das auf die Umsetzung der Teilung folgt, werden sicherlich Untaten von arabischen Fanatikern verübt; solche Aktionen werden eine große Publizität erfahren und von der jüdischen Propaganda sogar noch verstärkt werden. Die Araber wird man der Aggression bezichtigen, egal wie die wahren Umstände auch sein mögen.«

Diese Analyse wird kurz danach bestätigt und hat ihre Aktualität bis heute bewahrt. Aber Präsident Truman hört nicht auf sie. Er drängt seine Diplomatie, diejenigen Länder zu »überzeugen«, die sich gegen die Resolution stellen: Die Vereinigten Staaten drohen zum Beispiel mit der Einstellung ihrer Wirtschaftshilfe, um Haiti zum Einlenken zu bewegen. Und die Firma Firestone warnt Liberia, kein Latex mehr von ihm zu kaufen.

Am 29.11.1947 verabschiedet die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 181. Sie schlägt die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vor, mit einem internationalen Status für Jerusalem. Der Plan sollte am 1.4.1948 in Kraft treten. Es handelt sich bei ihm um keine Entscheidung, sondern nur um einen rechtlich unverbindlichen Vorschlag.

Die Resolution 181 zielt nicht darauf ab, einen jüdischen Staat zu schaffen, vielmehr schlägt sie zwei Staaten vor: einen jüdischen sowie einen arabischen. Sie stellt in Aussicht, dass möglicherweise Araber auf jüdischem Gebiet und Juden auf arabischem Gebiet leben, dass sie normal in die neuen Staaten integriert werden oder dass man sie, entsprechend dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, befragt. Aber sie sieht keinen formalen Mechanismus für die Befragung vor. Um die Resolution 181 zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, was Palästina damals darstellte. Die Zerschlagung des Osmanischen Reiches und die Aufteilung der Levante unter Frankreich und Großbritannien (Sykes-Picot-Abkommen) nach dem Ersten Weltkrieg führen zur Schaffung eines »Mandatsstaates Palästina«, der das Gebiet des heutigen Israel, die besetzten Palästinensergebiete und das heutige Jordanien umfasst. Dieser Staat hatte einen rechtlichen Status. So sagte Golda Meir selbst von sich, sie sei Palästinenserin. Und sie besaß einen palästinensischen Reisepass.32 1936 nimmt Palästina sogar mit einer Delegation an den Olympischen Spielen teil.33

Der Grund, weshalb die Resolution 181 nur ein Vorschlag ist, besteht darin, dass laut UN-Charta jede Veränderung der Grenzen oder der Hoheit über ein Gebiet das Selbstbestimmungsrecht der Völker achten müsse. Diesem Prinzip zufolge müsste also in ganz Palästina eine Volksbefragung durchgeführt werden, um den Mandatsstaat Palästina aufzulösen und so ein oder zwei neue Staatsgebilde zu errichten. Dann müssten die Bevölkerungen zu einer eventuellen Aufteilung Palästinas befragt werden. Eventuell, weil sich zu diesem Zeitpunkt zwei Sichtweisen gegenüberstanden: die jüdische Sichtweise, die zwei unterschiedliche Staaten für Araber und Juden anstrebte, und die arabische Sichtweise, die einen einzigen Staat vorsah, wo Juden und Araber zusammenlebten. All das sollte, wenn möglich, vor dem Abzug der Briten stattfinden, der für den 15.5.1948 festgelegt war.

Aber die jüdische Bevölkerung ist damals in Palästina stark in der Minderheit. Somit wären die Volksbefragungen, die von der »181« vorgesehen waren, sicherlich zum Vorteil der Araber ausgegangen. Deshalb verwirft die jüdische Bevölkerung diese Lösung zugunsten einer Militäraktion, um Gebiete zu besetzen.

Schnell bewahrheiten sich die arabischen Befürchtungen: Die Bevölkerungen werden nicht befragt. Und während der sechs Monate, die für die Einrichtung eines Teilungsmechanismus vorgesehen sind, fühlen sich die jüdischen Milizen berechtigt, sich ihr Gebiet mit Gewalt anzueignen. Die palästinensischen Dorfbewohner sind schnell überfordert mit diesen Milizen, die im Wesentlichen aus kampferprobten ehemaligen Soldaten der britischen Armee bestehen.34 Seit Ende des Jahres 1947 haben sie schon 33 Massaker an den Palästinensern verübt, und das, bevor sich die arabischen Länder am Konflikt beteiligen.35 Am 10.3.1948 beschließt die jüdische Führung den Plan D (auf Hebräisch »Dalet«), von dem der israelische Historiker Ilan Pappe Folgendes in Erinnerung ruft:36

»Die Befehle enthielten eine detaillierte Beschreibung der Methoden, die anzuwenden waren, um die Menschen gewaltsam zu vertreiben: Einschüchterung im großen Maß; Besetzen und Bombardieren von Dörfern und Bevölkerungszentren; Anzünden von Häusern, Besitz, Hab und Gut; Vertreibung; Abriss; und, am Ende, das Vergraben von Minen im Bauschutt, um die Rückkehr der vertriebenen Bewohner zu verhindern.«

