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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Der exzentrische Mr. Samuel Pickwick schart in einem Klub drei nicht weniger skurrile Gestalten um sich: »Die Pickwickier«. Gemeinsam begeben sie sich im Jahr 1827 auf eine absurde Forschungsreise durch England, in deren Verlauf sie zahlreiche Turbulenzen, Intrigen und eine Verfolgungsjagd zu meistern haben. Für einen Teil der Gentlemen kommt es dabei zu folgenreichen Begegnungen. – Mit seinem Debütroman glückte Charles Dickens ein amüsantes Schelmenstück, das ihn schlagartig berühmt machte. Seine Charaktere sind humorvoll gezeichnet und die Episoden von zeitloser Situationskomik.
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Seitenzahl: 1195
Charles Dickens
Die Pickwickier
Roman
Aus dem Englischen von Gustav Meyrink
Fischer e-books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Die Pickwickier
Den ersten die Nacht erhellenden Lichtstrahl, der das Dunkel, worein die Geschichte der öffentlichen Laufbahn des unsterblichen Pickwick eingehüllt scheint, in blendenden Glanz wandelt, erhalten wir durch einen Blick in nachstehenden Auszug der Sitzungsberichte des Pickwick-Klubs, den der Herausgeber dieser Papiere mit Vergnügen seinen Lesern zum offenkundigen Beweise vorlegt, mit welch gewissenhafter Sorgfalt, unermüdlicher Beharrlichkeit und feiner Unterscheidungsgabe er die ihm anvertrauten zahlreichen und verschiedenartigen Dokumente durchforschte.
12. Mai 1817. Unter Joseph Smiggers, Esq. P.V.P.-P.K.M.[1], Präsidium wurden folgende Resolutionen einstimmig angenommen:
I. »Daß die Gesellschaft mit den Gefühlen der vollkommensten Zufriedenheit und mit unbedingter Beistimmung die durch Samuel Pickwick, Esq. G.C.M.P.K.[2], mitgeteilten spekulativen Untersuchungen über die Quelle der Fischteiche von Hampstead nebst einigen Bemerkungen über die Theorie des Froschsprungs vorlesen hörte und dem besagten Samuel Pickwick, Esq. G.C.M.P.K., ihren wärmsten Dank dafür ausspricht.«
II. »Daß die Gesellschaft vollkommen von den Vorteilen überzeugt ist, die der Wissenschaft aus obengenanntem Opus sowie überhaupt aus den unermüdlichen Forschungen Samuel Pickwicks, Esq. G.C.M.P.K., in Hornsey, Highgate, Brixton und Camberwell erwachsen müssen, und daß sie daher den unschätzbaren Gewinn nicht verkennen kann, der sich für die Fortschritte und Verbreitung des Wissens unausbleiblich ergeben muß, wenn dieser Gelehrte seine Spekulationen auf ein breiteres Feld ausdehnt, größere Reisen unternimmt und dadurch die Sphäre seiner Beobachtungen erweitert.«
III. »Daß die Gesellschaft in der obgedachten Absicht einen Vorschlag in ernste Erwägung gezogen hat, der von vorbesagtem Samuel Pickwick, Esq. G.C.M.P.K., und drei andern sogleich namhaft zu machenden Pickwickiern ausging, um eine neue Unterabteilung der vereinten Pickwickier unter der Benennung der korrespondierenden Gesellschaft des Pickwick-Klubs zu gründen.«
IV. »Daß der besagte Vorschlag die Sanktion und Genehmigung der Gesellschaft erhalten hat.«
V. »Daß daher die korrespondierende Gesellschaft des Pickwick-Klubs hiermit als konstituiert anzusehen ist, und daß Samuel Pickwick, Esq. G.C.M.P.K., Tracy Tupman, Esq. M.P.K., Augustus Snodgraß, Esq. M.P.K., und Nathaniel Winkle, Esq. M.P.K., hierdurch zu Mitgliedern derselben ernannt und ersucht worden sind, von Fall zu Fall authentische Berichte über ihre Reisen und Untersuchungen, Beobachtungen der Sitten und Gebräuche und alle ihre Erlebnisse, nebst den dazu gehörigen Belegen und Dokumenten, zu denen Lokalszenen oder Ideenverbindungen Veranlassung geben werden, an den in London residierenden Pickwick-Klub einzusenden.«
VI. »Daß die Gesellschaft mit höchster Billigung die Prinzipien anerkennt, denen gemäß jedes Mitglied der korrespondierenden Unterabteilung seine Reisekosten selbst tragen will, und nicht das Geringste dagegen einzuwenden hat, daß die Mitglieder der besagten Sektion unter Voraussetzung der obigen Bedingung ihre Reisen und Untersuchungen solange fortsetzen, als es ihnen beliebt.«
VII. »Daß endlich die Mitglieder der vorbesagten korrespondierenden Gesellschaft hierdurch in Kenntnis gesetzt wurden, daß der Klub ihren Vorschlag, das Porto für die von ihnen eingehenden Briefe und Pakete ihrerseits tragen zu wollen, in Erwägung gezogen und ihn der großen Geister, von denen er ausging, für völlig würdig gefunden und sich damit vollkommen einverstanden erklärt hat.«
Ein unbefangener Beobachter, fügt der Schriftführer hinzu, dessen Aufzeichnungen wir den hier folgenden Bericht verdanken, würde vielleicht nichts Außerordentliches in der Glatze und den großen runden Brillengläsern gesehen haben, die während der Verlesung obiger Resolutionen unverwandt auf sein (des Schriftführers) Gesicht gerichtet waren. Für solche aber, die wußten, daß unter dieser hohen Stirn Pickwicks gigantisches Gehirn arbeitete und daß die strahlenden Augen Pickwicks hinter jenen Gläsern funkelten, bot der Anblick in der Tat ein hohes Interesse.
Er, der Mann, der die Teiche von Hampstead bis zu ihren Quellen erforscht und durch seine Theorie des Froschsprunges die ganze gelehrte Welt in Aufregung versetzt hatte, saß so ruhig und unbeweglich da wie die tiefen Wasser der ersteren an einem kalten Wintertage oder wie ein einsames Exemplar der letzteren in dem verborgenen Winkel einer Erdhöhle. Und um wieviel interessanter noch wurde das Schauspiel, als auf den einstimmigen Ruf »Pickwick!« der Treffliche gelassen den Lehnstuhl, auf dem er gesessen, bestieg und voll Feuer und Jugendmut den von ihm selbst ins Leben gerufenen Klub anredete! Welch eine Studie für einen Künstler bot diese erregende Szene dar! Pickwick in seiner Beredsamkeit, die eine Hand mit Grazie hinter seinem Rockschoß verbergend, die andere in der Luft schwenkend, um seinen begeisternden Vortrag noch lebendiger zu gestalten! Eng anschließende, unaussprechliche und hohe Gamaschen, die an einem Mann von Durchschnittsbegabung vielleicht gar nicht auffallen würden, so aber, da sie einen Pickwick bekleiden, wenn wir uns des Ausdrucks bedienen dürfen, eine unwillkürliche Achtung und Ehrfurcht einflößen, umschließen das Bein. Die Männer, die sich freiwillig entschlossen haben, die Gefahren seiner Reisen und den Ruhm seiner Entdeckungen mit ihm zu teilen, umringen ihn. Zu seiner Rechten sitzt Mr. Tracy Tupman, der nur zu empfängliche Tupman, der mit der Weisheit und Erfahrung reiferer Jahre den Enthusiasmus und die Glut des Jünglings in der anziehendsten und verzeihlichsten aller menschlichen Schwächen – der Liebe – verbindet. Die Jahre und das Wohlleben haben seiner einst romantischen Gestalt einen größeren Umfang gegeben, die schwarzseidene Weste hat sich immer mehr hervorgedrängt, Zoll für Zoll ist die goldene Uhrkette Tupmans Gesichtskreise entrückt worden, und nach und nach ist das volle Kinn über die Grenzen der weißen Krawatte hinausgequollen, aber Tupmans Inneres hat keine Veränderung erlitten, Bewunderung des schönen Geschlechts ist immer noch seine Hauptleidenschaft.
Zur Linken seines großen Meisters sitzt der poetische Snodgraß, und neben ihm Mr. Winkle, der Freund der Wälder und Jagden. Ersterer poetisch in einen stimmungsvoll blauen Mantel mit einem Kragen aus Kaninchenfell gehüllt, während letzterer in einem neuen grünen Jagdkostüm, einem gewürfelten schottischen Halstuch und dicht anschließenden Tuchbeinkleidern in Glanz erstrahlt.
Mr. Pickwicks Rede bei diesem Anlaß sowie die darauffolgenden Debatten sind in den Protokollen des Klubs niedergelegt. Beide haben mit den Diskussionen andrer berühmter Körperschaften große Ähnlichkeit, und da es immer interessant ist, der Verwandtschaft zwischen den Äußerungen großer Männer nachzugehen, seien hier wenigstens die ersten Seiten erwähnt.
Mr. Pickwick bemerkt (so besagt das Protokoll), daß jedermann Ruhm am meisten am Herzen liege; Dichterruhm seinem Freunde Snodgraß, der Ruhm, Herzen zu erobern, in gleichem Maße seinem Freunde Tupman, und der Ehrgeiz, Ruhm zu ernten auf den Gebieten der Jagd zu Lande, in der Luft und im Wasser erfülle vor allem die Brust seines Freundes Winkle. Er (Mr. Pickwick) wolle nicht in Abrede stellen, daß auch er selbst durch menschliche Leidenschaften und Gefühle bewegt werde (Beifall) – vielleicht menschliche Schwächen habe – (allgemeiner Widerspruch), aber soviel glaube er sagen zu dürfen, daß, wenn je das Feuer der Selbstsucht in seinem Busen aufflamme, es augenblicklich wieder durch den Wunsch gedämpft werde, in erster Linie der Menschheit zu dienen, deren Wohl der Fittich sei, mit dem sich sein Geist emporschwinge, sowie überhaupt die Philanthropie seine Triebfeder sei. (Stürmischer Beifall.) Offen wolle er gestehen und das Geständnis seinen Feinden preisgeben, er habe es mit Stolz empfunden, als er der Welt seine Theorie des Froschsprungs mitteilte, möge jetzt das Verdienst derselben nun anerkannt werden oder nicht. (Ein Ausruf: »Es wird anerkannt!« und lauter Beifall.) Er wolle der Versicherung des ehrenwerten Pickwick-Klubmitgliedes, dessen Stimme er soeben vernommen, Glauben schenken, doch wenn auch der Ruhm jener Abhandlung bis an die äußerste Grenze der Welt dringen sollte, so würde doch der Stolz, mit dem er auf die Autorschaft dieses Erzeugnisses blicke, nichts gegen das Gefühl des Stolzes sein, mit dem er in diesem, dem stolzesten Augenblicke seines Daseins um sich blicke. (Beifall.) Er sei nur eine bescheidene Leuchte (Widerspruch), könne jedoch nicht umhin, zu fühlen, daß man ihn zu einer mit großen Ehren und nicht unbeträchtlichen Gefahren verknüpften Sendung auserkoren habe. Das Reisen sei jetzt eine mißliche Sache, zumal bei der notorischen Unzuverlässigkeit der Kutscher. Man blicke, wohin man wolle, und bedenke die Vorfälle, die sich ringsumher ereigneten. Uberall würden Wagen umgeworfen, Pferde gingen durch, Boote schlügen um und Dampfkessel platzten. (Beifall, eine Stimme: »Nein!«) Nein? Möge doch das verehrliche Pickwick-Klubmitglied, das so laut »Nein!« gerufen habe, vortreten und es leugnen, wenn es könne! (Beifall.) Er trete vor, der »Nein!« rief! (Enthusiastischer Beifall.) Ist der Betreffende vielleicht unzufrieden oder in seiner Eitelkeit gekränkt, um nicht zu sagen, ein wissenschaftlicher Kleinkrämer (lauter Beifall), der eifersüchtig auf das, vielleicht unverdienterweise, seinen (Pickwicks) Untersuchungen zuteil gewordene Lob und empfindlich über das Fehlschlagen seiner eignen kümmerlichen Versuche, es ihm (Pickwick) gleichzutun, jetzt aus niedriger und gehässiger Gesinnung heraus …
Bei diesen Worten erhob sich Mr. Blotton (von Aldgate), um Aufklärung zu verlangen. Ob damit der verehrliche Redner auf ihn anspielen wolle? (Rufe: »Zur Ordnung!« – »Niedersetzen!« – »Ja!« – »Nein!« – »Weiter!« – »Nicht weiter!« usw.)
