Die Pionierin im ewigen Eis - Agnes Imhof - E-Book
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Agnes Imhof

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Beschreibung

Eine Frau im ewigen Eis und ein Baby, geboren in der Polarnacht

1891. Grönland, raue Schönheit und die Heimat der fremden Inuit – voller Neugier und Lust auf Abenteuer startet Josephine Peary zu ihrer ersten Arktisexpedition. Sie ist überglücklich, ihren Mann Robert begleiten zu dürfen. Indem sie Freundschaft mit der Inuk Arnakittoq schließt und akribisch Tagebuch führt, gelingt es ihr sogar, einen wissenschaftlichen Beitrag zu leisten. Als sie schwanger wird, ist Josephines Glück perfekt. Allerdings hat sich die Beziehung zu Robert verändert, ihm missfällt die Eigenständigkeit seiner Frau. Hat ihre Liebe in der Kälte des Nordens eine Chance?

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Covergestaltung- und Motiv: Johannes Wiebel | punchdesign unter Verwendung von Motiven von AdobeStock

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

Washington, 1890

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

1893

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

1909

Der Nordpol

Epilog 1955

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog

Vor den fernen Gletschern wirkte das Schiff verloren, lag mit gerefften Segeln reglos vor Anker. Weiß, blau und türkis schimmernd gaben bizarr geformte Eisberge das saphirblaue Wasser frei, als öffne sich hinter ihnen das Tor zum Ende der Welt. Ein Aufbruch in unerforschte Wildnis. Eine Welt der Legenden, die ihre frostigen Finger nach dem hilflosen letzten Vorposten der bewohnten Welt ausstreckte, von Abenteuern und großen Entdeckungen flüsterte. Schattenhaft huschten die Leiber von Robben und Walen durch die bodenlose Tiefe. Irgendwo in der Ferne war das Donnern kalbender Gletscher zu hören, wurde vom Wind kilometerweit aufs Meer hinausgetragen. Der Horizont verlor sich im Süden, und ein Frosthauch trieb ihr das Polarfuchsfell der Kapuze ins Gesicht. Über den Spitzen der Eisberge wirbelte er Abertausende dieser glitzernden Edelsteine auf. Funken der Freiheit. Sterne an einem Tag ohne Nacht …

Josephine schreckte aus ihren Erinnerungen hoch, als die Kapelle zu spielen begann. Für einen Moment hatte sie sich verloren in einer lange vergangenen Zeit. Weit weg von Washington im Jahr 1955, von ihrem Platz hinter der Bühne im Vortragssaal. Zurück in Grönland.

»Wir sind gleich so weit, Mrs Peary«, sagte der Saaldiener wohlwollend. »Dann dürfen Sie mir aufs Podium folgen.« Er wollte nach ihrem Arm greifen.

»Lassen Sie nur. Ich bin zweiundneunzig, aber nicht schwachsinnig«, erwiderte Josephine amüsiert. Etwas beleibter als damals, als alles begonnen hatte – damals, als sie noch keine siebenundzwanzig war. Mehr Falten, und das Haar war längst nicht mehr dunkel. Die Jahre zwischen 1890 und 1955 hatten ihre Spuren hinterlassen. Sie tastete nach den Haarnadeln aus Rentiergeweih, die sie noch immer trug.

»Die Medal of Achievement der National Geographic Society!«, rief Marie und half ihrer Mutter auf. Schwerfällig kam Josephine auf die Füße. Gestützt auf ihre Tochter ging sie auf die offene schmale Tür zur Bühne.

»Sie muss nicht vorgestellt werden«, sagte die Stimme auf dem Podium. »Heißen Sie mit mir die Witwe des Nordpolentdeckers Robert Edwin Peary willkommen, die uns alle mit ihren Veröffentlichungen über die Völker der Arktis beeindruckt hat. Heute wollen wir sie für ihr Lebenswerk ehren: Mrs Josephine Diebitsch-Peary.«

Es war noch immer eine Überwindung, vor Menschen zu sprechen. Sie hatte nie gelernt, im Mittelpunkt zu stehen. Als sie jung gewesen war, hatten Frauen nicht die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und wenn sie es doch taten, hatten sie eine gute Entschuldigung dafür. Josephine atmete noch einmal durch und drückte die Hand ihrer Tochter. Dann trat sie ins Rampenlicht.