Vom 1.4.1948 an führen die Milizen der Hagana und des Palmach mehrere Operationen durch, um angesichts des für die Unabhängigkeit festgelegten Datums, den 15.5.1948, »vollendete Tatsachen« zu schaffen:

Operation Naschon (1. April), Operation Harel (15. April), Operation Misparayim (21. April), Operation Hametz (27. April), Operation Jevuss (27. April), Operation Yiftach (28. April), Operation Matateh (3. Mai), Operation Maccabi (7. Mai), Operation Gideon (11. Mai), Operation Barak (12. Mai), Operation Ben-Ami (14. Mai), Operation Pitchfork (14. Mai) und Operation Schififon (14. Mai).37

Von Ende 1947 bis Ende 1948 haben bewaffnete jüdische (später israelische) Gruppierungen etwa 80 Prozent des Landes erobert, etwa 500 Dörfer zerstört und mehr als eine Million Menschen ins Exil getrieben.38 Die bekannteste Episode ist das blutige Massaker an Frauen und Kindern in Deir Yassin – heute auch als palästinensisches Oradour-sur-Glane39 bezeichnet – durch Einheiten des Lechi und der Irgun, die zu dem Zeitpunkt von Menachem Begin angeführt werden40, am 9.4.1948. Ben-Gurion musste im Jahr 1950 anerkennen:41

»Bis zum Abzug der Briten ist kein jüdisches Gebäude von den Arabern in Besitz genommen oder besetzt worden, auch wenn es verlassen war. Die Hagana dagegen hat mit Gewalt mehrere arabische Positionen eingenommen und Haifa und Tiberias sowie Jaffa und Safad befreit. (…) Deshalb war der Teil Palästinas, in dem die Hagana aktiv war, am entscheidenden Tag fast völlig von seinen arabischen Bewohnern gesäubert.«

Die Resolution 181 (1947)

Abbildung 3 – Noch bevor die Resolution 181 in Kraft trat, hatten sich die jüdischen Milizen bereits über die vorgeschlagenen Grenzen hinweggesetzt und die palästinensische Bevölkerung vertrieben. Dem Jewish Virtual Library zufolge ist die arabische Bevölkerung von 1 324 000 Menschen im Jahr 1947 auf 156 000 im Jahr 1948 zurückgegangen. Die jüdische Bevölkerung machte damals 32 Prozent der Bewohner Palästinas aus, ihr wurden jedoch 55 Prozent des Gebiets zugesprochen. [Quelle: https://www.jewishvirtuallibrary.org/jewish-and-non-jewish-population-of-israel-palestine-1517-present]

Diese Zeitspanne wird von den Palästinensern als »Nakba« (Katastrophe) bezeichnet. Diesen Begriff werden die Israelis aufgreifen, um ihre Reaktion gegen Gaza im Jahr 2023 zu beschreiben. In Wirklichkeit besetzen die Israelis bereits vor dem 14.5.1948, dem Gründungstag des Staates Israel, mehr Gebiet, als es der Teilungsplan vorgesehen hat. Sie haben die Araber vertrieben, die mit den Juden dort zusammenleben sollten. Es handelt sich um eine wahre ethnische Säuberung, die die große Mehrheit der palästinensischen Flüchtlinge betrifft. Und diese Flüchtlinge existieren bis zum heutigen Tag. Aus diesem Grund – und nicht etwa nur, wie von Experten und Universitätsprofessoren behauptet, weil kein Einvernehmen über die Grenzen der zwei Länder bestand – greift die arabische Bevölkerung am Folgetag der Ausrufung des Staates Israel zu den Waffen. Dieser erste Konflikt wird von einem zweiten mit den arabischen Ländern überlagert, der am 14. Mai ausbricht. Letztere versuchen, Jordanien daran zu hindern, diejenigen palästinensischen Gebiete zu annektieren, die noch nicht von Israel erobert wurden. Zum Ende dieses »zweiten« Krieges bestimmt ein Waffenstillstandsabkommen die »geduldeten« Grenzen Israels, und etwa eine Million Palästinenserflüchtlinge finden sich in Israels Nachbarländern und in Gaza wieder.

Die Vereinten Nationen stellen fest, dass die Umsetzung der »181« Probleme bereiten wird, und benennen am 20.5.1948 einen Vermittler, den Grafen Folke Bernadotte. Ihm gelingt es, eine Waffenruhe zwischen Israelis und Palästinensern auszuhandeln, mit dem Ziel, ein demokratisches Verfahren für die Schaffung von zwei Staaten einzuführen, wie dies die Resolution 181 vorsah. Er wird jedoch am 17.9.1948 ermordet. Die Ermordung war »eine feige Tat, die in Jerusalem anscheinend von einer Gruppe von kriminellen Terroristen verübt wurde«42. Diese Gruppe ist die Lechi (ebenfalls bekannt unter dem Namen Gruppe Stern). Ihr Einsatzleiter ist damals ein gewisser Jitzchak Schamir. Der spätere Premierminister des Staates Israel wird nie für dieses Verbrechen verurteilt.43 Aber das Verhalten der Gruppe sorgt in der internationalen jüdischen Gemeinde für Empörung. Anlässlich des Besuchs von Menachem Begin in den Vereinigten Staaten vom 4.12.1948 unterzeichnet auch Albert Einstein einen offenen Brief an die New York Times, in dem die Verbrechen der Zionisten in Palästina angeprangert werden …44