Mr. Pickwick erklärte, er werde sich durch Geschrei nicht aus dem Konzept bringen lassen. Allerdings habe er den verehrten Herrn gemeint. (Große Aufregung.)
Mr. Blotton sagte, er habe darauf weiter nichts zu erwidern, als daß er die unwahre und lächerliche Anklage des verehrten Vorredners mit tiefer Verachtung zurückweise. (Große Bewegung.) Der verehrte Vorredner sei ein Aufschneider. (Ungeheure Verwirrung und lautes Rufen: »Zur Ordnung!« – »Ruhe!«)
Mr. Augustus Snodgraß meldete sich zum Wort. Er appelliere an den Vorsitzenden (hört!), ob man es denn zugeben wolle, daß dieser schimpfliche Streit zwischen zwei Mitgliedern des Klubs fortgesetzt werde. (Hört! hört!)
Der Vorsitzende gab hierauf seiner Überzeugung Ausdruck, daß das verehrliche Pickwick-Klubmitglied den Ausdruck zurücknehmen werde, dessen es sich soeben bedient habe.
Mr. Blotton erklärte, bei aller Achtung vor dem Vorsitzenden, dies nicht tun zu wollen.
Der Vorsitzende hielt es hierauf für seine Pflicht, das verehrliche Mitglied direkt zu fragen, ob es sich des ihm entschlüpften Ausdrucks im landläufigen Sinne bedient habe.
Mr. Blotton nahm keinen Anstand, die Frage zu verneinen. Er habe dies Wort lediglich im Pickwickschen Sinne gebraucht (hört! hört!) und fühle sich verpflichtet, zu erklären, daß er persönlich die größte Hochachtung für den verehrten Herrn Vorredner empfinde. (Hört! hört!)
Mr. Pickwick fühlte sich durch die offene, aufrichtige und umfassende Erklärung seines verehrten Freundes vollkommen zufriedengestellt und fügte gleichzeitig hinzu, daß auch seine eignen Bemerkungen nur als Klubausdruck aufzufassen seien. (Beifall.)
Damit schließt der erste Teil des Protokolls, und es läßt sich nicht bezweifeln, daß damit wohl auch die Debatte zu Ende war, nachdem sie zu einem so befriedigenden Resultate geführt hatte. Es liegen zwar keine offiziellen Berichte der Ergebnisse vor, die das folgende Kapitel näher behandeln wird, aber sie wurden sorgfältig aus Briefen und andern handschriftlichen Dokumenten zusammengestellt, und ihre Tatsächlichkeit unterliegt daher keinem Zweifel.
Die Reise des ersten Tages und die Abenteuer des ersten Abends nebst ihren Folgen
Die Sonne, die pünktliche Allerweltdienerin, war eben aufgegangen und begann mit ihren Strahlen den Morgen des dreizehnten Mais Eintausendachthundertundsiebenundzwanzig zu erhellen, als sich Mr. Samuel Pickwick, einer zweiten Sonne gleich, von seinem Lager erhob, das Fenster seines Schlafgemachs öffnete und auf die Welt zu seinen Füßen hinabblickte.
Goswellstreet lag unter ihm, Goswellstreet zu seiner Rechten, Goswellstreet zu seiner Linken, so weit das Auge reichte, und die Häuser der andern Seite von Goswellstreet ihm gerade gegenüber. »Eng, wie der Horizont der kurzsichtigen Philosophen«, murmelte Mr. Pickwick, »die sich darauf beschränken, die Dinge, die vor ihnen liegen, zu untersuchen, ohne sich um die Wahrheiten zu kümmern, die dahinter liegen. Ebensogut könnte ich mich damit zufrieden geben, immer nur Goswellstreet anzusehen, ohne mir die Mühe zu geben, die Geheimnisse zu ergründen, die uns auf allen Seiten umgeben.« Nach dieser tiefsinnigen Betrachtung schlüpfte Mr. Pickwick in seine Kleider und packte, was er an Garderobe für nötig hielt, in seinen Mantelsack. Große Männer sind, was ihr Außeres betrifft, selten wählerisch. Das Geschäft des Rasierens, Ankleidens und Kaffeetrinkens war bald vorüber, und eine Stunde später langte Mr. Pickwick, den Mantelsack in der Hand, sein Fernrohr in der Überrocktasche und sein Notizbuch, bereit, alle merkwürdigen Entdeckungen aufzunehmen, im Busen, bei dem Kutscherstand zu Saint Martin le Grand an.
»Droschke!« rief Mr. Pickwick.
»Hürr, Sir!« brüllte ein Kabinettstück der Spezies Homo sapiens in einer sackleinenen Jacke, dito Schürze und einem mit Nummer versehenen Messingschilde um den Hals, als wäre er aus einer Raritätensammlung entsprungen. Es war ein sogenannter Wasserer. »Hürr, Sir! Erste Droschke, vor!« Die »erste Droschke« wurde aus dem Wirtshause, wo sie eben ihre Morgenpfeife geraucht hatte, geholt und Mr. Pickwick nebst Mantelsack im Wagen verstaut.
»Golden Croß«, befahl Mr. Pickwick.
»Das war der Mühe wert, Tommy«, rief der Kutscher verdrießlich seinem Freunde, dem Wasserer, zu, der ihm diesen Kunden zugewiesen, und trieb sein Pferd an.
»Wie alt ist dieses Tier, mein Freund?« fragte Mr. Pickwick und rieb sich mit dem Schilling, den er als Fahrgeld vorbereitet hielt, die Nase.
»Zweiundvierzig«, versetzte der Kutscher mit einem forschenden Blick auf seinen Passagier.
»Was?« rief Mr. Pickwick, nach seinem Notizbuch greifend.
Der Kutscher wiederholte die frühere Behauptung. Mr. Pickwick sah ihm scharf ins Gesicht, und da der Mann mit keiner Wimper zuckte, notierte er unverzüglich das Faktum.
»Und wie lange halten Sie es eingespannt?« forschte Mr. Pickwick weiter.
»Zwei bis drei Wochen.«
»Wochen?« fragte Mr. Pickwick erstaunt und griff wieder nach seinem Notizbuch.
»Es hat seinen Stall in Pentonville«, bemerkte der Kutscher kaltblütig. »Aber ich nehme es selten mit heim, von wegen die Schwäche.«
»Wegen seiner Schwäche?« wiederholte verblüfft Mr. Pickwick.
»Es fällt immer um, wenn’s aus dem Geschirr kommt«, fuhr der Kutscher fort, »aber eingspannt zieht man’s dicht an und hält’s kurz im Zügel, da kann’s nicht. Auch haben wir ein Paar mächtig breite Räder; wenn sich der Gaul rührt, so laufen sie ihm nach – und vorwärts muß er, hilft ihm alles nicht.«
Mr. Pickwick notierte genau jedes Wort in seinem Taschenbuche, in der Absicht, die Tatsache als ein merkwürdiges Beispiel der Zähigkeit der Pferde, selbst unter den kümmerlichsten Lebensverhältnissen, dem Klub mitzuteilen. Er war indes kaum damit fertig, als sie in Golden Croß anlangten. Der Kutscher sprang vom Bock und half ihm heraus; Mr. Tupman, Mr. Snodgraß und Mr. Winkle, die ihres vortrefflichen Führers schon lange mit Sehnsucht geharrt, umdrängten und bewillkommneten ihn.
»Da ist Ihr Fahrgeld«, sagte Mr. Pickwick und reichte dem Kutscher den Schilling; aber wer beschreibt sein Erstaunen, als dieser unberechenbare Mensch die Münze auf das Straßenpflaster warf und sich in lebhaften Gesten das Vergnügen erbat, sich darum mit Mr. Pickwick boxen zu dürfen.
»Sind Sie toll?« rief Mr. Snodgraß.
»Oder betrunken?« meinte Mr. Winkle.
»Oder beides?« sagte Mr. Tupman.
»Nur heran!« rief jedoch der Droschkenkutscher unbeirrt und fuchtelte mit den Fäusten in der Luft herum. »Nur heran – meinetwegen alle vier.«
»Da gibt’s einen Jux! Nur immer fest drauf, Sam!« schrie ein halbes Dutzend Mietkutscher und bildete mit lustigen Gesichtern einen Kreis um die Gesellschaft.
»Was war denn los, Sam?« fragte ein Gentleman in schwarzen Kalikoärmeln.
»Was los war? Zu was braucht er meine Nummer?«
»Ich habe Sie doch gar nicht um Ihre Nummer gefragt«, entgegnete bestürzt Mr. Pickwick.
»Zu was brauchen Sie sie denn dann?« fragte der Kutscher.
»Aber ich weiß sie ja gar nicht«, antwortete Pickwick unwillig.
»Sollte man das glauben«, wendete sich der Kutscher an die Menge, »sollte man das glauben: steigt mir da ein Spitzel in den Wagen und schreibt sich nicht nur meine Nummer auf, sondern auch noch obendrein jedes Wort, das ich gesagt habe?«
Mr. Pickwick ging ein Licht auf.
»Was – das hat er getan?« fragte ein andrer Kutscher.
