Die Pickwickier. Band Drei - Charles Dickens - E-Book

Die Pickwickier. Band Drei E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Samuel Pickwick, Esquire, ist ein freundlicher und wohlhabender alter Herr, der den Pickwick Club gegründet hat und dessen Präsident er ist. Er schlägt vor, dass er und drei andere “Pickwickier”, Mr Nathaniel Winkle, Mr Augustus Snodgrass, und Mr Tracy Tupman, Reisen an Orte unternehmen, die weit von London entfernt sind, und den anderen Mitgliedern des Clubs über ihre Erkenntnisse berichten. Ihre Reisen mit der Kutsche durch die englische Landschaft und ihre Erlebnisse während dieser Tour sind das Hauptthema des Romans. Die Pickwickier – Ein Sportler, der keinen Sport betreibt; ein Dichter, der nicht schreibt; ein Liebhaber, der niemanden liebt; alle drei sind ihrem fröhlichen und wohlwollenden Anführer, Mr. Pickwick, treu ergeben. Begleiten Sie ihn und seine Freunde Winkle, Snodgrass und Tupman auf ihrer Reise durch das Land auf der Suche nach Abenteuern, Wissen und Geschichten. Auf ihrem Weg passieren ihnen einige Missgeschicke, und sie treffen auf viele interessante Charaktere, sowohl auf gute als auch auf weniger gute… Ihre Abenteuer werfen Schlaglichter auf die Heuchelei und den Geiz im Leben der einfachen Leute, die von den zweifelhaften Handlungen von Anwälten, Politikern und lokalen Würdenträgern bedrängt werden. Ein Leben, in dem die Ehe nicht immer mit Liebe einhergeht, in dem die Opfer und nicht die Schuldigen eingesperrt werden und in dem die Armen mit kaum verhohlener Verachtung behandelt werden. Auch die Pickwickier selbst geraten zuweilen in unangenehme Situationen. So zum Beispiel führt ein romantisches Missverständnis mit Mr Pickwicks Vermieterin, der Witwe Mrs. Bardell, zu einem der berühmtesten Rechtsfälle der englischen Literatur, Bardell gegen Pickwick… Dies ist der dritte von insgesamt drei Bänden.

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Seitenzahl: 562

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CHARLES DICKENS

DIE PICKWICKIER

 

 

 

ROMAN

in drei Bänden

 

 

 

 

 

 

Band Drei

DIE PICKWICKIER wurde zuerst im englischen Original (The Pickwick Papers) in 20 Episoden veröffentlicht von Chapman & Hall, London 1836-37.

Diese Ausgabe in drei Bänden wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2022

 

V 1.0

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Band Drei

ISBN 978-3-96130-512-4

 

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

 

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Charles Dickens

Die Pickwickier

 

BAND EINS | BAND ZWEI | BAND DREI

 

enthalten in der

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Inhaltsverzeichnis

Die Pickwickier. Band Drei

Impressum

Band Drei

Kapitel 1

Mr. Bob Sawyer gibt eine lustige Abendgesellschaft in seiner Wohnung im Borough.

Kapitel 2

Mr. Weller senior macht einige kritische Bemerkungen über Briefstellerei und Poesie und übt mit Hilfe seines Sohnes Samuel eine kleine Wiedervergeltung an dem hochwürdigen Herrn mit der roten Nase.

Kapitel 3

Das einzig und allein einem ausführlichen und wahrheitsgetreuen Bericht über die denkwürdige Gerichtsverhandlung in Sachen Bardell kontra Pickwick gewidmet ist.

Kapitel 4

Mr. Pickwick beschließt, nach Bath zu gehen.

Kapitel 5

Enthält eine authentische Version des Märchens vom Prinzen Bladud und zugleich ein höchst merkwürdiges Malheur, das Mr. Winkle widerfuhr.

Kapitel 6

Wie Mr. Winkle aus dem Regen in die Traufe kommt.

Kapitel 7

Mr. Samuel Weller wird zum Postillion d’amour ernannt und versieht sein Amt als solcher höchst gewissenhaft.

Kapitel 8

Führt Mr. Pickwick in eine neue und interessante Phase im großen Drama des Lebens.

Kapitel 9

Wie es Mr. Pickwick in der Fleet erging, was für Schuldgefangene er daselbst antraf und wie er die Nacht zubrachte.

Kapitel 10

Worin sich, wie im vorhergehenden, das alte Sprichwort bewährt, daß das Unglück den Menschen mit sonderbaren Schlafkameraden zusammenführt.

Kapitel 11

Zeigt, wie Mr. Samuel Weller ins Unglück kommt.

Kapitel 12

Mr. Winkles geheimnisvolles Benehmen. Der Kanzleigefangene wird endlich erlöst.

Kapitel 13

Schildert eine rührende Zusammenkunft Mr. Samuel Weller mit seinen Verwandten. Mr. Pickwick besichtigt die kleine Welt, die er bewohnt, und faßt den Entschluß, künftighin so wenig wie möglich mit ihr zu verkehren.

Kapitel 14

Ein erschütternder, wenn auch nicht unlustiger Vorfall, herbeigeführt durch die Umsicht der Herren Dodson und Fogg.

Kapitel 15

Handelt von Geschäftsangelegenheiten und dem zeitlichen Vorteil der Herren Dodson und Fogg. Mr. Winkle tritt unter außerordentlichen Umständen wieder auf, und Mr. Pickwicks gutes Herz siegt über seine Hartnäckigkeit.

Kapitel 16

Mr. Pickwick erweicht mit Hilfe Samuel Wellers das Herz Mr. Benjamin Allens und besänftigt den Zorn Mr. Robert Sawyers.

Kapitel 17

Wie Mr. Pickwick nach Birmingham reiste und Verstärkung an einem höchst unerwarteten Bundesgenossen erhielt.

Kapitel 18

Mr. Pickwick trifft einen alten Bekannten.

Kapitel 19

Eine wichtige Veränderung in der Familie Weller. Mr. Stiggins fällt in Ungnade.

Kapitel 20

Mr. Jingles und Hiob Trotters letzter Austritt. Abwicklung eines Geschäfts in Grays Inn Square und ein lautes Klopfen an Mr. Perkers Tür.

Kapitel 21

Enthält einige nähere Umstände betreffs des eben erwähnten Klopfens und unter anderem auch interessante, bedeutsame Aufschlüsse in bezug auf Mr. Snodgraß und eine junge Dame.

Kapitel 22

Mr. Samuel Pell ordnet mit Beihilfe eines auserlesenen Kutscherkomitees die Angelegenheiten Mr. Wellers senior.

Kapitel 23

Eine wichtige Beratung zwischen Mr. Pickwick und Sam, der Mr. Weller beiwohnt. Ein alter Herr in schnupftabakfarbenen Kleidern tritt unerwartet auf.

Kapitel 24

In dem der Pickwick-Klub aufgelöst wird und alles zur größten Zufriedenheit endet.

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Zu guter Letzt

BAND DREI

 

KAPITEL 1

Mr. Bob Sawyer gibt eine lustige Abendgesellschaft in seiner Wohnung im Borough.

In der Gegend von Landstreet herrscht gewöhnlich eine Ruhe, die die Seele melancholisch stimmt. Immer sind in ihr eine Menge Häuser zu vermieten, und wer sich von der Welt zurückzuziehen wünscht und der Möglichkeit einer Versuchung entgehen will, zum Fenster hinauszusehen, dem kann nur angelegentlichst geraten werden, eine Wohnung in Landstreet zu beziehen.

Die Mehrzahl der Bewohner wendet ihre Tätigkeit unmittelbar der Vermietung möblierter Zimmer zu oder widmet sich dem gesunden und muskelstärkenden Geschäfte des Wäschemangelns. Die Hauptformen der unbelebten Natur in. dieser Straße sind grüne Fensterläden, Mietzettel, messingene Türplatten und Glockenzüge; die Hauptarten der belebten sind der Küchenjunge, der Semmelbursche und der Kartoffelmann. Die Mieter sind eine Art von Zugvögeln; sie verschwinden gewöhnlich am Ende des Quartals und meistens zur Nachtzeit. Die Einkünfte Seiner Majestät werden in diesem Paradiese nur selten eingesammelt, die Zinse sind unsicher, und die Trinkwasserleitungen werden sehr häufig gesetzlich gesperrt.

An dem Abend, zu dem Mr. Pickwick eingeladen worden war, saßen Mr. Bob Sawyer und Mr. Ben Allen im Vorderzimmer des Erdgeschosses am Kamin, einander gegenüber. Die Vorbereitungen zum Empfang der Gäste schienen bereits vollendet. Der Regenschirmständer im Hausflur war in der kleinen Ecke vor der Stubentür untergebracht, die Haube und der Schal des Dienstmädchens vom Treppengeländer entfernt, ein Paar Überschuhe standen auf der Strohmatte am Haustor, und auf dem Gesims des Treppenfensters brannte ein munteres Küchenlicht mit einer sehr langen Schnuppe. Mr. Bob Sawyer hatte die Getränke in einem Weingewölbe in der Highstreet eigenhändig eingekauft und den Träger derselben begleitet, um der Möglichkeit der Ablieferung in einem unrechten Hause vorzubeugen. Der Punsch wartete in einem roten Krug im Schlafgemach, ein mit grünem Tuch überzogenes Tischchen war von einem Mitbewohner des Hauses geborgt worden, um als Spieltisch verwendet zu werden, und die Gläser des Etablissements samt denen, die man aus einem Wirtshaus entlehnt, standen auf einem stummen Diener auf dem Treppenabsatz vor der Tür. Trotz dieser höchst befriedigenden Anordnungen lag eine Wolke auf Mr. Bob Sawyers Mienen, als er am Fenster saß und auch die Züge Mr. Ben Allens trugen das gleiche Gepräge, während er aufmerksam auf die Kohlen starrte, und seine Stimme hatte etwas Melancholisches, als er nach einer langen Pause das Stillschweigen brach:

»Es ist wirklich ärgerlich, daß sie es sich in den Kopf gesetzt hat, gerade bei dieser Gelegenheit auf die Pauke zu hauen. Sie hätte wenigstens bis morgen warten können.«

»Aus purer Bosheit«, brach Mr. Bob Sawyer los. »Sie sagt, wenn ich Gesellschaften geben könne, müsse ich auch imstande sein, ihre verdammte ,kleine Rechnung’ zu bezahlen.«

»Wie lange läuft sie denn jetzt?« fragte Mr. Ben Allen.