Viele der Gäste im Publikum kannte sie, andere waren ihr völlig fremd. Es hatte sich so viel verändert seit damals. Die Frauen trugen nun Bubikopf und Petticoats, die Röcke wurden jedes Jahr kürzer. Die Männer waren fast alle glatt rasiert. Damals, als Bert wochenlang im Inlandeis gewesen war, hatte er das reinste Gestrüpp im Gesicht gehabt. Es war kaum zu erkennen gewesen, wo das Fell der Kapuze aufhörte und der Bart begann. Seine wasserhellen Augen waren so lebhaft, ganz egal, wie kältestarr auch die einzelnen Glieder waren. Selbst halb tot hatte er noch dieses Feuer versprüht.

»… und müssen hier nicht Mrs Diebitsch-Pearys Verdienste um die Erforschung der Arktis hervorheben. Mit ihren Büchern hat sie ungeahnte Einblicke in das Leben der arktischen Völker ermöglicht. Mrs Peary stammt aus einer Familie von Intellektuellen. Ihre Vorfahren sind aus Deutschland eingewandert, und sie wuchs auf einer Farm in Maryland und später in Washington auf …«

Das Gebell der Schlittenhunde war ihr so vertraut geworden. Das Gefühl, in ihrer Mitte beschützt zu sein, als wäre sie Teil ihrer Meute, gab ihr Geborgenheit – das Wissen, dass in dieser Weite jemand an ihrer Seite war. Das Winseln, wenn sie morgens den Schnee aus dem Fell schüttelten, aufgeregt, begierig zu laufen, mit ihren strahlend hellblauen Augen und dem grauweißen oder gelblichen Fell, war der pure Ausdruck von Lebensfreude. Das übermütige Jaulen, wenn sie nach den Fetzen von Robbenfleisch sprangen, die sie ihnen zuwarf, dieses Spielerische im Angesicht der unbarmherzigen Kälte hatte sie von Anfang an fasziniert. Manchmal, wenn der Sturm in ihre Felljacke fuhr, wenn sie schwanzwedelnd um sie herumwuselten, die einzige Gesellschaft in dieser endlosen, sturmumtosten, eisigen Wüste, hatte sie fast vergessen, dass sie keine von ihnen war.

»Im Juni 1891 begann Mrs Peary ihre erste Reise nach Grönland …«

Josephines Lippen zuckten. Damals wäre es niemand eingefallen, dass sie eines Tages dafür geehrt werden könnte. Bestenfalls hatte man sie als Trick ihres Mannes abgetan, um Aufmerksamkeit für sein Projekt zu gewinnen. Wenn es Anerkennung versprochen hätte, hätte es jede getan. Aber Anerkennung versprach es damals ganz sicher nicht für eine Frau. Damals … 1890, als alles mit einem ganz anderen Vortrag begonnen hatte …

Washington, 1890

Kapitel 1

»Es geht um das größte Abenteuer von allen, im wahrsten Sinne des Wortes um den letzten weißen Flecken auf der Landkarte.«

Das Publikum lachte, und Bert vorn auf dem Podium verbeugte sich. Sie würden noch größere Augen machen, wenn er ihnen die eigentliche Enthüllung machen würde. Er sah gut aus, dachte Josephine stolz, in der weißen Uniform der Navy, mit den goldglänzenden Schulterepauletten und dem eleganten Schnurrbart. Seine entschlossenen, hellen Augen blickten unter geraden Brauen und rötlichbraunem, seitlich gescheiteltem Haar hervor. Es war nicht einfach, diese leichten Naturlocken zu bändigen. Heute Morgen hatte sie eine Ewigkeit gebraucht, sie zu glätten. Robert Edwin Peary – der perfekte amerikanische Offizier: intelligent, durchsetzungsstark, maskulin und, nicht zu vergessen, schneidig anzusehen.

