Die Philosophie des Buddha - Sebastian Gäb - E-Book

Die Philosophie des Buddha E-Book

Sebastian Gäb

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Beschreibung

Eine Einführung in das Denken des Buddha, übersetzt in die Sprache der Gegenwart. Die Philosophie des Buddha bietet einen Einstieg in buddhistisches Denken, ohne Vorkenntnisse vorauszusetzen. Das Buch führt in zentrale Begriffe der buddhistischen Philosophie wie Leid, Karma oder Nirvana ein und erklärt anhand dieser Begriffe die Grundlagen des buddhistischen Denkens. Es zeigt, dass die zentralen Ideen des Buddha auch in der Gegenwart verständlich sind und als Philosophie, unabhängig von religiösen Bekenntnissen, diskutiert und verstanden werden können. Lebensnahe Beispiele und Fragen zur weiterführenden Diskussion und Reflexion bieten Gelegenheit zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Text. Geeignet als Einführung für an Buddhismus und Philosophie interessierte Leser:innen.

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Sebastian Gäb

Die Philosophie des Buddha

Eine Einführung

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Prof. Dr. Sebastian Gäb ist Professor für Religionsphilosophie an der LMU München.

 

Umschlagabbildung: Buddha Silhouette - One Line Drawings, zhanstudio © AdobeStock

 

DOI: https://doi.org/10.36198/9783838562018

 

© 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung

 

utb-Nr. 6201

ISBN 978-3-8252-6201-3 (Print)

ISBN 978-3-8463-6201-3 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Buddhismus als Philosophie1.1 Gautama, der Philosoph1.2 Der historische Buddha1.3 Quellen1.4 Die Philosophie des Dhamma1.5 Was ist Philosophie?1.6 Der Charakter der Philosophie des Buddha1.7 Religion oder Philosophie?LiteraturhinweiseDiskussionsfragen2 Dukkha: Der Ursprung des Leidens2.1 Was ist Leiden?2.2 Durst2.3 Unbeständigkeit2.4 Zwei RückfragenLiteraturhinweiseDiskussionsfragen3 Anatta: Das Selbst als Illusion3.1 Khandhas3.2 Das Selbst als Prozess3.3 Prozess und Leid3.4 Ein Argument für die Nicht-Selbst-These3.5 Anattā und NeurowissenschaftLiteraturhinweise:Diskussionsfragen4 Kamma: Karma, Kausalität und Wiedergeburt4.1 Das Entstehen in Abhängigkeit4.2 Das karmische Gesetz4.3 Determinismus und Willensfreiheit4.4 Wiedergeburt4.5 Warum an Karma und Wiedergeburt glauben?LiteraturhinweiseDiskussionsfragen5 Sila: Ethik und richtiges Leben5.1 Der achtfache Pfad5.2 Eine systematische Perspektive5.3 Was für ein Mensch soll ich sein?5.4 Wer soll das schaffen?LiteraturhinweiseDiskussionsfragen6 Samadhi: Meditation, Erkenntnis, Praxis6.1 Was ist Meditation?6.2 Der natürliche Zustand des Geistes6.3 Samatha und Vipassanā6.4 Meditation und Erkenntnis6.5 Meditation und EthikLiteraturhinweise:Diskussionsfragen7 Nibbana: Nirvana und Erlösung7.1 Das Nirvana im Leben7.2 Das endgültige Nirvana7.3 Nirvana: Nichts für Niemand?LiteraturhinweiseDiskussionsfragen8 Glossar9 AbkürzungsverzeichnisQuellenÜbersetzer:innen10 Literatur10.1 QuellenDeutsche ÜbersetzungenEnglische ÜbersetzungenHandbücher und Nachschlagewerke10.2 Sekundärliteratur

Vorwort

Dieses Buch ist eine Einführung in die Philosophie des Buddha. Es ist hervorgegangen aus zahlreichen Seminaren zur buddhistischen Philosophie, die ich im Lauf der Zeit an unterschiedlichen Orten angeboten habe, und es verfolgt ein einfaches Ziel: den Buddha als einen Philosophen zu lesen. Das bedeutet, ihn – nicht anders als Platon, Aristoteles oder Konfuzius – als jemanden zu verstehen, der Theorien zum Wesen der Realität und zur Natur des Daseins entwickelt, und mit dessen Argumenten man sich kritisch, in einer rationalen Diskussion auseinandersetzen kann. Das Buch ist systematisch aufgebaut und versucht, den einzelnen Schritten im philosophischen System des Buddha zu folgen. Nach einer Einführung in den Kontext seiner Philosophie und sein Leben beginnt das Buch mit dem Problem, von dem alles ausgeht: der Frage nach dem Ursprung und der Überwindung des Leidens. Von dort aus geht es weiter in die Metaphysik von Nicht-Selbst und Karma, in die praktische Philosophie von Ethik und Meditation, und endet mit der Lösung des Ausgangsproblems im Nirvana.

Ich folge hier der Methode einer rationalen Rekonstruktion. Mein Ziel ist nicht, die (mutmaßlichen) Lehren des historischen Buddha zu erschließen und auch keine Geschichte der buddhistischen Lehre im Verlauf der Zeit zu erzählen, sondern der Versuch, aus dem, was die Überlieferung uns gibt, eine systematische philosophische Theorie zu rekonstruieren. Der Buddha, von dem dieses Buch handelt, ist nicht so sehr der historische Buddha, sondern der Buddha als Philosoph, wie er sich aus der philosophischen Retrospektive ergibt. Möglicherweise ist er auch nur eine Konstruktion. Meine Freunde in der Fakultät für Kulturwissenschaften werden spätestens an dieser Stelle die Augen verdrehen, und ich entschuldige mich im Voraus für meine antihistorische Ignoranz. Aber was in den Kulturwissenschaften eine Barbarei ist, kann in der Philosophie durchaus interessant sein.