Eine Rechnung ist, beiläufig gesagt, das merkwürdigste Perpetuum mobile, das der menschliche Scharfsinn je ausgedacht hat. Sie würde das längste Menschenleben lang laufen, ohne je aus eigenem Antrieb stehenzubleiben.

»Bloß ein Vierteljahr und einen Monat oder so was«, erwiderte Mr. Bob Sawyer.

Ben Allen hustete hoffnungslos und richtete einen forschenden Blick auf die beiden Stangen am Ofen.

»Es wäre doch eine verdammte Geschichte, wenn sie sich in den Kopf setzen würde, vor der Gesellschaft hier aufzubegehren, was?« sagte er endlich.

»Schauderhaft«, versetzte Bob Sawyer, »schauderhaft.«

Ein leises Pochen ließ sich in diesem Moment an der Zimmertür hören. Bob Sawyer warf seinem Freund einen bedeutsamen Blick zu, rief: »Herein!«, und ein schmutziges, schlampiges Mädchen in schwarzen Baumwollstrümpfen, die ganz gut für die verwahrloste Tochter eines dienstunfähigen Straßenkehrers in reduzierten Umständen hätte gelten können, steckte den Kopf herein und sagte:

»Mit Verlaub, Mr. Sawyer, Mrs. Raddle wünscht Sie zu sprechen.«

Ehe aber noch Mr. Bob Sawyer etwas erwidern konnte, verschwand das Mädchen plötzlich mit einem gellenden Schrei, wie wenn ihr jemand von hinten einen heftigen Stoß versetzt hätte, und unmittelbar nach diesem geheimnisvollen Verschwinden erfolgte ein abermaliges Klopfen – ein kurzes entschiedenes Klopfen, das zu sagen schien: »Hier bin ich und lasse mich nicht abweisen.«

Bob Sawyer starrte seinen Freund mit einem Blick hoffnungsloser Angst an und rief abermals:

»Herein!«

Die Erlaubnis wäre indes nicht notwendig gewesen, denn ehe er das Wort ausgesprochen, stürzte eine grimmerfüllte kleine Person ins Zimmer, an allen Gliedern zitternd vor Zorn und ganz bleich vor Wut.

»Na, Mr. Sawyer«, keuchte sie, bemüht, möglichst ruhig zu erscheinen, »wenn Sie die Güte haben wollen, meine kleine Rechnung da zu berichtigen, so werde ich Ihnen sehr dankbar sein, denn ich muß heute mittag ebenfalls meine Miete bezahlen, und der Hausbesitzer wartet unten.« Dabei rieb sie sich die Hände und blickte unverwandt über Mr. Sawyers Kopf auf die Wand.

»Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie in Ungelegenheiten bringe, Mrs. Raddle«, stotterte Bob Sawyer demütig, »aber ...«

»Oh, von Ungelegenheiten ist nicht die Rede«, entgegnete die kleine Frau mit schrillem Ton. »Ich habe es bis jetzt noch nicht gebraucht, und da war’s mir gleichgültig, ob Sie es hatten oder ich, wo ich’s sowieso dem Hausherrn geben muß. Sie haben mir’s zu heute nachmittag versprochen, Mr. Sawyer, und jeder Gentleman, wo hier gewohnt hat, hat sein Wort gehalten, wie das auch natürlicherweise von jedem erwartet werden muß, wo sich für einen Gentleman ausgeben tut.«

Und Mrs. Raddle schüttelte ihr Haupt, biß sich in die Lippen, rieb ihre Hände noch stärker und blickte noch starrer nach der Wand. Man konnte deutlich sehen, wie Mr. Allen bei einer späteren Gelegenheit in orientalisch-allegorischem Stil bemerkte, daß sie zu »dampfen« anfing. »Es tut mir sehr leid, Mrs. Raddle«, sagte Bob Sawyer mit aller erdenklichen Demut; »aber das Geld, das man mir heute in der City versprochen hat, ist ausgeblieben. Es ist wirklich ein Pech, der Geldgeber hat es mir als ganz sicher zugesagt.«

»Ganz gut, Mr. Sawyer«, schrillte Mrs. Raddle und pflanzte sich entschlossen auf eine in den Kidderminsterteppich gewebte purpurfarbene Blume, »aber was geht das mich an, Sir?«

»Ich – ich – zweifle nicht, Mrs. Raddle«, erwiderte Mr. Sawyer, die letzte Frage scheinbar überhörend, »daß wir noch vor Mitte der nächsten Woche miteinander abrechnen können, und dann soll es künftighin besser gehen.«

Mehr verlangte Mrs. Raddle nicht. Sie war mit so bestimmter Absicht, einen Skandal zu machen, in des unglücklichen Bob Sawyers Zimmer gestürzt, daß sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei sofortiger Bezahlung kaum zufriedengegeben hätte, und war in der vorzüglichsten Stimmung zu einem kleinen Herzenserguß, zumal da sie soeben in der Küche mit Mr. Raddle eine Art Generalprobe zu dem Zweck abgehalten hatte. »Nehmen Sie etwa an, Mr. Sawyer«, begann sie und erhob dabei ihre Stimme, um der Nachbarschaft das Verständnis zu erleichtern, »nehmen Sie etwa an, ich lasse Tag für Tag einen Burschen bei mir wohnen, wo nie daran denkt, seine Miete zu bezahlen – noch nich mal die baren Auslagen für frische Butter, Zucker und Milch, wo ich ihm zum Frühstück besorge? – Nehmen Sie etwa an, eine fleißige Frau, wo schwer arbeiten tut und schon zwanzig Jahre in diese Straße gewohnt hat – zehn Jahre auf die andre Seite und neundreiviertel Jahr in dies Haus hier –, hat weiter nichts zu tun, als sich für Tagediebe totzurackern, wo dauernd bloß rauchen und saufen und Maulaffen feilhalten, anstatt sich ‘ne Beschäftigung zu suchen, damit sie ihre Rechnungen bezahlen können? Nehmen Sie etwa ...«

»Aber liebe Frau«, unterbrach Mr. Benjamin Allen begütigend.

»Sind Sie so gut und behalten Sie Ihre Bemerkungen für sich, ja«, rief Mrs. Raddle, bremste plötzlich den mitreißenden Schwung ihrer Rede ab und wandte sich mit eindrucksvoller Gemessenheit und Feierlichkeit an den Sprecher. »Ich bin mir gar nicht die Sache bewußt, Sir, daß Sie irgendwie berechtigt sind, eine Anrede an mir zu richten. Soviel ich weiß, habe ich das Zimmer nicht an Ihnen vermietet, Sir.«

»Nein, das haben Sie freilich nicht«, gab Mr. Benjamin Allen zu.

»Na also«, erwiderte Mrs. Raddle voll stolzer Höflichkeit, »dann begnügen Sie sich vielleicht am besten damit, den armen Leuten in den Spitälern Arme und Beine zu knacken und den Dreck vor Ihre eigene Tür wegzufegen, sonst könnten sich Leute finden, wo Ihnen daran erinnern möchten.«

»Sie sind aber wirklich sehr unvernünftig«, wandte Mr. Benjamin Allen ein.

»Gestatten Sie mal, junger Mann«, sagte Mrs. Raddle noch lauter und nachdrücklicher, »war die Bemerkung etwa auf meine Person gerichtet?« »Sie war; na und?« sagte Mr. Benjamin Allen.

»Haben Sie das auf mir gemeint, frage ich Ihnen, Sir?« schrie Mrs. Raddle, deren Zorn nun. in Weißglut geraten war, und riß die Tür weit auf. »Aber ja, natürlich«, erwiderte Mr. Benjamin Allen.

»Ja, natürlich!« schrie Mrs. Raddle so laut wie möglich, damit Mr. Raddle in der Küche alles hören konnte. »Ja, natürlich haben Sie das getan! Es weiß ja auch jeder, daß man mich in meinem eigenen Hause ungestraft beleidigen tut, weil mein Mann ganz ruhig unten schnarcht und sich nich mehr um mir kümmern tut wie um ein’ Straßenköter. Er sollte sich was schämen«, schluchzte Mrs. Raddle, »daß er seine Frau so behandeln läßt, und dazu noch von ein paar junge Menschen, wo die Leute lebendig zerschneiden und zermetzgern tun und bloß Schimpf und Schande für das Haus sind. So ein niederträchtiger, lumpiger, feiger Kerl! Traut sich nicht, raufzukommen und die unverschämten Burschen zu zeigen ... Traut sich nicht ... Traut sich nicht zu kommen!«

Einen Augenblick hielt Mrs. Raddle inne, um zu horchen, ob die Wiederholung dieser Aufforderung ihre stärkere Hälfte aufgestachelt habe; als sie aber sah, daß sie erfolglos blieb, ging sie unter zahllosem Schluchzen und Seufzen die Treppe hinab, wo man jetzt ein lautes wiederholtes Klopfen am Haustor vernahm. Dann brach sie in ein hysterisches Weinen und jammervolles Geächze und Gewimmer aus, warf in »Ja«, sagte das Mädchen. »Im ersten Stock; die erste Tür, wenn Sie die Treppe raufkommen.«

Dann verschwand das Mädchen, das unter den Ureinwohnern Southwarks aufgewachsen war, mit dem Licht in der Hand nach der Küche hin, vollkommen mit sich selbst zufrieden, da sie alles getan zu haben glaubte, was unter diesen Umständen von ihr verlangt werden konnte.