Der Saal war brechend voll. Wer in Washington etwas auf sich hielt, war erschienen. Alle wollten den jungen Polarforscher sehen, der so unerschrocken in die letzten unbekannten Regionen der Welt vorgedrungen war: frostige Wüsten voller Stürme und wilder Tiere, der letzte Prüfstein wahrer Männlichkeit.

»Mr Peary«, rief jemand. »Sie sind weiter als jeder andere bisher ins Innere Grönlands vorgedrungen. Wie weit genau?«

»Wenn ich Ihnen das nur sagen könnte«, erwiderte Bert trocken, was ihm neue Lacher einbrachte. »Es war stürmisch, und das Wetter verhinderte nicht nur die Weiterreise, sondern auch die genaue Bestimmung des Orts. Aber ich denke, es sollten gute 150 Kilometer ins Landesinnere gewesen sein.« Er trat ein Stück hinter dem Rednerpult hervor und ergänzte: »Aber wichtig ist doch vor allem, wo ich bei meiner nächsten Expedition sein werde: am Nordpol!«

Die Leute applaudierten, und er blickte zu ihr hinüber. Josephine in ihrem eleganten Kleid aus glänzender Seide fühlte sich wie eine Königin. So einfach, wie er es darstellte, würde es sicher nicht werden. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war, dass er das Geld für die Expedition bekam.

»Nur mit dem Hundeschlitten bin ich in Welten vorgedrungen, die noch nie ein Amerikaner, ja, überhaupt ein Weißer, je gesehen hat.«

Und mit deiner Begeisterung und deinem Ehrgeiz, dachte Josephine zärtlich. Es war faszinierend, wie es ihm gelang, die Menschen zu fesseln. Am warmen Kamin sitzend, träumten sie von großen Abenteuern und Entdeckungen in den unwirtlichsten Regionen der Welt. Von den Geschichten aus fernen Ländern, die sie in Büchern lasen, Expeditionen, die sie selbst nie zu unternehmen wagen würden.

»Sehen Sie, junge Lady«, meinte der ältere Herr neben ihr im maßgeschneiderten Gehrock. »Hier endet dieses ganze neumodische Getue mit der Gleichberechtigung. Nennen Sie mir eine Frau, die nach Grönland auf eine Expedition fahren könnte.«

»Ich würde es tun«, erwiderte sie.

Er lachte, dass sein grauer Spitzbart zitterte. »Mein liebes Kind, Ihr hübsches Näschen würde Ihnen nach einer halben Stunde abfrieren. Wussten Sie, dass die Kälte einem ganze Gliedmaßen abfallen lässt?«

»Ja, davon habe ich gehört«, erwiderte Josephine belustigt. Sie bezweifelte, dass er so etwas schon gesehen hatte. Sie schon. Bert hatte bei seiner letzten Expedition einen Zeh eingebüßt.

»Und überall Eisbären und Walrösser«, schwadronierte er weiter. »Sie wissen, dass Walrösser ein Boot zum Kentern bringen können? Eisbären dringen sogar in Blockhütten ein, wenn sie hungrig sind.«

»Ganz gewiss«, erwiderte Josephine amüsiert.

»Und das ganze Land schwimmt auf Eis. Sie können gar nicht erkennen, ob unter Ihnen Land ist oder nur das frostkalte, bodenlose Meer. Wenn Sie Pech haben und es taut, bricht die Eisscholle unter Ihnen, und Sie stürzen in den eisigen Ozean.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Na ja, woher sollen Sie es auch wissen. So was lernt man nicht auf der Mädchenschule.«

Er musterte sie, die dunklen Locken, die oben auf dem Kopf aufgetürmt waren, das Kleid mit dem imposanten Ausschnitt, und wies zur Bühne. »Dazu braucht es einen richtigen Mann. So wie diesen hier. Eindrucksvoll, nicht wahr?«

»Von mir werden Sie sicher nichts anderes hören.«

In diesem Moment hob Robert Peary oben auf der Bühne die Stimme an: »Meine Damen und Herren, an dieser Stelle möchte ich meine Frau zu mir bitten.«

»Entschuldigen Sie mich.« Josephine erhob sich, ging durch den Mittelgang nach vorne und trat auf das Podium.

