Die Pforten von Lopahr: Lichter und Geheimnisse - Erin K. Wilde - E-Book
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Die Pforten von Lopahr: Lichter und Geheimnisse E-Book

Erin K. Wilde

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Beschreibung

"Hundert Herzen, Rachel. Das ist mein Preis." Rachel wurde von ihren Freunden getrennt und sitzt gefangen im Palast der Kristalldomstadt fest. Um der Einsamkeit und ihrem Liebeskummer zu entkommen, schmiedet sie im Geheimen Pläne. Die allerdings gefährden nicht nur die Freundschaft zu ihren Gefährten, sondern auch die angespannten Friedensverhandlungen im Palast. Um den Kaiser nicht gegen sich aufzubringen, verstrickt sie sich immer tiefer in ein Netz aus Lügen. Dabei fällt es ihr zunehmend schwer, ihr Herz vor dem Mann zu schützen, der für sie verboten ist. Einem Mann, der die Macht besitzt, sie mit einem Fingerschnippen zu verraten und Lopahr wieder in den Krieg zu stürzen. Magisch. Spannend. Romantisch. Teil zwei der sechsbändigen High-Fantasy-Romance-Saga.

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Erin K. Wilde

Die Pforten von Lopahr

Lichter und Geheimnisse

Band 2

Content Notes

Die Content-Notes zur Lopahr-Serie

finden Sie auf der Website der Autorin:

www.erinwilde.de

Impressum

© Erin K. Wilde, 2024

Alle Rechte vorbehalten

Deutsche Erstausgabe, Oktober 2024Verlag: LAUSCH medien, Hamburg

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München | www.ava-international.deLektorat: Philipp Bobrowski | lektor.philippbobrowski.deKorrektorat: Melissa Preßler | lillypressler.de

Cover: Jaqueline Kropmanns | jaqueline-kropmanns.de

Gestaltung der Landkarte: Cornelia Schulz

Illustrationen in Rachels Notizen: Vessela Kolibarova | instagram.com/jessyblluGestaltung von Rachels Notizen: Erika Markkinen | merlausch.de

Ausführliche Informationen über die Autorin und ihre Bücher finden Sie unter www.erinwilde.de

Instagram: @erin_wilde_autorin

TikTok: @erin_wilde_autorin

Facebook: Fantasywelten von Erin Wilde

Von Erin K. Wilde sind bereits erschienen:

Die Pforten von Lopahr – Tore und Wächter (Band 1)

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Facebook: Fantasywelten von Erin Wilde

Für Mama & Micha.

Weil am Ende alles gut ist.

Denn wenn noch nicht alles gut ist,

so ist es noch nicht das Ende.

Prolog

Winter, im Jahr 50 nach neuer Alainzeitrechnung

Gard wollte den alten Mann umbringen. Jedes einzelne verdammte Mal. Es dürstete ihn danach, seine verkümmerten Fingerknochen um den faltigen Hals zu legen. Zuzudrücken. Doch in dem Reich hinter den Pforten herrschten strenge Gesetze, und eines davon lautete, niemals einem Besucher das Genick zu brechen. Als Hüter über den Ort zwischen den Welten hatte Gard sich daran zu halten – sofern er nicht selbst auf eine zerquetschte Wirbelsäule scharf war.

Du hast einen Namen erschaffen. Mit Puder aus der Allnacht. Das ist ebenfalls verboten.

Ja, er hatte einen Namen erschaffen. Unter Folter. Für sie. Für das Mädchen mit dem schwarzen Haar.

Er war bis heute nicht für dieses Vergehen belangt worden, und er gab sich nicht der trügerischen Hoffnung hin, dieser Ort sei Strafe genug. Der Raum zwischen den Welten, ein ganz eigenes Gefängnis.

Gard spekulierte nicht, wann die Vergeltung kam. Dass sie kommen würde, stand außer Frage. Vielleicht befand sie sich auf dem Weg hierher. Womöglich lauerte sie bereits inmitten der Farben, die dieses Reich beherrschten.

Es spielte keine Rolle.

Die einzige Überlegung, der er nachhing, bestand aus der Frage, wie lange die Strafe dauern würde. Ob er sie überlebte.

Er verdrängte den Gedanken und setzte sich in Bewegung. Schleier aus Flamingorot, Apfelgrün und Gletscherblau liebkosten seine Wangen, spielten mit seinem weißen Zopf. Er hasste die zaghaften Berührungen fast noch mehr als den Alten, und so machte er sich nicht die Mühe, seinen Unmut zu verbergen und blaffte: »Raus hier!«

Der Mann, der von der Erde aus in Richtung Alain wanderte, entgegnete unbeeindruckt: »Ich suche etwas.«

Ein pastellpinkfarbener Schleier schlängelte sich um Gards Knöchel. Unwirsch schüttelte er ihn ab. Diese geisterhaften Umarmungen änderten nichts. Sie kehrten die Vergangenheit nicht um, und sie halfen ihm auch nicht dabei, aus dieser falschen Form zu kriechen, in die seine Priester ihn gezwungen hatten.

»Raus hier«, wiederholte er gepresst.

Der Alte ignorierte die Aufforderung. »Hast du zufällig einen Affen gesehen, Hüter?«

»Du kannst aufhören, so zu tun, als seiest du senil und hörgeschädigt und stattdessen verschwinden! Hier spazieren keine Zufälle rein.«

Der Mann legte den Kopf schräg, als lauschte er Stimmen, die nur zu ihm wisperten. »Wenn das so ist, gehe ich.«

Dieser Satz.

Schon tausend Mal geäußert, aus tausend verschiedenen Mündern, in längst vergessenen Sprachen. Gard musste an sich halten, nicht aus seiner türkisfarbenen Haut zu fahren.

Er wollte die Worte selbst aussprechen.

Widerwillig schluckte er den beißenden Geschmack hinunter, der sich auf seine Zunge legte. »Der Affe muss dir viel bedeuten, wenn du dich dazu herablässt, mit mir zu reden.«

Anstelle einer Antwort deutete der Alte auf den grauen Wirbel, den er ansteuerte. Den Durchgang zu Alain. »Hast du etwas bemerkt, als die Pforten zerstört wurden?«

Mit direkten Fragen bekam er offensichtlich keine nützlichen Auskünfte. Gard setzte eine neutrale Miene auf und nickte. Natürlich war die Zerstörung der Tore nicht unbemerkt an ihm vorbeigegangen. Die Erschütterungen hatten sämtliche Farbschleier in Aufruhr gebracht.

»Hast du gesehen, wer es war?«, fragte der Mann.

»Dich gehen die Belange der Ersten Tür nichts an.« Er bemaß die schmächtigen Schultern des Alten, die Knochen, die gegen die Narben auf der faltigen Haut drückten. »Oder möchtest du mein Amt übernehmen und zum Hüter dieses Reiches aufsteigen?« Langsam hob er die Hand, ein Angebot. »Du wirst nie wieder müde sein. Hunger und Durst verblassen zu Erinnerungen. Und das Beste daran: Du kannst ein Leben führen, das als ein unsterbliches gilt.«

»Ich erweise dir einen anderen Gefallen.« Der Alte wandte sich ab und ging in den Wirbel hinein. »Sobald ich herausgefunden habe, wer die Pforten zerstört, werde ich ihn hierher schleifen. Dann darfst du mit ihm anstellen, was du willst. Du kannst ihm eine zweite Chance gewähren und ihn freilassen. Vielleicht lockst du ihn auch in die Ferne. Lässt ihn auf ewig durch dein Reich irren. Oder du übergibst ihn deinem Stamm, sofern einer deiner Nachfahren dich besucht. Damit dein Volk ihn verstümmeln kann. So wie dich.«

Gards Puls beschleunigte sich.

»Du musst ihn nicht töten«, fügte der Mann in freundschaftlichem Ton hinzu und war schon halb verschwunden. »Es gibt immer Möglich­keiten, Gerechtigkeit walten zu lassen und Gesetze zu umgehen. Auch für dich.«

Gard stürzte nach vorn, wollte ihn zurückholen. Aber der Wirbel verschlang den Alten, die Erste Tür gab ihn frei und Gard blieb allein zurück mit seinem donnernden Herzen.

»Feigling«, schrie er in die Leere.

Ein Feigling. So wie er.

Die Farben bedrängten ihn, pressten den Atem aus seinen Lungen. Gard riss an seinem Kimono, kämpfte gegen den Schwindel an, die aufsteigenden Erinnerungen, in denen sein Herz so raste wie jetzt.

Er hetzte durch eine Pforte in den Raum vor der Ersten Tür.

»Wo bist du?«

Die Priester brüllten ihm hinterher. Er würde sich verirren. Er sei kein Hüter. Der Raum zwischen den Welten sei nur zur Durchreise gedacht. Er dürfe sich nicht darin aufhalten.

Gard kehrte nicht um.

»Wo bist du?«

Er musste es wissen. Musste es mit eigenen Augen sehen. Darum rannte er, verlor sich in den Farben. Er rannte, bis er es fand. Die rote Lache.

Mit den Knien fiel er in das Blut hinein, förderte sein Frühstück zu Tage. Wegen der Fleischklumpen, die um ihn herum verstreut lagen.

Hätte sein Vater doch niemals den Namen zerstört. Aber mit dieser Bitte war Gard etliche tausend Jahre zu spät dran.

Kapitel 1

Frühling, im Jahr 51 nach neuer Alainzeitrechnung

Rachel jagte durch die Straßen der Kristalldomstadt. Rauch und Staub stachen in ihre Augen. Ihre Oberschenkel brannten, genau wie ihre Lunge. Sie wich einer Gruppe Soldaten in grünen Kristallrüstungen aus, schlug einen Haken um einen umgefallenen Fuhrwagen und stolperte über einen Besenstiel.

Noch bevor ihre Hände die Pflastersteine küssten, wurde sie an der Tunika im Rücken gepackt und in die Höhe gezerrt.