Letztendlich ist die Resolution 181 nicht einen einzigen Tag umgesetzt worden, da Israel bereits vor der Unabhängigkeit zusätzliche Gebiete annektiert hatte. Dies ist der Auslöser für den Krieg von 1948. Dementsprechend hatten die Kriegshandlungen, welche die offizielle Geschichtsschreibung nach dem 14.5.1948, dem Tag der israelischen Unabhängigkeitserklärung, verortet, schon viel früher begonnen. Dies wird von Miko Peled, dem Sohn des Brigadegenerals Mattityahu Peled (einem der Gründerväter Israels im Jahr 1948), bestätigt.45

Obwohl die »181« die Existenz Israels begründet, beziehen sich die Zionisten nur selten auf sie. Sie ziehen es vor, eine biblische Legitimität zu beschwören. Beispielsweise druckt die Nichtregierungsorganisation (NRO) Concerned Women for America eine Broschüre unter dem Titel »Warum Israel?«, die nicht ein einziges Mal die UN-Resolutionen erwähnt, sondern erklärt: »Dies ist eine wichtige Angelegenheit für Gott.«46 Vielleicht weil sie selbst nicht an eine Resolution glauben, die von ihnen nie eingehalten wurde …

Schlussendlich: Wenn auch die Resolution 181 dem jüdischen sowie dem arabischen Volk die Berechtigung gibt, über einen Staat in Palästina zu verfügen, so rechtfertigt sie nicht die Art und Weise, wie dieses Recht wahrgenommen wurde. Und genau sie ist der Ursprung des israelisch-palästinensischen Konflikts.

1.1.3. Die Resolution 242

Weil der Staat Israel seine Grenzen nicht bestimmt hat, wird von der internationalen Gemeinschaft standardmäßig die Waffenstillstandslinie von 1949 als Grenze angenommen. Deshalb bezieht man sich in der Regel auf die Grenzen vom 4.6.1967. Das sind übrigens auch die Grenzen, die die Hamas bereit ist anzuerkennen, wie wir im Folgenden sehen werden.

Nach dem Sechs-Tage-Krieg (Juni 1967) schreibt die Resolution 242 der Vereinten Nationen Israel vor, sich aus den Gebieten zurückzuziehen, die es infolge eines Angriffskriegs erobert hat. Dies sind: das Westjordanland, Ostjerusalem, der Gazastreifen, welche die besetzten Palästinensergebiete (BPG) bilden, und die Golanhöhen. Diese Resolution soll den Palästinensern ermöglichen, einen Teil ihrer Gebiete zurückzuerhalten.

Das Problem besteht darin, dass der Text der »242« Anlass für Verwirrung gibt. Seine englische Übersetzung fordert den Abzug »aus« Gebieten (»from« territories), eine Formulierung, die Briten und Amerikaner gewählt haben, um den sowjetischen Vorschlag abzuwehren, einen Abzug »aus den« Gebieten (»from the« territories) zu fordern. Letzterer Vorschlag, der der damaligen Interpretation der Mitglieder des Sicherheitsrats entspricht, ist anscheinend auf Anweisung von Charles de Gaulle gemacht worden.47

Die besetzten Palästinensergebiete (BPG)

Abbildung 4 – Die Grenzen, in denen Israel seine Souveränität ausübt (fett eingezeichnet), entsprechen nicht internationalem Recht, denn sie umfassen Gebiete, die es unter Verletzung des Artikels 2 der Charta der Vereinten Nationen besetzt. Die besetzten Palästinensergebiete (BPG) sind nur ein Teil davon. Es gibt zusätzlich Gebiete im Südlibanon, die zu klein sind, um auf dieser Karte dargestellt zu werden. Das ist übrigens der Grund für das Fortbestehen der Hisbollah.

Die Israelis ziehen es also vor, den englischen Text anzuführen (der ihnen erlaubt, selbst zu bestimmen, woraus sie abziehen wollen) anstelle des französischen, der sie zwingt, alle besetzten Gebiete zu verlassen. Diese Position gibt Anlass zu endlosen Debatten. Der Sicherheitsrat verabschiedet jedoch in seiner Sitzung vom 16.11.1967 eine endgültige Entscheidung, die bestätigt, dass Israel die Ganzheit der besetzten Gebiete räumen muss.48 Es handelt sich hier allerdings um eine Scheindiskussion, da die »242« mit der Darlegung eines Grundprinzips beginnt:

»Die Unzulässigkeit des Gebietsgewinns durch Krieg […]«

Aus diesem Grund ziehen es die Israelis heute vor, die Bibel anstelle der UN-Resolutionen anzuführen, um ihre Besetzung der Palästinensergebiete zu rechtfertigen.