Bert küsste ihr förmlich die Hand und zog sie in die Mitte zum Rednerpult. »Mrs Josephine Peary ist entschlossen, ihren Beitrag zur Erforschung unbekannter Welten zu leisten.«

Das war es, was Josephine von Anfang an so an ihm gereizt hatte. Er hatte sie nie dafür verurteilt, dass auch sie von unerforschten Welten träumte. Dass sie das Leben spüren wollte. Leben! Endlich weg aus diesem Land, wo jeder Schritt kontrolliert wurde, wo Frauen beschimpft wurden, die nicht züchtig genug gekleidet waren. Grönland versprach eine Freiheit, die sie nie erlebt hatte und nach der sie sich sehnte wie nach nichts anderem auf der Welt. Groß, wild und weit – und das alles mit ihm, dem Mann, dem sie vor zwei Jahren endlich ihr Jawort gegeben hatte.

Bert wandte sich an das Publikum. »Und nun, meine Damen und Herren, die ganz besondere Nachricht, die ich Ihnen versprochen hatte: Meine Frau wird mich auf dieser Expedition in die Arktis begleiten.«

Einen Moment war es totenstill. Eine sprachlose Menschenmenge, atemlos und überwältigt, starrte sie an.

Dann riefen alle zugleich los, redeten durcheinander. Josephine wurde schwindlig.

»Na, habe ich zu viel versprochen?«, fragte Bert mit einem Augenzwinkern. »Sie toben wie eine Herde aufgescheuchter Walrösser. Du bist meine beste Werbung. Mit dir an Bord kann gar nichts mehr schiefgehen.«

Kapitel 2

»Matt? Ich brauche noch mehr Trockenfleisch!«

»Kommt, Mrs Peary!« Matthew Henson, Berts Assistent, kam mit der Stange, über der die getrockneten Fleischfetzen hingen, in die Küche. Mit einem eleganten Schwung ließ er sie auf dem Tisch landen, und mit beachtlicher Virtuosität schaffte er es, dass keines davon auf den Boden fiel. Auf ihn war Verlass, egal, ob es darum ging, den Kaffee zu servieren oder die Welt zu entdecken. Darüber hinaus sah er mit seinem modischen Schnurrbart, dem kurzen schwarzen Haar und den lebhaften dunklen Augen auch noch gut aus. Bert schätzte ihn für seine Tüchtigkeit und dafür, dass er dabei präsentabel war. Auch Josephine fühlte sich ihm verbunden. Genau wie sie hatte Matt einen ungezügelten Wissensdurst. Sie beide eroberten nicht nur eine fremde Welt, wenn sie den Marineoffizier Peary begleiteten, sondern auch einen Bereich, der ihnen eigentlich verschlossen war – Matt wegen seiner schwarzen Hautfarbe, ihr wegen ihres Geschlechts. Ein halbes Jahr hatten sie mit den Vorbereitungen für die Expedition verbracht. Nächsten Monat ist es endlich so weit!, dachte Josephine, und ihr Herz schlug schneller.

Über dem Herd hingen Pfannen und andere Gerätschaften. Es war ein modernes Modell, mit Platten, die von unten durch ein Feuer hinter einer Eisentür beheizt wurden, sodass man keinen Rauch in der Küche hatte. Ansonsten gab es mehrere große Vorrats- und Büfettschränke und eine Kommode mit Geschirr. Durch die hohen Sprossenfenster fiel die Maisonne herein, die hier in Philadelphia schon ziemlich heiß war. Mrs Collins, die wie ein weiteres Möbelstück in dem Sessel an der Fensterbank saß, rümpfte beim Anblick der Trockenfleischfetzen die Nase. Josephines Nachbarin war vorhin herübergekommen, und es hatte geklungen, als betrachte sie den Abschied als einen für immer. Mit Daumen und Zeigefinger hielt Mrs Collins ihre Kaffeetasse, als hätte sie permanent Sorge, ihr elegantes Kleid zu beschmutzen. Der dunkelblaue Stoff mit schwarzen Spitzeneinsätzen an Hals und Brust brachte ihr blondes Haar zur Geltung und bildete einen aparten Kontrast zu ihrem hellen Teint mit den blassblauen Augen und den vollen, etwas farblosen Lippen. Mit dem Polster am Allerwertesten und dem engen Korsett konnte sie überhaupt nur in leicht vorgebeugter Haltung sitzen. Aber das musste eben sein, wenn man eine schlanke Taille und volle Brüste zeigen wollte. Und das wollte Mrs Collins offenbar, denn mit knapp fünfunddreißig war sie noch nicht alt genug für eine Bratwursttaille.