Mr. Snodgraß, der zuletzt eintrat, verschloß die Tür nach mehreren vergeblichen Versuchen durch Vorziehen der Kette und stolperte mit Mr. Pickwick die Treppe hinauf, wo sie von Mr. Bob Sawyer empfangen wurden, der sich aus Angst, Mrs. Raddle möchte ihm den Weg verlegen, nicht heruntergewagt hatte.

»Wie geht es Ihnen?« fragte der Student ein wenig verstört. »Sehr erfreut, Sie zu sehen – Achtung, Gläser!«

Die Warnung galt Mr. Pickwick, der seinen Hut auf den Tisch gestellt hatte.

»Ah, Pardon«, entschuldigte sich Mr. Pickwick.

»Hat nichts zu sagen«, erwiderte Bob Sawyer. »Ich bin im Räume etwas beschränkt; aber man muß überall Nachsicht haben, wenn man zu einem Junggesellen kommt. Bitte, treten Sie ein. Diesen Herrn da kennen Sie wohl schon?«

Mr. Pickwick drückte Mr. Benjamin Allen die Hand und seine Freunde folgten seinem Beispiel. Sie hatten sich kaum gesetzt, als man abermals ein Doppelklopfen vernahm.

»Das wird hoffentlich Jack Hopkins sein«, sagte Bob Sawyer. »Ja, er ist’s. Nur herauf, Jack, herauf!«

Man hörte schwere Fußtritte auf der Treppe, und Jack Hopkins trat ein. Er trug eine schwarze Samtweste mit Donner-und-Blitz-Knöpfen und ein blaugestreiftes Hemd mit einem falschen weißen Kragen.

»Warum so spät, Jack?« fragte Benjamin Allen.

»Wurde im Spital aufgehalten«, erwiderte Hopkins.

»Was gibt’s Neues?«

»Nichts von Belang; aber es war ein ganz eigentümlicher Fall.«

»Darf man Näheres wissen, Sir?« fragte Mr. Pickwick.

»Es ist ein Mann vom vierten Stockwerk aus dem Fenster gestürzt; aber es ist ein schöner Fall, wirklich ein sehr schöner Fall.«

»Meinen Sie damit, daß der Kranke Hoffnung habe, wieder aufzukommen?«

»Nein«, entgegnete Hopkins gleichgültig, »im Gegenteil, ich bezweifle es sehr. Aber morgen muß eine glänzende Operation stattfinden, ein famoser Anblick, wenn Slasher sie vornimmt.«

»Sie halten also Mr. Slasher für einen geschickten Operateur?« fragte Mr. Pickwick.

»Es lebt kein besserer auf Erden. In der letzten Woche hat er einem Knaben das Bein abgenommen, der dabei fünf Äpfel und einen Pfefferkuchen aß. Und zwei Minuten, nachdem alles vorüber war, sagte der Junge, er liege nicht da, um sich zum Narren halten zu lassen, und wenn sie nicht bald anfingen, so werde er es seiner Mutter sagen.«

»Wirklich?« staunte Mr. Pickwick.

»Oh, das ist noch gar nichts«, versetzte Jack Hopkins. »Was, Bob?«

»Ganz und gar nichts«, bekräftigte Mr. Bob Sawyer.

»Beiläufig gesagt«, fuhr Hopkins mit einem kaum bemerkbaren Seitenblick auf Mr. Pickwicks aufmerksames Gesicht fort, »gestern abend wurde ein Kind gebracht, das eine Halskette verschluckt hatte.«

»Was verschluckt, Sir?« unterbrach Mr. Pickwick.

»Eine Halskette. Es versteht sich: nicht auf einmal, denn das wäre zuviel gewesen – Sie selbst könnten keine verschlucken, viel weniger ein Kind. – Habe ich nicht recht, Mr. Pickwick? Haha!« – Mr. Hopkins schien an seinem Witz großen Gefallen zu finden und fuhr fort:

»Die Sache war so. Die Eltern des Kindes sind arme Leute und wohnen auf einem Hof. Das älteste Mädchen kaufte sich eine Halskette – eine gewöhnliche Halskette mit großen schwarzen Holzperlen. Das Kind hat seine Freude daran, versteckt die Halskette, spielt damit, zerreißt die Schnur und verschluckt eine Perle. Das machte ihm einen Hauptspaß; es macht sich am folgenden Tage wieder daran und verschluckt eine zweite Perle.«

»Meiner Seel«, rief Mr. Pickwick, »das ist ja etwas Erschreckliches. Doch entschuldigen Sie meine Unterbrechung, Sir, und erzählen Sie uns weiter.«

»Am Tage darauf verschluckte das Kind zwei Perlen, am vierten drei und so fort, bis es in einer Woche das ganze Halsband, bestehend aus fünfundzwanzig Perlen, im Leibe hatte. Die Schwester, ein fleißiges Mädchen, die sich nur selten ein bißchen Putz anschaffte, weinte sich fast die Augen aus über den Verlust der Kette und durchsuchte das Haus von oben bis unten; aber ich brauche wohl nicht zusagen, daß sie sie nicht fand. Einige Tage darauf sitzt die Familie beim Mittagessen um eine gebackne Hammelkeule mit Kartoffeln herum, und das Kind spielt im Zimmer. Auf einmal hört man einen verteufelten Lärm, wie einen kleinen Hagelsturm. ,Lärm doch nicht so, Junge’, sagte der Vater. ,Ich tue ja nichts’, antwortete das Kind. ,Nun gut, bleib nur ruhig’, ermahnte der Vater. – Einige Zeit war alles still, aber auf einmal begann der Lärm aufs neue, ärger als zuvor. ,Wenn du nicht folgst, Junge’, sagte der Vater, ,mußt du augenblicklich ins Bett.’ Dabei schüttelte er das Kind, und nun erfolgte ein Gerassel, wie noch nie jemand eins gehört hatte. ,Gott straf mich’, sagte der Vater, ,mit dem Jungen, ist etwas los; es muß ihm das Kreuz locker geworden sein.’ – ,Ach nein, Vater’, schluchzte das Kind und fing an zu weinen, ,ich hab doch die Kette verschluckt.’ Natürlich nahm der Vater schnell das Kleine und rannte damit ins Spital; die Perlen in seinem Magen rasselten bei der schnellen Bewegung dermaßen, daß die Leute bald in die Luft hinauf-, bald in die Keller hinabsahen, um diesem ungewöhnlichen Geräusch auf die Spur zu kommen. – Das Kind ist noch im Spital«, fügte Jack Hopkins hinzu, »und macht beim Gehen einen so teufelsmäßigen Lärm, daß man es in einen großen Mantel wickeln mußte, damit die übrigen Patienten nicht aus dem Schlaf geweckt würden.«

»Das ist wahrhaftig der außerordentlichste Fall, von dem ich ja gehört habe«, rief Mr. Pickwick mit einem Schlag auf den Tisch.

»Ach Gott«, erwiderte Jack Hopkins, »das will weiter noch nicht viel heißen, was, Bob?«

»Allerdings nicht«, bekräftigte Mr. Bob Sawyer. »Bei unserm Geschäft kommen höchst seltsame Dinge vor, das kann ich Ihnen versichern.« »Das glaube ich recht gern«, erwiderte Mr. Pickwick.

Ein neues Klopfen an die Tür verkündete das Kommen eines dickköpfigen jungen Mannes mit einem schwarzen Haarwust in Begleitung eines hagern, mit Skorbut behafteten Jünglings. Der nächste Gast war ein Herr, der ein mit kleinen goldnen Ankern geschmücktes Hemd trug, und unmittelbar auf diesen folgte ein blasser Jüngling mit einer plattierten Uhrkette. Die Ankunft eines geckenhaften Burschen mit auffallend saubrer Wäsche und Tuchstiefeln machte die Gesellschaft vollzählig. Der kleine grüne Spieltisch wurde auseinandergezogen, die erste Punschauflage in einem gewaltigen Humpen herbeigebracht und die ersten drei Stunden dem edlen »Siebzehn und vier«, das Dutzend Marken zu sechs Pence, gewidmet – nur ein einziges Mal unterbrochen durch einen kleinen Streit zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern, wobei der skorbutische Jüngling das glühende Verlangen ausdrückte, dem Herrn mit den Sinnbildern der Hoffnung die Nase einzuschlagen, dieser aber mit großer Entschiedenheit 2u verstehen gab, er lasse sich unter keinen Umständen etwas gefallen, weder von dem zornigen jungen Herrlein mit dem skorbutischen Gesicht noch von sonst irgendeinem Menschen, der einen Kopf auf den Schultern habe.

Als die letzte Runde gemacht und Gewinn und Verlust zur allgemeinen Zufriedenheit festgestellt waren, klingelte Mr. Bob Sawyer nach dem Abendessen, und seine Gäste drückten sich in die verschiedenen Stubenecken, bis es aufgetragen sein würde.

Dies ging indes nicht so schnell, wie man hätte glauben sollen. Vor allem mußte man das Dienstmädchen wecken, das, mit dem Kopf auf dem Küchentisch liegend, eingeschlafen war. Dadurch ging schon einige Zeit verloren, und selbst als sie endlich auf das wiederholte Klingeln erschien, wurde noch eine Viertelstunde mit fruchtlosen Bemühungen zugebracht, ihr einen schwachen Begriff von ihrer Pflicht beizubringen. Dem Mann, bei dem man die Austern bestellt, hatte man nicht gesagt, daß er sie auch öffnen solle; und da es sehr schwer ist, eine Auster mit einem schwachen Messer oder einer zweizinkigen Gabel zu öffnen, so ging die Sache hart und langsam. Das Ochsenfleisch war auch nicht zum besten ausgefallen, und die Hammelkeule, aus dem deutschen Wurstladen an der Ecke geholt, verdiente gleichfalls kein sonderliches Lob. Dagegen war in einer zinnernen Kanne eine Menge Porter vorhanden, und der Käse fand großen Beifall, da er sehr pikant war. So war denn das Essen im großen und ganzen vielleicht gerade so gut, wie es in solchen Fällen überhaupt zu sein pflegt.