»Jawoll, das hat er getan, und um mir fester am Kragen zu haben, bestellt er sich da noch drei Zeugen, von wegen dem Beweise. Aber ich will’s ihm geben, und wenn ich sechs Monate dafür ins Loch muß. Nur immer ran!« Ohne die geringste Rücksicht für sein Eigentum warf der Mann seinen Hut auf die Erde, schlug Mr. Pickwick die Brille aus dem Gesicht und ließ diesem Angriffe unmittelbar einen Schlag auf Mr. Pickwicks Nase und einen weiteren auf dessen Brust folgen. Ein dritter traf Mr. Snodgraß’ Auge, und ein vierter zur Abwechslung Mr. Tupmans Weste. Dann tanzte der Kutscher in der Straße herum und kam wieder auf das Trottoir zurück, um Mr. Winkle durch einen wohlgezielten Hieb auf den Bauch seines Atems zu berauben. Alles in kaum einem halben Dutzend Sekunden.
»Wo ist die Polizei?« schrie Mr. Snodgraß.
»Unter die Pumpe!« rief ein Pastetenverkäufer.
»Das sollen Sie mir büßen!« keuchte Mr. Pickwick.
»Spitzel!« brüllte die Menge.
»Nur immer ran!« rief der Droschkenkutscher, der die ganze Zeit über rastlos seine Boxausfälle fortgesetzt hatte.
Bisher waren die Umstehenden nur passive Zuschauer gewesen, kaum aber verbreitete sich die Kunde, die Pickwickier wären Spitzel, begannen sie mit großer Lebhaftigkeit die Zweckmäßigkeit des von dem Pastetenverkäufer gemachten Vorschlags zu erörtern; und wer weiß, zu welchen Tätlichkeiten es nicht noch gekommen wäre, wenn sich nicht ein neuer Ankömmling ins Mittel gelegt hätte.
»Hallo, was gibt’s?« fragte nämlich ein langer, schmächtiger junger Mann in einem grünen Rocke.
»Spitzel!« schrie die Menge abermals.
»Es ist nicht wahr«, jammerte Mr. Pickwick in einem Tone, der jeden Unbefangenen sofort überzeugen mußte.
»Nicht? – Sind es nicht? – Was?« fragte der junge Mann, der sich inzwischen durch wohlgezielte Ellbogenstöße nach den Gesichtern der Menge bis zu Mr. Pickwick Bahn gebrochen hatte.
Der Gelehrte erklärte mit wenigen hastigen Worten den wahren Stand der Sache.
»Na, dann kommen Sie«, sagte der Grünrock, dem keinen Augenblick das Mundwerk still stand, und zog Mr. Pickwick mit Gewalt hinter sich her. »Da, Nummer neunhundertvierundzwanzig, nimm dein Geld und pack dich – respektabler Gentleman – kenne ihn gut – dummes Zeug – hierher, Sir! – Wo sind Ihre Freunde? – Mißverständnis, wie ich sehe – macht nichts – kommt zuweilen vor – besten Familien – geht nicht ans Leben – verdammte Schurken.«
Mit solchen und ähnlichen abgebrochnen Sätzen, die er mit einer außerordentlichen Zungengeläufigkeit hervorsprudelte, führte er Mr. Pickwick und seine Jünger in das Gastzimmer eines Wirtshauses.
»He, Kellner, Gläser her – Branntwein mit Wasser, heiß, stark, süß – entsprechende Menge – das Auge beschädigt, Sir? – Kellner, rohes Kalbfleisch für das Auge des Herrn! – Nichts besser als rohes Kalbfleisch für eine Quetschung, Sir. – Kalter Laternenpfahl auch sehr gut, aber unbequem – verdammt unbequem, halbe Stunde an Laternenpfahl stehen – hm – aber sehr gut – ha! ha!« Und ohne auch nur Atem zu holen, stürzte der Fremde eine volle halbe Pinte der dampfenden Flüssigkeit in seine Kehle und warf sich behaglich in einen Stuhl, als ob nichts vorgefallen wäre.
Während sich die drei Jünger in Dankesbeteuerungen ergingen, hatte Mr. Pickwick Muße, Kleidung und Außeres des neuen Bekannten genauer in Augenschein zu nehmen.
Er war von mittlerer Statur, aber die Schmächtigkeit seines Körpers und die Länge seiner Beine ließen ihn viel größer erscheinen. Sein grüner Rock mochte zur Zeit, als die Schwalbenschwänze Mode waren, hübsch gewesen sein, hatte aber augenscheinlich damals einem weit kleineren Manne gehört, da ihm die fadenscheinigen und schmierigen Ärmel kaum bis ans Handgelenk reichten. Er war, auf die Gefahr hin, daß die Rückennähte platzten, bis ans Kinn zugeknöpft, und eine alte Krawatte, die keine Spur von Hemdkragen sehen ließ, zierte seinen Hals. Die knappen schwarzen Beinkleider zeigten da und dort glänzende Stellen und verrieten, daß sie lange Dienste geleistet hatten. Sie waren straff über ein Paar geflickte Schuhe gezogen, um die schmutzigen weißen Strümpfe zu verbergen; aber ohne Erfolg. Sein langes schwarzes Haar quoll nachlässig in Locken zu beiden Seiten eines eingedrückten alten Hutes hervor, und hin und wieder kam das nackte Handgelenk zwischen den Enden der Handschuhe und den Aufschlägen der Rockärmel zum Vorschein. Das Gesicht war schmal und hager, und ein unbeschreiblicher Ausdruck von Unverschämtheit und Selbstüberhebung sprach sich in der ganzen Erscheinung des Mannes aus.
Das war die Person, die Mr. Pickwick durch seine Brille, die er glücklicherweise wiedergefunden hatte, beaugenscheinigte und der er sich jetzt mit den wärmsten und gewähltesten Dankesergüssen für den so gelegen gekommenen Beistand näherte.
»Gern geschehen«, schnitt ihm der Fremde kurz das Wort ab. »Kein Wort mehr. – Verdammter Kerl, der Droschkenkutscher. Nimmt’s mit fünfen auf; – wäre Ihr Freund Grünrock dagewesen – hol mich dieser und jener – hätte ihm den Kopf zerdroschen – ohne Umstände – Kellner, einen Schweinsrüssel – und den Pastetenmann dazu – nein, keinen Schinken.«
Diese zusammenhängende Rede wurde durch die Meldung des Rochesterpostillons unterbrochen, daß der »Commodore« sogleich abfahren werde.
»Commodore?« rief der Fremde aufspringend. »Mein Wagen – eingeschrieben – Außensitz – zahlen Sie meinen Brandy – kein Kleingeld – abgegriffenes Silber – die reinsten Hosenknöpfe – geht nicht – wie?«
Nun hatten zufällig Mr. Pickwick und seine Begleiter ebenfalls Rochester als erstes Reiseziel festgesetzt und kamen deshalb mit ihrem neuen Bekannten überein, daß sie die Rücksitze des Wagens nehmen wollten, wo sie alle nebeneinander Platz hätten.
»Also, hinauf mit Ihnen«, sagte der Fremde und half Mr. Pickwick mit einer Hast auf die Kutsche, die der Würde des Gelehrten beträchtlich Abbruch tat.
»Kein Gepäck, Sir?« fragte der Kutscher.
»Wer – ich? – Da, dieses Papierpaket – weiter nichts – das andre Gepäck ist zu Wasser fort – Kisten, zugenagelt und groß wie die Häuser – schwer, schwer, verdammt schwer«, erwiderte der Fremde und zwängte eine Ecke seines Paketes, das nach seinem verdächtigen Aussehen nur ein Hemd und ein Sacktuch zu enthalten schien, so gut es ging, in die Tasche.
»Achtung – Köpfe«, rief er gleich darauf, als sie unter einem niedrigen Torbogen durchfuhren. »Schauderhafter Durchlaß – gefährliche Sache – vorgestern – fünf Kinder – Mutter – große Dame, aß Sandwiches – denkt nicht an den Bogen – Krach – Bum – Kinder sehen sich um – Mutter ohne Kopf – Sandwich in der Hand – keinen Mund, um ihn hineinzustecken – Haupt der Familie tot – scheußliche Geschichte. Sehen Sie dort Whitehall, Sir? Schöner Ort – kleines Fenster – auch jemand dort Kopf verloren – Karl I. nämlich. – Nahm sich auch nicht genug in acht – was meinten Sie, Sir?«
»Ich dachte soeben«, sagte Mr. Pickwick, »über die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge nach.«
»Ja, ja. Karl der Erste – heute zur Tür des Palastes hinein – morgen durchs Fenster hinaus, aufs Schafott. – Philosoph, Sir?«
»Hm, ja. Ein Beobachter der menschlichen Natur, Sir«, versetzte Mr. Pickwick.
»So? – Ich auch. – Die meisten Leute sind’s, wenn sie wenig zu tun und noch weniger zu leben haben. – Poet, Sir?«
»Mein Freund, Mr. Snodgraß, hat eine starke poetische Ader.«
»So? – Ich auch. – Episches Gedicht – zehntausend Verse – Julirevolution – an Ort und Stelle verfaßt – Mars bei Tag, Apollo bei Nacht – Kanonendonner – Geistesblitze.«
»Sie waren bei jenem glorreichen Schauspiele anwesend, Sir?« fragte Mr. Snodgraß.
»Anwesend?« wiederholte der Grünrock. »Will’s meinen – feuerte drauf los – Idee durch den Kopf geschossen – rasch in ein Weinhaus – schrieb sie nieder – wieder zurück – Schuß auf Schuß – eine andre Idee – abermals ins Weinhaus – Feder und Tinte – aufs neue zurück – gestochen und gehauen – großartige Zeit, Sir. – Jagdliebhaber, Sir?« wandte er sich plötzlich an Mr. Winkle.
»Ein wenig, Sir.«
»Feiner Sport, Sir, feiner Sport. Hunde, Sir?«
»Zurzeit nicht«, entgegnete Mr. Winkle.
»Ah, Sie sollten Hunde halten – herrliche Tiere – schlaue Geschöpfe – hatte selbst einmal einen – Hühnerhund – merkwürdiger Instinkt – gehe eines Tages auf den Anstand – trete in eine Umzäunung – pfeife – Hund wie festgenagelt – pfeife wieder – Ponto! – Rührt sich nicht. – Rufe noch mal: – Ponto! Ponto! – Rührt sich nicht – wie festgewurzelt – stiert auf ein Brett – sehe auf und lese die Inschrift: ›Der Wildhüter hat Befehl, alle Hunde, die er im Bereich dieser Umzäunung antrifft, totzuschießen.‹ – Wundervoller Hund, unschätzbarer Hund – kolossal.«
»In der Tat, einzig in seiner Art«, sagte Mr. Pickwick. »Würden Sie gestatten, daß ich mir das notiere?«
»Gewiß, Sir, gewiß. Können noch hundert Geschichten von demselben Tier haben. – Schöne Mädchen, Sir!«
»Sehr schöne«, bestätigte Mr. Tupman, der soeben einer vorübergehenden jungen Dame einige nicht eben Pickwicksche Blicke zugeworfen hatte.