Ich danke meinem Mitarbeiter Patrick Harman für geduldiges Korrekturlesen und zahlreiche nützliche Hinweise. Ebenso danke ich Stefan Selbmann und dem Verlag Narr Francke Attempto für die freundliche Zusammenarbeit und die Bereitschaft, das Buch in ihr Programm aufzunehmen.

 

 

1Buddhismus als Philosophie

1.1Gautama, der Philosoph

An einem sonnigen Apriltag des Jahres 415 v. Chr. hat Gautama die Nase voll. Er ist inzwischen 35 Jahre alt und hat die letzten sechs Jahre damit verbracht, als wandernder Asket nach der Erlösung aus dem Leiden zu suchen – allerdings bisher ohne Erfolg. Das war nicht immer sein Ziel gewesen. Eigentlich ist er der Spross einer adligen Familie – sein Vater Shuddhodana herrscht über das kleine Reich der Shākyas im Nordosten Indiens, zwischen dem Himalaya im Norden und dem Ganges im Süden. Geboren in der Nähe des Städtchens Lumbini, das heute im Süden Nepals liegt, wächst er am Hof seines Vaters in der Hauptstadt Kapilavastu auf. Seine Mutter stirbt wenige Tage nach seiner Geburt, so dass eine seiner Tanten die Erziehung des jungen Gautama übernimmt. Als Sohn eines Fürsten verbringt er seine Kindheit und Jugend gut behütet im Palast seines Vaters und führt das Leben eines reichen jungen Mannes aus der Oberschicht. Sein Lebensweg ist im Prinzip schon vorgezeichnet: In jungen Jahren wird er verheiratet, bekommt einen Sohn und soll später irgendwann einmal seinem Vater auf den Thron folgen. Doch dann kommt alles anders. Die Geburt seines Sohnes stürzt Gautama in eine tiefe existenzielle Krise und lässt ihn am Sinn seines Lebens zweifeln. Er beginnt, sich heimlich nachts aus dem Palast zu schleichen, lässt seinen Wagen kommen und unternimmt ein paar Ausfahrten. Was er, der verwöhnte Fürstensohn, der bisher von allen Übeln der Welt abgeschirmt wurde und ein Leben im Wohlstand geführt hat, auf diesen Ausfahrten sieht, erschüttert ihn zutiefst. Er sieht einen Alten, der sich mühsam mit gekrümmtem Rücken auf einen Stock stützt; er sieht einen Kranken, der über und über mit einem Aussatz bedeckt ist; er sieht einen Toten, der, begleitet von trauernden Freunden, auf einer Bahre zur Verbrennung getragen wird. Und schließlich sieht er auf der letzten dieser vier Ausfahrten einen Asketen, der der Welt entsagt hat. In dieser Nacht wird Gautama klar, dass er keine Chance hat, dem Leiden zu entkommen. Sein luxuriöses Leben im Palast wird nicht von Dauer sein. Alter, Krankheit und Tod werden auch ihn eines Tages einholen, und nichts in der Welt kann das verhindern. Doch er erkennt auch, dass es einen Ausweg gibt: den Weg des Asketen, die Flucht aus der Welt. Zurück in seinem Palast fasst Gautama den Entschluss, alles dranzugeben. Er wirft noch einen letzten Blick auf seine Frau und seinen schlafenden kleinen Sohn, dann läuft er fort, um sein altes Leben ein für alle Mal hinter sich zu lassen. 29 Jahre ist er da alt.

Er schließt sich anderen Asketen an in der Hoffnung, von ihnen zu lernen, wie man dem Leiden entkommen könnte. Gautama ist ein guter Schüler und beherrscht schon nach kurzer Zeit verschiedenste Meditationstechniken. Er dringt in die Sphäre des Nichtseins und in den Zustand jenseits von Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung vor. Doch Gautama ist nicht zufrieden. So angenehm die tiefe meditative Versenkung auch ist, sie ist nur eine kurze Pause. Sobald sie vorüber ist, ist auch das Leiden wieder da. Daher beschließt Gautama, es auf die harte Tour zu versuchen. Er fastet und hungert, bis er nur noch Haut und Knochen ist. Er läuft fast nackt herum, nur in Felle oder Leichentücher gewickelt, setzt sich ungeschützt der Hitze und Kälte aus, er zwingt seinen Körper stundenlang in schmerzhafte Meditationspositionen und plagt sich mit extremen Atemübungen. Aber das Einzige, was er davon hat, sind Schmerzen, Kreislaufprobleme und Haarausfall. Erlösung vom Leiden ist auch auf diese Weise nicht zu finden. Gautama, der inzwischen nur noch Haut und Knochen ist, hat genug davon. Er gibt seine radikale Askese auf, kommt wieder zu Kräften und beschließt, es mit einem mittleren Weg zu versuchen: keine extreme, selbstquälerische Askese, aber auch kein gedankenloses, bequemes Alltagsleben. Er setzt sich in den Schatten einer Pappelfeige (ficus religiosus) und nimmt sich vor, erst wieder aufzustehen, wenn er die Erlösung gefunden hat. Dann versinkt er für drei Tage und Nächte in eine tiefe Meditation. In der ersten Nacht erlangt er die Erinnerung an seine früheren Wiedergeburten, in der zweiten Nacht durchschaut er das kosmische Gesetz des Karma, und in der dritten Nacht schließlich erkennt er die vier edlen Wahrheiten – vier fundamentale Tatsachen über die Natur des Daseins, die den Kern seiner Lehre bilden. Als er wieder aufsteht, ist Gautama erleuchtet. Er hat die Einsicht in die wahre Natur der Realität gefunden, die ihn von allem Leiden erlöst. Er ist erwacht: Er ist der Buddha geworden.1

Verschiedene Bezeichnungen des Buddha

Siddhārtha Gautama (Siddhatta Gotama): der Eigenname des Buddha.