Nach Tisch wurde abermals Punsch nebst mehreren andern Flaschen mit geistigen Getränken und ein Teller mit Zigarren hereingebracht. Der Anblick der Gläser erhob Bob Sawyer wieder auf einen Grad von Zuversicht, den er seit seiner Unterhaltung mit der Hausfrau nicht besessen hatte. Sein Gesicht heiterte sich auf, und es wurde ihm wieder ganz wirtshäuslich zumute.

»Jetzt, Betsy«, sagte er sehr freundlich und verteilte den’ ungeordneten Haufen Gläser, den das Mädchen mitten auf dem Tisch abgeladen hatte, »jetzt, Betsy, bring das warme Wasser und tummle dich ein wenig, liebes Kind.«

»Sie können kein warmes Wasser haben«, erklärte Betsy.

»Kein warmes Wasser?« rief Mr. Bob Sawyer.

»Nein«, sagte das Mädchen mit einem Kopfschütteln, das den höchsten Grad der Verneinung ausdrückte, »Mrs. Raddle hat gesagt, Sie dürfen keins nich kriegen.«

Das Erstaunen, das sich auf den Gesichtern seiner Gäste abzeichnete, flößte Bob Sawyer Mut ein.

»Bring sofort das warme Wasser! – Sofort!« befahl er mit verzweifelter Strenge.

»Nein. Kann ich nicht«, erwiderte das Mädchen. »Mrs. Raddle hat das Feuer in der Küche ausgelöscht, bevor sie ins Bett ging, und den Kessel eingeschlossen.«

»Tut nichts, tut nichts. Beunruhigen Sie sich doch nicht wegen einer solchen Kleinigkeit«, tröstete Mr. Pickwick, der den Konflikt der auf Bob Sawyers Angesicht sich spiegelnden Leidenschaften wohl bemerkte, »kaltes Wasser ist auch sehr gut.«

»Gewiß ja«, fügte Mr. Benjamin Allen hinzu.

»Meine Hausfrau hat zuweilen Anfälle von Geistesabwesenheit«, entschuldigte sich Bob Sawyer mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich fürchte, ich muß ihr die Wohnung aufkündigen.«

»Tu das lieber nicht«, riet Ben Allen.

»Ich werde wohl müssen«, erwiderte Bob mit heroischer Festigkeit. »Ich will ihr morgen meine Rechnung bezahlen und auf übermorgen aufkündigen.«

Der arme Bursche. Wie sehnlich wünschte er, es nur wirklich auch ausführen zu können.

Mr. Bob Sawyers herzzerbrechende Bemühungen, sich von diesem Schlage zu erholen, übten einen entmutigenden Einfluß auf die Gesellschaft, und der größere Teil suchte seine Heiterkeit dadurch wiederzugewinnen, daß er dem kalten Branntwein mit Wasser so fleißig wie möglich zusprach. Die ersten sichtbaren Wirkungen davon zeigten sich in einer Erneuerung der Feindseligkeiten zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern. Die beiden kriegführenden Parteien machten ihren Gefühlen gegenseitiger Verachtung eine Zeitlang durch provozierendes Stirnrunzeln und höhnisches Naserümpfen Luft, bis zuletzt der skorbutische Jüngling es für nötig fand, sich deutlicher zu erklären, worauf denn folgende unzweideutige Auseinandersetzung stattfand.

»Sawyer!« rief der skorbutische Jüngling mit lauter Stimme.

»Was gibt’s, Noddy?« fragte Bob Sawyer.

»Es tut mir sehr leid, Sawyer, am Tisch eines Freundes, und besonders an dem deinigen, Sawyer, eine Störung zu veranlassen, allein ich muß diese Gelegenheit ergreifen, um Mr. Gunter zu sagen, daß er kein Gentleman ist.«

»Und mir«, fiel Mr. Gunter ein, »mir würde es sehr leid tun, Sawyer, in deiner Straße eine Störung zu verursachen; allein ich fürchte, ich werde mich in die Notwendigkeit versetzt sehen, die Nachbarschaft zu beunruhigen, indem ich den Menschen, der soeben gesprochen hat, zum Fenster hinauswerfe.«

»Was meinen Sie damit, Sir?« fragte Mr. Noddy.

»Nichts andres, als was ich gesagt habe.«

»Dann möchte ich doch sehen, wie Sie es anstellen, Sir«, höhnte Mr. Noddy.

»Sie werden es in einer halben Minute fühlen, Sir!«

»Ich bitte um Ihre Karte«, sagte Mr. Noddy.

»Gebe ich Ihnen nicht, mein Herr.«

»Warum nicht, Sir?«

»Weil Sie sie an Ihren Spiegel stecken und dadurch Leute, die Sie besuchen, auf den falschen Glauben bringen würden, es sei ein Gentleman bei Ihnen gewesen, Sir.«

»Sir, ich werde morgen früh einen meiner Freunde zu Ihnen schicken«, sagte Mr. Noddy.

»Ich bin Ihnen für diese Mitteilung sehr verbunden, Sir. Ich werde meinem Dienstmädchen jedenfalls einschärfen, die Löffel einzuschließen«, erwiderte Mr. Gunter.

Jetzt legten sich die übrigen Gäste ins Mittel und machten beide Teile auf die Unziemlichkeit ihres Benehmens aufmerksam, worauf schließlich Mr. Noddy um Erlaubnis bat, versichern zu dürfen, daß sein Vater ein ebenso ehrenwerter Mann gewesen sei wie Mr. Gunters Vater, und Mr. Gunter erwiderte, sein Vater sei in jeder Beziehung so respektabel gewesen wie Mr. Noddys Vater, und seines Vaters Sohn sei alle sieben Tage in der Woche ein ebenso rechtschaffener Mensch wie Mr. Noddy. Da diese Äußerungen als Vorspiel zur Erneuerung der Feindseligkeiten betrachtet wurden, mischte sich die Gesellschaft zum zweiten Male ein, und nun entstand ein heftiges Hinundherreden und Gelärme, in dessen Verlauf Mr. Noddy sich allmählich von seinen Gefühlen überwältigen ließ und laut bekannte, er habe von jeher aufrichtige Neigung für Mr. Gunter gehegt. Mr. Gunter erwiderte, Mr. Noddy sei ihm lieber als der eigne Bruder, und als Mr. Noddy dies Geständnis vernahm, stand er großmütig von seinem Sitz auf und bot seinem Widersacher die Hand. Mr. Gunter ergriff sie mit liebevoller Wärme, und alle waren einstimmig der Meinung, der Streit sei auf eine Art geführt worden, die beiden Teilen zu hoher Ehre gereiche.

»Um aber jetzt wieder recht ins Geleise zu kommen, Bob«, schlug Jack Hopkins vor, »so dächte ich, wir singen ein Liedchen.« Und unter stürmischem Applaus stimmte er das »Gott erhalte unsern König« an, so laut er konnte zwar, aber nach einer ganz neuen und nicht recht darauf passenden Melodie. Der Chor war geradezu hervorragend, und da jeder der Herren nach der ihm geläufigsten Melodie sang, war die Wirkung hinreißend.

Nach der ersten Strophe erhob Mr. Pickwick lauschend die Hand und sagte: »Ich bitte um Entschuldigung, aber ich glaube, es hat unten jemand gerufen.«

Sofort trat allgemeine Stille ein, und Mr. Bob Sawyer erbleichte sichtlich.

»Ich glaube, ich höre es wieder. Haben Sie doch die Güte, die Tür zu öffnen.«

»Mr. Sawyer! Mr. Sawyer!« kreischte jetzt deutlich eine Stimme von unten herauf.

»Es ist meine Hausfrau«, erklärte Bob Sawyer, in großer Verlegenheit um sich blickend. »Ja, Mrs. Raddle?«

»Was soll das heißen, Mr. Sawyer?!« zeterte die gellende Stimme. »Ist es nicht genug, daß man um seinen Hauszins und um die baren Auslagen geprellt und von Ihren Freunden, wo doch Männer von Bildung sein wollen, beschimpft und mißbraucht wird? Mir scheint, Sie wollen auch noch das Haus einreißen und machen um zwei Uhr früh ein’ Spektakel, daß man mit der Feuerspritze angefahren kommen möchte. – Augenblicklich schicken Sie mir die sauberen Brüder weg!«

»Sie sollten sich vor Ihnen selbst schämen«, erschallte jetzt aus weiter Ferne auch die Stimme Mr. Raddles – wie es schien, unter einer Bettdecke hervor.

»Nein, du sollst dich was schämen«, schrie Mrs. Raddle, »was gehst du nicht rauf und schmeißt sie alle mitsamt die Treppe runter? Wenn du ‘n Kerl wärest, würdest du es machen.«

»Ja, wenn ich noch ein Dutzend bei mir hätte, mein Schatz«, erwiderte Mr. Raddle friedfertig, »aber so sind sie mir zahlenmäßig überlegen.«

»Pfui, du Memme«, hörte man Mrs. Raddle mit abgründiger Verachtung sagen. »Wollen Sie das Pack jetzt wegjagen oder nicht, Mr. Sawyer?«

»Die Herren gehen ja schon, Mrs. Raddle«, besänftigte der erbarmungswürdige Bob und wandte sich an seine Freunde: »Ich dächte, es wäre am besten, Sie gingen jetzt. Ich dachte mir gleich, daß Sie zuviel Lärm gemacht haben.«

»Trauriger Fall«, sagte der Geck. »Es wurde doch grade so ‘n bißchen gemütlich. Man sollte sich das nicht gefallen lassen. Es ist eigentlich allerhand.«

»Ja, allerhand«, stimmte Jack Hopkins ein, »wir wollen wenigstens noch eine Strophe singen, Bob. Los, feste!«

»Nein, nein, Jack«, fiel Bob Sawyer ängstlich ein. »Das Lied ist zwar wundervoll, aber ich fürchte, es wäre wirklich besser, wenn wir den nächsten Vers nicht singen würden. Die Leute im Hause sind schrecklich grob.«

»Soll ich vielleicht mal die Treppe runtergehen und den Hauswirt in die Mache nehmen?« erkundigte sich Hopkins, »oder «n bißchen Klingelkonzert machen oder auch ‘n bißchen Skandal auf der Treppe? Du brauchst nur zu befehlen, Bob.«

»Ich bin dir von Herzen verbunden für deine Freundschaft und Gutmütigkeit, Hopkins«, sagte der arme Mr. Bob Sawyer, »aber ich denke, wir vermeiden allen weiteren Krach am besten, wenn wir sofort Schluß machen.«

»Na, Mr. Sawyer!« keifte Mrs. Raddles gellende Stimme wieder, »wann geht denn die Bande endlich?«

»Sie suchen doch bloß noch ihre Hüte, Mrs. Raddle«, besänftigte Bob, »sie gehen ja schon.«

»Gehen schon?« sagte Mrs. Raddle und erschien im Schmuck einer Nachtmütze, als Mr. Pickwick, gefolgt von Mr. Tupman, eben das Zimmer verließ. »Gehen schon? Was haben die überhaupt hier zu tun gehabt?«

»Meine teure Madam«, begütigte Mr. Pickwick und blickte auf.