Mit unmenschlicher Kraft zog Cayl sie weiter, weg von der Haupt­straße, in eine Seitengasse hinein, unter einem Torbogen hindurch. »Ihr müsst in den Dom!«, brüllte er über das Geschrei der Bewohner und die lauten Glockenschläge hinweg. »Die Kellergeschosse sind sicher. Die Kristallmauern halten mehr aus als die Stadtmauern aus Stein.«

Rachel hakte nicht nach. Wenn sie eines in den vergangenen Monaten über ihren Stiefcousin gelernt hatte, dann, dass er sich auf diesem fremden Planeten besser auskannte als sie. Wenn er sagte, dass sie im Süden der Stadt sicherer waren, dass der funkelnde Kristallpalast, der dort in den blauen Himmel aufragte, einem Angriff eher standhielt, so vertraute sie ihm.

Hand in Hand raste sie mit ihm an einer Reihe Goldschmiedegeschäfte vorbei, in denen rubinbesetzte Ketten und Silberringe nichts von dem Tumult ahnend auf samtenen, dunklen Kissen lagen.

Eine Explosion erschütterte die Grundfesten der Kristalldomstadt. Cayl fluchte, Rachel hatte vergessen, ob es der vierte oder schon der fünfte Anschlag gegen die Gemeinde war. Sie wagte einen schnellen Blick zurück und fand in Akiras verschwitztem Gesicht die gleichen Fragen. Und die gleiche Panik.

Stand Garvan vor den Toren der Stadt?

Hatte der Eroberer seinen Sitz im Osten des Kontinents verlassen, um hier im Südwesten die Kristalldomstadt einzunehmen?

Eine weitere Explosion zerriss die Luft. Am Ende der Straße, die Rachel ansteuerte, brach ein Haus zusammen. Sie sah noch Mauersteine und zerborstene Holzbalken durch dicken, grauschwarzen Qualm hindurchfliegen, dann berührte ihre Wange eine halb zerfetzte Tunika. Cayl presste sie schützend an seine Brust, brachte sie ins Taumeln. Sie roch das Blut der vergangenen Nacht, das an seinen Kleidern klebte, neben Rauch und Schweiß.

Ein Fremder hielt auf sie zu. Ein Maler, seinem farbbeklecksten Leinens­churz nach zu schließen.

»Helft ihr!« Der Maler zerrte an Cayls Arm und gestikulierte hektisch zu dem Haus, das nicht mehr stand. Zu einer Wand, unter der eine Frau von der Hüfte abwärts begraben lag und das Gesicht verzog vor Schmerz. »Ich habe keine Magie.«

Rachel verstand sofort, was der Maler wollte. Cayl sollte die Wand anheben. Er sollte seinen Körper mit Magie verstärken. Wahrscheinlich hatte der Mann anhand der schwarzen Flammen, die auf Cayls Schultern tanzten, erkannt, dass ihr Stiefcousin Schwarzmagie besaß.

Sie verpasste Cayl einen Schubs. »Mach schon!«

Er zögerte, darum ergriff sie Akiras Hand und rief: »Wir warten im Dom.« Ein Versprechen, das zugleich Bitte und Aufforderung an ihn darstellte. Er sollte nachkommen. Er sollte sich nicht ungeschützt ins Gefecht stürzen. Wäre es nach Rachel gegangen, würde er nie wieder das Schwert ziehen, das an seinem Gürtel hing. Niemand sollte sich mit Klingen bewaffnen, aber auf diesem Kontinent herrschte Krieg und ihr Wunschdenken allein schaffte keinen Frieden.

Kurz presste Cayl die Lippen zusammen, dann tauschte er einen schnellen Blick mit Akira. Die Kriegerin nickte, als habe sie seine unausgesprochene Aufforderung verstanden. So war es zwischen den beiden schon gewesen, als Rachel sie vor einem halben Jahr kennengelernt hatte. In einem Kampf musste keiner der zwei Worte äußern. Sie schienen jederzeit zu wissen, was der andere dachte. Dass diese Fähigkeit außerhalb eines Gefechts versagte, hatte Rachel bisher geflissentlich für sich behalten.

»Lass nicht los«, rief Akira. Ihre braunen Augen blitzten, eine Warnung, die jedem galt, der versuchen sollte, sie von Rachel zu trennen.

Seite an Seite rannten sie weiter, dicht gefolgt von Rosh und ihrem Onkel, der neben ihrem besten Freund her sprintete. Letzterer schulterte den bewusstlosen Feuermagier Patrick.

Rosh erschuf einen magischen Wasserball und löschte im Vorbeirennen den Brandherd in dem zerstörten Haus, dort, wo Cayl die Mauer anhob.

»Hast du Garvans Soldaten gesehen, als wir in die Stadt geritten sind?«, schrie Rachel und rutschte jäh mit den Stiefeln aus. Die Pflastersteine wichen glänzendem Kristallboden, über den sie und die Kriegerin schlitterten.

Akira fand ihr Gleichgewicht am schnellsten. »Ich habe nichts bemerkt.«

Die Aussage jagte einen eiskalten Schauer Rachels Rücken hinunter. Wenn Akiras Adleraugen nichts Verdächtiges entdeckt hatten, dann musste Garvan ein Meister der Tarnung sein. Rachel konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Angriff von weniger als einer Armee ausgeführt wurde.

Aus der Straße, die sie einschlugen, kam ihnen eine weitere Gruppe Soldaten in kristallgrünen Rüstungen entgegen. Sie flankierten Männer und Frauen in roten Roben.

»Macht Platz für die AEM«, brüllte eine Soldatin und zückte ihr Schwert.

Rachel wollte es wissen und gleichzeitig fürchtete sie sich davor, was die Ancient Experience of Magic – kurz AEM genannt – vor den Stadttoren zu Gesicht bekamen. Für sie stand außer Zweifel, dass die Mitglieder des größten Magierzirkels dieses Kontinents auf dem Weg zu den Angreifern waren, die Rachel von ihrem Standpunkt aus – umgeben von dreistöckigen Wohnhäusern – nicht sehen konnte.

Plötzlich blieb einer der AEM stehen. Ein älterer Mann mit graubraunem Haar und ebenso graubraunem Bart.

»Was zur Hölle tut ihr hier?«, bellte Mahlyzen und musterte abwechselnd sie und ihre Freunde.

Rachel wollte ihm antworten, dem Magier, der sie einst auf ihrer Reise durch Lopahr begleitet hatte, aber Mahlyzen rief bereits: »Hier ist es nicht sicher. Folgt mir!«

Obwohl die gesamte Stadt den Namen Kristalldom trug, bestand doch nur das Herz im Süden – der Dom selbst – aus dem funkelnden Material. Über Schleichwege und enge Gassen führte Mahlyzen sie abseits des Trubels zu dem schillernden Palast. Immer öfter wich sie herabfallenden Dachziegeln, losen Regenrinnen und Scherben von zerplatzenden Fensterscheiben aus. Sie konnte die Geschosse nicht sehen, die auf die Bauten um sie herum niedergingen. Weder Felsen noch Metallkugeln durchpflügten die Luft. Nicht mal einen Erdklumpen machte sie aus. Entweder feuerten die Angreifer unsichtbare Magie auf die Stadt ab, oder ihre Munition war so klein, dass Rachel sie mit bloßem Auge nicht erkannte.

Schließlich wurden Holz- und Steinhäuser abgelöst von durchsichtig schimmernden Mauern aus Glas, in denen sich das Licht hundertfach brach. Über die kristallenen Balkone des Doms, die Brücken und Türme, die aus dem einsamen Berg dahinter geschliffen waren, stürmten Krieger wie AEM gleichermaßen. Alle hasteten sie in die Richtung, aus der Rachel kam.

Durch ein schmales Tor aus funkelnden Kristallbögen erreichten sie eine breite Allee aus Eichen, die in großen Beeten wuchsen, die man in den Kristallboden eingelassen hatte. Am Ende der Allee wartete eine einsame, hohe Spitzbogentür aus dickem Kristallglas, die in den Dom hineinführte. Das mit unzähligen Ranken, Siegeln und Runen verzierte Monstrum wurde so schwungvoll geöffnet, dass es klirrend an die Außenwand des Doms knallte. Weitere Soldaten verließen das Haus der AEM. In dem Ansturm entglitt Rachel Akiras schweißfeuchte Hand. Die Kriegerin wurde rückwärts getrieben und bellte etwas von ‚Domkeller‘.

Rachel schlängelte sich durch den Strom der Krieger. Er hörte gar nicht mehr auf, und als sie endlich durch die Tür war und eine hohe Halle betrat, fand sie dort dasselbe Chaos vor, das in der Stadt herrschte. AEM in roten Roben, Soldaten in Grün, Novizen in braunen Kutten und allerlei andere Lebewesen rannten durch die Halle, riefen Befehle, schrien nach Hilfe.

Rachel suchte Mahlyzen, sie konnte den Magier nirgends entdecken. Auch von ihren Gefährten fehlte jede Spur. Nicht einmal die hochgewachsene Gestalt ihres besten Freundes machte sie in der Menge aus.

»Nicht da raus, Pavlo!« Eine ältere Frau in einem blaugrauen Kleid und einer mit Erde beschmierten Schürze rief einem Novizen hinterher, der in Rachels Richtung eilte. »Wir müssen in die Kellergeschosse!«

Alles in Rachel verlangte danach, sich umzudrehen, nach ihren Gefährten zu suchen, aber das hier war eine Ausnahmesituation. Sie konnte jetzt nicht ihren Gefühlen folgen. Sie musste ihren Verstand benutzen, auch wenn ihr Puls inzwischen so raste, dass die Ränder ihres Sichtfeldes verschwammen.

Hör auf das, was Cayl und Akira gesagt haben.

Rachel rannte zu der Alten. »Wo geht es zu den Kellergeschossen?«

Der Blick aus den weit aufgerissenen, blaubraunen Augen der Fremden flog von ihr zu dem Novizen. Offenbar kam sie zu dem Schluss, dass der junge Mann seine Sicherheit auf anderen Wegen suchte, denn sie stieß einen verzweifelt klingenden Fluch aus. »Hier entlang.« Die Frau deutete mit dem Kinn zu einer ausladenden Treppe.