Buddha: „der Erwachte“, Titel des Buddha nach seiner Erleuchtung.

Bhagavat: „Herr“, „der Erhabene“, Anrede des Buddha durch seine Anhänger:innen.

Tathāgata: „der so Gekommene“, Selbstbe-zeichnung des Buddha.

Gautama, der nun zum Buddha geworden ist, beschließt nach einigem Zögern, seine Einsicht mit anderen zu teilen. Er kehrt aus der Einsamkeit zurück und trifft auf eine Gruppe von fünf ehemaligen Weggefährten – anderen Asketen, die ihm zunächst immer noch übelnehmen, dass er scheinbar schwach geworden ist und sie zurückgelassen hat. Doch als der Buddha vor ihnen seine erste Rede hält und erklärt, was er in seiner Meditation erkannt hat, ändern sie schnell ihre Meinung – die fünf werden sofort erleuchtet, schließen sich ihm an und werden die ersten bhikkhus (Mönche oder Anhänger des Buddha; die weibliche Form lautet bhikkhuni). Der sangha, die Gemeinschaft aller, die den Lehren des Buddha folgen, bzw. einfach: der Buddhismus, ist geboren. Die nächsten 45 Jahre seines Lebens verbringt der Buddha auf Wanderschaft. Er zieht durch die Welt, spricht mit Fürsten und mit einfachen Leuten, er verteidigt seine Lehre in teilweise hitzigen Diskussionen mit anderen Denkern und sammelt immer mehr Anhängerinnen und Anhänger um sich. Er gründet einen Mönchs- und später auch einen Nonnenorden. Im Alter von achtzig Jahren erkrankt er und merkt, dass er bald sterben wird. Er gibt seinen Anhängern noch ein letztes Mal die Gelegenheit Fragen zu stellen – doch es gibt keine. Alles, was er erkannt hat, hat er auch gelehrt. Er bestimmt keinen Nachfolger – seine Schülerinnen und Schüler sollen sich allein an der Lehre orientieren, nicht an einer Person. Dann legt er sich ruhig auf die Seite und stirbt. Seine letzten Worte lauten: „Alles Bedingte ist der Vergänglichkeit unterworfen. Bemüht euch unermüdlich!“ (DN 16: ii 156)

Soweit zumindest die Legenden. Die Präzision in den Details ist natürlich etwas übertrieben – die genauen Lebensdaten des Buddha sind umstritten, und auch der exakte Tag seiner Erleuchtung ist letzten Endes unbekannt. Überliefert ist nur, dass er zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt war. Traditionellerweise wird die Erleuchtung des Buddha auf den Monat Vesakha des indischen Mondkalenders datiert, der in unserem System im April und Mai liegt. Aber auch wenn diese Form der Buddha-Legende nur eine etwas eigenwillige Nacherzählung ist, entspricht doch immerhin der grobe Rahmen weitgehend dem, was die traditionellen Quellen berichten: die Geschichte eines Menschen, den die Erfahrung der Leidhaftigkeit des Daseins zutiefst erschüttert, und der danach sein ganzes Leben damit verbringt, über einen Ausweg aus diesem Leiden nachzudenken und seine Erkenntnisse mit anderen zu teilen. In diesem Sinne ist Gautama, der später zum Buddha wird, ein Philosoph: jemand, der versucht, auf bestimmte fundamentale, existenzielle Fragen durch rationales Denken und Reflektieren eine Antwort zu finden.

1.2Der historische Buddha

Was wissen wir über den historischen Buddha, den realen Menschen hinter den Legenden? Nicht viel. Wir wissen nicht einmal genau, wann er gelebt hat. Es gibt keine zeitgenössischen Berichte über sein Leben. Die ältesten verfügbaren Biographien sind erst mehrere Jahrhunderte nach seinem Tod entstanden und enthalten bereits eine Menge mythische und legendenhafte Elemente. Einigkeit besteht nur darin, dass der Buddha im Alter von achtzig Jahren starb. Traditionellerweise wird seine Lebenszeit auf etwa 560–480 v. Chr. datiert, was allerdings aus Sicht der modernen Forschung nicht stimmen kann. Zeitgenössische Untersuchungen setzen für seine Geburt meist einen Zeitraum ungefähr zwischen 480 und 450 v. Chr. an, womit sein Tod in die Zeit zwischen 400 und 370 v. Chr. fällt. Damit lebte er ungefähr ein Jahrhundert nach Konfuzius und war Zeitgenosse von Sokrates und Platon. Dass er in Lumbini geboren wurde, wie die Legenden berichten, wird durch archäologische Funde vor Ort bestätigt, und ist auch sonst glaubwürdig. Lumbini ist ein historisch eigentlich bedeutungsloser Ort in einem eher unwichtigen Kleinstaat, und es gibt keinen erkennbaren Grund, warum Gautama ausgerechnet hier hätte geboren werden sollen. Wenn das alles nur Fiktion wäre, warum dann diese überraschend ehrlichen Details? Dass Gautama der Sohn eines Königs war, dürfte hingegen übertrieben sein. Das Reich der Shākyas, aus dem Gautama stammte, war eher eine Art aristokratische Republik, die von einer Gruppe wohlhabender Adliger gemeinschaftlich regiert wurde, zu denen vermutlich auch Gautamas Familie gehörte.