»Machen Sie, daß Sie rauskommen, Sie alter Saufbruder« erwiderte Mrs. Raddle und zupfte ihre Nachthaube schnell wieder herunter. »Sie sind ja alt genug, um der Großvater V0n der Bande zu sein, Sie sind der Schlimmste von allen.«

Mr. Pickwick hielt es für vergebliche Mühe, seine Unschuld zu beteuern, und rannte die Treppe hinab auf die Straße, wohin ihm die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß auf dem Fuße nachfolgten. Mr. Ben Allen, den das Trinkgelage und die verschiedenen Auftritte gewaltig angegriffen hatten, begleitete sie bis zur Londoner Brücke und vertraute unterwegs Mr. Winkle als einem Mann von anerkannter Verschwiegenheit an, daß er entschlossen sei, außer Bob Sawyer jeden, der es wagen würde, sich um die Neigung seiner Schwester Arabella zu bewerben, die Kehle durchzuschneiden. Nachdem er seine Entschlossenheit, diese peinliche Bruderpflicht zu erfüllen, noch auf angemessene Weise bekräftigt hatte, brach er in Tränen aus, stülpte sich den Hut bis über die Augen herab, klopfte zu wiederholten Malen an verschiedenen Haustoren von Borough Market an und schlummerte abwechselnd hie und da auf den Treppen bis Tagesanbruch, in der festen Meinung, er wohne hier und habe nur seine Schlüssel vergessen.

Als sich so die Gäste auf die dringende Aufforderung Mrs. Raddles alle entfernt hatten, blieb der unglückliche Bob Sawyer allein zurück und dachte noch lange nach über die wahrscheinlichen Ereignisse des morgigen Tages sowie über die Vergnügungen des Abends.

 

KAPITEL 2

Mr. Weller senior macht einige kritische Bemerkungen über Briefstellerei und Poesie und übt mit Hilfe seines Sohnes Samuel eine kleine Wiedervergeltung an dem hochwürdigen Herrn mit der roten Nase.

Am Morgen des dreizehnten Februar, der dem Tag, an dem der Prozeß Mrs. Bardells verhandelt werden sollte, vorausging, hatte Mr. Samuel Weller alle Hände voll zu tun, denn er mußte unaufhörlich von morgens neun Uhr bis mit tags um zwei von dem »Georg und Geier« nach der Wohnung Mr. Perkers und wieder zurück gehen und kleine Briefe abgeben, in denen Mr. Pickwick, außer sich vor Unruhe seinem Anwalt unaufhörlich die Frage schrieb: »Lieber Perker, steht alles gut?« Prompt antwortete Mr. Perker jedesmal: »Lieber Pickwick, den Umständen angemessen«, denn es ließ sich nicht gut etwas anderes berichten, ehe nicht die Sitzung des Gerichtshofes am folgenden Morgen vorüber war.

Sam hatte sich mittags mit einem sehr angenehmen kleinen Mahl erquickt und wartete in der Schenkstube auf das warme Getränk, mit dem er sich Mr. Pickwicks Weisung gemäß nach den Mühseligkeiten seiner Morgenwanderung stärken sollte, als ein junger Bursche von etwa drei Fuß Höhe, dessen Fellmütze und Barchent-Überhosen, ebenso wie seine ganze übrige Kleidung den lobenswerten Ehrgeiz verrieten, sich mit der Zeit zur Würde eines Stallknechts aufzuschwingen, in dem Hausflur des »Georg und Geier« nach ihm verlangte.

»Was, ‘n alter Herr hat nach mir gefragt?« knurrte Sam mit tiefer Verachtung.

»Der Herr, wo die Postkutsche nach Ipswich fährt und bei uns absteigt«, erwiderte der Junge. »Er sagte gestern morgen zu mir, ich soll heute mittag in den ,Georg und Geier’ gehen und nach Sam fragen.«

»Das is mein Vater, Schätzchen«, erklärte Mr. Weller mit einem erläuternden Blick der jungen Dame in der Schenkstube, »ich glaube wahrhaftig, er weiß meinen Familiennamen nich mehr. Na, und was will er denn von mir, du junger Frechdachs?«

»Na«, erwiderte der Junge, »Sie sollen heute abend um sechs in unser Haus kommen; er will Sie da treffen – ,Blauer Eber’ auf dem Leadenhall Market. Soll ich ihm sagen, daß Sie kommen?«

»Ja, Sie können das melden, Sir«, erwiderte Sam, und der junge Gentleman entfernte sich, indem er sämtliche Echos in George Yard durch verschiedene diskrete und äußerst korrekte Nachahmungen von Kutscherliedern aufweckte, die er mit klangvollem Tone pfiff.

Nachdem Sam Weller Urlaub von Mr. Pickwick erhalten hatte, der in seinem Zustand von Aufregung und Angst gerne allein blieb, machte er sich lange vor der bestimmten Stunde auf den Weg, und da er noch über hinreichend Zeit zu verfügen hatte, schlenderte er nach Mansion House, wo er haltmachte und mit der Ruhe eines Philosophen die zahllosen Kutschen betrachtete, die sich zum großen Schrecken und zur Beunruhigung der vielen alten Damen dieses Viertels an diesem berühmten Sammelplatz einzustellen pflegten. Allda verweilte er etwa ein halbes Stündchen, kehrte dann um und begann durch eine Reihe von Nebenstraßen den Weg nach dem Leadenhall Market einzuschlagen. Da er seine überflüssige Zeit darauf verwandte, bei allen Gegenständen, die sich seinen Blicken darboten, stehenzubleiben und sie zu betrachten, so darf es nicht wundernehmen, daß er auch vor dem Fenster eines kleinen Buch- und Bilderhändlers haltmachte. Auffallend jedoch war, daß er beim Anblick der diversen zum Verkauf ausgesetzten Bilder plötzlich zusammenfuhr, mit dem rechten Fuß heftig auf den Boden stampfte und lebhaft ausrief: »Wahrhaftig, jetzt hätte ich beinahe die ganze Geschichte vergessen. Und denn nachher wäre es zu spät gewesen.«

Das Bild, an dem Sam Wellers Augen hingen, war ein mit starken Farben aufgetragenes Gemälde zweier durch einen Pfeil verbundener Menschenherzen, die auf einem lustigen Feuer gebraten wurden, während ein Kannibale und eine Kannibalin, beide modern gekleidet, der Herr in einem blauen Frack und weißen Beinkleidern, die Dame in einem dunkelroten Schal mit ditofarbigem Sonnenschirm, sich auf einem mit Kies bestreuten Schlangenpfad mit hungrigen Augen dem Mahl näherten. Ein entschieden unanständig mit ein paar Flügeln und sonst weiter nichts bekleideter junger Herr besorgte das Kochen. In einiger Entfernung erblickte man den Kirchturm von Langham Place, und das Ganze stellte einen Liebesbriefsteller vor, wovon, laut der geschriebenen Ankündigung im Fenster, hier ein großes Lager vorrätig war, das der Buchhändler an seine Landsleute stückweise zu dem herabgesetzten Preis von einem Schilling und sechs Pence zu verkaufen sich anheischig machte.

»Ich hätte es vergessen, wahrhaftig, ich hätte es vergessen« murmelte Sam, ging sogleich in den Laden und verlangte einen Bogen feines Briefpapier mit goldenem Rand nebst einer hartgeschnittenen Feder, die aber nicht spritzen dürfe, und ging, nachdem er diese Artikel schnell erhalten, beschwingten Schrittes nach dem Leadenhall Market. Hier sah er sich um und erblickte ein Schild, auf dem die Kunst des Malers etwas dargestellt hatte, was eine entfernte Ähnlichkeit mit einem himmelblauen Elefanten darbot, der statt des Rüssels eine Adlernase besaß. Da er daraus mit Recht schloß, dies sei der »Blaue Eber«, trat er in das Haus und fragte nach seinem Vater.

»Er wird erst in drei viertel Stunden oder noch später kommen«, sagte die junge Dame, die den häuslichen Geschäften des »Blauen Ebers« vorstand.

»Sehr wohl, mein Schätzchen«, erwiderte Sam. »Haben Sie inzwischen die Güte, mir für neun Pence Brandy mit Wasser und zugleich das Schreibzeug zu geben.«

Das Verlangte wurde sogleich in das kleine Gastzimmer gebracht, und nachdem die junge Dame die Kohlen sorgfältig zusammengedrückt hatte, damit sie nicht zu hell lodern sollten, nahm sie das Schüreisen mit, um der Möglichkeit vorzubeugen, daß ohne vorher eingeholte Mitwisserschaft und Erlaubnis des »Blauen Ebers« das Feuer wieder mehr angefacht würde. Sam Weller setzte sich an einen Tisch nahe am Kamin, zog sein goldgerändertes Briefpapier nebst der hartgeschnittenen Feder aus der Tasche, betrachtete sie sorgfältig, ob sie nicht vielleicht ein Haar in der Spalte habe, blies den Tisch ab, um keine Brotkrumen unter das Papier zu bekommen, schlug seine Rockärmel zurück, legte seine Ellenbogen auf und schickte sich an zu schreiben.