Der Klang der Domglocken dröhnte durch das Haus aus Kristall, vi­brierte im geschliffenen Glas. Die nahezu durchsichtigen Wände und Böden erlaubten Rachel die Sicht auf die Dinge, die hinter und unter ihnen lagen. Räume und Flure und ein Treppenhaus, das die alte Frau ansteuerte.

Stände nicht jeder Nerv in ihrem Körper kurz vor dem Zerreißen, hätte Rachel bewundernd innegehalten. Das Treppenhaus war das größte, das sie je erblickt hatte. Stufen und Geländer aus Glas und Holz verbanden die Wände mit einem kolossalen hexagonalen Kristallprisma, das sich in der Mitte des Treppenhauses senkrecht in die Höhe schraubte.

»Ann!«

Die Frau hielt auf dem Durchgang zum Treppenhaus inne.

Ein hochgewachsener Fremder in schwarzer Lederkluft bahnte sich rasant seinen Weg durch die Menge und rief: »Wo willst du hin? Wer ist das?«

Die Frau blitzte ihn an. »Jetzt interessiert dich also, was ich tue und mit wem ich mich umgebe?«

Der Mann, der sich gemessen an den Falten in seinem Gesicht irgendwo in den Fünzigern befinden musste, bleckte die Zähne. Eine Hälfte seines gestutzten Bartes zierte grauer Staub. »Die Stadt wird angegriffen«, bellte er, als liefere die Aussage alle Antworten, die die alte Frau benötigte.

Rachel wollte den beiden zurufen, dass sie diskutieren konnten, sobald sie die Kellergeschosse erreicht hatten, da erwiderte die Fremde: »Was bist du doch für ein Blitzmerker!« Fauchend packte sie Rachel am Arm und zerrte sie mit sich ins Treppenhaus. »Ich wünschte, du hättest meine Abneigung gegen Spitznamen genauso schnell erkannt!«

Für den Bruchteil einer Sekunde blieb der Mann perplex auf der Schwelle stehen. Dann jagte er Rachel und der Fremden hinterher und brüllte: »Das Mädchen lebt nicht im Dom!«

Beinahe wäre Rachel auf den glatten Kristallstufen ausgerutscht. In einer endlos erscheinenden Spirale führten sie in die Tiefe. Dorthin, wo Dunkelheit mit einem falschen Versprechen von Ruhe lockte.

Rachel wollte fragen, woher der Mann das wusste und ob er seine Wut auf später verschieben konnte, doch die Frau kam ihr erneut zuvor. In schrillem Ton erwiderte sie: »Es würde dich die Welt kosten, dein Misstrauen auf ein normales Maß herabzusenken, nicht wahr, Marto?«

»Die Pforte ist zerstört worden, Hanna!« Ein faustgroßer Feuerball entflammte oberhalb seiner Schulter. »Das Mädchen lebt hier nicht, sie arbeitet hier nicht, sie könnte die Pfortenzerstörerin sein!«

»Ich habe keine Magie, die so etwas kann«, entfuhr es Rachel im selben Moment, in dem Hanna keifte: »Denkst du auch mal an die Lebewesen aus der Stadt? Sie sucht hier Schutz! Geh anderen mit deinem Argwohn auf die Nerven, wenn dich das erfüllt, aber halte uns nicht davon ab, uns in Sicherheit zu bringen!«

Flüchtig huschte so etwas wie Schmerz über das Gesicht des Mannes.

Die Frau – Hanna – zerrte Rachel in eine Nische zwischen zwei Türen, um dem Ansturm weiterer Soldaten in Grün Platz zu machen. Wie gelähmt presste sich Rachel an die summende Wand, die unter ihrem schnellen Atem anlief. Außerhalb des Domes füllte sich der Himmel mit Rauch und noch mehr Glockenlärm. Bewohner flüchteten in die Gassen, Soldaten rasten zu Fuß und auf magisch erschaffenen Kreaturen zu den Explosionsherden.

Wo steckten ihre Gefährten? Hatten sie es inzwischen in den Dom geschafft? Gab es mehr als einen Weg in die Kellergeschosse?

Mahlyzen ist bei ihnen. Er ist ein AEM. Er arbeitet hier. Er kennt sich aus.

Sie eilte weiter, Hanna hinterher, tiefer, tiefer. Roben und Arme und Gerüche streiften Rachel, dieser Marto heftete sich beharrlich an ihre Fersen.

Plötzlich erschütterte ein gigantischer Hammerschlag den Dom. Der Boden, die Wände, die Decken schwangen. Wackelten.

Durch das Kristallprisma in der Mitte des Treppenhauses fraß sich ein Riss. Wie ein Blitz sah er aus.

Selbst über die Glocken und Martos panischen Schrei hinweg hörte Rachel es. Das Knacken von Glas. Das Knirschen.

Als hätte sich in seinem Inneren gewaltiger Druck gestaut, explodierte das Prisma.

Kapitel 2

Rachel wurde von den Füßen gerissen. Gemeinsam mit Frag­menten des Geländers krachte sie gegen eine Wand. Ihr wurde schwarz vor Augen, und als sie das nächste Mal die Lider öffnete, mussten nur wenige Sekunden vergangen sein, denn in ihrem Blickfeld tanzten Sterne, und ein scharfer Schmerz setzte in ihrem Rücken ein.

Eine Handbreit von ihrer Nasenspitze entfernt hatte sich ein Holzbalken zwischen Stufen und Wand verkeilt.

Rachel starrte den Balken an. Wäre er nicht gewesen, hätten die Trümmer­teile sie begraben.

Zerquetscht.

Ihre Finger ertasteten Kristallsplitter. Sie steckten überall. In den Wangen. Im Nacken. In der Kopfhaut. Sie schmeckte Staub und Blut auf der Zunge, und ihr Gehör … Panik schoss in ihre Adern. Die Glocken des Doms, die Schreie, alles war zu einem hohen Sirren geschrumpft.

Ungelenk zog sie den rechten Fuß unter einer losen Treppenstufe hervor und hievte sich aus der halben Höhle, die die Trümmerteile um sie herum gebildet hatten.

Feine Glaspartikel tanzten in der Luft, passten mit ihrem farbenfrohen Schillern so gar nicht zu dem Geruch nach Asche, Tinte und fauligen Eiern.

Schwefel.

Das riesige Kristallprisma in der Mitte des Treppenhauses stand nicht mehr. Holzsplitter, Kristallbrocken, Scherben größer als Rachel selbst, lagen schräg auf den letzten Fetzen des Treppengerüstes. Trümmerteile steckten in zerborstenen Glaswänden. Dort, wo einst das Prisma gestanden hatte, gähnte ein Loch. Staub quoll aus der undurchdringlichen Tiefe heraus, stieg nach oben der zerbrochenen Spitze des Treppenhauses dem Himmel entgegen.

Das Summen in einem Ohr, dem linken, nahm ab. Rachel wünschte sich, die Stille wäre geblieben. Der Lärm, der zurückkehrte, klang fürchterlicher als zuvor, eine Kakophonie aus Geschrei und Weinen. Würden doch nur die Domglocken noch schlagen und die Geräusche übertönen. Womöglich waren sie bei der Explosion zerstört worden.

Verletzte krochen unter Trümmern hervor, brüllten um Hilfe und vor Schmerz. Aus den Seitengängen stürmten Soldaten herein, hielten stolpernd vor dem Chaos und dem gähnenden Loch in der Mitte inne. Ein paar von ihnen trugen vielfarbige Flügel. Mit gezogenen Schwertern stürzten sie hinab in die Tiefe.

Rachel konnte sich nicht ausmalen, wer diese Explosion überlebt haben sollte. Sie wollte es gar nicht wissen. Sie wollte … Sie musste … Fahrig humpelte sie über die Reste der Treppe, die an den Kristallwänden hingen.

Der Feind war hier. Er verbarg sich nicht mehr draußen im Dakkan­wald, der an die Felder und Wiesen vor der Stadt angrenzte. Vielleicht hatte er sich nie dort aufgehalten, möglicherweise hatte er sich in den Dom geschlichen, sich Verstecke in der Stadt gesucht und den richtigen Moment abgewartet.

Die fliegenden Soldaten stiegen wieder auf. Schleppten blutige Körper und Gliedmaßen nach oben. Übelkeit ungeahnten Ausmaßes breitete sich in ihr aus.

Wo waren ihre Freunde?

Ihr Blick blieb auf einem Haufen Schutt haften, der den Eingang zu einem der Zimmer versperrte. Grauen klammerte sich um ihren Verstand, als sie einen Zipfel der erdverschmierten Schürze erkannte, die zwischen den Trümmerteilen herausragte.

Auf den Knien grub Rachel sich mit bloßen Händen durch die Bruch­stücke und hievte Holz für Holz, Kristall für Kristall von dem Haufen.

Ein Schatten fiel über sie. Lederkluft, dunkle Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengeknotet. Der Fremde – Marto – vollführte eine rasche Bewegung mit den Fingern, woraufhin die Trümmerteile zur Seite flogen.

Ein Teil von Rachels Gehirn ordnete diese Macht der Windmagie zu, ein anderer Teil war immer noch damit beschäftigt, zu verarbeiten, was überhaupt passiert war.

Marto, der den flinken Bewegungen seines Körpers nach zu urteilen die Explosion deutlich besser überstanden hatte als Hanna, hob sie auf seine Arme und ging mit ihr über die übrig gebliebenen Kristallscherben in einen Seitengang hinein.

Rachel hinkte dem Fremden hinterher. Sie musste es wissen. Ob die alte Frau lebte. Was hier vor sich ging. Ob die Kellergeschosse überhaupt noch Sicherheit boten.

Eine Waffe.

Im Gehen hielt sie nach einem Schwert, einer Klinge oder gar einem Bogen Ausschau.

Einen Schild.

Sie wollte Garvan nicht unvorbereitet in die Hände laufen.