Die Lebenszeit Gautamas war eine Epoche des Umbruchs. Steigender Wohlstand und eine erste Welle der Urbanisierung führten zu einem deutlichen Bevölkerungswachstum und zum Entstehen einer städtischen Kultur, während gleichzeitig die althergebrachten Vorstellungen von Religion und sozialer Ordnung in Bewegung gerieten. Die traditionelle Religion dieser Epoche wird oft als Brahmanismus bezeichnet und basiert auf dem Veda, heiligen Texten, die in ihren ältesten Teilen bis ca. 1200 v. Chr. zurückgehen und vor allem Hymnen und Mantras enthalten. Im Zentrum des Brahmanismus stehen komplexe Opferrituale, deren Durchführung das Privileg einer besonderen Priesterkaste ist und mit denen das Wohlwollen verschiedener Götter erlangt werden soll. Daher verbindet sich mit der brahmanischen Religion auch eine starre Gesellschaftsordnung, die alle Menschen in vier Kasten unterteilt: Brahmanen (Priester), Kshatriyas (Krieger und Adlige), Vaishyas (Kaufleute) und Shūdras (Handwerker und Arbeiter). Außerhalb dieser traditionell-religiösen Gesellschaftsordnung existieren bereits zu Lebzeiten des Buddha die sogenannten samanas. Hierbei handelt es sich nicht um eine einheitliche Bewegung, sondern um einen recht bunt zusammengewürfelten Haufen spiritueller Asketen und Denker, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie die brahmanische Gesellschaftsordnung und die vedische Opferreligion ablehnen und auf eigene Faust durch Meditation und Askese nach Erleuchtung suchen. Auch der Buddhismus gehört (zusammen mit dem noch heute existierenden Jainismus) ins Umfeld dieser Bewegungen, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass Gautama von den Menschen seiner Zeit so wahrgenommen wurde: als ein weiterer samana, der der Welt den Rücken kehrt und seine eigene philosophisch-spirituelle Lehre entwickelt.

1.3Quellen

Woher wissen wir, was der Buddha gedacht und gelehrt hat? Tatsächlich hat er selbst (ähnlich wie Sokrates, Konfuzius oder Jesus) nichts geschrieben, sondern seine Lehre allein mündlich, im persönlichen Gespräch und in Reden vor seinen Anhängerinnen und Anhängern mitgeteilt. Die traditionelle Überlieferung besagt, dass diese sich kurz nach seinem Tod zu einem ersten Konzil versammelten, die Reden und Gespräche des Buddha aus dem Gedächtnis rezitierten und damit die Linie der mündlichen Überlieferung seiner Lehre begründeten. Für mehrere Jahrhunderte und über mehrere Generationen hinweg wurde die Lehre des Buddha allein auf diese Weise, durch Rezitieren und Auswendiglernen, weitergegeben. Erst im 1. Jahrhundert v. Chr. entstand auf Sri Lanka eine erste schriftliche Fassung dieser bis dahin nur mündlich überlieferten Lehren. Die Texte, die wir heute haben und auf denen unsere Kenntnis der Philosophie des Buddha beruht, gehen auf diese erste schriftliche Sammlung seiner Lehren zurück.

Die Sammlungen buddhistischer Schriften, die als authentische Lehren des Buddha akzeptiert sind, werden Kanon genannt. Es existierte nie ein einziger, universal verbindlicher buddhistischer Kanon, sondern je nach Schule und Strömung verschiedene Fassungen in unterschiedlichen Sprachen. Der für uns wichtigste Kanon ist der Pāli-Kanon, benannt nach der Sprache Pāli, in der er verfasst ist (ein mittelindoeuropäischer Dialekt, der mit dem Sanskrit verwandt ist). Dieser Kanon stammt aus der Schule des Theravāda und ist der einzige, der vollständig in einer indischen Sprache überliefert ist. Im Allgemeinen gilt er als derjenige, der den ursprünglichen Lehren des Buddha am nächsten kommt. Daneben gibt es Kanons auf Chinesisch und Tibetisch, die sich in vielen Teilen (aber keineswegs vollständig) mit dem Pāli-Kanon überschneiden, und vereinzelte Übersetzungen ins Sanskrit und andere antike indische Sprachen. Der Pāli-Kanon wird in drei Abteilungen oder Körbe (pitaka) unterteilt (weshalb er auch manchmal als tipitaka – „drei Körbe“ bezeichnet wird): Das Sutta-Pitaka enthält die Lehrreden des Buddha (sutta bzw. sūtra auf Sanskrit bedeutet eigentlich „Faden“, im übertragenen Sinn dann „Lehrrede“ oder „Abhandlung“) und ist damit für uns die wichtigste Quelle für seine Philosophie. Das Vinaya-Pitaka enthält detaillierte Regeln und Vorschriften für das Leben der Mönche und Nonnen, das Abhidhamma-Pitaka enthält systematische Aufrisse und Interpretationen der Lehren des Buddha sowie kritische Diskussionen bestimmter Lehren. Traditionellerweise werden auch diese Teile des Kanons dem Buddha selbst zugeschrieben, aber die moderne Forschung datiert sie auf die ersten Jahrhunderte nach seinem Tod und schreibt sie frühen Formen des buddhistischen Denkens zu. Das Sutta-Pitaka wird in fünf Sammlungen (nikāya) unterteilt (s. Kasten). Die einzelnen Suttas innerhalb der Sammlung sind nummeriert, und über die Angabe der Sammlung und der Ordnungsnummer ist das jeweilige Sutta unabhängig von der jeweiligen Ausgabe identifizierbar. Zitate aus dem Sutta-Pitaka in diesem Buch sind immer nach diesem Schema belegt. Neben den Suttas gibt es noch einige andere Texte, die wichtige Quellen für das Denken des Buddha sind, aber nicht als kanonisch gelten (und damit nicht als authentisches Wort des Buddha angesehen werden), z. B. das Milindapañha („Fragen des Milinda“), das eine Reihe philosophischer Dialoge zwischen dem Mönch Nāgasena und dem indo-griechischen König Milinda bzw. Menandros enthält, oder das Visuddhimagga („Der Pfad zur Reinheit“) des Mönchs Buddhaghosa, das eine umfassende, systematische Darstellung der buddhistischen Philosophie abliefert. Wir werden gelegentlich auch auf solche Quellen zurückgreifen, aber da der Schwerpunkt auf der Philosophie des Buddha liegt, sind die Suttas für uns die erste Wahl.