Während einer Pressekonferenz vom 27.11.1967 erwähnt General de Gaulle die Ereignisse in Palästina mit einer Voraussicht, an der es unseren modernen Politikern zu mangeln scheint:49

»Es ist bekannt, dass Frankreichs Stimme nicht gehört wurde. Nach seinem Angriff hat sich Israel in sechs Kampftagen der Ziele bemächtigt, die es erreichen wollte. Jetzt organisiert es seine Besatzung auf den eingenommenen Gebieten. Eine Besatzung, die nicht ohne Unterdrückung, Repression und Vertreibungen stattfinden kann. Gegen Israel formiert sich dort ein Widerstand, den es wiederum als Terrorismus bezeichnet.«

Die gesamte Geschichte Palästinas in wenigen Worten …

1.2. Das Problem der Grenzen

Im Jahr 2019 verurteilt die Journalistin Martine Gozlan während einer Diskussionsrunde zum Antisemitismus auf dem Sender RT France die T-Shirts propalästinensischer Demonstranten in London, auf denen eine Karte Palästinas ohne Israel zu sehen ist.50 Das könnte schockieren. Sie unterlässt es aber zu erwähnen, dass durch eine Entscheidung der Knesset vom 14.10.2007 in Israel die Darstellung der »Grünen Linie« (von 1949) als israelische Grenze in den Schulbüchern verboten ist …51

Unter osmanischer Herrschaft ist das Zusammenleben der christlichen, muslimischen und jüdischen Gemeinden in Palästina alles in allem friedlich. Wie auch die unterschiedlichen Kalifate kennt das Osmanische Reich keine klaren inneren Grenzen zwischen den Gemeinden. Nach seiner Auflösung entstehen durch die Ankunft der westlichen Mächte, mit ihrer Neigung, Gebiete durch klare Grenzziehungen unter sich aufzuteilen, Spaltungen im Nahen und Mittleren Osten. Die Balfour-Deklaration von 1917 verspricht, eine jüdische Heimstatt in Palästina zu schaffen, und gibt dafür ein Gebiet, über das die Briten damals keine Befugnis haben, welches sie nicht besessen haben und auf dem eine arabische Bevölkerung siedelt.

Was den Erwerb von Gebieten unter dem britischen Mandat angeht, so fand sie überwiegend statt, indem man sich über geltendes Recht hinwegsetzte. Die Neuankömmlinge eignen sich Land an, das sie als »herrenlos« betrachten, und fordern dessen rechtmäßige Besitzer heraus.52 Die Ursache des Problems hängt mit dem muslimischen Gewohnheitsrecht zusammen, demzufolge das Land ausschließlich Gott gehört. Wie noch heute in vielen muslimischen Ländern der Fall, kann es kein Eigentum werden: Man kann höchstens eine Pacht vom Staat erwerben (meist bei den religiösen Behörden, die für die Verwaltung des Waqf zuständig sind), die der Sozialhilfe dient.53

Rufen wir uns ins Gedächtnis, was genau die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel vorsieht:54

»[…] die Schaffung eines jüdischen Staats in Eretz Israel, bekannt unter dem Namen Staat Israel.«

Der Staat Israel ist also nur ein Teil eines größeren Areals (Eretz Israel, gewöhnlich mit »Großisrael« übersetzt). Israel ist womöglich das einzige Land der Welt, das nie präzise seine Grenzen festgelegt hat. Vom 12. bis 14.5.1948, kurz vor der Unabhängigkeitserklärung, hat die provisorische israelische Regierung diese Frage lange erörtert. Am Ende entscheidet sie sich auf Vorschlag Ben-Gurions mit fünf zu vier Stimmen dagegen. Schon zu diesem Zeitpunkt steht dahinter die Idee, die von den Vereinten Nationen definierten Grenzen zu erweitern.55 Dieses Konzept wird übrigens, zu Recht oder zu Unrecht, von den Ländern der Region als Bedrohung wahrgenommen.

Die Waffenstillstandslinie von 1949 – auch »Grüne Linie« genannt – wird gewöhnlich als eine »faktische« Grenze angesehen, die aber auf internationaler Ebene nicht rechtlich anerkannt ist. Die von der UN-Generalversammlung 1947 vorgeschlagenen Grenzen sind formal die einzigen Grenzen, die für Israel international anerkannt sind. Israel hat diese Grenzen bis zu seiner Offensive gegen die arabischen Länder im Juni 1967 beibehalten. Deshalb nimmt man heute als Bezugspunkt das Datum 4.6.1967, also den Tag vor dem Sechstagekrieg. Die Anerkennung der Grenzen von 1967 durch die Hamas ist also ein Kompromiss, der sich dem annähert, was die UN-Generalversammlung im Jahr 1947 empfohlen hat.56

Aber Israel hatte nie die Absicht – selbst vor seiner Unabhängigkeitserklärung nicht –, seine territorialen Ansprüche auf die von der Resolution 181 vorgeschlagenen Grenzen zu beschränken. Die Medien schweigen zu diesem Problem. Es bildet aber den Kern der Palästinenserfrage. So ist etwa die Anerkennung des Staates Israel die Vorbedingung für jedes Gespräch mit der Hamas. Solange aber Israels Grenzen nicht klar definiert sind, ist eine solche Anerkennung unmöglich: Sie könnte bedeuten, dass man die Souveränität Israels über die besetzten Gebiete anerkennt und damit ipso facto die Möglichkeit verliert, sie rechtmäßig zurückzufordern. Deshalb wurde auch die Anerkennung der Existenz des Staates Israel durch die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) unter Arafat im Jahr 1993 von vielen Palästinensergruppen abgelehnt. Sie sahen in ihr einen regelrechten »Blankoscheck« für den israelischen Besatzer.