»Unvorstellbar, dass Sie dort hausen wollen«, meinte sie. »In Schnee und Eis und unter Wilden. Wie wollen Sie denn dort baden? Oder Ihre Frisur stecken, wenn überall der Sturm tost? Haben Sie Servietten eingepackt? Unter all den Männern werden die Tischmanieren als Erstes leiden, meine Liebe.«

»Keine Sorge. Es ist auch nicht viel anders als bei einer Jagdpartie, wenn man ein paar Tage im Blockhaus haust.« Wenigstens war ihre Schwiegermutter heute Mittag endlich abgerauscht. Vermutlich der festen Überzeugung, dass dieses junge Ding mit dem Kopf voller Flausen ihren Goldjungen in der Arktis verhungern lassen würde. Dagegen war die zimperliche Mrs Collins das reinste Vergnügen.

»Sechs Männern werden selbst Sie nicht beibringen können, ihre schmutzigen Stiefel auszuziehen und sich jeden Tag zwei Mal zu rasieren, Liebes.« Sie schnüffelte. »Das wollen Sie wirklich essen? Indianerkost?«

»Pemmikan ist jahrelang haltbar und enthält alles, was der Körper braucht. Also ja.«

Josephine und Matt breiteten die getrockneten Fleischfetzen aus. Sorgfältig überprüfte er jeden einzelnen, seine schlanken Finger hätten die eines Klavierspielers sein können, wenn man denn Menschen wie ihm andere als dienende Berufe zugestanden hätte. Das Fleisch musste brechen, wenn man es bog, sonst war noch Feuchtigkeit darin, und das Pemmikan würde schnell verderben. Das Rezept war tatsächlich vom Stamm der Cree übernommen worden, die sich davon auf Jagden tagelang ernährten. Auch die Völker der Arktis kannten Trockenfleisch, und Bert wollte es dieses Mal auf seine Expedition mitnehmen. Auf dem Herd schmolz schon eine gewaltige Pfanne duftenden Rindertalgs.

»Was serviert man nur zu so etwas?« Kopfschüttelnd erhob sich Mrs Collins. »Nun, Sie werden schon wissen, was Sie tun. Aber ich sage Ihnen, eine wohlerzogene junge Lady gehört nicht unter die Wilden. Sie werden das nicht durchstehen, mein Kind.«

Sie tippte Josephine auf den Arm und schwebte hinaus. Josephine blickte ihr nach und schüttelte lächelnd den Kopf. Niemand würde sie vom größten Abenteuer ihres Lebens abbringen!

»Achte darauf, dass es fein wie Sand wird.« Gemeinsam mit Matt zerstieß Josephine das Trockenfleisch im Mörser. Die Gewürze, die Geschmack und Haltbarkeit verleihen würden, kamen mit hinein. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die gusseisernen Formen voll hatten. Gewöhnlich verwendete Josephine sie für Kuchen, doch heute erfüllten sie einen anderen Zweck. Matt holte die riesige Pfanne, in der das Fett nun zerlassen war, und goss es vorsichtig über die Fleischmischung.

Sie blickten sich an, als sie die Tür hörten, und Josephine lächelte.

»Das ist Bert. Wirst du allein fertig? Wir trinken nachher Kaffee. Du kannst ihn vorbereiten, während das Pemmikan abkühlt.«

Sie wusch sich die Hände, trocknete sie an der Schürze und öffnete dann die Schleife. Das Kleid war sauber geblieben, dachte sie, als sie prüfend darüberstrich. Sie warf einen schnellen Blick in den Spiegel über der Kommode mit den Tellern und korrigierte den Sitz ihrer Haarnadeln. Das Haus war eigentlich zu groß für sie beide, dachte Josephine, aber mit etwas Glück würde es sich ja doch irgendwann mit Kindern füllen. Seit über zwei Jahren waren sie nun verheiratet, und noch immer war das Tapsen kleiner Füße auf dem Boden Zukunftsmusik. Die hohen Wände waren fast kahl, und nur hin und wieder vermittelte ein Schrank das Gefühl von Wohnlichkeit.