»Die englischen Mädchen sind nicht so schön wie die spanischen – edle Gestalten – pechschwarzes Haar – dunkle Augen – liebliche Formen – süße Geschöpfe – bezaubernd.«
»Sie sind in Spanien gewesen, Sir?«
»Hm – lebte dort – halbes Menschenalter.«
»Viele Eroberungen gemacht, Sir?« fragte Mr. Tupman weiter.
»Eroberungen? – Tausende. – Don Bolaro Fizzgig – Grande – einzige Tochter – Donna Christina – prachtvolles Geschöpf – verliebt in mich bis zum Wahnsinn – eifersüchtiger Vater – hochherzige Tochter – schöner Engländer – Donna Christina in Verzweiflung – Blausäure – Magenpumpe im Mantelsack – Operation glücklich durchgeführt – der alte Bolaro außer sich vor Entzücken – willigte in unsre Verbindung – Händedrücke und Tränenströme – romantische Geschichte – kolossal.«
»Ist die Dame jetzt in England, Sir?« fragte Mr. Tupman, auf den die Schilderung der Reize Donna Christinas einen mächtigen Eindruck gemacht hatte.
»Tot, Sir, tot«, sagte der Fremde und drückte den spärlichen Überrest eines uralten Baumwollschnupftuches an sein rechtes Auge. »Nie ganz genesen, trotz der Magenpumpe – untergrabene Konstitution – Opfer geworden.«
»Und ihr Vater?« fragte der poetische Snodgraß.
»Elend und Gewissensbisse. – Plötzlich verschwunden – Stadtgespräch – Nachforschungen überall – erfolglos – öffentlicher Brunnen auf dem Hauptplatze hört auf zu springen – Wochen vergehen – immer noch kein Wasser – Arbeiter kommen – schöpfen aus – finden meinen Schwiegervater mit dem Kopf in der Hauptröhre stecken, mit einem ausführlichen Bekenntnis in seinem rechten Stiefel – ziehen ihn heraus. – Brunnen springt wieder – wie früher.«
»Würden Sie mir gestatten, Sir, diesen kleinen Roman niederzuschreiben?« fragte Mr. Snodgraß, tief ergriffen.
»Gewiß, Sir, gewiß – noch fünfzig andre, wenn Sie sie hören wollen. – Ein seltsames Leben geführt – merkwürdige Geschichte – nicht ungewöhnlich, aber höchst interessant.«
In diesem Zuge schwatzte der Fremde fort, nur hin und wieder, wenn die Kutschpferde gewechselt wurden, ein Glas Bier einschaltend, bis sie die Rochester Brücke erreichten, zu welcher Zeit Mr. Pickwick und Mr. Snodgraß ihre Notizbücher mit einer Auswahl seiner Abenteuer bereits vollständig angefüllt hatten.
»Großartige Ruine!« rief Mr. Augustus Snodgraß mit der poetischen Glut, der er seinen Dichterruhm verdankte, als sie des schönen alten Schlosses ansichtig wurden.
»Welch herrliche Gelegenheit für einen Altertumsforscher!« ließ sich Mr. Pickwick vernehmen, als er sein Fernrohr ans Auge gebracht hatte.
»Hm, schöner Platz«, sagte der Fremde. – »Glorioses Gebäude – zürnende Mauern – wankende Bogen – dunkle Nischen – krachende Stiegen – ehrwürdiger Dom – dumpfer Geruch – alte Stufen – ausgehöhlt von den Tritten der Pilgrime – kleine sächsische Türen – Beichtstühle wie Theaterkassenlogen – wunderliche Käuze, diese Mönche – Päpste, Lordschatzmeister und alle Arten alter Burschen mit großen roten Gesichtern und abgebrochnen Nasen – alle Tage zu sehen – auch Koller von Büffelhaut – Luntengewehre – Sarkophage – herrlicher Ort – alte Legenden – wunderliche Historien – kolossal.« – Der Fremde fuhr in diesem Selbstgespräch fort, bis sie das Wirtshaus zum Ochsen in Highstreet erreichten und haltmachten.
»Bleiben Sie hier, Sir?« fragte Mr. Nathaniel Winkle.
»Hier? – Ich nicht – aber Sie werden gut daran tun – gutes Haus – famose Betten – Wrights Hotel nebenan teuer – sehr teuer – ne halbe Krone auf der Rechnung, wenn Sie den Kellner nur ansehen – fordern Ihnen noch mehr ab, wenn Sie zu einem Freunde essen gehen – verwünschte Kerle – toll.«
Mr. Winkle beugte sich zu Mr. Pickwick hinüber und flüsterte ihm einige Worte zu. Mr. Pickwick besprach sich leise mit Mr. Snodgraß, und Mr. Snodgraß mit Mr. Tupman. Allgemeines Einverständnis und beifälliges Kopfnicken. Dann wandte sich Mr. Pickwick zu dem Fremden.
»Sie haben uns diesen Morgen einen sehr wesentlichen Dienst geleistet, Sir. Würden Sie uns vielleicht gestatten, Ihnen einen kleinen Beweis unsrer Dankbarkeit zu geben, indem wir Sie um die Ehre Ihrer Gesellschaft bei Tisch bitten?«
»Mit größtem Vergnügen – will natürlich nichts vorschreiben, aber Geflügel und Champignons – kapitale Sache! – Welche Zeit?«
»Sagen wir einmal …« Mr. Pickwick zog seine Uhr zu Rate. »Es ist jetzt bald drei Uhr. Paßt Ihnen fünf Uhr?«
»Würde mir sehr passen«, entgegnete der Fremde. »Also präzis fünf Uhr – habe die Ehre bis dahin.«
Er lüftete seinen zerdrückten Hut einige Zoll, setzte ihn nachlässig wieder aufs Ohr und begab sich dann mit seinem Papierpaket eiligen Schrittes auf die Straße.
»Augenscheinlich ein vielgereister Mann und ein trefflicher Beobachter«, sagte Mr. Pickwick.
»Ich hätte gern sein Epos gelesen«, meinte Mr. Snodgraß.
»Und ich seinen Hund gesehen«, sagte Mr. Winkle.
Mr. Tupman sagte nichts, aber er dachte an Donna Christina, die Magenpumpe und den Springbrunnen, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
Die Herren ließen sich ein gemeinschaftliches Zimmer geben, und nachdem sie die Betten geprüft und ein Mittagessen bestellt hatten, verließen sie den Gasthof, um sich die Stadt und ihre Umgebung anzusehen.
Nach sorgfältiger Durchsicht der Notizen Mr. Pickwicks finden wir, daß seine Bemerkungen über die vier Städte Stroud, Rochester, Chatham und Brompton sich von denen andrer Reisender, die gleichfalls diese Orte besucht haben, nicht wesentlich unterscheiden. Wir können daher eine allgemeine Übersicht seiner Schilderungen geben.
»Die Haupterzeugnisse dieser Städte«, sagt Mr. Pickwick, »scheinen Soldaten, Matrosen, Juden, Kreide, Garnelen, Polizeimänner und Dockarbeiter zu sein. Die Haupthandelsartikel, die man in den Straßen ausgestellt sieht, sind Seemannsartikel, Zwieback, Äpfel, Seezungen und Austern. Die Straßen bieten einen sehr belebten Anblick, besonders infolge der gehobenen Stimmung des Militärs. Es ist wahrhaft entzückend für das Herz eines Philanthropen, diese Braven begeistert einhertaumeln zu sehen, besonders wenn wir in Betracht ziehen, daß es den ihnen nachziehenden Gassenjungen eine wohlfeile, unschuldige Unterhaltung und Anlaß zu Scherz und Fröhlichkeit bietet. – Nichts«, setzt Mr. Pickwick hinzu, »kommt der Gutmütigkeit eines Soldaten gleich. So wurde am Tage vor meiner Ankunft ein solcher in dem Hause eines Gassenwirts gröblich beleidigt. Das Schenkmädchen weigerte sich nämlich entschieden, ihm noch weiter Branntwein zu geben, und er zog – natürlich nur im Scherze – das Bajonett und verwundete das Mädchen damit an der Schulter. Und doch war dieser Ehrenmann der erste, der am nächsten Morgen wieder im Hause erschien und dadurch bewies, daß er geneigt sei, den ihm zugefügten Schimpf zu übersehen und den Vorfall zu vergessen.«
»Der Verbrauch von Tabak«, fährt Mr. Pickwick fort, »muß in diesen Städten sehr groß sein, wie auch sein Geruch, der die Straßen erfüllt, allen denen, die das Rauchen lieben, ungemein angenehm sein muß. Ein oberflächlicher Beobachter würde sich vielleicht über den herrschenden Schmutz beschweren; wenn man jedoch ins Auge faßt, daß dieser nur ein Beweis von dem lebhaften und blühenden Handelsverkehr ist, so kann man sich natürlich nur darüber freuen.«
Punkt fünf Uhr erschien der Fremde und bald nachher das Diner. Er hatte sich seines Papierpaketes entledigt, ohne daß jedoch eine Veränderung in seinem Anzuge vorgegangen wäre; auch war er womöglich noch redseliger als am Morgen.
»Was ist das?« fragte er, als der Kellner den Deckel von einer der Schüsseln entfernte.
»Seezungen, Sir.«
»Seezungen – ah! – Kapitale Fische – kommen alle von London – Postwageneigentümer geben politische Diners – Wagen voll Seezungen – Dutzende von Körben – pfiffige Burschen. Glas Wein, Sir?«
»Bitte sehr«, sagte Mr. Pickwick.
Zuerst trank der Unbekannte mit Mr. Pickwick, dann mit Mr. Snodgraß, dann mit Mr. Tupman, dann mit Mr. Winkle und schließlich auf die Gesundheit der ganzen Gesellschaft, alles fast ebenso schnell hintereinander, wie er sprach.
»Teufelslärm auf der Treppe, Kellner«, sagte er. »Bänke hinauf – Zimmerleute herunter – Lampen, Gläser, Harfen. – Was gibt’s denn?«
»Ball, Sir«, antwortete der Kellner.
»Assemblee – wie?«
»Nein, Sir, keine Assemblee; Ball für wohltätige Zwecke, Sir.«
»Wissen Sie nicht, Sir, ob hier in der Stadt viele schöne Frauen sind?« fragte Mr. Tupman angelegentlich.
»Prächtig – fabelhaft. Kent, Sir, Kent ist weltberühmt; Äpfel, Kirschen, Hopfen und Frauen. – Glas Wein, Sir?«
»Bitte sehr.«
Der Fremde füllte und leerte sein Glas.