Für die Damen und Herren, die sich in der Wissenschaft der Federführung keine praktischen Kenntnisse erworben haben, ist das Briefschreiben keineswegs eine leichte Aufgabe. Sie halten es in solchen Fällen für unumgänglich notwendig, den Kopf auf den linken Ami niederzubeugen, so daß die Augen möglichst in gleicher Höhe mit dem Papier liegen, und, während Seitenblicke auf die eben entstehenden Buchstaben fallen, die Zunge die entsprechenden Laute nachsprechen zu lassen. So zweckmäßig und förderlich diese Maßnahmen auch unbestreitbar für originelle Kompositionen sein mögen, so verzögern sie doch die Geschwindigkeit beim Schreiben einigermaßen, und Sam hatte, ohne es zu merken, schon volle anderthalb Stunden geschrieben, wobei er häufig mißratene Buchstaben mit seinem kleinen Finger auslöschte und neue an ihre Stelle setzte, wobei oft große Nachhilfe nötig war, um sie durch die alten Flecken hindurch sichtbar zu machen, als er auf einmal durch das Aufgehen der Tür und den Eintritt seines Vaters unterbrochen wurde.

»Na, Sammy!« rief Mr. Weller senior.

»Na, alte biedere Haut!« antwortete der Sohn und legte die Feder weg. »Wie is es mit der Stiefmutter? Wie lautet die neueste Bekanntmachung?« »Mrs. Weller verbrachte ‘ne recht gute Nacht; aber sie is heute morgen vollkommen verdreht und launisch; unterzeichnet: S- Weller, Hochwohlgeboren senior. Das is die letzte Nachricht, wo ausgegeben wurde, Sammy«, antwortete Mr. Weller und knotete sein Halstuch auf.

»Also noch nich besser?« forschte Sam.

»Ach was, alle Anzeichen haben sich verschlimmert«, entgegnete Mr. Weller kopfschüttelnd. »Aber was treibst du da? Womöglich wissenschaftliche Beschäftigung unter erschwerende Umstände, Sammy?«

»Ich bin schon fertig«, sagte Sam etwas verlegen, »hab da bloß was geschrieben.«

»Das sehe ich«, erwiderte Mr. Weller, »aber doch nich etwa an ‘n junges Frauenzimmer, Sammy, will ich doch hoffen?«

»Warum soll ich es nich sagen?« versetzte Sam. »Es is ‘n Liebesbrief.«

»Was is es?« rief Mr. Weller, offensichtlich starr vor Entsetzen über dieses Wort.

»‘n Liebesbrief«, wiederholte Sam.

»Samuel, Samuel!« sagte Mr. Weller in vorwurfsvollem Ton, »das hätte ich nicht von dir erwartet. Wo dir doch die lästerliche Neigung deines Vaters hätte warnen müssen, wo ich dir so viel über diese Sache gesagt habe, wo du sogar selber deine Stiefmutter gesehen hast und mit ihr zusammen gewesen bist, da würde ich doch annehmen, das mußte dir eine moralische Lehre sein, wo niemand vergessen kann. Bis zu seinem letzten Tage nich! Das hätte ich nicht erwartet Sammy, das hätte ich nicht erwartet, daß du so was machen würdest!« Der gute alte Mann wurde von seinen eigenen Betrachtungen überwältigt; er führte Sams Krug an seine Lippen und trank ihn aus.

»Na, was is denn dabei?« sagte Sam.

»Jedenfalls, Sammy«, erwiderte Mr. Weller, »wird es mir auf meine alten Tage ein schwerer Kummer sein. Aber ich bin ja zum Glück schon ziemlich zähe geworden, und das ist mein Trost, wie der alte Puter sagte, als der Pächter meinte, er wollte ihn für den Markt schlachten.«

»Was wird dir Kummer machen?« erkundigte sich Sam.

»Wenn ich dir verheiratet sehen werde, Sammy, wenn ich dir als betörtes Schlachtopfer erblicken muß«, erwiderte Mr. Weller, »wo obendrein noch in seiner unschuldigen Dummheit glaubt, daß es glücklich wird. Ach, Sammy, das is ‘n schrecklicher Kummer für ’n Vaterherz.« »Unsinn!« sagte Sam. »Ich will mir doch gar nich verheiraten. Mach dir keine Sorgen deswegen; ich weiß doch, daß du in solchen Sachen orntlich beschlagen bist. Steck dir ‘ne Feife ins Gesicht, und ich will dir den Brief vorlesen.«

Ob es nun die Aussicht auf die Pfeife oder der tröstliche Gedanke war, daß ein Heiratstrieb unwiderstehlich im Blut der Familie stecke, was Mr. Wellers Unruhe beschwichtigte und seinen Kummer verscheuchte, jedenfalls klingelte er, um sich Tabak bringen zu lassen, zog seinen Überrock aus, nahm die Pfeife, stellte sich mit dem Rücken gegen den Kamin, so daß er dessen volle Hitze empfing und sich zugleich an das Kaminsims anlehnen konnte, wandte sich zu Sam und bat ihn mit einer durch den besänftigenden Eindruck des Tabaks um ein Erkleckliches aufgeheiterten Miene um Feuer.

Sam tauchte seine Feder ein, um sich zu allen nötigen Verbesserungen bereit zu halten, und begann mit theatralischem Pathos: » ,Liebliches ...’«

»Halt!« unterbrach Mr. Weller und klingelte wieder, »‘n Doppelglas von dem Bewußten, liebes Kind!«

»Ganz recht, Sir«, erwiderte das Mädchen, das mit großer Schnelligkeit erschien, verschwand, wieder erschien und wieder verschwand.

»Sie scheinen deinen Geschmack hier schon zu kennen«, bemerkte Sam. »Also: ,Liebliches Wesen ...’«

»Stürzt du dir etwa in Verse?« unterbrach der Vater.

»Nein, nein!« versicherte Sam.

»Das freut mich zu hören. Verse sind was ganz Unnatürliches, kein Mensch redet in Verse, außer den Büttel an Boxtage oder die, wo Warrens Schuhwichse oder Makassaröl ausschreien und anderes Lumpengesindel von der Sorte. Du darfst also nie im Leben so weit runterkommen, mein Sohn, daß du in Verse sprichst.« – Mr. Weller führte mit kritischer Feierlichkeit seine Pfeife wieder an den Mund, und Sam begann abermals: » ,Liebliches Wesen, ich fühle mir ganz beschmiert...’«

»Is kein schicklicher Ausdruck«, verwies Mr. Weller und nahm die Pfeife aus dem Mund.

»Ach nein, heißt auch nicht ,beschmiert’«, wandte Sam ein und hielt den Brief ans Licht, »es heißt ,beschämt’, es is ‘n Tintenklecks da – ,ich fühle mir beschämt!’ «

»Na gut«, brummte Mr. Weller, »weiter!«

» ,Fühle mir beschämt und gänzlich ver...’ Da weiß ich schon wieder nich, wie das Wort heißt«, murmelte Sam und kratzte sich in vergeblichen Bemühungen, die Buchstaben zu entziffern, mit der Feder am Kopf.

»Warum liest du nich?« forschte Mr. Weller.

»Ich lese doch«, antwortete Sam, »aber da is schon wieder so ‘n Tintenklecks; ich erkenne bloß ’n v und ‘n e.«

»Verloren vielleicht?« riet Mr. Weller.

»Nö, is es nich. Verzaubert. Das is es!«

»Is aber kein so gutes Wort wie ,verloren’, Sammy«, wendete Mr. Weller ernsthaft ein.

»Meinst du nich?«

»Mag vielleicht zärtlicher sein«, gab Mr. Weller nach einigem Nachdenken zu. »Lies weiter, Sammy!«

» ,Fühle mir beschämt und vollständig verzaubert, indem daß ich an Ihnen schreibe, denn Sie sind so ein hübsches Mädchen, wie keine andere nicht.’ «

»Sehr hübsch gesagt«, meinte Mr. Weller senior und nahm die Pfeife aus dem Mund, um seiner Bemerkung Platz zu machen.

»Ja, ich denke, es is nich übel«, gab Sam zu und fühlte sich höchlichst geschmeichelt.

»Was mir an diese Art Schreibweise besonders gefallen tut«, sagte Mr. Weller senior, »is, daß da keine solche fremden Namen drin vorkommen, keine Venüsse und so was; was kommt dabei raus, Sammy, daß man ein junges Weibsbild Venus oder Engel nennt?«

»Da hast du ganz recht«, erwiderte Sam.

»Ebensogut könntest du sie Vogel Greif oder Einhorn nennen, was doch bekanntlich auch bloß fabelhafte Tiere sind, was?«

»Ganz richtig. – Also: ,Bevor ich Ihnen zu Gesicht bekam, dachte ich, alle Frauenzimmer sind egal...’«

»Das sind sie aber auch«, warf Mr. Weller senior in Parenthese hin.

», ... aber jetzt merke ich erst, was für ein Hornochse ich gewesen bin, denn es gibt kein Frauenzimmer, wo Ihnen gleichen tut, und ich liebe Ihnen mehr, als wie alle andern zusammen.’ – Ich dachte, es haut am besten hin, wenn ich’s ‘n bißchen wuchtig mache«, erklärte Sam aufschauend.

Mr. Weller nickte beifällig.

»,Ich bediene mir also, Mary, mein Schatz, mit dem Prifilegium dieses Tages – wie der verschuldete Schenlmän, als er am Sonntag ausging – um Ihnen zu sagen, daß Ihr Bild sich das erste und einzige Mal, als ich Ihnen sah, schneller und in glänzendere Farben in mein Herzen eindrückte, als wie jemals ein Bild von der Silhouttiermaschine aufgefaßt wurde (Sie haben vielleicht auch schon von gehört, liebste Mary), obgleich dieselbe ein Portreh nebst Rahmen, Glas und Haken zum Aufhängen innerhalb von zweiundeineviertel Minute fix und fertig macht.’« »Ich habe Sorge, Sammy, das streift schon wieder ans Poetische«, meinte Mr. Weller unschlüssig.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Sam und las schnell weiter, um weitere Erörterungen über diesen Punkt zu vermeiden. »,Nehmen Sie mir als Ihren Fallentin an, schönste, und überlegen Sie, was ich gesagt habe. – Meine teuerste Mary, jetzt will ich schließen.’ – Das is alles«, setzte er hinzu.