»Eretz Israel«

Abbildung 5 – »Großisrael« wird häufig von den Zionisten erwähnt. Es gibt mehrere Begriffsbestimmungen, worum es sich handeln könnte. Die kleinste Variante ist das heutige Israel (definiert durch die Waffenstillstandslinie von 1949) mitsamt den besetzten Gebieten (A). Es gibt eine mittlere Variante, die dem entspricht, was die revisionistischen Zionisten in den 1920er Jahren anstrebten, und die das heutige Jordanien einschlösse (B). Die größte Variante würde die Gebiete einschließen, wo die Juden nach biblischer Überlieferung gelebt haben (C). Sie wird allerdings ernsthaft nur von gewissen Ultra-Orthodoxen erwähnt. Selbst wenn es sich dabei vermutlich nur um den Traum gewisser Leute handelt, erklärt dies doch, weshalb Israel als einziges Land der Welt seine Grenzen nicht definiert hat. Es ist auch der Grund, weshalb die Palästinenser abgeneigt sind, Israel anzuerkennen. Denn unter diesen Umständen könnte die Anerkennung Israels ipso facto bedeuten, dass Palästina nicht mehr existiert. Die Anerkennung des jüdischen Staates durch die Palästinenser käme nur in Betracht, nachdem Israel seine Grenzen definiert hätte, wie es die UNO von ihm verlangt.

Es ist wichtig, hier daran zu erinnern, dass die Palästinenser nicht gegen die Existenz Israels sind, wovon die Charta der Hamas von 2017 zeugt. Wenngleich sie es zweifelsohne lieber gesehen hätte, wenn Israel nicht existierte. Hingegen will sie, dass Israels Staatsgebiet klar eingegrenzt ist: Aus rechtlicher Sicht sind die Palästinensergebiete besetzt. Aber Israel weist diese Terminologie zurück, weil ansonsten die Siedlungen und die aufgezwungenen Einschränkungen im Westjordanland und in Gaza ihre Legitimation verlieren würden.

Unsere Medien und Journalisten mühen sich, ein Bild der Hamas zu vermitteln, welches jeden Kompromiss unmöglich macht. 2006 berichtet die Zeitschrift Boston Review von einem Interview mit Dr. Mahmoud Ramahi, einem Abgeordneten der Hamas im Palästinensischen Legislativrat:57

»Wir haben klar gesagt, dass Israel ein existierender Staat ist und von vielen Ländern auf der Welt anerkannt wird. Aber die Seite, die eine Anerkennung braucht, ist Palästina! Und die Israelis sollten unser Recht anerkennen, unseren Staat auf all dem 1967 besetzten Land zu haben. Danach sollte es einfach sein, zu einer Einigung zu kommen. Sie verlangen von uns, Israel anzuerkennen, ohne mitzuteilen, von welchen Grenzen sie sprechen! Lassen sie uns zuerst die Grenzen besprechen, und dann reden wir über eine Anerkennung.«

Anders ausgedrückt: Die Hamas ist nicht bereit, Israel für das gesamte Gebiet Palästinas einen Freibrief zu erteilen. Es ist zunächst nötig, dass Israel gemäß den Entscheidungen der Vereinten Nationen das Gebiet bestimmt, auf dem es seine Staatsmacht nach eigenem Bekunden ausübt. Anschließend würde es einfach, es anzuerkennen. Aber Israel tut nichts dergleichen …

1.3. Die Jerusalemfrage

Jerusalem bezieht seinen Namen von Salem, Göttin der Kanaanäer, die die Vorfahren der … Palästinenser waren. Jerusalem, das Epizentrum der drei großen monotheistischen Weltreligionen, wird von Juden, Christen und Muslimen gleichermaßen als ein heiliger Ort angesehen.

Aufgrund dieser Vielschichtigkeit sah die Resolution 181 aus dem Jahr 1949 einen internationalen Status für diese Stadt vor, um die sich damals Juden und Araber mit Gewalt stritten. In der Folge des Sechs-Tage-Krieges annektiert Israel im Jahr 1967 Jerusalem, den Aufforderungen der Vereinten Nationen zum Trotz [Resolution 267 (1969)].