Zügig durchquerte Marto einen von der Sonne aufgeheizten engen Gang und hielt auf einen Turm zu, in dem gläserne Treppenstufen in die Tiefe führten.

»Lebt sie noch?«, krächzte Rachel.

Der Mann schwieg.

Sie strauchelte über den Treppenabsatz, ihre blutige Hand schmierte die warme Kristallwand entlang.

Blut.

Es klebte ihr an den Zähnen, den Knöcheln – und wieso haftete schon wieder überall Blut an ihr? Sie hatte sich doch eben erst gewaschen, heute Morgen hatte sie noch an einem Fluss im Dakkanwald gestanden und … und … Ein verzweifelter Laut verließ ihre Kehle. Sie blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an. Weinen würde ihr jetzt nicht helfen, darum fokussierte sie sich auf den dämlichen Pferdeschwanz, der dem Fremden bis zum Po reichte. Die polierten Eisennieten auf seinen schwarzen Lederarmschienen funkelten bei jedem Schritt.

»Lebt Hanna noch?«, rief sie, lauter dieses Mal.

Wieder erhielt sie keine Antwort.

Sie maß den geschwungenen Dolch, der in Martos Nietengürtel steckte.

»Versuch es«, sagte er, »und du wirst deine Einzelteile zwischen den Trümmern des Treppenhauses zusammenklauben.«

Konnte er Gedanken lesen?

»Gut zu wissen, dass Ihr des Sprechens mächtig seid.« Sie hatte inzwischen Mühe, mit ihm mitzuhalten. Nadelstiche fuhren bei jeder Bewegung in ihren Rücken und der Rest ihres Körpers fühlte sich nicht besser an. »Sind die Kellergeschosse noch sicher?«

Damit erntete sie ein Schnauben.

Rachel humpelte durch einen weiteren Flur – hinab, hinab in die Dunkelheit, wo der Dom in den Berg überging, aus dem er gehauen war. Die Mauern bestanden immer noch aus Kristall, doch zwischen vereinzelten verlassenen Zimmern türmte sich Erde auf, verschluckte das Licht. Brennende Holzfackeln steckten in gläsernen Haltern. Lampen gefüllt mit schwirrenden Feenlichtern standen auf Schreibtischen, neben Betten oder hingen von den Decken. Sie erfüllten den vereinsamten Gang und die menschenleeren Räume, die davon abgingen, mit einem Schein aus Goldgelb und Glutorange.

Die Dunkelheit brachte Stille und Kälte. Sah Rachel nach oben, erkannte sie verschwommene, schemenhafte Bewegungen. Der Lärm der Katastrophe schrumpfte auf ein Summen herab. Sogar die Lederstiefel des Fremden gaben hier unten kaum einen Laut von sich. Steuerten sie nun doch die Kellergeschosse an? Und wenn dem so war, wieso drängte sich hier keine Schar Lebewesen zusammen?

Rachel passierte eine verlassene Küche, die die gesamte Länge des Flures einnahm, und spuckte abermals Blut aus. Vorsichtig tupfte sie mit einem staubigen Ärmel über ihre aufgeplatzten Lippen. Von allen Geschmäcken auf den Planeten war der des Eisens einer der widerlichsten.

Sie musste sich waschen.

Sie musste ihre Freunde suchen.

Rachel riss ein Fackelholz von der Wand. »Wenn Ihr mir nicht gleich verratet, wer uns angreift und wozu, lernt Ihr meine hässliche Seite kennen!« Ein glühender Stock in Martos Hintern würde ihn schon zum Reden bringen.

»Das Leder meiner Kleider hält Drachenfeuer aus«, erwiderte er scharf.

Erbost steckte sie die Fackel zurück in die Halterung und massierte ihr rechtes Ohr, das immer noch taub war und sich anfühlte wie verstopft.

Auf den nächsten Gang folgte eine schmale Wendeltreppe, die hinauf ins Licht führte. Hinauf ins Chaos.

Novizen rempelten Rachel an, Soldaten rannten an ihr vorbei. Heiler knieten neben Verletzten am Boden, schlossen Wunden mithilfe von Weißmagie.

Rachel spähte in alle Richtungen. Nirgends entdeckte sie ihren besten Freund. Der Mann, den sie schon seit Kindertagen Engel nannte, besaß ebenfalls Heilmagie.

Hoffentlich war er bei ihren Gefährten geblieben.

Hoffentlich benötigten sie seine Kräfte nicht.

Marto öffnete eine Tür zu einem Zimmer, dessen Wände dicke dunkelrote Vorhänge bedeckten. Der Boden war gänzlich mit mehrlagigen, schmuckverzierten Teppichen ausgelegt. Sogar von der Decke hingen wallende Tücher herab. Niemand konnte in diesen Raum hineinsehen.

Und auch niemand hinaus.

»Setz dich.« Marto nickte zu einem kleinen Hocker vor einem Kamin, der so aussah, als hätte jemand jadegrüne Fliesen auf die Kristall­ummantelung geklebt. »Hier bist du sicher.«

Ungläubig starrte Rachel ihm hinterher, wie er das Zimmer verließ und mit Hanna in den Armen davonging.

Sie hätte etwas sagen sollen. Zum Beispiel, warum dieser Ort optisch nichts mit einem Kellergeschoss gemein hatte. Aber in ihrem Kopf herrschte solch ein Chaos, dass sie wie geheißen auf den Hocker plumpste.

Ein Zittern ergriff Besitz von ihren Waden, darum sprang sie wieder auf, tigerte im Kreis über die Teppiche und um Bücherstapel herum.

Rachel wartete. Auf die Explosionen. Auf das Kampfgebrüll. Ein Horn, das jemand zum Angriff blies.

Alles, was sie hörte, war das Streifen ihrer Stiefelsohlen über Teppich­fasern. Die Angriffe hatten aufgehört.

Sie wartete ein wenig länger.

Dieser Marto hatte sie nicht ohne Grund hierhergeführt. Er kannte diesen Raum. Er würde wiederkehren.

Er denkt, ich habe die Pforten zerstört.

Wollte er sie verhören? Sie sprang zur Tür. Er hatte nicht abgeschlossen.

Rachel lauschte in den Gang hinein und beschloss, dass Warten ihr weder Antworten beschaffte, noch sie mit ihren Gefährten wiedervereinte.

***

Tote Haut fühlte sich seltsam an. Zuerst warm. Dann immer kälter. Genau wie ihre Hände.

Rachel kniete inmitten des Chaos des zerstörten Treppenhauses und zog einen Körper aus dem Schutt. Etwas in ihr protestierte, verlangte, nicht hinzuschauen. Die Statur, die starken Beine, das schwarze Haar so vertraut. Rasch drehte sie den Kopf des Toten herum.

Ein Schauer durchlief sie.

Nicht Cayl.

Sie schleifte den reglosen Leib in ein angrenzendes Zimmer neben andere Körper, die bereits dort ruhten.

Sie hatte den Dom nicht verlassen können. Soldaten blockierten die Ausgänge, eine vorübergehende Sicherheitsmaßnahme. Eine Wache mit rotem Zopf und verschwitztem, sommersprossigem Gesicht hatte Rachel mitgeteilt, dass man aktuell nach den Verursachern der Anschläge suche und dass es innerhalb der Kristallmauern sicherer sei als in der Stadt. Darum hatte Rachel das getan, was getan werden musste. Verletzte ausgraben. Tote bergen. Seit Stunden klebte ihre Zunge ausgetrocknet am Gaumen. Sie sehnte eine Flasche Wasser herbei, nur einen Schluck, aber schon wieder drang ein Ruf zu ihr durch. Einer, der sich von den vielen Schreien, einem beständigen Summen im Hintergrund, absetzte.

Ein älterer Mann winkte ihr zu. Bedeutete ihr, seinen Freund zu bergen.

Der Freund hatte keinen Puls mehr.

So viele Herzen hatten aufgehört zu schlagen.

Rachel grub nach Lebewesen und Überresten.

Der Angriff auf den Dom und seine Stadt hatte so abrupt geendet, wie er begonnen hatte.

Der jungen Frau, die sie freilegte, fehlte der Unterleib.

Zerfetzt.

Grauen leckte an Rachels Knochen. Trotzdem fühlte sie nach dem Puls. Wie erwartet musste die Unbekannte in das Zimmer, wo sich die reglosen Leiber bald zu einem Haufen stapelten. Rachel hätte die Frau gern in den Krankensaal gebracht, aber das Glück war bisher nur zwei Verletzten zuteilgeworden, die sie von Trümmerteilen befreit hatte. In dem von hohen Spitzbogenfenstern gesäumten, langen Saal waren bereits alle Betten belegt gewesen. Den AEM mittleren Alters, ein Feuermagier mit blaugrüner Haut und gebrochener Kniescheibe, hatte Rachel auf einem Laken am rotbesprenkelten Boden abgesetzt. Sie hätte gern von sich behauptet, dass sie in dem Saal nach dieser Hanna gesucht hatte. Die blutigen Lumpen, die Eimer voll gefärbten Wassers, die Schreie, die Erschöpfung in den Augen der Heiler, die fleckigen Kleider, all das hätte sie ignorieren können. Aber der Gestank … Der Saal roch wie das Parfüm des Todes. Eine Mischung aus beißendem Desinfektionsmittel und Eisen, mit Noten von Schweiß und Innereien. Sie hatte es nicht ausgehalten.

Rachel wandte sich dem Schutthaufen vor ihr zu, da berührten ghalutbeschwerte Finger ihr Gesicht. Strichen vorsichtig eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.

Rachel blinzelte, etwas klebte an ihren Wimpern.

Cayl.

Seine grauschwarzen Augen musterten sie. Er zog die Stirn in Falten. Stellte eine Frage, die nicht zu ihr durchdrang.

Träge bewegte sie die Zunge, formte Silben, die sie nicht aussprach. Cayl war hier. Er lebte. Staub klebte in seinem Bartschatten und er … er lebte.

Ihr Stiefcousin wiederholte sich.