Die fünf Sammlungen des Suttapitaka

Dīghanikāya (Längere Sammlung): 34 längere Lehrreden, u. a. das Mahāparinibbāna-Sutta, das die letzten Tage im Leben des Buddha berichtet.

Majjhimanikāya (Mittlere Sammlung): 152 Reden und Dialoge, die in drei Gruppen von jeweils fünf mal zehn thematisch ähnlichen Suttas unterteilt sind.

Samyuttanikāya (Verknüpfte Sammlung): 56 Gruppen von thematisch verknüpften Reden und Gesprächen, unterteilt in 5 Gruppen.

Anguttaranikāya (Nummerierte Sammlung): nach der Zahl von Begriffsreihen von eins bis elf angeordnete Suttas.

Khuddakanikāya (Kürzere Sammlung): fünfzehn Gruppen von diversen Texten, u. a. das Dhammapada (eine Kurzform der buddhistischen Lehre in Versform), die Spruchsammlung des Udāna, oder die Jātakas (Erzählungen der früheren Leben des Buddha).

An dieser Stelle könnte man einwenden: Aber dann haben wir doch gar kein direktes Wissen davon, was der Buddha gelehrt hat! Alles, was wir haben, sind Texte, die vorgeben, seine Lehre auszudrücken, aber faktisch für lange Zeit mündlich überliefert und erst Jahrhunderte nach seinem Tod niedergeschrieben worden sind. Wie sicher können wir da überhaupt sein, dass wir es mit der authentischen Lehre des Buddha zu tun haben? – Der Einwand ist durchaus berechtigt. Was der historische Buddha faktisch gelehrt hat, können wir nicht mehr mit absoluter Gewissheit herausfinden. Philologische Untersuchungen können zwar eine gewisse chronologische Schichtung innerhalb des Pāli-Kanon nachweisen, so dass vielleicht klar ist, welche Texte eher älter oder eher jünger sind – aber es wird niemals möglich sein, zu überprüfen, wie groß die Übereinstimmung zwischen den überlieferten Texten und den tatsächlichen Lehren des historischen Gautama gewesen ist, denn die Texte des Kanons sind für uns die Endstation. Weiter zurück in die Vergangenheit kommen wir einfach nicht, und deshalb ist es unmöglich, die Texte des Kanons mit dem zu vergleichen, was der reale Buddha tatsächlich gelehrt hat. Kann man dann überhaupt eine Darstellung der Philosophie des Buddha geben? Ja, man kann – wenn man sich klar macht, was es eigentlich ist, was man da darstellt. Wenn wir die Philosophie des Buddha studieren, folgen wir damit einer jahrtausendealten Tradition, die die kanonischen Suttas als authentisches Wort des Buddha ansieht, wenn schon nicht im wortwörtlichen Sinn, dann wenigstens dem Inhalt nach. Die Suttas sind der einzige Zugang zum Denken des Buddha, den wir besitzen, und das Denken des Buddha ist uns überhaupt nur in der Form zugänglich, in der es in den Suttas festgehalten ist. Dieses Denken ist es auch, das über Jahrtausende Einfluss auf Millionen Menschen ausgeübt hat und das der Ursprung der gesamten buddhistischen Philosophie gewesen ist. Die Frage, ob die Philosophie des Buddha innerhalb der Suttas wirklich authentisch ist, stellt sich also wenigstens für uns gar nicht, denn außerhalb der Suttas gibt es für uns gar keine Philosophie des Buddha. Das Ziel ist es nicht, die ursprüngliche Lehre des realen Gautama zu entdecken, sondern eine rationale Rekonstruktion des philosophischen Systems zu entwerfen, das in den Suttas entwickelt wird, und das unter dem Namen des Buddha überliefert ist. Die Philosophie des Buddha ist daher die Philosophie des Buddha, so wie sie in den Suttas überliefert ist – und selbst wenn der historische Gautama vor über zweitausend Jahren etwas anderes gelehrt haben sollte, dann ist diese Lehre für uns verloren. Die Philosophie des Buddha in den Suttas ist die einzige Philosophie des Buddha, die wir haben.