Bis heute ist die offizielle Position der Vereinten Nationen, dass es sich bei Jerusalem um ein von Israel besetztes arabisches Gebiet handelt.58 Aus diesem Grund hat die UNESCO 2016 entschieden, die arabischen Bezeichnungen für markante Orte der Stadt beizubehalten. Dies löst einen Sturm der Entrüstung aus, insbesondere in den Reihen der amerikanischen extremen Rechten.59 Der offizielle Name des Tempelbergs ist also Haram Al-Scharif.

Deshalb ist Donald Trumps Entscheidung, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen und die amerikanische Botschaft dorthin zu verlagern, völkerrechtswidrig. In Wahrheit verfolgen die Vereinigten Staaten keine Außenpolitik, die sich auf internationales Recht gründet, sondern auf »Regeln« (»rules-based international order«), die sie selbst bestimmen, etwa wenn sie Israels Recht anerkennen, die Golanhöhen zu annektieren.

Am 14.12.1981 hat also das israelische Parlament, die Knesset, das »Gesetz zur Annexion des Golan« verabschiedet. Drei Tage später verurteilt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in seiner Resolu­tion 497 diesen Akt, der die Resolution 242 sowie das humanitäre Völkerrecht (IHL) verletzt. Er erklärt den Akt für »null und nichtig und international ohne rechtliche Wirkung«60. Dennoch zieht dies keinerlei internationalen Protest oder Sanktionen nach sich. Und es hindert Donald Trump nicht daran, im Jahr 2019 diese Annexion anzuerkennen.61

Man hat es also mit politisch Handelnden zu tun, die das Völkerrecht selbst nicht achten, die gleichwohl wehklagen, wenn andere es missachten.

Die Situation hat sich noch mehr durch ein Projekt verschärft, das von ultraorthodoxen Juden und fanatischen amerikanischen Christen62 betrieben wird. Sie wollen den Tempel des Salomon auf dem Haram al-Scharif (Tempelberg) wiedererrichten. Die Konsequenz wäre die Zerstörung heiliger Stätten des Islam.63 Die Bildung einer von den Ultraorthodoxen gestützten rechtsextremen Regierung hat dieses Projekt beschleunigt.

Dieses Projekt ist alles andere als anekdotenhaft. Es hat die Unterstützung der israelischen Regierung erhalten und ist 2023 der Auslöser für zahlreiche Aufstände auf dem Al-Aqsa-Vorplatz (Tempelberg).64 Es bildet auch die tiefere Ursache für die Operation Al-Aqsa-Flut. Das Projekt gefährdet eine Stätte, die zum Welterbe der Menschheit erklärt wurde. Trotzdem redet der Nachrichtensender France 24 davon nur auf seiner englischen Internetseite und nicht auf seiner französischen … Mehr noch als die israelische Vergeltung für die Aktion der Hamas sorgt dieses Projekt für den Widerwillen Saudi-Arabiens, die Abkommen unter dem Namen Abraham umzusetzen oder wieder dauerhafte diplomatische Beziehungen mit Israel aufzunehmen.

1.4. Das Rückkehrrecht

Es ist ein Paradox, dass ein Volk einerseits für sich ein Rückkehrrecht in ein Gebiet, das es freiwillig vor 2 000 Jahren verlassen hat,65 beansprucht und andererseits den Palästinensern, denen vor 75 Jahren ihr Land mit Gewalt weggenommen wurde, eine Rückkehr verbietet.

Ein Problem besteht darin, dass erst die Briten und später die Israelis die Regeln für Landerwerb geändert und Gesetze eingeführt haben, die keine Rücksicht auf das Gewohnheitsrecht nehmen. Entsprechend diesem Recht wurde das Land aber ursprünglich erworben. Nachdem die Israelis die Bewohner mit Gewalt vertrieben hatten, von denen einige noch heute ihre Wohnungsschlüssel besitzen, räumten sie ihnen eine Frist ein, in der sie ihren Besitz zurückerhalten konnten. Sie teilten ihnen diese Frist jedoch nicht mit. Kurz gesagt: Man hat diesen Palästinensern ihr Land gestohlen und dem Diebstahl danach ein juristisches Deckmäntelchen gegeben.

Bereits sehr früh haben sich die Vereinten Nationen mit dem Schicksal der Palästinenser befasst, die mit Gewalt vertrieben und deren Land gestohlen wurde. Nachdem die UN ihn nach Israel entsandt hatte, um eine Lösung für diese Frage zu finden, wurde der Graf Folke Bernadotte von einer israelischen Miliz ermordet. Einer ihrer Anführer sollte später Premierminister werden …

Im Dezember 1948 beschließt die UN-Generalversammlung ihre Resolution 194 (III):

»11. [Sie] beschließt, dass denjenigen Flüchtlingen, die zu ihren Wohnstätten zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dies zum frühestmöglichen Zeitpunkt gestattet werden soll und dass für das Eigentum derjenigen, die sich entscheiden, nicht zurückzukehren, sowie für den Verlust oder die Beschädigung von Eigentum, auf der Grundlage internationalen Rechts oder nach Billigkeit von den verantwortlichen Regierungen und Behörden Entschädigung gezahlt werden soll.«66

Halten wir fest, dass sie diese Aufgaben den »verantwortlichen Regierungen und Behörden« gibt, denn die Verbrechen sind nicht nur seit 1948 vom Staat Israel verübt worden, sondern auch von den provisorischen Behörden, die die jüdischen Milizen vor der Staatsgründung Israels angeleitet haben. Auf diesen Paragrafen wird regelmäßig in allen Resolutionen verwiesen, die das Thema betreffen. Die letzte Resolution zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Werkes trägt das Datum 7.12.2023. Anders ausgedrückt: Seit 75 Jahren verweigert sich Israel, den Entscheidungen der Vereinten Nationen Folge zu leisten.