»Gabriel geht es gut. Sie sind alle okay.«

Ihre Schultern sackten herab. Die Kristallscherben, die sie bis eben festgehalten hatte, fielen aus ihren Händen.

Ihre Gefährten waren okay. Sie hatten es geschafft.

»Hauptmann Ferrow.« Ein geflügelter Soldat marschierte durch den Gang, der zum Treppenhaus führte, in dem Rachel kniete. »Horahn wartet im Speisesaal auf Anweisungen zu …« Der Blick des Soldaten schnellte zu ihr. Seine weißen Flügel zeichneten rote Schlieren, die grüne Kristallrüstung sah nicht besser aus. »Zum weiteren Vorgehen.« Er sagte es, als hätte er andere Worte gewählt, wäre sie nicht anwesend.

Cayl räumte gesplitterte Reste eines Holzbalkens beiseite und legte die Novizin zu Rachels Knien frei. Der Schädel des Mädchens war seltsam deformiert. Der Steifheit ihres Körpers nach zu urteilen, atmete sie schon länger nicht mehr. »Horahn weiß, was zu tun ist.«

Wieder schaute der Soldat zu Rachel, er klappte das Visier hoch. Schmutz hatte dort, wo die Lufteinlässe für Nase und Mund saßen, dunkle Muster auf seine Haut gezeichnet. »Er will die Entscheidung nicht ohne Euch fällen.«

»Dann wird er warten müssen«, erwiderte Cayl knapp und half Rachel, aufzustehen.

Sie verstand nicht einmal die Hälfte von dem, was die beiden besprachen. Wer war Horahn? Mit welchem Rang von der Erde ließ sich ein Hauptmann vergleichen?

Der Soldat musterte sie von oben bis unten. Was auch immer er suchte, er schien es nicht zu finden, denn Unglauben schwang in seiner Stimme mit. »Ihr wollt den Kaiser warten lassen?«

Zwei schwarze Flammen schossen aus Cayls Schultern. »Brauchst du das schriftlich?«, fuhr er den Mann an.

Kapitel 3

Ein glühender Abendhimmel erstreckte sich über die Welt außerhalb der Fensterfront aus poliertem Kristall.

Nie hätte Rachel gedacht, dass sie diese Farbe einmal verabscheuen würde. Der Tod trug nicht nur Schwarz oder Weiß. Er zeigte sich in tropfendem Rot, in Rinnsalen aus durchsichtigem Speichel und in getrockneter dunkelbrauner Kruste. Er lachte im Funkeln schillernder Glaspartikel und er verhöhnte sie, lugte hinter geborstenen Holzfasern hervor.

Die Haut an ihrer Handfläche dehnte sich. Ein weiterer Kristallsplitter fiel leise klirrend in die Badewanne.

»Du hättest sofort zu einem Heiler gehen sollen«, sagte Cayl, voll und ganz auf die Pinzette zwischen seinen Fingern fokussiert. Er saß ihr gegenüber auf dem Rand der Badewanne, in einem Zimmer nahe dem zerstörten Treppenhaus und sah so verdreckt und verschwitzt aus, wie sie sich fühlte. Abgesehen von zwei Schrammen über der Stirn war er bei den Anschlägen unversehrt geblieben. Äußerlich. Sie hatte nicht den Mut nach seiner Seele zu fragen. Wie sein Herz mit dieser Katastrophe umging, wenn ihres so kurz davorstand, zu zerbrechen. Vielleicht lag es inzwischen auch begraben. Unter den Trümmern, neben den toten Novizen, die sie geborgen hatte.

Cayls Beinschiene kratzte am Wannenrand entlang. »Willst du darüber reden?«

Stumm wie ein Fisch saß sie da und lauschte den Stimmen. Den Schreien und dem Stöhnen. Lärm, der nur in Erinnerungen existierte. In Rachel herrschte eine furchtbare Stille.

Cayls Schultern hoben und senkten sich in einem tiefen Atemzug. »Du musst nicht mit mir reden. Aber wenn du Hilfe brauchst, dann gib bitte jemandem ein Zeichen.« Er schluckte hörbar. »Wenn ich nicht dein Ansprechpartner sein kann, ist das in Ordnung. Hauptsache, du vergräbst dich nicht in deinem Kopf. Dein Schweigen jagt mir eine Scheißangst ein.«

Sie konnte nicht wegsehen, von diesen müden geröteten Augen. Ihr entging auch das leichte Zittern nicht, mit dem er ihre Hand festhielt, die er von Splittern befreite.

Warum war sie nicht zu einem Heiler gegangen?

Denken, Rachel.

Sonst begannen wieder die Stimmen. Die Schreie.

Sie befeuchtete die spröden Lippen. »Die Pforte wurde zerstört.« Das Tor im Dom, durch das sie heute hätte zur Erde zurückkehren sollen. Zurück zu ihrem Leben in Deutschland, ihrem ausstehenden Schul­abschluss, den Bewerbungen zur Reiseverkehrskauffrau.

Langsam, als wüsste er nicht, wie sie seine Reaktion aufnehmen würde, nickte Cayl.

Rachel zwang sich, es auszusprechen. »Meinetwegen.«

»Nein.«

Unbeirrt schüttelte sie den Kopf. »Die magische Barriere, die die Pforte geschützt hat, ist aufgehoben worden. Für mich. Weil ich zur Erde gehen wollte.« Wie ein rostiger Dolch grub sich die Wahrheit in ihren Brustkorb. »Jemand hat uns verfolgt. Hat uns beobachtet. Als wir beschlossen, die Pforte im Dom aufzusuchen, hat uns jemand belauscht. Und dann den Moment ausgenutzt, in dem die Barriere gesenkt wurde.«

»Das stimmt nicht.«

Sie konnte nur wieder an den AEM mit dem lila gefärbten Haar und die Novizin mit dem Nasenring denken, die sie geborgen hatte.

»Ich habe veranlasst, dass die Pfortenbarriere gesenkt wird«, sagte Cayl eindringlich. »Nicht du.«

Sie schaffte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Was, wenn die Anschläge einem einzigen Zweck gedient hatten, nämlich nicht dem, die Stadt einzunehmen, sondern dem, die Pforte zu zerstören? Hatten die Explosionen deshalb so abrupt aufgehört? Weil Garvan sein Ziel erreicht hatte? Der Eroberer hatte im letzten halben Jahr bereits zwei Tore zur Erde vernichtet.

Schmerzhaft gruben sich Cayls Finger in ihre Schultern, rissen sie aus dem Strudel aus Überlegungen heraus. Seine magischen Flammen schossen an den Armen herab, breiteten sich über dem Boden aus und fraßen die Badewanne auf. Wellenartig verschlang seine schwarze Magie die Decke, die Wände, bis nur noch sie und er in einem Kokon aus Nacht zurückblieben. Rachel spürte ihn in dieser Dunkelheit, seine Präsenz wie eine uralte Macht.

»Hast du die Pforte gesprengt?«, fragte er. »Antworte mit Ja oder Nein.«

Sie schüttelte den Kopf.

Er musste die Bewegung irgendwie wahrgenommen haben, denn er sagte: »Hast du Bomben in den Häusern der Stadt platziert?«

Ihre Verneinung bestand aus einem rauen Laut, unter dem sich die Schatten lichteten, bis das inzwischen orangerot leuchtende Zimmer zurückkehrte.

Vorsichtig löste er die Hände von ihren Schultern und nahm die Pinzette vom Wannenrand. »Du kannst dir weiterhin einreden, dieses Chaos sei deine Schuld, aber das wird die Toten nicht zurückbringen. Es wird die Pforte nicht instand setzen. Und es wird dir selbst bei gar nichts helfen.« Eine letzte schwarze Flamme strich über Cayls Wange, fast einer Liebkosung gleich, bevor sie sich auflöste.

Es war ihr unerklärlich, wie er dieses Kunststück fertigbrachte, wenn er doch so aussah, als hätte er sich keine Minute Ruhe gegönnt. Sein Haar starrte vor Dreck und Staub, und an seiner schwarzen Rüstung klebte getrocknetes Blut. Sie brachte weder die Kraft noch das Interesse auf, ihn zu fragen, wann genau er in diese Rüstung geschlüpft war und wieso er sich in dunkles Onyx kleidete, wenn die Soldaten des Doms Kristallgrün trugen. Sicherlich war die Rüstung aus demselben Material gefertigt, aus dem auch seine Schwertklinge bestand. Einem Erz, geformt und geschmiedet zu magieabweisendem Ghalut.

Denken, Rachel.

»Welche Pforte werden wir jetzt aufsuchen?« War das überhaupt möglich – Reisen, wenn der Feind vor der Haustür stand? Existierten noch funktionstüchtige Tore zur Erde, oder hatte Garvan sie inzwischen alle zerstört? Waren die Pforten dem Kaiser wichtig genug, um Soldaten und Magier zu ihrem Schutz zu entbehren, oder fraß die Fehde mit Garvan um diesen Kontinent zu viele Ressourcen?

Er hob ihr Kinn an, um einen weiteren Splitter aus ihrem Hals zu ziehen. »Das werde ich mit Richard besprechen. Wir finden einen Weg, dich hier rauszuholen.«

»Rauszuholen? Du meinst, nach Hause zu schicken.«

Er blinzelte schnell und senkte die Hände. »Hat dir niemand von der Ausgangssperre erzählt?«

Rachel runzelte die Stirn und er murmelte eine Verwünschung.

»Heron hat eine Ausgangssperre über dem Dom verhängt. Es werden bis auf Weiteres keine neuen Novizen aufgenommen oder einquartiert. Niemand darf dieses Haus betreten, geschweige denn verlassen, bis geklärt wurde, wer die Pforte gesprengt hat.«

Das … klang logisch. Und gleichzeitig nicht. »Fliegt eure Gänsepost mit magischer Unterstützung?« Soweit sie wusste, befand sich der Sitz des Kaisers in Lopahrs Hauptstadt, Brohwen. Und die lag deutlich mehr als eine Tagesreise östlich vom Kristalldom entfernt. Heron konnte nicht bereits heute von dem Anschlag erfahren und Anweisungen verteilt haben. Dazu müssten die Gänse so schnell fliegen wie ein Flugzeug.