»Ich würde ganz gern mit dabei sein«, sagte Mr. Tupman, dem der Ball nicht aus dem Kopfe ging.
»Eintrittskarten zu einer halben Guinee beim Wirt, Sir«, mischte sich der Kellner ein.
Mr. Tupman drückte wiederholt seinen Wunsch aus, der Festlichkeit beizuwohnen, machte sich aber, da er in dem umflorten Blick Mr. Snodgraß’ und in den in Gedanken verlorenen Mienen Mr. Pickwicks keinem Verständnis begegnete, mit großem Eifer über den Portwein und das Dessert her. Der Kellner entfernte sich, und die Gesellschaft blieb allein, um die der Mahlzeit folgenden Stunden in traulicher Unterhaltung zu verbringen.
»Sie entschuldigen, Sir«, sagte der Fremde. »Flasche ruht – muß kreisen – der Sonne gleich – bis zum letzten Tropfen – keine Restchen.« Wieder leerte er sein kaum erst vor ein paar Minuten gefülltes Glas und schenkte sich mit der Miene eines an Wein gewohnten Mannes aufs neue ein.
Die Flasche machte die Runde, und bald wurde eine neue bestellt. Der Fremde schwatzte, und die Pickwickier horchten zu. Mr. Tupman fühlte sich mit jedem Augenblicke mehr geneigt, den Ball zu besuchen. Mr. Pickwicks Gesicht erglühte in einem Ausdruck alles umfassender Menschenliebe, und Mr. Winkle und Mr. Snodgraß sanken in festen Schlaf.
»Sie fangen bereits an oben«, sagte der Fremde. »Hören Sie? – Geigenklänge – jetzt die Harfe – es geht los.« Musik tönte durch das Haus und verkündete den Beginn der ersten Quadrille.
»Ich ginge gar zu gerne«, begann Mr. Tupman abermals.
»Ich auch«, versetzte der Fremde. »Verdammtes Gepäck – langweiliges Gezottel – keinen passenden Anzug – ärgerlich, nicht wahr?«
Güte und Wohlwollen waren nun eines der Grundprinzipien der Pickwicktheorie, und niemand erwies sich eifriger in Befolgung dieses edlen Grundsatzes als Mr. Tracy Tupman. Die Zahl der in den Protokollen der Gesellschaft angeführten Beispiele, in denen der Treffliche Hilfsbedürftige um abgelegte Kleider oder Geldunterstützung zu andern Mitgliedern schickte, ist fast unglaublich.
»Ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen zu diesem Zwecke einen Anzug borgen zu können«, sagte er, »aber Sie sind ziemlich schlank und ich …«
»Bißchen fett – ein echter Bacchus – ohne Kranz – vom Faß gestiegen und in Tuchhosen geschlüpft. – Ha! ha! – Geben Sie mal die Flasche rüber.«
Ob Mr. Tupman ein wenig indigniert über den befehlenden Ton war, oder ob er als eines der bedeutendsten Pickwickklubmitglieder sich durch den respektlosen Vergleich mit einem unberittenen Bacchus verletzt fühlte, ist ein Faktum, das sich heute nicht mehr mit Sicherheit ermitteln läßt. Jedenfalls reichte er die Flasche hinüber, hustete ein paar Mal und sah den Fremden einige Sekunden mit finsterem Gesichte an. Als er aber bemerkte, daß sich dieser durch seine Blicke nicht im geringsten beirren ließ, gewannen seine Züge allmählich ihren milderen Ausdruck wieder, und er brachte aufs neue den Ball zur Sprache.
»Ich wollte bemerken, Sir«, sagte er, »daß, wenn auch mein Anzug Ihnen zu weit ist, Ihnen doch vielleicht der meines Freundes Mr. Winkle besser passen würde.«
Der Fremde maß Mr. Winkle mit den Augen, und seine Züge erglänzten von Zufriedenheit.
»Wie angegossen.«
Mr. Tupman sah sich um. Der Wein, der bereits an Mr. Snodgraß und Mr. Winkle seine schlafbringende Wirkung geübt, hatte sich jetzt auch der Sinne Mr. Pickwicks bemächtigt. Allmählich hatte der würdige Gentleman die verschiedenen Stadien durchlaufen, die der durch eine reichliche Mahlzeit veranlaßten Lethargie und ihren Folgen vorangehen, von dem Gipfelpunkt der Heiterkeit bis zu der Abgrundtiefe geistigen Elends und wieder zurück. Wie eine Gaslampe im Freien, mit Luft in der Röhre, hatte er für einen Augenblick einen unnatürlichen Glanz verbreitet, dann wieder war sein Licht zu einem kaum sichtbaren Flämmlein zusammengeschrumpft, das nach einer Weile für einen Moment wieder mit irrem und unsicherem Scheine aufflackerte, um schließlich ganz zu erlöschen. Sein Kopf war auf die Brust herabgesunken, und ein beständiges Schnarchen, gelegentlich durch einen Erstickungsanfall unterbrochen, war das einzig hörbare Anzeichen der Anwesenheit des großen Mannes.
Die Versuchung, den Ball zu besuchen und die ersten Eindrücke der Schönheit der Kenter Damen zu genießen, übte einen gewaltigen Einfluß auf Mr. Tupman, und nicht minder groß war die Versuchung, den Fremden mitzunehmen, wo dieser Ort und Einwohner so gut zu kennen schien, als ob er von Kindheit auf daselbst gelebt hätte. Mr. Winkle schlief, und Mr. Tupman wußte aus Erfahrung, daß sein Freund beim Erwachen sofort schwer ins Bett sinken würde. Er schwankte noch.
»Schenken Sie sich ein und geben Sie die Flasche herüber«, mahnte der unermüdliche Gast.
»Winkle und ich schlafen zusammen. Wenn ich ihn jetzt weckte, könnte ich ihm nicht gut begreiflich machen, was ich von ihm will; aber er hat einen Abendanzug in seinem Gepäck«, begann Mr. Tupman nach einer Weile. »Ich denke, Sie könnten ihn ganz gut auf dem Ball tragen; ich brächte ihn nachher wieder an Ort und Stelle, ohne daß er überhaupt etwas von der Sache erführe.«
»Glänzend!« meinte der Fremde. »Famose Idee – verdammt verdrießliche Lage – vierzehn Röcke in den Kisten – und jetzt fremde Kleider anziehen müssen – sehr guter Gedanke das – gewiß.«
»Wir müssen aber jetzt unsre Eintrittskarten lösen«, sagte Mr. Tupman.
»Nicht der Mühe wert, Guinee zu halbieren. – Wollen losen, wer für beide zahlt. – Ich rate – Sie werfen. Also: – Frauenzimmer – Frauenzimmer – holdes Frauenzimmer.«
Das Goldstück fiel nieder, und der Drache, aus Galanterie Frauenzimmer genannt, kam nach oben zu liegen.
Mr. Tupman klingelte, kaufte die Karten und ließ Kerzen bringen. In einer Viertelstunde war der Fremde mit Nathaniel Winkles Kleidern ausstaffiert.
»Es ist ein neuer Frack«, erklärte Mr. Tupman, als sich der Fremde mit großer Selbstgefälligkeit in einem Ankleidespiegel betrachtete. »Der erste, der mit unsern Klubknöpfen gemacht wurde.« – Er zeigte auf die vergoldeten Knöpfe, die die Buchstaben P.K. und dazwischen Mr. Pickwicks Brustbild aufwiesen.
»P.K.?« sagte der Fremde. – »Schnurriger Einfall – Bild des alten Knaben und P.K.? – Was bedeutet P.K.? – Seltsamer Frack – wie?«
Mr. Tupman erklärte mit steigendem Unwillen und großer Wichtigkeit die Bedeutung der geheimnisvollen Devise.
»Etwas kurz in der Taille – nicht?« meinte der Fremde und verrenkte sich, um im Spiegel einen Blick auf die rückwärtigen Knöpfe zu erhaschen, die allerdings so ziemlich zwischen den Schulterblättern saßen. »Gerade wie eine Briefträgerjacke – wunderliche Fräcke das – statutenmäßig angefertigt – kein Maß genommen – geheimnisvolle Schickung der Vorsehung. – Alle kleinen Leute kriegen lange Röcke – alle großen kurze.«
So fortschwatzend machte sich der Unbekannte seine – oder vielmehr Mr. Winkles – Garderobe zurecht und ging, von Mr. Tupman begleitet, die Treppe hinauf, die in den Ballsaal führte.
»Ihre Namen, meine Herren?« fragte der Türsteher.
Mr. Tupman wollte vortreten, um seinen Namen und Titel anzugeben, aber der Fremde verhinderte ihn daran.
»Nein. Keine Namen, ganz gute Namen – aber nicht bekannt – nicht berühmt genug – ganz famose Namen für eine kleine Reisegesellschaft, machen aber keinen Eindruck in öffentlichen Assemblees – inkognito besser – Herren von London – distinguierte Fremde – oder so.«
Die Türe wurde geöffnet, und Mr. Tracy Tupman und der Fremde traten in den Ballsaal.
Es war ein langer Raum mit scharlachrot ausgeschlagnen Bänken, der durch Wachskerzen in gläsernen Wandleuchtern erhellt wurde. Für die Musik war eine erhöhte Tribüne aufgeschlagen, und die Quadrillen wurden von zwei oder drei Reihen von Tänzern gewissenhaft absolviert. Zwei Spieltische standen in einem anstoßenden Zimmer, und zwei Paar alte Damen mit einer entsprechenden Anzahl Herren saßen beim Whist.
Die Tour war zu Ende; die Tänzer und Tänzerinnen promenierten im Saale, und Mr. Tupman pflanzte sich mit seinem Gefährten in einer Ecke auf, um die Gesellschaft zu beobachten.
»Entzückende Weiber«, meinte er.
»Warten Sie noch ein Weilchen«, sagte der Fremde. »Wird gleich lustiger. – Beste Gesellschaft fehlt noch – kurioses Nest – oberste Arsenalbeamten kennen nicht die untern – untere Arsenalbeamte nicht die niedern Patrizier – niedere Patrizier nicht die Kaufleute – Bezirkshauptmann kennt keinen Menschen.«
»Was ist das für ein junger Mensch, der dort, mit dem blonden Haare, den kleinen Augen und dem bunten Frack?« fragte Mr. Tupman.
»Pst, bitte – kleine Augen? – Bunter Frack? – Junger Mensch? – Fähnrich im siebenundneunzigsten Regiment. Wilmot Snipe Wohlgeboren – vornehme Familie – die Snipes – sehr vornehm.«
»Sir Thomas Clubber, Lady Clubber und Fräulein Töchter!« rief der Türsteher mit Stentorstimme.
Große Sensation. Unmittelbar darauf trat ein hochgewachsener Gentleman in blauem Frack mit blanken Knöpfen, begleitet von einer großen Dame in blauem Atlaskleid und zwei jungen Damen in sehr modernen Roben in derselben Farbe, in den Saal.