1.5. Das Widerstandsrecht

Die Lage der Palästinenser ist seit langer Zeit allgemein anerkannt. Im Dezember 1982 erlässt die UN-Generalversammlung die Resolution 37/43. Dies geschieht nach der israelischen Intervention im Libanon, um die PLO zu zerschlagen, die damals ihr Hauptquartier in Beirut aufgeschlagen hatte. Das damalige Vorgehen erinnert stark an das, was sich heute im Gazastreifen beobachten lässt. Die Resolution

»[…] bekräftigt die Rechtmäßigkeit des Kampfes der Völker für ihre Unabhängigkeit, ihre territoriale Unversehrtheit, ihre nationale Einheit und, um sich von der kolonialen Fremdherrschaft und der Besatzung durch Fremde zu befreien mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, einschließlich des bewaffneten Kampfes«.67

Dieses Prinzip wird noch genauer durch die Resolution 45/130 vom Dezember 1990 bekräftigt. Ihr Titel lautet: »Die Wichtigkeit der allgemeinen Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der schnellen Gewährung der Unabhängigkeit für kolonisierte Länder und Völker zum Zweck der effektiven Garantie und Einhaltung der Menschenrechte«. Die UN-Generalversammlung erklärt:

»[…] Ebenfalls unter Berücksichtigung der Genfer Erklärung zu den Palästinensern und des Aktionsprogramms für die Umsetzung der Rechte der Palästinenser, die von der Internationalen Konferenz zur Palästinafrage verabschiedet wurden,

in der Überzeugung, dass die Vorenthaltung des unveräußerlichen Rechts der Palästinenser auf Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Rückkehr nach Palästina, dass die brutale Unterdrückung der Intifada, eines heldenhaften Aufstands, und der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten durch die israelischen Kräfte sowie die wiederholten Aggressionen Israels gegen die Bevölkerung der Region eine schwere Bedrohung für den Frieden und die internationale Sicherheit darstellen,

im Gedanken an die Resolutionen 605 (1987) vom 22.12.1987, 607 (1988) vom 5.1.1988 und 608 (1988) vom 14.1.1988 des Sicherheitsrats und ihrer eigenen Resolutionen 43/21 vom 3.11.1983, 43/177 vom 15.12.1988 und 44/2 vom 6.10.1989, in Betreff auf die Verschlechterung der Situation des palästinensischen Volks in den besetzten Gebieten,

in tiefer Sorge und Beunruhigung über die bedauerlichen Folgen der von Israel ausgeübten Aggressionen gegen den Libanon, über seine Praktiken und seine anhaltende Besetzung von Teilen Südlibanons, wie auch über seine Weigerung die entsprechenden Resolutionen des Sicherheitsrats, insbesondere die Resolution 425 (1978) vom 19.3.1978 umzusetzen,

1. Verlangt von allen Staaten vollständig und gewissenhaft die Resolutionen der UNO umzusetzen, die das Recht zur Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der Völker betreffen, die einer kolonialen und fremden Herrschaft unterworfen sind;

2. Bekräftigt die Rechtmäßigkeit des Kampfes, den die Völker führen, um ihre Unabhängigkeit, ihre territoriale Unversehrtheit und ihre nationale Einheit zu sichern und um sich von der kolonialen Herrschaft, der Apartheid und der fremden Besatzung mit allen, ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, einschließlich des bewaffneten Kampfes, zu befreien […].«68

Der palästinensische Widerstand gegen die israelische Besatzung ist also rechtmäßig, auch der Einsatz von Gewalt. Natürlich erlaubt diese Rechtmäßigkeit nicht jedes Mittel, und ganz sicher keine Terrorangriffe gegen die Zivilbevölkerung.

Der Begriff »Widerstand« unterstellt einen Angriff auf eine Besatzungsarmee. Aber in Palästina müssen die Dinge differenziert betrachtet werden: Sehr viele Übergriffe werden von Siedlern begangen. Bei ihnen handelt es sich um bewaffnete Zivilisten, die ihre Aktionen mit dem wohlwollenden Einverständnis der Behörden durchführen. Im Falle des Gazastreifens macht es die Belagerung dieser Zone für ihre Bewohner unmöglich, auf »klassische« Weise Widerstand zu leisten, weil die Soldaten sie von außerhalb unter Beschuss nehmen.

Terrorismus ist etwas Verachtenswertes und muss verurteilt werden. Aber ein jeder sollte sich in die Situation der Palästinenser versetzen: Was tun Menschen in einer solchen Lage, wenn jeder Verhandlungsprozess ausgeschlossen ist, wenn sich die internationale Gemeinschaft nicht mehr für ihr Schicksal interessiert, wenn die westlichen Politiker die Massaker gutheißen, die sie erleiden?