»‘n bißchen plötzlich angehalten, Sammy«, meinte Mr. Weller.

»Ach wo«, erklärte Sam. »Sie wird eben wünschen, daß noch mehr kommt, und das is eben die große Kunst beim Briefschreiben.«

»Na gut. Auch nich ohne. Ich wünschte bloß, daß deine Stiefmutter sich in ihre Unterhaltungen nach dasselbe Prinzip richten würde. Aber willst du nich mit Namen unterzeichnen?«

»Das ist doch die Schwierigkeit«, meinte Sam, »ich weiß nich, wie ich unterzeichnen soll.«

»Unterzeichne doch .Weller’«, riet der älteste noch lebende Träger dieses Namens.

»Nicht doch«, sagte Sam, »als Fallentin darf man doch nicht mit dem eigenen Namen unterzeichnen.«

»Na, denn schreib ,Pickwick’. ‘s is ’n sehr hübscher Name und läßt sich auch leicht buchstabieren.«

»Da hast du recht«, sagte Sam. »Da könnte ich auch mit ‘nem Vers schließen. Was hältst du davon?«

»Will mir nich recht gefallen, Sam. Habe noch nie ‘n ehrenwerten Kutscher kennengelernt, wo in Verse schreiben tat, außer einen einzigen, und der wurde in der Nacht darauf wegen Straßenraubs gehängt, ’s war aber bloß einer aus Camberwell und muß also als Ausnahme angesehen werden.« Sam ließ sich jedoch von seiner poetischen Idee, die sich in seinem Kopf festgesetzt hatte, nicht mehr abbringen und schrieb unter den Brief:

»Von Liebe krank den Brief ich schick

Ihr guter Freund Pickwick.«

Sodann faltete er das Schreiben auf eine höchst verwickelte Art zusammen und verfertigte in einem schiefen Winkel die Adresse: »An Mary, Dienstmädchen bei Mayor Nupkins, Ipswich, Suffolk«, versiegelte es und steckte es in seine Tasche, um es selbst auf die Post zu tragen. Nachdem dieses ‘Wichtige Geschäft beendet war, brachte Mr. Weller senior die Angelegenheit, deretwegen er seinen Sohn hatte rufen lassen zur Sprache.

»Vor allem, Sammy«, sagte er, »wollen wir von deinem Herrn sprechen. Wird nich sein Prozeß morgen verhandelt werden?«

»Allerdings.«

»Na gut. Ich habe mir nun gedacht, er wird vielleicht ‘n paar Zeugen brauchen, damit daß er seinen guten Ruf nachweisen tut, oder vielleicht auch seinen Alibi. Die ganze Geschichte is mir lange im Kopf rumgegangen, aber jetzt kann er ohne Sorgen sein, Sammy. Ich habe ’n paar Freunde parat, die werden beides für ihn beschwören; ich habe bloß noch den Rat für ihn, daß er nich so sehr fest auf seinem guten Ruf bestehen soll, lieber soll er sich mit den Alibi begnügen. Ich versichere dir, Sammy, es geht nichts über einen Alibi.«

Mr. Weller blickte sehr gelehrt drein, als er dieses Rechtsgutachten abgab, begrub seine Nase in dem Humpen und blinzelte über den Rand hinüber seinem erstaunten Sohne zu.

»Was meinst du damit?« fragte Sam. »Glaubst du vielleicht, sein Prozeß wird in Old Bailey verhandelt?«

»Kommt hier weiter nich in Betracht, Sammy. Die Sache mag abgehandelt werden, wo sie will, ‘n Alibi muß seine Freisprechung bewirken. Wir haben Tom Wildpark, der auf Totschlag angeklagt war, mit ’nem Alibi losgekriegt, als alle die gelehrten Perücken, dachten, ihn kann nichts mehr retten. Wenn dein Herr keinen Alibi nich nachweisen kann, denn is er unten durch, wie die Italiener sagen.«

Da Mr. Weller der festen und unabänderlichen Überzeugung war, Old Bailey sei der oberste Gerichtshof des Landes und nach seinen Normen müßten sich alle übrigen richten, so achtete er sehr wenig auf die Versicherungen und Beweisgründe seines Sohnes, der ihm auseinandersetzen wollte, daß ein Alibi hier unzulässig sei, und behauptete mit großer Heftigkeit, in diesem Fall werde Mr. Pickwick »ein Schlachtopfer«. Als Sam sich endlich überzeugt hatte, daß ein weiteres Streiten über diesen Gegenstand doch zu nichts führen würde, brach er davon ab und fragte nach dem zweiten Punkt, über den sein verehrter Vater sich mit ihm zu beraten wünschte.

»Es betrifft die häuslichen Angelegenheiten, Sammy«, sagte Mr. Weller. »Dieser Stiggins da ...«

»Der Rotnasige?«

»Ja, derselbe. Dieser rotnasige Schlingel besucht deine Stiefmutter mit ‘ner Freundlichkeit und Beharrlichkeit, wo ihresgleichen sucht. Er is ’n solcher Freund unsrer Familie, Sammy, daß es ihm außerhalb unsres Hauses nirgends wohl ist, wofern er nich irgend ‘n Andenken an uns hat.« »An deiner Stelle«, meinte Sam, »würde ich ihm ’n Denkzettel auf ‘n Rücken schreiben, den er die nächsten zehn Jahre nich vergessen sollte.«

»Nur nichts übereilen«, wandte Mr. Weller ein, »ich wollte gerade sagen, er bringt jedesmal ‘ne Flasche mit, wo so ihre anderthalb Maß enthält, und ehe er geht, füllt er sie mit Ananasgrog.«

»Und wahrscheinlich leert er sie jedesmal, bevor er wiederkommt?«

»Bis auf den letzten Tropfen! Er läßt nich mehr übrig als den Korken und den Geruch. Und diese Halunken wollen heute nacht an der Monatsversammlung von der Bricklane-Abteilung, von den vereinigten großen Ebenezer-Mäßigkeitsvereinen dran teilnehmen. Deine Stiefmutter wollte auch hingehen, Sammy, aber sie hat sich verkühlt und kann nich; na, und da habe ich die beide Einlaßkarten eingesteckt, wo sie ihr geschickt haben.«

Mr. Weller brachte dieses Geheimnis mit großer Fröhlichkeit vor und blinzelte dabei so unermüdlich, daß Sam schon glaubte, er habe einen Krampf im rechten Augenlid.

»Na und?«

»Na und«, fuhr Sams Erzeuger fort und blickte vorsichtig umher, »wir beide wollen heute abend frühzeitig hingehen, und der Vizehirt will nich, Sammy, der Vizehirt will nich.«

Wie von einem Paroxismus ergriffen, fing Mr. Weller aus vollem Halse zu lachen, an und lachte so lange, als es ein ältlicher Herr nur wagen kann, wenn er nicht geradezu ersticken will.

»Sammy«, flüsterte er dann und blickte mit noch größerer Vorsicht um sich, »ich muß dir was erzählen. Zwei von meine Freunde, was auf der Oxfordstreet fahren tun und gerne mal ‘n Spaß haben, die haben den Vizehirten ins Schlepptau genommen, und wenn er in den Ebenezer-Verein kommt, denn wird er so voll Grog sein, wie er jemals im ,Marquis von Granby’ gewesen is, und das will bestimmt allerhand heißen.«

Bei diesen Worten schlug Mr. Weller senior abermals ein unmäßiges Gelächter an und verfiel aufs neue in einen Zustand unvollständiger Erstickung.

Nichts hätte mit Sam »Wellers Gefühlen und Wünschen mehr übereinstimmen können als dieser Plan zur Entlarvung des rotnasigen Heuchlers, und da die Zeit zur Versammlung herannahte, machte er sich mit seinem Vater auf den Weg nach Bricklane; dabei vergaß er natürlich nicht, seinen Brief gelegentlich auf einem Postbüro abzugeben.

Die monatlichen Versammlungen der Bricklane-Abteilung des Vereinigten großen Ebenezer Mäßigkeitsvereins wurden in einem großen freundlich und luftig gelegenen Saal gehalten, in den man vermittels einer sichern und bequemen Leiter leicht gelangen konnte. Präsident war ein gewisser Mr. Anthony Humm, ein bekehrter Spritzenmann, derzeit Schulmeister und gelegentlich Wanderprediger. Das Sekretariat bekleidete Mr. Jonas Mudge, Inhaber eines Kramladens, ein enthusiastisches, uneigennütziges Mitglied, das an die Gesellschaft den Tee verkaufte, denn vor Beginn der Geschäfte pflegten die Damen, auf Bänken sitzend, so lange Tee zu trinken, bis sie nicht mehr konnten, während auf dem mit einem grünen Tuch überzogenen Amtstisch, jedermann weithin sichtbar, eine große hölzerne Geldbüchse stand und hinter ihr der Sekretär, um jeden neuen Zuwachs der darin verborgenen Kupfermünzensammlung mit holdseligem Lächeln zu quittieren.

Dieses Mal tranken die Damen wirklich unglaublich viel Tee, zum großen Abscheu Mr. Wellers senior, der trotz aller warnenden Winke Sams mit dem unverstelltesten Erstaunen nach allen Richtungen umherstarrte.

»Sammy«, flüsterte er, »wenn morgen früh nich mehrere von die Weiber abgezapft werden müssen, denn bin ich nich dein Vater, und damit Punktum. Sieh bloß, die Alte da neben mir ersäuft noch im Tee.«

»Kannst du denn gar nich ruhig sein?« brummte Sam.