»Bezirkshauptmann – großes Tier – höchst bedeutender Mann«, flüsterte der Fremde Mr. Tupman ins Ohr, als der Wohltätigkeitsausschuß Sir Thomas Clubber nebst Familie nach dem obern Teile des Saales führte.
Wilmot Snipe, Wohlgeboren, nebst andern Gentlemen der besten Gesellschaft drängten sich an die Misses Clubber heran, um ihnen ihre Huldigungen darzubringen, und Sir Thomas Clubber stand bolzengerade da und betrachtete über sein schwarzes Halstuch hinweg die versammelte Gesellschaft.
»Mr. Smithie, Mrs. Smithie und Fräulein Töchter!« lautete die nächste Meldung des Türstehers.
»Wer ist Mr. Smithie?« fragte Mr. Tracy Tupman.
»Irgend ein Arsenalbeamter«, antwortete der Fremde.
Mr. Smithie verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor Sir Thomas Clubber, und Sir Thomas Clubber erwiderte den Gruß mit stolzer Herablassung. Lady Clubber belorgnettierte Mrs. Smithie nebst Familie, während Mrs. Smithie ihrerseits eine Mrs. Soundso anstarrte, deren Gatte nicht Arsenalbeamter war.
»Oberst Bulder nebst Frau Gemahlin und Fräulein Tochter«, waren die nächsten Ankömmlinge.
»Garnisonskommandant«, beantwortete der Fremde Mr. Tupmans fragenden Blick.
Miß Bulder wurde sehr warm von den Misses Clubber bewillkommt, und auch zwischen der Frau Oberst und Lady Clubber fand eine über alle Beschreibung zärtliche Begrüßung statt. Oberst Bulder und Sir Thomas Clubber boten sich gegenseitig ihre Dosen an und sahen ganz wie ein Paar Robinson Crusoes aus –, Alleinherrscher auf einer menschenleeren Insel.
Während die Aristokratie der Stadt – nämlich die Bulders, Clubbers und Snipes – in dieser Weise ihre Würde oben im Saal wahrte, ahmten die übrigen Klassen der Gesellschaft ihr Beispiel in den andern Teilen nach. Die weniger nobeln Offiziere des Siebenundneunzigsten widmeten sich den Familien der untergeordneten Arsenalbeamten. Die Frauen der Anwälte und Weinhändler standen an der Spitze einer dritten Kaste (die Frau des Brauers machte den Bulders einen Besuch), und Mrs. Tomlinson, die Gattin des Posthalters, schien durch stillschweigende Übereinkunft das Haupt der Frauen aus dem Handelsstande zu repräsentieren.
Eine der populärsten Personen war ein kleiner dickbäuchiger Herr mit einem in die Höhe gestrichnen Kranz von schwarzen Haaren, der eine ungeheure Glatze umgab – Doktor Slammer, Regimentsarzt beim Siebenundneunzigsten. Der Doktor schnupfte mit jedermann, lachte, tanzte, machte Witze, spielte Whist, kurz, tat alles und war überall. Aber noch viel wichtiger als alles das betrieb der kleine Doktor die Huldigung einer kleinen alten Witwe, deren kostbares, mit Schmuck überladenes Kleid sie als eine äußerst wünschenswerte Zugabe zu einem magern Einkommen bezeichnete.
»Klotzig reich – heiratslustige Alte – windbeuteliger Doktor – kein übler Gedanke – Mordsspaß.«
Mr. Tupman sah den Fremden fragend an.
»Will mit der Witwe tanzen«, sagte der Fremde.
»Wer ist sie?« fragte Mr. Tupman.
»Weiß nicht – in meinem Leben nie gesehen – den Doktor ausstechen. – Mal sehen.«
Der Fremde ging quer durch den Saal, lehnte sich an das Kaminsims und begann der fetten kleinen alten Dame Blicke ehrfurchtsvoller und melancholischer Bewunderung zuzuwerfen. Mr. Tupman sah in stummem Erstaunen zu. Der Fremde machte, während der kleine Doktor mit einer andern Dame tanzte, reißende Fortschritte. Die Witwe ließ ihren Fächer fallen; der Fremde hob ihn auf, überreichte ihn. – Ein Lächeln – eine Verbeugung – ein Knix – einige verbindliche Worte, dann ging er keck auf den Festordner los, kehrte mit ihm zurück – eine kleine einleitende Pantomime –, und schon trat er mit Mrs. Budger in die Quadrille ein.
So groß auch Mr. Tupmans Verwunderung über dieses summarische Verfahren war, so wurde sie doch durch die des Doktors bei weitem übertroffen. Der Fremde war jung, und die Witwe fühlte sich geschmeichelt. Des Doktors Aufmerksamkeiten blieben fortan unbeachtet, und seine entrüsteten Blicke machten auf seinen unerschütterlichen Nebenbuhler nicht den geringsten Eindruck. Doktor Slammer war außer sich. Er, der Doktor Slammer, Regimentsarzt vom Siebenundneunzigsten, im Augenblicke verdunkelt von einem Menschen, den niemand zuvor gesehen und von dem man auch jetzt noch nicht wußte, wer er war! Doktor Slammer, Doktor Slammer vom Siebenundneunzigsten, verschmäht! Unmöglich! Es konnte nicht sein! Aber doch war es so. Da standen sie. Was, er stellte ihr sogar seinen Freund vor? Doktor Slammer wollte seinen Augen nicht trauen. Abermals sah er hin und fühlte die schmerzliche Notwendigkeit, sich zuzugestehen, daß ihn seine Sehorgane nicht betrogen. Mrs. Budger tanzte mit Mr. Tracy Tupman, da war kein Irrtum mehr möglich. Ja, es war leibhaftig die Witwe, die da mit ungewöhnlicher Leichtigkeit an ihm vorbeihüpfte, und Mr. Tracy mit der allerfeierlichsten Miene desgleichen, und sie tanzten, als sei eine Quadrille nichts Belustigendes, sondern eine Feuerprobe des Herzens, die größte Standhaftigkeit heische.
Stumm und geduldig ertrug der Doktor alles das, ebenso auch das darauf folgende Präsentieren von Glühwein und Konfekt, nebst dem Kokettieren, das von solchen Aufmerksamkeiten untrennbar ist. Als jedoch der Fremde verschwand, um Mrs. Budger zu ihrem Wagen zu geleiten, stürzte Doktor Slammer rasch aus dem Saale, und jedes Teilchen seines bisher eingestöpselten Grimmes brauste auf und trat ihm in großen Schweißtropfen auf die zornrote Glatze.
Der Fremde kehrte mit Mr. Tupman zurück. Er sprach leise und lachte. Der kleine Doktor dürstete nach seinem Blute. Offenbar fühlte sich sein Nebenbuhler als Sieger und frohlockte darüber!
»Sir!« sagte der Doktor mit furchtbarer Stimme, trat in die Ecke zu seinem Gegner und zog eine Karte hervor. »Mein Name ist Slammer, Doktor Slammer – beim siebenundneunzigsten Regiment –, Chathamkaserne. – Hier meine Karte, mein Herr.«
»Ah«, entgegnete der Fremde kaltblütig, »Slammer – sehr verbunden – ungemein aufmerksam – jetzt nicht krank. – Slammer – werde im Bedarfsfall nach Ihnen schicken.«
»Sie – Sie sind ein Intrigant, mein Herr«, keuchte der Doktor wütend. »Ein Poltron – eine Memme – ein Lügner – ein – ein … Werden Sie mir nicht endlich Ihre Karte geben, Sir?«
»Aha – starker Glühwein hier – gutmütiger Wirt – sehr töricht, sehr – Limonade viel besser – zu heiß im Saal – ältere Herrn – haben dann morgen Katzenjammer – böse Sache«, sagte der Fremde und machte Miene, sich zu entfernen.
»Sie wohnen hier im Hause, Sir«, knirschte der zornige kleine Mann. »Sie sind jetzt betrunken, Sir. Sie werden morgen von mir hören, Sir. Ich will Sie schon ausfindig machen, Sir.«
»Meinetwegen, wenn’s Ihnen Freude macht«, versetzte der unbeirrbare Fremde.
Doktor Slammer setzte mit einem Giftblick und einem zornigen Klaps seinen Hut auf, und der Fremde und Mr. Tupman gingen in das Schlafgemach, um das erborgte Gefieder wieder in den Handkoffer des nichtsahnenden Mr. Winkle zu stecken.
Der Gentleman lag in tiefem Schlafe, und so war denn die Rückerstattung bald vollzogen, und dem von Sherry, Glühwein, Lichtern und Damen verwirrten Mr. Tracy Tupman kam die ganze Sache als ein ausgezeichneter Spaß vor. Der neue Freund entfernte sich, und Mr. Tupman half sich, nachdem er mit einiger Mühe die ursprünglich für den Kopf berechnete Öffnung seiner Nachtmütze gefunden und bei seinen Anstrengungen, dem Lichte einen passenden Platz anzuweisen, den Leuchter umgeworfen hatte, durch eine Reihe komplizierter Evolutionen in sein Bette, in dem er kurz darauf in tiefen Schlaf verfiel.
Am nächsten Morgen hatte es kaum Sieben ausgeschlagen, als Mr. Pickwicks reger Geist aus dem Zustande der Bewußtlosigkeit, in den der Schlummer ihn gewiegt, durch ein lautes Pochen an der Zimmertür geweckt wurde.
»Wer ist da?« rief Mr. Pickwick, von seinem Kissen auffahrend.
»Der Hausknecht, Sir.«
»Was wollen Sie?«
»Bitte, können Sie mir nicht sagen, welcher Herr von Ihrer Gesellschaft einen blauen Frack mit vergoldeten Knöpfen trägt, mit den Buchstaben P.K. drauf?«
Der Rock wird zum Ausbürsten hinausgehängt worden sein, überlegte sich Mr. Pickwick, und der Mann hat vergessen, wem er gehört. – »Mr. Winkle«, rief er laut. »Im dritten Zimmer rechts.«
»Danke, Sir«, versetzte der Hausknecht und entfernte sich.
»Was gibt’s?« rief Mr. Tupman, als ein lautes Klopfen an seiner Türe ihn aus seiner tiefen Ruhe aufschreckte.
»Kann ich mit Mr. Winkle sprechen, Sir?« entgegnete der Hausknecht von außen.
»Winkle! – Winkle!« rief Mr. Tupman ins Nebenzimmer.
»Hallo?« antwortete eine schwache Stimme unter der Bettdecke hervor.
»Jemand will Sie sprechen. An der Tür.«
Nachdem sich Mr. Tracy Tupman soweit angestrengt hatte, drehte er sich auf die andre Seite und fiel sofort wieder in tiefen Schlaf.