Ein Wort noch zu den buddhistischen Begriffen in diesem Buch: Ich verwende normalerweise die Pāli-Formen, um buddhistische Fachausdrücke wiederzugeben. Bei bestimmten Worten, die sich als Fremdwörter im Deutschen bereits eingebürgert haben, ist die Sanskrit-Form geläufiger (z. B. nirvāna statt nibbāna), weshalb ich in solchen Fällen von dieser Regel abweiche und die bekanntere Form verwende. Sprachlich interessierte Leserinnen und Leser finden im Anhang eine kurze Übersicht der wichtigsten Begriffe in verschiedenen Sprachen.

1.4Die Philosophie des Dhamma

Glaubt man der Legende, dann hat Gautama in drei durchwachten Nächten die Einsichten gewonnen, die das Fundament seiner gesamten Philosophie bilden. Aber was hat Gautama in diesen Nachtwachen erkannt? Welche Erkenntnis hat ihn vom Leiden befreit und zum Buddha gemacht? Nach buddhistischer Vorstellung sind es die sogenannten vier edlen Wahrheiten. Diese vier Sätze sind der Kern des dhamma, d. h. der Lehre des Buddha – praktisch seine gesamte Philosophie ist in ihnen enthalten, und sie bilden die gemeinsame Basis für alle nachfolgenden Strömungen des Buddhismus. Sie sind das Minimum, auf das sich alle Buddhistinnen und Buddhisten auch heute noch einigen können.

Dhamma (Sanskrit: Dharma, aus der Wurzel dhr, „halten“) ist die buddhistische Bezeichnung für die Lehre des Buddha, meint aber zugleich auch das fundamentale Ordnungsprinzip der Wirklichkeit oder die Natur der Realität. Das bedeutet auch, dass die Lehre des Buddha keine Offenbarung und keine hypothetische Meinung ist, sondern eine faktische Beschreibung der Realität selbst. Deshalb gibt es auch nur ein dhamma, nämlich das, was der Buddha erkannt hat.

Die vier edlen Wahrheiten sind der Wesenskern der Philosophie des Buddha und man kann ohne zu übertreiben sagen, dass alles, was ab hier folgt, im Prinzip nichts anderes sind als Erläuterungen zu diesen vier Sätzen. Diese vier edlen Wahrheiten sind:

Die Wahrheit vom Leiden (dukkha): Alles Dasein ist leidvoll.

Das ist die edle Wahrheit vom Leiden: Wiedergeburt ist Leiden; Alter ist Leiden; Krankheit ist Leiden; Tod ist Leiden; mit Ungeliebtem vereint sein ist Leiden; von Geliebtem getrennt sein ist Leiden; nicht bekommen, was man wünscht, ist Leiden. Kurz, die fünf mit Anhaften verbundenen Elemente sind Leiden.

Die Wahrheit vom Entstehen des Leidens (samudaya): Der Durst ist die Ursache des Leidens.

Das ist die edle Wahrheit vom Ursprung des Leidens: Es ist der Durst, der zu künftigen Leben führt. Er ist mit Genießen und Gier vermischt und vergnügt sich überall, wo es ankommt: nämlich Durst nach Sinnenfreuden, Durst danach, das Dasein fortzusetzen, und Durst danach, das Dasein zu beenden.

Die Wahrheit von der Überwindung des Leidens (nirodha): Aufhebung des Durstes ist Aufhebung des Leidens.

Das ist die edle Wahrheit vom Aufhören des Leidens: Es ist das restlose Schwinden und Aufhören eben dieses Durstes, ihn herzugeben, loszulassen, freizusetzen und nicht daran festzuhalten.

Die Wahrheit vom Weg (magga): Der Weg zur Aufhebung des Leidens ist der edle achtfache Pfad.

Das ist die edle Wahrheit vom Weg, der zum Aufhören des Leidens führt: Es ist einfach dieser edle achtfache Pfad: nämlich richtige Einsicht, richtiger Entschluss, richtige Rede, richtiges Handeln, richtige Lebensführung, richtige Anstrengung, richtige Achtsamkeit und richtige Konzentration. (SN 56.11 [Sa*])

Die buddhistische Tradition vergleicht die vier edlen Wahrheiten mit einer medizinischen Untersuchung: Wie ein Arzt diagnostiziert der Buddha eine Krankheit, identifiziert ihre Ursache und schlägt eine Therapie vor. Die Krankheit ist das Leiden, es entsteht aus dem Durst und nur die Überwindung des Durstes führt zum Ende des Leidens. Die Methode zur Überwindung des Durstes, d. h. die Therapie, der wir uns unterziehen müssen, um den Durst zu überwinden und vom Leiden frei zu werden, ist der edle achtfache Pfad. Eine korrekte Diagnose und eine effektive Therapie setzen voraus, dass die Fakten richtig erkannt werden. Daher können wir die vier edlen Wahrheiten auch lesen als eine Liste von vier Tatsachen, die der Buddha erkannt hat. Die vier edlen Wahrheiten sind Erkenntnisse über die fundamentale Natur der Realität und des Daseins. Damit bilden sie die Grundlage einer umfassenden Theorie zur Erklärung der Entstehung des Leidens, die der Buddha entwickelt und auf der wiederum eine Lebenspraxis aufgebaut ist, deren ultimatives Ziel in der Erlösung vom Leiden liegt. Wenn man die vier edlen Wahrheiten so versteht, dann bedeutet das, den Buddha als Philosophen zu betrachten und seine Lehre als eine Philosophie. Das ist nicht der einzige Weg, sich mit den Lehren des Buddha und dem Buddhismus zu beschäftigen. Genauso gut könnte man den Buddha als Religionsstifter betrachten, man könnte die Geschichte der buddhistischen Literatur studieren oder sich mit religiösen Festen und Gebetspraktiken im gelebten Buddhismus beschäftigen. All das sind spannende Fragen, die ihre jeweils eigene Berechtigung haben, aber sie sind nicht das Thema dieses Buches. Das Thema ist die Philosophie des Buddha. Aber was heißt hier eigentlich Philosophie?