Anfang der 1990er Jahre stellte Jan Narveson, ein Antiterrorspezialist in den Vereinigten Staaten, fest:69

»Wenn die israelische Regierung einfach nur den gleichberechtigten freien Handel mit den Palästinensern zulassen würde, wäre dann ihr Hang zum Terrorismus genauso stark? […] Terrorismus ist wohl unter allen Umständen der falsche Weg, aber es gibt viele Umstände, in denen er verständlich oder sogar entschuldbar sein kann. Wir müssen tun, was wir können, um derartige ›Umstände‹ so selten wie möglich zu machen.«

Hier sollte eine intelligente Strategie im Kampf gegen den Terrorismus ansetzen. Wenn Israel wirklich daran gelegen wäre, den Terrorismus zu beseitigen, dann würde es eine Strategie der Ermunterung zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung verfolgen. Aber das ist nicht der Fall, denn sein Ziel ist ein anderes. Es geht ihm vielmehr darum, das Leben für die Palästinenser so unmöglich zu machen, dass sie ihre Gebiete verlassen.

2.Die israelische Besatzungspolitik

2.1. Die Lage in den besetzten Gebieten

Israels Präsenz in den besetzten Gebieten wird von den Genfer Konventionen geregelt. Sie bestimmen den Rahmen für das Regierungshandeln und die Behandlung der Bevölkerung. Folgende Punkte sind hierbei entscheidend:

Erstens erwirbt eine Besatzungsmacht keine hoheitlichen Rechte im besetzten Gebiet. Sie kann dementsprechend den Status und die grundlegenden Merkmale des Gebiets nicht ändern.

Zweitens ist die Besatzung ein vorübergehender Zustand. In dieser Hinsicht muss die Besatzungsmacht den Status quo erhalten und darf keine weitergehende Politik oder Maßnahmen verfolgen, die dauerhafte Veränderungen schaffen oder nach sich ziehen, insbesondere im sozialen, wirtschaftlichen und demographischen Bereich. Es geht darum, ein möglichst normales Leben im besetzten Gebiet zu ermöglichen und es zum Nutzen der örtlichen Bevölkerung zu verwalten.

Drittens muss die Besatzungsmacht ständig das Gleichgewicht zwischen den eigenen Sicherheitsinteressen und den Interessen der örtlichen Bevölkerung wahren. Selbst wenn dieses Gleichgewicht eher zugunsten der eigenen Sicherheitsbedürfnisse ausfällt, erlaubt das Besatzungsrecht ihr nicht, die Bedürfnisse der örtlichen Bevölkerung völlig zu ignorieren.

Viertens gestatten die Besatzungsregeln einer Besatzungsmacht nicht, ihre Autorität zur Durchsetzung eigener Interessen zu nutzen (abgesehen von Militärinteressen). Sie darf die Bewohner, Ressourcen und andere Güter des besetzten Gebiets nicht zum Vorteil ihres eigenen Staatsgebiets und dessen Bevölkerung einsetzen.

Seit 1947 hält Israel Gebiete besetzt, die es mit Waffengewalt erobert hat, und führt eine ethnische Säuberung der arabischen Bevölkerung Palästinas durch. Es ist übrigens zum großen Teil diese Bevölkerung, die mittlerweile die Bewohner des Gazastreifens ausmacht. Der israelische Staat, der aus diesem ersten Konflikt im Jahr 1949 entsteht, hat also schon umstrittene Grenzen, die heute die Fakten-, aber nicht die Rechtslage darstellen. Der Angriff Israels auf seine Nachbarn im Juni 1967 war rechtswidrig in Bezug auf das Völkerrecht. Und der Erwerb von Gebieten, der daraus resultierte, war es laut Charta der Vereinten Nationen ebenso.

Im August 2023 liefert ein Bericht, der für die Vereinten Nationen angefertigt wurde1 und die Gesetzmäßigkeit der israelischen Besatzung der Palästinensergebiete untersuchen soll, eine dokumentierte Kritik der israelischen Besatzung. Die Auflösung von Demonstrationen unter Einsatz von tödlichen Waffen2, die Bezeichnung von palästinensischen Menschenrechtsorganisationen als »Terrororganisationen«3, Massenverhaftungen4 und willkürliche Inhaftierungen werden regelmäßig von den Vereinten Nationen festgestellt:

»Die gängige Praxis der Verwaltungshaft ist mit einem Kriegsverbrechen gleichzusetzen. Geschützten Personen wird dadurch gezielt das Recht auf ein faires und ordnungsgemäßes Verfahren entzogen.«5

Durch das Völkerrecht werden der Besatzungsmacht eines Landes Pflichten auferlegt. Aber Israel hält sich nicht daran. Diese Missachtung des Völkerrechts durch Israel ist die Ursache des palästinensischen Widerstands. Und die Anhäufung von wiederholten und straflosen Rechtsverletzungen ruft den Terrorismus hervor.