Kaum trat sie in den Flur, stürzte ihr Bert auch schon entgegen – in Zivilkleidung, im dunklen Gehrock und hellerer Hose, das Plastron in die Weste gesteckt. Er legte den Packen ab, den er im Arm hielt, und schwenkte ein Stück Papier wild herum. »Deine Fotografie ist in allen Zeitungen!«, rief er und zeigte ihr eine Titelseite. »Eine gut erzogene junge Frau, die Luxus gewöhnt ist, auf einer rauen Expedition zu den Grenzen der bekannten Welt! Die Reporter fressen uns aus der Hand. Wir hätten uns nichts Besseres einfallen lassen können.«

Josephine musste lachen. »Ich hoffe, du vergisst über dem gelungenen Coup nicht, warum ich wirklich mitwollte.«

»Ganz sicher nicht. Es gibt so viele Frauen, die ihren Männern die Hölle heißmachen würden, wenn sie so eine Expedition unternähmen.«

Sollte er ruhig denken, dass es seine Idee gewesen war, sie mitzunehmen und es öffentlich zu machen. Seit sie an der Smithsonian Institution gearbeitet und sich immer wieder in die naturhistorische Sammlung geschlichen hatte, hatte sie von so etwas geträumt.

»Matt wird dir einen guten Teil der Hausarbeit abnehmen«, meinte Bert, während sie ins Speisezimmer traten und sich setzten. Sein Assistent kam hinter ihnen herein und stellte Tassen, Zucker und Milch auf dem Tisch ab. »Er hat mir schon auf der Nicaragua-Expedition gut gedient – und mir die Hausfrau ersetzt. Nicht wahr, Matt?«

Matthew Henson bejahte auf seine übliche unaufdringliche, dezente Art. Umsichtig schenkte er ein, wie immer sorgfältig darauf bedacht, nichts zu verschütten.

Josephines Herz schlug nun doch ein wenig schneller. Würde sie das leisten können? Es kam sicher nicht von ungefähr, dass man sagte, Frauen seien für solche Strapazen nicht geschaffen. Aber dann blickte sie aus dem Fenster, wo die Damen auf den Straßen vorbeiliefen, in ihren hochgeschlossenen, über dem Gesäß hoch aufgebauschten, unpraktischen Kleidern, dazu die Bänder und Hüte und Schleifen. Wie sich ihr Leben nur darum drehte, den richtigen Mann zu finden, dem sie dann Kinder gebären und den Haushalt führen konnten. Ohne Freiheit, ohne Herausforderungen, im Grunde nichts als Hausangestellte. Der Duft der freien Natur blieb ihnen vorenthalten: die Erfahrung, sich zu behaupten gegen Kälte, unwegsames Gelände. Zu überleben mit nichts als einem Gewehr und dem eigenen Selbstvertrauen. Das Hochgefühl, wenn man einen Büffel erlegt hatte oder die Spuren eines Berglöwen hinter den eigenen entdeckte und begriff, wie schnell man selbst vom Jäger zur Beute werden konnte – all das blieb ihnen verwehrt. Während die Männer Ruhm und Ehre erwarben als Forscher, Wissenschaftler oder Politiker, blieben die Frauen immer nur diejenigen, die ihnen den Bauch füllten. Selbst das, weswegen man eigentlich heiratete, verlor sich, sobald Kinder da waren. Dann gab es gar nichts mehr außer Essen und Tratschen. Josephine verzog die Lippen zu einem Grinsen. Was auch immer sie auf der Expedition erwartete, es war weit weg von dieser Langeweile und die deutlich bessere Wahl.