»Mich sprechen?« brummte Mr. Winkle, sprang aus seinem Bette und zog in größter Eile ein paar Kleidungsstücke an. »Mich? Hier, so weit von London? Wer, um Himmels willen, kann hier etwas von mir wollen?«
»Ein Herr im Gastzimmer, Sir«, versetzte der Hausknecht, als Mr. Winkle die Tür öffnete. »Der Herr sagte, er wolle Sie nicht lange aufhalten, Sir, könne sich aber durchaus nicht abweisen lassen.«
»Höchst seltsam!« dachte Mr. Winkle. »Nun, ich werde gleich hinunter kommen.«
Er hüllte sich rasch in einen Reiseschal, zog seinen Schlafrock an und ging die Stiege hinunter. Eine alte Frau und ein paar Kellner scheuerten das Gastzimmer. Ein Offizier in Halbuniform blickte aus dem Fenster, wandte sich dann mit einer steifen Verbeugung an den eintretenden Mr. Winkle, befahl dem Dienstpersonal, sich zu entfernen, und schloß sorgfältig die Türe.
»Mr. Winkle, wie ich vermute?«
»Das ist allerdings mein Name, Sir.«
»Es wird Sie wahrscheinlich nicht überraschen, Sir, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich Sie in der Angelegenheit eines Freundes, des Doktors Slammer, von Siebenundneunzig, besuche.«
»Doktor Slammer?« fragte Mr. Winkle erstaunt.
»Doktor Slammer. Er bat mich, Ihnen in seinem Namen zu sagen, daß Ihr Benehmen gestern abend nicht der Art war, daß es sich ein Mann von Ehre gefallen lassen kann und wie es sich kein Mann von Ehre gegen einen andern erlauben würde.«
Mr. Winkles Erstaunen war zu echt und zu augenfällig, um Mr. Slammers Sekundanten zu entgehen.
»Mein Freund Doktor Slammer«, fuhr er daher fort, »ersuchte mich, hinzuzufügen, daß er fest überzeugt sei, Sie wären einen großen Teil des gestrigen Abends betrunken gewesen und wüßten daher vielleicht nichts mehr von dem Umfang der Beleidigung, die Sie sich zuschulden kommen ließen. Er trug mir deshalb auf, Ihnen zu sagen, daß er sich, wenn Sie diesen Umstand als eine Entschuldigung Ihres Benehmens geltend machen wollten, mit einer schriftlichen Abbitte, die ich Ihnen in die Feder zu diktieren hätte, begnügen wolle.«
»Eine schriftliche Abbitte?« wiederholte Mr. Winkle im Tone grenzenlosen Staunens.
»Sie wissen natürlich, welche Wahl Ihnen übrig bleibt«, versetzte der Offizier kühl.
»Wurde Ihnen dieser Auftrag wirklich für mich übergeben?« fragte Mr. Winkle, dessen Sinne sich immer mehr verwirrten.
»Ich war nicht anwesend«, entgegnete der Besuch, »und infolge Ihrer entschiednen Weigerung, Doktor Slammer Ihre Karte zu geben, hat mich besagter Herr gebeten, mir über die Identität des Besitzers eines höchst ungewöhnlichen Rockes – eines blauen Fracks mit vergoldeten Knöpfen, auf denen sich ein Brustbild und die Buchstaben P.K. befinden – Gewißheit zu verschaffen.«
Mr. Winkle wäre vor Entsetzen beinahe umgesunken, als er seinen eignen Frack so genau beschreiben hörte. Doktor Slammers Freund fuhr fort:
»Den hier im Gasthofe soeben angestellten Recherchen zufolge gelangte ich zu der Überzeugung, daß der Eigentümer des fraglichen Kleidungsstückes gestern nachmittag mit drei Herren hier angekommen ist. Ich sandte sogleich zu dem Herrn, der mir als mutmaßliche Hauptperson der Gesellschaft beschrieben wurde, und dieser selbst hat mich an Sie verwiesen.«
Wenn es dem Hauptturm von Rochester-Castle plötzlich eingefallen wäre, seinen Platz zu verlassen und sich gerade dem Gasthofe gegenüber aufzupflanzen, so hätte Mr. Winkle nicht überraschter sein können. Sein erster Gedanke war, sein Frack sei ihm vielleicht gestohlen worden.
»Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?« fragte er.
»Bitte sehr.«
Hastig eilte er die Treppe hinauf und öffnete mit zitternden Händen seinen Reisesack. Der Frack lag an seinem gewohnten Platze; genauere Besichtigung zeigte jedoch deutliche Spuren, daß er in der letzten Nacht getragen worden war.
»Es muß doch seine Richtigkeit haben«, sagte sich Mr. Winkle, und der Rock entglitt seinen Händen. »Ich habe nach dem Diner zuviel Wein getrunken und entsinne mich dunkel, daß ich nachher auf der Straße spazieren ging und eine Zigarre rauchte. Ja, ja, so muß es sein. Ich war sehr betrunken, muß mich umgekleidet – und jemanden beleidigt haben. Es ist kein Zweifel. Und dieser Besuch ist jetzt die schreckliche Folge.«
Mr. Winkle lenkte seine Schritte wieder gastzimmerwärts mit dem düstern und schrecklichen Entschlusse, die Herausforderung des kampflustigen Doktors Slammer anzunehmen und so das Schlimmste über sich ergehen zu lassen.
Rücksichten verschiedenster Art drängten ihn zu diesem verzweifelten Entschlusse, unter denen sein Ruf im Klub nicht die geringste war. Er hatte bei sportlichen Angelegenheiten offensiver, defensiver und inoffensiver Art, wenn es sich dabei um Kraft und Gewandtheit handelte, stets als hohe Autorität gegolten, und wenn er nun bei dem ersten wirklich ernsten Anlasse unter den Augen seines Meisters scheu zurückbebte, war es um sein Ansehen für immer geschehen. Außerdem erinnerte er sich, von in derartigen Dingen erfahrnen Leuten gehört zu haben, daß zufolge geheimen Einverständnisses unter den Sekundanten die Pistolen nur selten mit Kugeln geladen würden, und dann zog er auch noch weiter in Erwägung, daß Mr. Snodgraß, wenn er ihn zum Sekundanten wählte und ihm die Gefahr in recht glühenden Farben schilderte, vielleicht Mr. Pickwick in Kenntnis setzen dürfte, der dann ohne Zweifel keinen Augenblick säumen würde, den Beistand der Polizei anzurufen, um auf diesem Wege den Tod eines seiner lieben Jünger zu verhindern.
Das waren so seine Gedanken, als er in das Gastzimmer zurückkehrte und daselbst seine Absicht kund gab, die Herausforderung des Doktors anzunehmen.
»Wollen Sie mir einen Vertreter namhaft machen, damit ich Ort und Stunde der Zusammenkunft festsetzen kann?« fragte der Offizier.
»Ganz unnötig«, entgegnete Mr. Winkle. »Sie können beides mir namhaft machen. Für einen Sekundanten werde ich sodann schon Sorge tragen.«
»Paßt es Ihnen heute abend vor Sonnenuntergang?« fragte der Offizier in gleichgültigem Tone.
»Sehr gut«, entgegnete Mr. Winkle, dachte jedoch innerlich, »sehr schlimm.«
»Kennen Sie das Fort Pitt?«
»Ja, ich habe es gestern gesehen.«
»Dann bitte ich Sie, sich auf dem Felde, das den Laufgraben abschließt, auf den Platz zu bemühen, wo die Schanze einen Winkel bildet, den Fußpfad linker Hand einzuschlagen und geradeaus zu gehen, bis Sie meiner ansichtig werden. Ich werde die Herren dann nach einer geschützten Stelle führen, wo die Angelegenheit abgemacht werden kann, ohne daß wir eine Störung zu befürchten haben.«
»Störung zu befürchten!!« dachte Mr. Winkle.
»Das wäre wohl alles, dächte ich«, sagte der Offizier.
»Ich wüßte auch nicht, was noch zu besprechen wäre«, entgegnete Mr. Winkle.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen.«
Der Offizier pfiff eine Arie und entfernte sich.
Beim Frühstück herrschte eine ziemlich trübselige Stimmung. Mr. Tupman war nach der durchschwärmten Nacht nicht in der Lage, aufstehen zu können, Mr. Snodgraß schien an einer poetischen Depression zu laborieren, und selbst Mr. Pickwick zeigte eine ungewöhnliche Vorliebe für Schweigen und Sodawasser. Mr. Winkle paßte ängstlich auf eine günstige Gelegenheit. Diese ließ nicht lange auf sich warten. Mr. Snodgraß machte den Vorschlag, das Kastell zu besichtigen, und da Mr. Winkle der einzige von der Gesellschaft war, der Lust zu einem Spaziergang bezeugte, gingen sie miteinander aus.
»Snodgraß«, begann Mr. Winkle, als sie die belebteren Straßen hinter sich hatten, »mein lieber Snodgraß, kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?« Im Innersten seines Herzens dachte er: »Ach, wäre es doch nicht der Fall.«
»Unbedingt«, beteuerte Mr. Snodgraß. »Ich schwöre es Ihnen bei allem …«
»Nein, nein«, unterbrach ihn Mr. Winkle, erschreckt durch den Gedanken, Mr. Snodgraß könnte sich unwillkürlich durch einen Eid die Zunge binden. »Schwören Sie nicht, schwören Sie nicht; es ist ganz und gar unnötig.«
Mr. Snodgraß ließ die Hand, die er in poetischem Schwunge zu den Wolken erhoben hatte, wieder sinken und nahm die Miene gespanntester Aufmerksamkeit an.
»Ich bedarf Ihres Beistandes in einer Ehrensache, lieber Freund!«
»Mit Freuden«, versetzte Mr. Snodgraß und drückte voll Wärme die Hand Mr. Winkles.
»Mit einem Doktor, Doktor Slammer vom siebenundneunzigsten Regiment«, sagte Mr. Winkle, der die Sache so feierlich wie möglich machen wollte, »eine Ehrensache mit einem Offizier, dem ein Kamerad sekundiert, heute abend vor Sonnenuntergang, auf einem abgelegnen Felde, in der Nähe des Forts Pitt.«
»Sie können auf mich rechnen«, versicherte Mr. Snodgraß. Er war zwar erstaunt, aber keineswegs fassungslos.
Merkwürdig, wie kaltblütig alle – die Beteiligten ausgenommen – eine solche Sache nehmen. Mr. Winkle hatte das nicht bedacht und die Gefühle seines Freundes nach den eignen eingeschätzt.
»Die Folgen können schrecklich sein«, gab Mr. Winkle zu bedenken.
»Hoffentlich nicht«, meinte Mr. Snodgraß.
»Der Doktor ist, glaube ich, ein sehr guter Schütze.«
»Das sind Offiziere meistens«, bemerkte Mr. Snodgraß ruhig. »Aber Sie sind’s doch auch, nicht wahr?«
Mr. Winkle bejahte und änderte, da er seinen Gefährten nicht hinreichend bestürzt sah, seine Taktik.