1.5Was ist Philosophie?

Was es bedeutet, den Buddha als Philosophen und die vier edlen Wahrheiten als eine Philosophie zu sehen, hängt davon ab, was man unter Philosophie versteht, und das ist selbst eine schwierige philosophische Frage, auf die man von unterschiedlichen Philosophinnen und Philosophen sehr unterschiedliche Antworten zu hören bekommt. Zum Glück brauchen wir keine endgültige und definitive Antwort auf diese komplexe Frage. Es genügt, wenn wir eine provisorische Definition von Philosophie finden, die uns hilft, zu verstehen, wovon die Rede ist, wenn die Lehre des Buddha als Philosophie bezeichnet wird, und die erklärt, worin der Unterschied liegt, wenn man sie als Philosophie betrachtet und nicht als etwas anderes (etwa als Religion). Ein erster Definitionsversuch könnte so aussehen: Philosophie ist eine systematische Lehre, die die fundamentalen Eigenschaften der objektiven Realität und des subjektiven Zugangs zu ihr rational beschreibt und erklärt, und die daraus eine reflektierte Lebenspraxis ableitet. Wenn man Philosophie auf diese Weise definiert, werden damit drei wesentliche Aspekte betont: (a) Rationales Denken als zentrale Methode der Philosophie; (b) grundlegende Eigenschaften der Realität und des Daseins als ihre hauptsächlichen Gegenstände; (c) eine direkte Verbindung von Theorie und Lebenspraxis. Schauen wir uns jeden dieser Punkte etwas genauer an.

(a) Methode. Jede Wissenschaft hat ihre eigenen Methoden, um zu Erkenntnissen zu gelangen, aber für die Philosophie spielt die Frage nach der richtigen Methode eine besondere Rolle, denn Philosophie definiert sich mehr über die Art und Weise, über bestimmte Fragen nachzudenken, als über die Summe der Antworten auf diese Fragen. In gewisser Weise ist Philosophie nicht mehr als eine Methode des Denkens. Diese Methode besteht, vereinfacht gesagt, in rationalem Denken. Dass Philosophie eine Methode des Denkens ist, bedeutet erstmal nur, dass sie nicht empirisch oder experimentell vorgeht. Philosophieren kann man ohne Labor und Geräte auf dem heimischen Sofa – das Einzige, was man dazu braucht, ist der eigene Verstand. Aber nicht jede Art von Denken ist automatisch philosophisch – ich kann auf dem heimischen Sofa liegen und darüber nachdenken, wie ich mein Wohnzimmer einrichten will, aber das ist keine Philosophie. Philosophieren heißt rational denken. Rationales Denken hat das Ziel, zur Erkenntnis von Wahrheit zu gelangen, und sucht nach guten Gründen, um dieses Ziel zu erreichen: Wahrheit ist das Ziel von Rationalität, argumentatives Begründen ist der Weg dorthin. Wer rational sein will, darf also nicht einfach Behauptungen aufstellen, sondern muss das, was er behauptet, auch durch Argumente begründen können. Philosophie verkündet nicht einfach irgendwelche mutmaßlichen Wahrheiten oder Offenbarungen, sondern muss diese Wahrheiten als Ergebnis eines kritischen, objektiven und rational nachvollziehbaren Gedankengangs ausweisen. Seit ihren Anfängen bei Sokrates nimmt die Philosophie nichts einfach als gegeben hin, sondern hinterfragt unsere Überzeugungen, egal wie selbstverständlich sie sind, um zu prüfen, ob sie einer rationalen Kritik standhalten oder nicht. Sie verwirft alles, was sich nicht durch Vernunft begründen lässt und nur auf Hörensagen, Wunschdenken oder Meinungsmache beruht.1 Wenn man den Buddhismus also als Philosophie betrachtet, dann sieht man den Buddha als Philosophen, der eine bestimmte Theorie vertritt und den Anspruch hat, dass diese Theorie auch in einem objektiven Sinne wahr ist. Das bedeutet: Diese Theorie soll nicht einfach geglaubt, sondern diskutiert und mit vernünftigen Argumenten begründet werden. Wenn wir seine Theorie als wahr anerkennen, dann nicht deshalb, weil der Buddha sie verkündet hat oder weil sie uns so gut gefällt, sondern deshalb, weil wir sie am Ende eines rationalen Reflexionsprozesses als wahr erkannt haben. Ein wesentliches Ziel dieses Buches besteht genau darin, diesen Reflexionsprozess nachzuvollziehen und die Argumente, die der Buddha für seine Theorie vorlegt, zu rekonstruieren und kritisch zu diskutieren. Wir sollten uns also seinem Denken mit einer Haltung skeptischer Offenheit nähern: Was der Buddha behauptet, könnte prinzipiell wahr oder falsch sein, und ob es wirklich wahr ist, finden wir mit den Methoden rationalen Denkens heraus. Der Buddha ist also kein Prophet, der die Offenbarung eines höheren Wesens verkündet, sondern ein Philosoph, der eine Erkenntnis mitteilt. Das bedeutet übrigens auch, dass er ein Mensch ist wie du und ich. Er ist zwar ein besonderer Mensch, denn er hat eine außergewöhnliche Erkenntnis gemacht, aber er ist kein transzendentes, quasi-göttliches Wesen.2 Eine andere Konsequenz rationalen Denkens ist, dass das, was rational begründet ist, beanspruchen kann, objektive Gültigkeit zu besitzen. Das bedeutet, dass diese Gültigkeit nicht von der konkreten Person abhängt, die die Behauptung aufstellt, oder dass diese Wahrheit nur für bestimmte Personen Gültigkeit besitzt. Objektiv wahr sein heißt unabhängig von einem subjektiven, individuellen Standpunkt wahr sein. Damit ist die Philosophie des Buddha auch nicht kulturrelativ, sondern hat einen universalen Anspruch. Das heißt: Um die Philosophie des Buddha zu verstehen und zu diskutieren, brauchen wir weder eine besondere Inspiration noch müssen wir selbst Buddhistinnen und Buddhisten sein – das Einzige, was wir brauchen, ist unsere Vernunft.