Cayls Lippen teilten sich leicht, als hätte er eben etwas begriffen, das ihr entgangen war. »Der Kaiser ist hier. Im Dom.«

»Wollte Garvan zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen? Heron beseitigen und eine weitere Pforte zerstören?«

»Die Anschläge wurden von Rebellen ausgeführt.«

Ihr Blick schnellte zum Kristallglas, suchte die hässlichen Löcher, die jetzt in der Stadt klafften. Sie konnte diese Neuigkeit nicht mal im Ansatz begreifen. Die ganze Zeit hatte sie geglaubt, Garvan stecke hinter dem Angriff, und nun sollten es Rebellen sein?

Cayl musste ihre Verwirrung spüren, denn er fügte hinzu: »Es war ein Protest. Sie wollten ein Zeichen setzen, das verstanden wird.«

Sie vergrub die Finger in den Haaren, schmierte frisches Blut aus den winzigen Wunden auf ihre staubige Kopfhaut. »Das ergibt doch gar keinen Sinn. Warum sollten Rebellen die Pforte zerstören?«

Er presste die Lippen zu einem feinen Strich zusammen, bevor er sagte: »Das ist das Puzzleteil, das mir noch fehlt.«

Rebellen.

»Ziemlich rabiates Vorgehen. Ich sehe keinen Unterschied zwischen ihnen und Garvan. Wogegen haben sie denn protestiert? Steuern?«

Die Zimmertür wurde geöffnet, Mahlyzen rauschte herein. Seine Gesichtsfarbe glich einem Radieschen. Kristallstaub und Holzsplitter hingen in seinem struppigen Bart, die verrußten Haare standen in alle Richtungen ab, und einer seiner Ärmel hielt sich nur noch mit wenigen Fäden an der roten Robe fest. »Dachte ich es mir doch.« Er taxierte Rachel von oben bis unten, Missbilligung zeichnete Falten um seine winzigen Augen. Offenbar war auch er der Meinung, sie hätte zu einem Heiler gehen sollen, denn er sagte: »Du brauchst einen Heiltrank. Ich werde dir einen brauen.« Aus seiner Robe holte er einen ihr bekannten Samtbeutel heraus. Ehe sie aufspringen konnte, schüttete er eine Handvoll des güldenen Inhaltes über sie.

Rachel fluchte, nieste und sprang dann doch auf. »Ihr habt mich schon mal auf Magie getestet«, schimpfte sie und wischte die Körner des Lagazoliten aus Gesicht und Ohr.

»Bedanke dich beim Kaiser.« Mahlyzen verstaute den Beutel im Inneren seiner Robe und inspizierte die golden schimmernden Partikel, die ihr am Haar, dem Hals und den Schultern klebten. »Alle Personen im Dom müssen geprüft und gelistet werden.« Er zückte einen zerfledderten kleinen Block und notierte mit Kohlestift eine Notiz. »Sicherheitsmaßnahme wegen der anstehenden Versammlung.«

Rachels Erwiderung ging in einem weiteren Niesen unter. Sie musste allergisch gegen diese Lagazoliten sein. Wahrscheinlich erkannten die Körner, dass sie auf der Erde geboren war und damit keinerlei Magie in sich trug. Nur Lebewesen, die auf Alain das Licht der Welt erblickten, wurden mit magischen Gaben beschenkt – und von denen auch nicht einmal alle.

»Nicht ein Hauch einer sternenweißen Färbung«, murmelte Mahlyzen und klatschte in die Hände. Als würde der Kristallboden den Goldschimmer magnetisch anziehen, fielen sämtliche Partikel von Rachel ab und landeten glanzlos auf dem durchsichtigen Glas zu ihren Füßen. Der Magier kritzelte etwas auf den Block und senkte die Stimme. »Ich werde dich unter dem Namen Zijka in der Liste der Verdächtigen eintragen.«

»Verdächtige?«

Cayl stemmte einen Fuß auf dem Wannenrand ab, dehnte sein Bein. »Jeder ist verdächtig. Selbst ich.«

Der AEM tippte mit dem Stift gegen seine Schläfe. »Zijka aus irgendwo in der Nähe«, flüsterte er. »Zijka aus Wilbey.«

»Warum flüstert Ihr?«

Er sah von dem Papier auf, fixierte Cayl. »Sie braucht eine Verbindung zu dir, sofern du sie aufsuchen willst, ohne Misstrauen zu erregen.« Er legte den Kopf schräg. »Deine Hure.«

Cayl erstarrte, aus Rachel platzte ein »Wie bitte?« heraus.

Mahlyzen nickte und setzte abermals den Kohlestift an.

»Das funktioniert nicht«, warf Cayl ein, während Rachel sagte: »Wozu brauche ich einen falschen Namen?«

Der AEM, dessen Wangen ihr seit ihrer letzten gemeinsamen Reise vor einem halben Jahr eingefallener erschienen, meinte: »Weil ich ganz bestimmt nicht verkünde, dass wir eine Erdgeborene im Dom beherbergen. Niemand kennt dein Gesicht, nicht einmal der Kaiser. Und dafür solltest du dankbar sein, denn wenn sich herumspricht, dass du einen Allnachtspudernamen besitzt, werden Leute auf dich aufmerksam, deren Aufmerksamkeit das Letzte ist, was du dir wünschst.«

Er sprach von ihrer einmaligen Aufenthaltsgenehmigung für Alain. Ein Name, seltener als Sternschnuppen am Himmel, geschrieben in den Raum hinter den Pforten mithilfe von Puder aus der Allnacht. Der Name erlaubte ihr, als Erdgeborene in menschlicher Form auf diesem Planeten zu wandeln. Kehrte sie nach Deutschland zurück, verfiel dieser Name.

»In Wilbey wusste jeder, dass ich von der Erde stamme«, setzte sie an. »Keiner der Anwohner hat mich behelligt.«

»Wilbey ist ein winziges Dorf, in dem alle mit dem Dorfverwalter befreundet sind, der wiederum ein Freund deines Onkels ist. Niemand hätte dein Geheimnis aus dir herausgeprügelt.«

Ihr Blick schnellte zu Cayl. Seiner verkniffenen Miene nach zu urteilen, gab er Mahlyzen widerwillig recht. Kalter Schweiß breitete sich auf ihrem unteren Rücken aus. Ihr Onkel hatte beim Betreten der Kristalldomstadt bereits verlangt, dass sie ihren Namen geheim hielten. Die Leute hier kannten ihn und seine Familiengeschichte. Sie wussten, dass er eine Nichte hatte. Rachel war nicht so dumm, zu hoffen, die Bewohner des Kristalldoms besäßen keine Angehörigen, die sie nach Alain holen wollten und es aufgrund der fehlenden Aufenthaltsgenehmigung nicht konnten.

Im Dom muss mich niemand verprügeln, um von dem Puder aus der Allnacht zu erfahren.

Hier, im Haus der AEM, musste nur jemand mit dem Finger schnippen und sie würde jedes Geheimnis preisgeben und jede Lüge als Wahrheit verkaufen.

Rachel wünschte sich, sie besäße Kräfte, mit denen sie sich gegen Magie wehren konnte. Selbst wenn sie preisgab, dass nicht sie, sondern ein anderer Allnachtspuder aufgetrieben hatte, würde man nachbohren. Jedes Küchenmesser konnte zu einem Folterinstrument werden. Und sobald sie verriet, dass sie für diesen Puder einen Handel mit einer Kreatur eingegangen war, müsste sie später ihren Gefährten auch all die anderen Lügen gestehen, die zwischen ihnen standen. Sofern man sie bis dahin am Leben ließ.

Ächzend rieb sie sich den Nacken und ertastete getrocknetes Blut, von dem sie nicht sagen konnte, ob es von vergangener Nacht stammte oder von dem Anschlag. Sie hätte diese Heimlichtuerei gern als lächerlich abgetan, doch das war sie nicht. Ihr Allnachtspudername würde, sobald sie die Erde betrat, zerfallen, und damit ihre Aufenthaltsberechtigung für Alain. Aber Alainer durften jederzeit und so oft sie wollten zur Erde reisen. Sie konnten Rachel aufspüren. Schlimmer: Sie konnten ihre Mutter finden und ihr, weiß Gott was, antun.

Cayl deutete mit dem Kinn auf den Notizblock. »Streich das mit der Hure.«

»Du weißt doch, dass sie wegen der anstehenden Versammlung jeden Stein umdrehen, der nicht steinig genug aussieht«, ereiferte sich der AEM zu sagen. »Die Entscheidungen des Hauptmannes stellt niemand in Frage. Jeder wird dir glauben, wenn du behauptest, deine Geliebte mitgebracht zu haben.«

Cayl bleckte die Zähne. »Rachel ist keine Hure.«

Der AEM zückte ein Stofftaschentuch und rieb sich Schmutz von der Stirn. »Dann überleg dir eine andere Lüge.«

Rachel hatte genug. Von einfach allem. Sie war müde bis auf die Knochen. Beherzt packte sie Cayl am Arm. »Wenn es meiner Sicherheit dient, spiele ich zur Not auch deine Hure.«

Er starrte sie an. »Das geht nicht.«

Ein verräterischer Schmerz durchzuckte ihren Bauch, schnell nahm sie die Hand von seiner Armschiene. »Du musst bestimmt nicht öffentlich so tun, als würdest du mich mögen.«

Sein Körper wurde unnatürlich still. »Ich nehme keine Huren. Das habe ich nicht nötig. Niemand wird mir abnehmen, dass du meine Hure bist.«

Mahlyzen stopfte geflissentlich das Taschentuch zurück in den Mantel als seien Cayls Bettgeschichten die letzten Informationen, die er im Leben benötigte. Rachel hingegen tippte mit dem Zeigefinger auf Cayls Harnisch und zischte: »Setzen wir deinen guten Ruf hier im Haus aufs Spiel? Schlucke ich meinen Stolz und mime deine Hure, so kannst du ja wohl für ein paar Tage behaupten, ich hätte dir den Kopf verdreht. Wenn das deinen Hauptmannsstatus untergräbt oder dein sonstiges Ansehen beim Kaiser, dann erzähl den Leuten eben, du hättest mich aus Mitleid hierher mitgenommen!«

Cayl schaute sie bloß an. Als wüsste er genau, was sie fühlte. Woran sie dachte. Nämlich an die Abfuhr, die er ihr erteilt hatte. Rachel reckte das Kinn empor. Wollte sie seine Hure mimen? Ganz bestimmt nicht. Aber hier ging es nicht mehr nur um das, was sie wollte. Es ging auch um die Sicherheit ihrer Mutter. Und die ihrer Gefährten.