»Sammy«, flüsterte Mr. Weller einen Augenblick später im Ton tiefster Bewegung, »merke dir, was ich jetzt sagen tue: Wenn der Sekretär da bloß noch fünf Minuten so weitermacht, denn muß er vor lauter Butterbrot und Wasser auseinanderplatzen.«

»Na, laß ihn doch, wenn es ihm Spaß macht«, erwiderte Sam, »es geht dir doch nichts an.«

»Wenn das so weitergeht, Sammy«, flüsterte Mr. Weller, der sich gar nicht beruhigen konnte, »denn halte ich es für meine Menschenpflicht, aufzustehen und mir an den Präsidenten zu wenden. Dort auf der dritten Bank, da sitzt ‘n junges Frauenzimmer, die hat schon neuneinhalb große Tassen getrunken; die schwillt richtig an, ich seh es ganz deutlich.«

Ohne allen Zweifel hätte Mr. Weller seine wohlwollende Absicht sofort ausgeführt, hätte ihn nicht zum Glück ein großes Geräusch, das durch Abräumen der Tassen und Kannen entstand, daran erinnert, daß die Teezeit vorüber war. Nach Entfernung des Geschirrs wurde der grüne Tisch mitten in den Saal gestellt, und ein sehr lebhafter kleiner Mann mit einem Kahlkopf und lichtbraunen Kniehosen, der hurtig und mit augenscheinlicher Gefahr, seine zwei in besagte lichtbraune Hosen eingeschlossene Schenkelchen zu verlieren, die Leiter erkletterte, eröffnete die Sitzung mit der Ansprache:

»Meine Herren und Damen, ich mache den Vorschlag, daß unser vortrefflicher Bruder, Mr. Anthony Humm, den Präsidentenstuhl einnehme.«

Die Damen ließen auf diesen Vorschlag eine auserlesene Sammlung von Taschentüchern wehen, und der ungestüme kleine Mann beförderte Mr. Humm im buchstäblichen Sinn des Wortes in den Präsidentenstuhl, indem er ihn an den Schultern nahm und in einen alten Mahagonisessel warf.

Mr. Humm, ein Mann mit blassem Gesicht, der sich beständig in Transpiration befand, verbeugte sich holdselig zum großen Entzücken der Damen und waltete sofort mit würdevoller Feierlichkeit seines Amtes. Der kleine Mann in den lichtbraunen Hosen gebot Stillschweigen und las folgendes Dokument vor:

 

»BERICHTDES KOMITEES DER BRICKLANE-ABTEILUNGDES VEREINIGTEN GROSSEN EBENEZERMÄSSIGKEITSVEREINS

Das Komitee hat im verflossenen Monat seine dankbaren Arbeiten fortgesetzt und kann mit unaussprechlichem Vergnügen folgende neue Bekehrungen zur Mäßigkeit mitteilen:

I. Mr. Walker, Schneider, nebst Frau und zwei Kindern.

Er bekennt, in bessern Umständen täglich Ale und Bier getrunken zu haben, und weiß nicht mit Bestimmtheit anzugeben, ob er nicht seit zwanzig Jahren wöchentlich zweimal ,Hundsnase’ genossen hat, ein Getränk, das den Nachforschungen unseres Komitees zufolge aus warmem Porter, Farinzucker, Wacholderbranntwein und Muskatnuß gebraut wird. (Stöhnen und Zustimmung im Publikum.) Gegenwärtig ist er ohne Arbeit und ohne Geld und der Ansicht, daß daran der Porter (Beifall) oder der Umstand schuld ist, daß er seine rechte Hand nicht mehr gebrauchen kann. Er ist zwar noch im Zweifel darüber, hält es aber für sehr wahrscheinlich, daß, wenn er in seinem ganzen Leben nichts als Wasser getrunken hätte, sein Geselle ihn nicht mit einer verrosteten Nadel gestochen und dadurch sein Unglück herbeigeführt haben würde. (Stürmischer Beifall.) Er trinkt jetzt lediglich kaltes Wasser und fühlt sich nicht mehr so durstig wie zuvor. (Lauter Beifall.)

II. Betsy Martin, Witwe mit einem Kind und einem Auge – Sie wäscht um Tagelohn, hat nie mehr als ein Auge besessen, weiß aber, daß ihre Mutter starkes Doppelbier trank, und würde sich nicht wundern, wenn ihr Unglück davon herrührte. Sie hält es nicht für ausgeschlossen, daß sie, wenn sie sich stets geistiger Getränke enthalten hätte, dadurch den Gebrauch ihres andern Auges auch erlangt haben würde.

(Stürmischer Zuruf.) Sie erhielt gewöhnlich an jedem Ort, wohin sie ging, täglich achtzehn Pence, eine Maß Porter und ein Glas Brandy, hat aber, seitdem sie Mitglied der Bricklane-Abteilung geworden, statt dessen immer drei Schilling und sechs Pence verlangt. (Die Verkündigung dieses höchst interessanten Falles wurde mit Enthusiasmus aufgenommen.)

III. Henry Beller – war viele Jahre hindurch Toastausbringer bei den Diners mehrerer Korporationen und hat in dieser Zeit eine Menge ausländische Weine getrunken, mag auch zuweilen eine Flasche oder zwei mit nach Hause genommen haben – weiß dies zwar nicht ganz gewiß, ist aber überzeugt, daß er, wenn er es tat, sie auch ausgetrunken hat. Er fühlt sich sehr niedergeschlagen, hat oft Fieber, leidet an beständigem Durst und glaubt, dies seinem früheren Weintrinken zuschreiben zu müssen. (Beifall.) Ist gegenwärtig ohne Beschäftigung und rührt unter keinen Umständen mehr einen Tropfen fremden Wein an. (Schallender Zuruf.)

IV. Thomas Burton – versorgt den Lordmajor, die Sheriffs und mehrere Mitglieder des Geheimrats mit Katzenfleisch (atemlose Aufmerksamkeit, als der Name dieses Gentleman genannt wird), hat ein hölzernes Bein, findet es kostspielig, damit über das Pflaster zu gehen, pflegte sich alte gebrauchte hölzerne Beine zu kaufen und jeden Abend ein Glas heißen Wacholderbranntwein mit Wasser zu trinken – manchmal auch zwei. (Tiefe Seufzer.) Fand, daß die alten, schon gebrauchten hölzernen Beine sehr schnell zersplitterten und faulten, und ist fest überzeugt, daß ihre Beschaffenheit durch den Genuß von Wacholderbranntwein mit Wasser untergraben wurde. (Anhaltender Beifall.) Kaufte sich kürzlich neue hölzerne Beine und trinkt nichts als Wasser und schwachen Tee. Die neuen Beine halten zweimal so lange als die andern, und er schreibt dies einzig und allein seiner gegenwärtigen Mäßigkeit zu.« (Triumphgeschrei.)

 

Anthony Humm machte sodann den Vorschlag, ein Lied zu singen. Mit besonderer Rücksicht auf die geistlich-sittlichen Genüsse der Versammelten habe Bruder Mordlin die schönen Verse: »Wer kennt ihn nicht, den lustigen Matrosen« und so weiter, einer alten wohlbekannten Volksmelodie angepaßt und bitte nun, ihn bei diesem Liede zu akkompagnieren. (Großer Beifall.) Zugleich nähme er Gelegenheit, seine feste Überzeugung auszusprechen, daß der selige Mr. Dibdin der Komponist, nachdem er die Irrtümer seines früheren Lebenswandels eingesehen, dieses Lied geschrieben habe, um die Vorteile der Enthaltsamkeit darzutun. »Es ist«, sagte Mr. Humm, »ein Temperenzlerlied.« (Wirbelwind von Beifall.) »Der schmucke Anzug des interessanten jungen Mannes im Liede, die Gewandtheit seiner Bewegungen, der beneidenswerte Gemütszustand, kraft dessen er, um mit den schönen Worten des Dichters zu sprechen, ,Dahingerudert aller Sorgen bar’ und so weiter, alles dies vereinigt sich zu dem Beweise, daß er ein Wassertrinker gewesen sein muß. (Beifall.) O welch ein Zustand tugendhafter Fröhlichkeit!« (Entzückter Beifall.) Während des Gesangs verschwand das kleine Männlein mit den lichtbraunen Hosen, kehrte aber nach Beendigung desselben schnell zurück und flüsterte mit überaus wichtiger Miene dem Präsidenten etwas ins Ohr.

»Meine Freunde und Freundinnen«, sprach Mr. Humm, indem er, um Ruhe bittend, seine Hand emporhob, um diejenigen von den alten Damen, die noch um ein paar Takte zurück waren, zum Schweigen zu bringen, »meine Freunde und Freundinnen, ein Abgesandter der Dorkinger-Abteilung unserer Gesellschaft, Bruder Stiggins, wartet unten, erfahre ich soeben.«

Aufs neue flogen die Taschentücher heraus und wehten stärker als je, denn Mr. Stiggins war bei den weiblichen Mitgliedern von Bricklane außerordentlich beliebt.

»Also soll er kommen, dächte ich«, sagte Mr. Humm, mit einem fetten Lächeln um sich blickend. »Bruder Tadger, führen Sie ihn herauf.«

»Er kommt, Sammy«, flüsterte Mr. Weller und wurde vor unterdrücktem Lachen purpurrot im ganzen Gesicht.

»Sprich jetzt nicht«,, mahnte Sam, »ich kann mir sonst nich halten. Er is dicht vor der Tür. Ich höre, wie er mit dem Kopp an die Latten und an die Wand anschlägt.«

Gleich darauf flog die kleine Tür auf und herein trat Bruder Tadger, gefolgt von dem ehrwürdigen Mr. Stiggins, dessen Anblick mit gewaltigem Applaus, Füßegetrampel und Taschentücherwehen begrüßt wurde – Freudenbezeigungen, die er nur dadurch erwiderte, daß er mit stieren Augen und einem dummen Lächeln in das Licht auf dem Tisch glotzte, wobei er höchst unsicher hin und her schwankte.