(b) Gegenstände. Philosophie ist aber nicht nur rationales Denken – man kann rational darüber reflektieren und mit guten Gründen dafür argumentieren, dass Schokoladenkuchen besser ist als Käsekuchen, aber das ist kein philosophisches Problem. Zur Philosophie gehört auch, dass die rationale Methode auf bestimmte Gegenstände, eben philosophische Fragen, angewandt wird. Philosophie ist daher nicht bloß eine Sammlung von Aphorismen und tiefsinnig klingenden Kalendersprüchen (auch wenn es manchmal so aussieht), sondern ein System von Erkenntnissen hinsichtlich bestimmter Fragen. Die einzelnen Teile dieses Systems greifen ineinander und sollten ein kohärentes Ganzes bilden, das die Realität und unser Dasein in ihr beschreibt und erklärt, und das die Grundlage für eine reflektierte Lebenspraxis werden kann. Philosophie hat also eine theoretische und eine praktische Seite. Die theoretische Seite versucht, Antworten auf typisch philosophische Fragen zu geben. Hierhin gehören unter anderem eine Metaphysik (wie ist die Welt beschaffen?), eine Erkenntnistheorie (wie erkennen wir die Realität und was können wir von ihr wissen?) und eine Anthropologie und Ethik (was für Wesen sind wir Menschen und wie sollen wir miteinander umgehen?). Diese Fragen sind anders als die Frage „Schoko- oder Käsekuchen?“, denn sie sind ihrer Natur nach fundamental und existenziell, d. h. sie betreffen die grundlegenden Fakten unseres Denkens und Daseins. Solche Fragen müssen in irgendeiner Weise immer schon beantwortet sein, wenn wir unser Leben führen: Man kann zwar unterschiedlicher Meinung darüber sein, was ein gutes Leben ausmacht, aber man kann nicht leben, ohne wenigstens eine rudimentäre Idee davon zu haben, wie ein gutes Leben aussieht – wie sollte man sich sonst entscheiden zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, sein Leben zu führen, z. B. wenn man sich fragt: Will ich Kinder oder nicht? Ebenso müssen wir irgendeine Antwort auf fundamentale Fragen voraussetzen, wenn wir andere Arten von Wissenschaft betreiben wollen. So kann z. B. die Physik herausfinden, welchen Gesetzen die Natur gehorcht – aber die Frage, ob die Natur überhaupt Gesetzen gehorcht, ist keine physikalische, sondern eine philosophische (und daher fundamentale) Frage. Wenn man Zweifel an der Realität der Naturgesetze hat, wird kein physikalisches Experiment diese Zweifel beseitigen können, denn ein solches Experiment setzt ja bereits voraus, dass es Naturgesetze gibt, die bestimmen, was im Experiment passieren wird. Die Aufgabe der Philosophie liegt unter anderem auch darin, solche impliziten, oft nicht klar durchdachten Hintergrundannahmen, die ein Weltbild ausmachen, offenzulegen und kritisch zu diskutieren. Wenn wir also den Buddha als Philosophen verstehen, sollten wir erwarten, dass er solche fundamentalen Fragen angeht, systematisch verknüpfte Theorien über die Natur der Realität und des Menschen entwickelt, um sie zu beantworten, und dass diese Theorien mit vernünftigen Gründen verteidigt werden.

(c) Lebenspraxis. Philosophie ist aber nicht nur Theorie, sondern hat auch eine praktische Seite, die in engem Zusammenhang mit der theoretischen Seite steht. Ihr geht es nicht allein um theoretische Erkenntnis, sondern sie strebt eine Einheit von Theorie und Praxis an. Die praktische Seite der Philosophie besteht darin, eine Antwort auf die Frage „Wie soll ich leben?“ zu geben, die sich aus den Erkenntnissen ihrer theoretischen Seite ergibt (oder wenigstens mit ihnen vereinbar ist). Philosophie, die ihre praktische Seite ernst nimmt, will nicht nur die Wirklichkeit richtig verstehen, sondern uns auch dabei helfen, unser Leben an diesem richtigen Verständnis auszurichten – denn wie soll ich ein gutes Leben führen, wenn ich in irgendwelchen Irrtümern und Illusionen über die Wirklichkeit gefangen bin? Philosophie ist damit mehr als nur eine Wissenschaft, nämlich eine Lebensform. Zugegeben, für die akademische Philosophie des 21. Jahrhunderts wirkt diese Idee etwas antiquiert, und längst nicht alle zeitgenössischen Philosophinnen und Philosophen würden so weit gehen, auch zu unterschreiben, dass sie Philosophie als Lebensform verstehen. Aber für die griechisch-römische Antike, die klassische chinesische, die indische Philosophie und auch für den Buddha war dies das Ideal. Für Sokrates, Epikur oder Konfuzius war gleichermaßen klar: Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern ein way of life