»Snodgraß«, sagte er mit von Erregung bebender Stimme, »wenn ich falle, so werden Sie in einem Paket, das ich in Ihre Hände zu legen gedenke, einen Brief finden an – an meinen Vater.«
Auch diese Attacke schlug fehl. Mr. Snodgraß war zwar gerührt, übernahm aber die Besorgung des Schreibens so bereitwillig wie ein Briefträger.
»Wenn ich fallen sollte«, fuhr Mr. Winkle fort, »oder wenn der Doktor fällt, so werden Sie, als bei der Sache beteiligt, vor Gericht gestellt. Schrecklich, der Gedanke, meinen Freund der Gefahr der Deportation, wenn nicht noch Schlimmerem, auszusetzen!«
Mr. Snodgraß kratzte sich zwar ein wenig den Kopf, aber sein Heroismus war unerschütterlich. »Wenn es Freundespflicht gilt«, rief er begeistert, »biete ich allen Gefahren Trotz.«
Wie verwünschte Mr. Winkle in seinem Innern die aufopfernde Freundschaft seines Gefährten, als sie einige Minuten schweigend nebeneinander gingen, beide tief in Gedanken versunken.
Der Morgen entschwand, und Mr. Winkle geriet in Verzweiflung.
»Snodgraß«, sagte er, plötzlich halt machend, »daß uns nur ja keine Störung dazwischen kommt! Sie dürfen durchaus nicht etwa eine Anzeige machen oder die Polizei anrufen, um durch meine oder die Verhaftung des Doktors Slammer vom siebenundneunzigsten Regiment, wohnhaft in der Chatham-Kaserne, diesem Duelle vorzubeugen. Ich sage Ihnen, tun Sie es nicht.«
Mr. Snodgraß ergriff die Hand seines Freundes mit Wärme und beteuerte enthusiastisch: »Seien Sie unbesorgt!«
Ein Schauder überlief Mr. Winkle, als er die schreckliche Überzeugung gewann, daß er von der Ängstlichkeit seines Freundes nichts zu hoffen habe und bestimmt sei, das lebende Ziel einer Feuerwaffe zu werden.
Nachdem die Lage der Dinge mit allen Nebenumständen mit Mr. Snodgraß erörtert worden und in einem Kaufladen Pistolen, Pulver, Blei und Zündhütchen besorgt waren, kehrten die beiden Freunde in den Gasthof zurück; Mr. Winkle, um über das bevorstehende Duell nachzudenken, und Mr. Snodgraß, um die Waffen für den augenblicklichen Gebrauch in gehörigen Stand zu setzen.
Es war ein trüber unfreundlicher Abend, als sich beide auf den Weg machten. Mr. Winkle hatte sich, um der Beobachtung der Leute zu entgehen, in einen ungeheuren Mantel gehüllt, und Mr. Snodgraß trug unter dem seinen die Werkzeuge der Zerstörung.
»Haben Sie alles bei sich?« fragte Mr. Winkle mit erstickter Stimme.
»Alles«, erwiderte Mr. Snodgraß. »Auch Munition die Fülle, wenn die ersten Schüsse resultatlos verlaufen sollten. Ein Viertelpfund Pulver in der Schachtel und zwei Zeitungen zum Pfropfen in der Tasche.«
Das waren Freundschaftsbeweise, für die sich jeder Mensch hätte ungemein verpflichtet fühlen müssen. Vermutlich waren aber Mr. Winkles Dankesgefühle zu übermächtig, um sich in Worten ausdrücken zu lassen, denn er sagte nichts und ging, wenn auch ziemlich langsam, weiter.
»Wir kommen ganz zur rechten Zeit«, bemerkte Mr. Snodgraß, als sie über die Hecke des ersten Feldes kletterten. »Die Sonne ist eben im Untergehen begriffen.«
Mr. Winkle blickte auf den sinkenden Feuerball und dachte mit Schmerz an die Möglichkeit seines eignen »Untergangs«, der ihm in so kurzer Frist bevorstehen konnte.
»Dort ist der Offizier«, rief er, nachdem sie wieder einige Minuten gegangen waren.
»Wo?«
»Dort! Der Herr in dem blauen Mantel.«
Mr. Snodgraß blickte in die Richtung, die ihm der Finger seines Freundes wies, und gewahrte eine verhüllte Gestalt. Durch ein Winken mit der Hand gab der Offizier zu erkennen, daß er ihrer gleichfalls ansichtig geworden, und die Freunde folgten ihm in einiger Entfernung.
Der Himmel wurde mit jedem Augenblick trüber, und melancholisch heulte der Wind über die einsamen Felder wie ein Riese, der seinem Hunde pfeift. Das Düstere der Szene stimmte Mr. Winkle todestraurig. Er schauerte zusammen, als er an dem Laufgraben vorbeikam – er sah aus wie ein kolossales Grab.
Der Offizier bog plötzlich von dem Fußpfade ab, klomm über ein Pfahlwerk, stieg über eine Hecke, und sie gelangten auf ein abgeschlossnes Feld. Zwei Herren warteten bereits dort; der eine ein kleiner wohlbeleibter Mann mit schwarzem Haar, der andre eine stattliche Erscheinung in einem militärischen Überrock, mit vollkommenem Gleichmut auf einem Feldstuhle sitzend.
»Die Gegenpartei und ein Wundarzt vermutlich«, sagte Mr. Snodgraß. »Nehmen Sie ein Tröpfchen Branntwein.«
Mr. Winkle ergriff die Feldflasche, die ihm sein Freund hinreichte, und tat einen langen Schluck der belebenden Flüssigkeit.
»Mein Freund Mr. Snodgraß, Sir«, stellte er vor, als der Offizier herantrat.
Doktor Slammers Sekundant verbeugte sich und brachte ein ähnliches Futteral, wie Mr. Snodgraß eines bei sich führte, zum Vorschein.
»Ich denke, weitere Worte sind wohl überflüssig«, begann er kaltblütig, als er den Pistolenkasten öffnete, »da eine Abbitte entschieden abgelehnt wurde.«
»Ganz Ihrer Meinung, Sir«, versetzte Mr. Snodgraß, dem es langsam schwül zumute wurde.
»Wollen Sie vielleicht die Schritte abzählen!«
»Bitte sehr«, entgegnete Mr. Snodgraß.
Die Distanz wurde abgeschritten und die weiteren Vorbereitungen getroffen.
»Sie werden diese Waffen besser als Ihre eignen finden«, sagte der Sekundant der Gegenpartei und bot seine Pistolen an. »Sie haben doch beim Laden zugesehen? Oder haben Sie vielleicht etwas gegen deren Benützung einzuwenden?«
»Nicht das mindeste«, versicherte Mr. Snodgraß. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, denn er hatte nur sehr schleierhafte Begriffe vom Laden einer Pistole.
»So können wir, denke ich, jetzt unsre Duellanten aufstellen«, bemerkte der Offizier mit einer Gleichgültigkeit, als wären die beiden Gegner Schachfiguren und die Sekundanten die Spieler.
»Ja, das können wir«, erwiderte Mr. Snodgraß, der in seiner Unerfahrenheit in solchen Dingen zu jedem Vorschlage ja gesagt haben würde.
Der Offizier verfügte sich zu Doktor Slammer, und Snodgraß trat an Mr. Winkles Seite.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er und händigte seinem Freunde die Pistole ein. »Geben Sie mir Ihren Mantel.«
»Sie haben doch den Brief an sich genommen, teurer Freund?« fragte der arme Winkle.
»Alles in Ordnung. Zielen Sie ruhig und schießen Sie ihn durch die Schulter.«
Mr. Winkle dachte, dieser Rat wäre so ziemlich wie jener, den gewöhnlich die Zuseher den kleinen Jungen bei Straßenboxkämpfen zu geben pflegen: »Nur fest drauf und gib’s ihm ordentlich« – etwas, das sich recht hübsch anhört, wenn man nur wüßte, wie es anfangen. Er legte jedoch schweigend seinen Mantel ab – es brauchte eine geraume Weile, bis er damit zustande kam – und ergriff die Pistole. Die Sekundanten traten zurück, der Mann auf dem Feldstuhl tat ein Gleiches, und die Duellanten gingen aufeinander zu.
Mr. Winkle stand in dem Rufe einer außerordentlichen Menschenfreundlichkeit. Vermutlich war auch sein Wunsch, niemanden absichtlich zu verletzen, die einzige Ursache, warum er, kaum an der verhängnisvollen Stelle angelangt, die Augen schloß und daher das seltsame und unerklärliche Benehmen des Doktors Slammer nicht gewahren konnte. Dieser stutzte nämlich, sah seinen Gegner an, trat zurück, rieb sich die Augen, sah wieder hin und rief endlich:
»Halt! Halt!«
»Was soll das heißen«, sagte er, als die beiden Sekundanten zu ihm eilten. »Das ist nicht der Mann.«
»Nicht der Mann?« sagte Doktor Slammers Freund.
»Nicht der Mann?« wiederholte Mr. Snodgraß.
»Nicht der Mann?« rief der Gentleman mit dem Feldstuhle in der Hand.
»Bestimmt nicht«, entgegnete der kleine Doktor. »Das ist nicht die Person, die mich gestern nacht beleidigte.«
»Höchst sonderbar!« rief der Offizier.
»Allerdings«, sagte der Gentleman mit dem Feldstuhle mit Autoritätsmiene und nahm eine Prise. »Die Frage ist nur, ob dieser Herr, da er auf dem Kampfplatze erschien, nicht formell als das Individuum betrachtet werden muß, das gestern nacht unsern Freund Doktor Slammer beleidigte, mag es nun dieselbe Person sein oder nicht.«
Mr. Winkle hatte die Augen geöffnet und die Ohren dazu, als er seinen Gegner von Einstellung der Feindseligkeiten sprechen hörte. Er begriff sofort, daß offenbar ein Mißverständnis vorlag und es sein Ansehen ungemein heben müßte, wenn er den wahren Grund seines Erscheinens auf dem Kampfplatze verschwieg. Er trat daher kühn vor und sprach:
»Nein, ich bin’s nicht. Ich weiß es.«
»Dann ist es eine Verhöhnung Doktor Slammers«, sagte der Mann mit dem Feldstuhl. »Grund genug, in der Sache fortzufahren.«
»Ich bitte, einen Augenblick, Payne«, fiel ihm der Sekundant ins Wort. »Warum haben Sie mir das nicht heute morgen mitgeteilt, Sir?«
»Ja, ja, warum nicht – warum nicht?« wiederholte der Herr mit dem Feldstuhl unwillig.
»Ich bitte, lassen Sie mich machen, Payne«, mischte sich der Offizier ein. »Muß ich meine Frage wiederholen, Sir?«