»Wünschst du dir ihren Tod, Hauptmann?«, fragte Mahlyzen in die angespannte Stille hinein.

Cayls Kopf ruckte herum.

»Sie werden sie umbringen«, fügte der AEM mit einem Schulter­zucken hinzu, als verkünde er jeden Tag solch schockierende Tatsachen. Womöglich war er einfach zu alt, hatte schon zu viel gesehen. »Die Regeln des Vertrags besagen zwar, dass ein absichtlicher Mord mit dem Tod bestraft wird, aber bis zur Bestrafung haben die Abgesandten noch viel Spielraum. Außerdem halten sich nicht nur Abgesandte hier auf.« Er steckte den Block weg. »Ich werde jedenfalls keine Garantie für ihr Überleben aussprechen.«

Cayl sah so aus, als wollte er Mahlyzens struppigen Bart ausrupfen und damit einmal den Teppich unter der Badewanne ausklopfen. »Regeln sind da, um gebrochen zu werden.«

Der AEM hob eine buschige Braue. »Würdest du als Abgesandter, mit all der gewaltigen Macht, die dir geschenkt wurde, den Preis bezahlen, den ein Regelverstoß mit sich bringt? Oder gibt es etwa Schlupflöcher im Vertrag, von denen ich wissen sollte?«

Rachel konnte dem Gesagten nicht folgen. »Von welchem Vertrag sprecht ihr?«

Cayl ging nicht auf ihre Frage ein. Über seinen Schultern kräuselte sich dunkler Magienebel, Vorboten seines schwarzen Feuers, das tötete, ohne zu verbrennen. »Gäbe es Schlupflöcher, würde Heron dieses Haus nicht betreten!«

Unbeeindruckt erwiderte Mahlyzen: »Wenn du mit der Keiferei fertig bist, schlage ich vor, wir kümmern uns um wichtigere Dinge wie etwa eine anstehende Friedensverhandlung.« Er wandte sich der Tür zu und fluchte, als er im Gang einen fliegenden blechernen Vogel entdeckte, dessen Augen wild auf zwei Ringfedern hin und her schwangen. Die Metallschwingen des Wesens quietschen, als kratzte jemand mit Kreide über eine Tafel. Der AEM eilte hinaus auf den Flur und wirbelte dann noch einmal herum. »Ich hätte es beinahe vergessen: Der Kaiser lässt dir ausrichten, dass euer Paket wohlbehalten bei ihm angekommen ist. Ich habe es nicht persönlich gesehen, aber man hat mir versichert, dass es den Transport unbeschadet überstanden hat.«

Rachel sah ihm hinterher, wie er den Gang entlanghetzte und sich über den Vogel aufregte, der ihn mit dem Schnabel in den Hintern pikste, damit er schneller lief.

Ein Paket.

Vor ein paar Wochen hatte Cayl von einem Geschenk an den Kaiser erzählt. Etwas, das zum Frieden zwischen Heron und Garvan beitragen sollte.

Wir schenken ihm Hoffnung.

Das war alles, das er ihr verraten hatte.

Sie drehte sich zu ihrem Stiefcousin um. »Friedensverhandlung?«

Mit einem tiefen Seufzen schloss er kurz die Augen. »Der Kaiser hat seine acht Könige einberufen. Er empfängt hier im Dom Garvans Abgesandte, um einen Pakt zu erarbeiten, der den Krieg beenden soll.«

Ihre Müdigkeit verflog. Flüchtete vor der Neuigkeit.

Garvans Abgesandte kamen hierher. In den Dom. Den sie nicht verlassen durfte.

Kapitel 4

Wann?«, war alles, was Rachel herausbrachte.

Cayl wusch sich die Hände in der Badewanne. »In zwei Wochen sollen die Abgesandten hier eintreffen.«

Wie in Trance hinkte sie zur Fensterfront, die aus einem durchgehenden Kristallglas bestand. Heron wollte einen Friedensvertrag mit dem Eroberer des Ostens ausarbeiten? In ihr wütete ein Sturm aus Erleichterung und Unbehagen. Cayl hatte ihr erzählt, dass Garvan in all den Jahren seiner Regentschaft kein Interesse an Frieden, Verträgen oder sonst einer Zusammenarbeit mit Heron gezeigt hatte.

Vielleicht sind ihm die Ressourcen ausgegangen und er kann den Krieg nicht weiter finanzieren.

Vielleicht rebellierten seine Sklaven.

Möglicherweise führte er aber auch etwas anderes im Schilde. »Glaubst du, die Pfortenzerstörer werden innerhalb der kommenden zwei Wochen gefasst?«, fragte sie mit dünner Stimme.

Schritte erklangen, gepanzerte Stiefel auf Kristallglas. Cayl trat zu ihr, als wollte er sicherstellen, dass sie nicht Reißaus nahm – vor was auch immer er als Nächstes von sich gab. »Meine Leute arbeiten, so schnell sie können.«

‚Meine‘ Leute.

»Gibt es keinen anderen Weg, mich hier rauszuschleusen? Was ist mit den Personen, die auf den Märkten einkaufen? Irgendjemand muss doch Vorräte auffüllen.«

»Die Küchenhilfen gehen unter Aufsicht raus.« Sacht löste er ihre verkrampften Finger von dem kalten Ghalut seiner Unterarmschiene. »Was hältst du davon, Kräuterkunde zu studieren?«

Was sie davon hielt? Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie sich an ihm festgehalten hatte.

Kräuterkunde.

Während ihre Freunde in der Stadt wohnten, sollte sie Blümchen pflücken und darauf warten, dass Garvans Mörder kamen? Unter den Augen der Wesen, die bereits mehrmals versucht hatten, sie umzubringen, sollte sie die Schulbank drücken?

»Okay«, krächzte sie und hatte keine Ahnung, wie sie jemandem eine Hure verkaufte, die gern in der Erde herumwühlte.

Cayl ballte die Hände zu Fäusten. »Es tut mir leid.«

Sie betrachtete sein Gesicht, die vollen Lippen, die gerade Nase. Verdammt, nicht einmal Müdigkeit konnte ihm Attraktivität rauben. »Muss ich dir deinen eigenen Ratschlag um die Ohren hauen? Du hast mir eben erzählt, ich soll mir nicht die Schuld an der zerstörten Pforte aufladen. Es gibt nichts, das dir leidtun muss, Cayl. Wenn hier einer hätte etwas anders machen sollen, dann bin ich das.«

Er hob eine Braue.

»Ich hätte den Zirkusdirektor nicht umbringen dürfen.« Ja, es war Notwehr gewesen. Leider vertrat ihr Magen eine andere Meinung, er zog sich zusammen. »Ich hätte Beweise sammeln müssen. Herausfinden, mit wem der Direktor zusammengearbeitet hat. Wer wird die Familien des Kristalldoms darüber unterrichten, dass sie ihre Verwandten womöglich niemals wiedersehen, weil ich mich auf Annahmen verlassen habe, anstatt handfeste Belege zu sichern?« Die Ungewissheit, wie viele Alainer auf der Erde festsaßen, nagte an ihr wie Rost an Eisen.

»Es gibt genügend andere Tore zur Erde«, sagte Cayl.

»Aber es gibt keine Garantie, dass sie noch funktionieren. Erinnerst du dich nicht mehr daran, was diese Hellseherin – Tarik – behauptet hat? Ein Lamm im Wolfspelz ist es, das ihr sucht. Es wird gejagt vom Wolf im Lammfell, dem es treu zur Seite steht. Die letzte Pforte liegt verborgen in absoluter Dunkelheit. Keine Seele kann sie erreichen, nur der Tod bringt sie ans Licht.« Wild gestikulierte sie mit den Armen. »Sie sprach von einer letzten Pforte, die niemand erreichen kann.«

»Die letzte Pforte ist nicht gleichbedeutend mit der einzigen Pforte.« Er fing ihre Hände ein und fuhr sacht über einen geschwollenen Fingerknöchel. »Ich habe Mahlyzen beauftragt, die Weissagung der Tarik in seinem Zirkel zu besprechen. Wir wissen jetzt, dass der Direktor, sofern er zuvor Pforten zerstört hat, nicht der Einzige ist, der sie vernichtet. Die AEM vermuten, diese Pfortenzerstörer gehen zur Erde und reisen von dort aus zu den unterschiedlichen Toren.«

Das erklärte zumindest, wie sich die Täter so einfach in einen Dom voller Soldaten einschleichen konnten. Sie mussten es gar nicht tun. Dennoch …

»Die Weissagung klingt nach einem einzelnen Pfortenzerstörer, nicht nach jemandem mit Komplizen wie etwa einer Rebellengruppe.« Sie zerrte an ihrer Tunika. Dunkle Flocken getrockneten Blutes rieselten zu Boden. Es wollte nicht in ihren Kopf, dass sich jemand freiwillig mit dem Zirkusdirektor zusammentat. »Konntet ihr alle Rebellen festnehmen?«

»Die Stadt ist groß.«

Rachel schloss die Lider. »Muss ich mich vor dem Kaiser verantworten?«

»Woher rührt diese Frage?«

Sie umklammerte ihren Brustkorb. »Willst du meine Identität vor dem Kaiser geheim halten?«

»Ich weiß, dass du unschuldig bist. Das hat ihm zu genügen.«

Die Art, wie er sie ansah, wie seine dunklen Augen zu leuchten begannen, ließ sie für einen Moment vergessen, wo sie stand und was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war.

»Komm.« Er nahm die Dose mit Heilpaste vom Wannenrand und reichte ihr eine Hand. »Ich bringe dich in ein Gästezimmer.«

Sie wünschte sich, er würde sie ganz woanders hinbringen. Raus aus dem Dom. An einen Ort weit weg von allem, wo er sie küsste, bis ihr schwindelig wurde. Aber das würde niemals geschehen. Cayl hatte ihr einen Korb gegeben, und sie sollte nicht nur seine Entscheidung, sondern auch sich selbst genügend respektieren, um ihn aus ihren Gedanken zu verbannen.

»Die Rebellen wollten nicht einfach nur ein Zeichen setzen.« Sie rubbelte über ihre Nase, es vertrieb den Schwefelgeruch nicht, der im Treppenhaus in allen Ritzen saß.

Cayl half ihr über eine steile Platte aus Kristall hinweg. Ein Bruchstück einer Wand, das wie ein überdimensionaler Pfeil quer in einem Flur steckte. »Du bist bei Weitem nicht die Einzige, die nicht damit einverstanden ist, die Abgesandten hier im Dom willkommen zu heißen.« Sein Tonfall klang genauso hohl, wie sie sich fühlte.

»Warum wurde ausgerechnet der Kristalldom als Verhandlungsort ausgewählt?«

Er ruckte an einer der durchsichtigen, mit abstrakten Rosenranken verzierten Türen, die ins Freie führten. Eine der Angeln war beim Anschlag beschädigt worden. »Weil selbst die Größten von uns Momente haben, in denen sie verzweifelt sind.«

»Das erklärt gar nichts.«

Er zerrte stärker an der Tür, stemmte ein Bein gegen die Wand daneben. »Heron hat nicht erwartet, dass Garvan seine Einladung annimmt.« Die beschädigte Angel zerbrach und ein Schwall frischer Luft schlug Rachel entgegen.

Eine gläserne Brücke führte von der Schwelle aus zu einem Turm, in dem sie Treppen erkannte. Rachel schlitterte beinahe über den glatten kristallenen Boden der Brücke. Dreißig Meter unter ihren Stiefeln lagen die Stallungen. Beim Anblick der friedlich grasenden Pferde darin wurde ihr Herz leichter. Selbst der größte Tumult beinhaltete irgendwo ein Stück Frieden. »Wieso trifft sich der Kaiser nicht einfach woanders mit den Abgesandten?«

Mit müheloser Eleganz bewegte sich Cayl über die Brücke. Er schien gänzlich an die Durchsichtigkeit dieses Ortes gewöhnt. »Hätte es eine Möglichkeit gegeben, einen anderen Konferenzplatz zu wählen, hätten wir sie wahrgenommen. Wir kriegen aber nicht immer, was wir wollen, und jetzt ist es zu spät, die Regeln dieses Treffens zu ändern.«

»Warum?« Sie hasste die Frage. Warum? Warum? Warum war sie so unwissend?

Er dehnte seinen Nacken. »Weil die Einladung mit Magie verwoben wurde. Sie sorgt dafür, dass selbst die kleinste Abweichung von den auf dem Papier festgehaltenen Regeln bestraft wird.« Er verzog das Gesicht, als erinnerte er sich an etwas Hässliches.

Anstatt erneut ein Warum in die laue Frühlingsbrise zu werfen, ließ sie den Blick über die Dächer zu ihren Stiefeln schweifen. Überall auf den Gassen waren Lebewesen unterwegs. Fuhrwagen voller Schutt und Trümmerteile holperten in der hereinbrechenden Nacht durch die Straßen, die sich einem Spinnennetz ähnlich vor ihr ausbreiteten. Fernes Gemurmel der Anwohner flog ihr entgegen, die Explosionsherde verteilten sich wahllos wie hässliche Krater in der Stadt. Außerhalb der Stadtmauern erstreckte sich gen Osten und Westen hin der Dakkanwald. Seine dicht beblätterten Kronen schienen das Leben zu seinen Wurzeln in einen sanften Schlaf zu wiegen.

»Werden die Regeln tatsächlich jeden zerfetzen, der einen Steinadler beschwört, der uns den Kopf abbeißt? Ist die Magie dieser Einladung stärker als die Monster, die sich Garvans Anhänger nennen?«

Die zwei Novizen, die an ihr vorbeigingen, rissen den Kopf herum.

Ohne eine Erklärung schob Cayl sie weiter, Treppen hoch und runter, durch Gänge hindurch und über drei Brücken hinweg, bis sie einen Flur im Westflügel erreichten, in dem sich mehrere Gästezimmer befanden.

Kaum hatten sie einen der leeren Räume betreten, schloss Cayl die Tür, lehnte sich dagegen und sagte: »Die Abgesandten wären töricht, einen von uns umzubringen. Aber ich wäre genauso dumm, würde ich dir sagen, dass wir nicht auf der Hut sein müssen.«

Sie setzte sich auf den einfachen hölzernen Schreibtisch und beobachtete das Farbenspiel, das in Cayls Iriden stattfand. Vor das dunkle Grau schob sich sein Dämonenerbe, und als er sie aus seinen goldenen Augen heraus anschaute, sagte er: »Wenn wir Glück haben, verläuft die Verhandlung ohne Zwischenfälle. Wenn wir sehr viel Glück haben, werden wir ein Friedensabkommen schließen. Wenn es dumm läuft …« Seine Atmung beschleunigte sich. »Es darf nicht dumm laufen.«

Eine furchtbare Vorahnung beschlich sie. »Diese Abgesandten sind keine gewöhnlichen Vermittler, oder?«

Wie zur Bestätigung flackerte das Gold in seinen Iriden auf.

»Es sind Generäle«, wisperte sie. Gestalten, wie der Zirkusdirektor höchstwahrscheinlich einer gewesen war.

Cayl nickte.

Sie grub die Nägel in das Holz des Tisches. »Die, die Herons Unter­händler gefoltert haben.« Ihnen die Haut bei lebendigem Leib abgezogen hatten.

Noch ein Nicken.

Trotz der Müdigkeit, die in all ihren Knochen steckte, fühlte sie sich wacher als jemals zuvor.

Cayl stieß sich von der Tür ab. »Falls – ich wiederhole: falls – du noch hier sein solltest, sobald die Verhandlungen beginnen und falls du dann jemanden triffst, der sich verdächtig verhält, wirst du dich daran erinnern, dass du stark bist, weil du schon Schlimmeres durchgestanden hast.« Mit unnatürlicher Ruhe trat er auf sie zu. Die Ruhe eines Tigers vor dem Sprung. »Du wirst dich daran erinnern, dass du kämpfen kannst, weil wir dich trainiert haben. Du wirst dich daran erinnern, dass dieses Leben dir gehört, dir allein, und niemand das Recht hat, es zu nehmen.« Schwarze Flammen leckten an seinem Harnisch. »Falls es ein Abgesandter auf dich abgesehen hat, wirst du wissen, dass er mit Angst im Herzen zu dir kommt. Angst, die du ihm eingeflößt hast.«

Rachel erschauerte unter dem Licht, das zwischen den Schatten glühte. Die Bedeutung der Worte rüttelte etwas in ihr wach. »Wie kann ich helfen?«

»Lebe.« Er stellte die Heilpaste neben ihr ab und ging zu den Wänden, die gleichzeitig bodentiefe Fenster zur Außenwelt bildeten. »Ich will nichts von dir, abgesehen davon, dass du dir immer im Gedächtnis behältst, dass du nicht wehrlos bist.«

Sie sah zur durchsichtigen Decke auf und schloss die Augen. »Jetzt habe ich tatsächlich für einen kurzen Moment gedacht, du würdest mehr in mir sehen als jemanden, dem man lediglich zum Gurken schälen eine Klinge reicht.«

Sein sanftes Lachen sandte Schauer ihren Rücken hinab. Es würde viel zu einfach sein, ihn die nächsten Tage anzuhimmeln. Dabei musste sie dieses Flattern im Magen doch ignorieren. Denn sie hatte auch die Weissagung der Hellseherin Tarik zu diesem Thema nicht vergessen.

»Der, den du zu lieben glaubst, er wird mit dem Tod kämpfen. Er wird gewinnen.«

Sie wollte nicht, dass Cayl kämpfte.

»Nur um das klarzustellen. Ich werde weder für dich strippen noch dich küssen – oder sonst etwas Komisches tun, um meine Tarnung als deine Hure aufrechtzuerhalten.«

»Komisch?« Er warf ihr einen eindringlichen Blick über die Schulter zu. »Huren sind Lebewesen wie du und ich. Sie müssen essen, schlafen, brauchen Zuneigung und haben Träume wie alle anderen auch.«

»Das meinte ich nicht.«

Cayl betrachtete den Wald im Westen, wo ein letzter Rest tiefen Rots die Wipfel liebkoste. »Was meinst du dann?«

»Ich werde nicht im selben Bett schlafen wie du.«

Er rollte mit den mächtigen Schultern, als seien sie verspannt, bevor er sich zu ihr umdrehte. »Das habe ich nie verlangt.«

»Gut.« Sie presste die Zähne aufeinander, ehe sie das aussprach, was wie Steine auf ihrem Herzen lag. »Niemand teilt sein Bett gern mit Mörderinnen.«

In einem Moment stand Cayl noch bei den Wänden, im nächsten donnerten seine flachen Hände rechts und links von ihr auf die Tischplatte. Es ging so schnell, dass sie die Bewegung nicht kommen sah.

»Du bist keine Mörderin«, erwiderte er scharf. »Und wenn ich das sage, so kannst du mir das glauben. Als Mörder weiß ich, wovon ich spreche.« Gold glühte ihr entgegen. »Du hast dich verteidigt und das ist die einzige Wahrheit, die zählt.«