Kapitel 3

Als Josephine am 6. Juni 1891 an Deck des Walfangschiffs Kite stand und die Küste der Vereinigten Staaten sich langsam im dunstigen Himmel aufzulösen schien, konnte sie es noch immer kaum glauben. Die Freiheitsstatue wuchs im Nebel direkt aus dem Wasser und hob ihre Fackel in die Wolken, während die Halbinsel von Manhattan immer unwirklicher wurde. Sie schwebte auf dem Meer wie ein sonderbares modernes Avalon, eine mythische Welt des Luxus, der versiegte wie ein Traum. Nun gab es nur noch die Realität der Holzplanken, das Knarren der Taue und das Schnauben des Dampfantriebs.

»Es wird Zeit für die erste Besprechung.« Hier an Deck wirkte Bert in seiner Marineuniform wie ein Fisch im Wasser, in seinem eigentlichen Element. Er nahm sofort wieder den wiegenden Gang des langjährigen Seemanns an. Unter ihnen hämmerten die Maschinen, und die Segel waren gesetzt: Wie die meisten modernen Walfänger hatte die Kite außer dem Dampfantrieb noch drei Masten und zusätzliche Klüver- und Stagsegel. Hoch oben im Mastkorb hockte der Schiffsjunge, überall hingen aufgerollte Taue, die straff gespannten Wanten knarrten. Der Geruch des Meeres und des Dampfs aus dem einzigen Schlot mischte sich mit dem von Öl und der Seife, mit der das Deck geschrubbt wurde. »Kommst du mit hinunter?«

Josephine konnte die erste Nacht in einer schwankenden Koje kaum erwarten. Es versprach so romantisch zu werden, die Planken unter ihnen, das enge Bett, höhlenartig unter das zweite gequetscht, die an der Decke baumelnde Lampe mit ihrem spärlichen Licht, gerade genug, um die Muskeln an Berts sich rhythmisch bewegenden Schultern zu sehen. Und draußen, vor dem einzigen Bullauge, nur der Ozean als Zeuge.

Zumindest solange sie nicht seekrank wurde. Josephine verzog unwillkürlich die Lippen bei dem Gedanken. Dann würde die Enge der Koje allerdings sehr viel weniger romantisch, sondern äußerst unschön werden!

Hinter ihrem Mann stieg sie die schmale Holztreppe hinunter. Nun verstand sie, warum überall Seile an den Wänden entlangliefen. Es war fast unmöglich, hier das Gleichgewicht zu halten. Sie musste den Kopf einziehen, als sie in den Bauch des Seglers hinabstieg. Unten roch es nach Tran und Rauch aus den von den Decken hängenden Lampen.

Bert öffnete eine Tür ganz hinten im Heck des Schiffs. Hier gaben mehrere große Fenster den Blick aufs Meer frei. So direkt über dem Wasser fühlte sich Josephine auf einmal mitten in den Elementen. In der Mitte standen mehrere Männer um einen Tisch. Den Kapitän, Mr Pike, kannte sie schon. Der weißbärtige Seebär war in einen warmen, dunklen Pullover und eine passende Hose gekleidet. Bei ihrem Eintreten nahm er die Mütze ab.

Josephine war noch nie bei einer Besprechung gewesen. So etwas war Männersache, und selbst in ihrem Elternhaus waren Entscheidungen nie in Gegenwart von Frauen getroffen worden.

»Meine Herren – darf ich meine Frau vorstellen, Mrs Josephine Peary. Und das ist Frederick A. Cook, unser Schiffsarzt.« Der Mittzwanziger mit seitlich gescheiteltem dunklem Haar, blauen Augen und Schnurrbart küsste ihr förmlich die Hand. Bert stellte auch die anderen vor: »Mr Pike, den Kapitän, kennst du ja bereits. Hier haben wir die Herren Langdon Gibson, unser Ornithologe, Eivind Astrup, zuständig für ethnologische Fragen und für unsere Schneeschuhe, und John T. Verhoeff. Er wird sich der Mineralogie widmen.« Alle waren jung, dachte Josephine. Astrup wirkte fast kindlich mit seiner Schiffermütze und dem steten breiten Grinsen, als könne er es gar nicht erwarten. Matt Henson hielt sich dezent im Hintergrund, wohl wissend, dass er bei Entscheidungen ebenso wenig gefragt würde wie die einzige Frau auf dem Schiff.

Josephine begrüßte alle und ließ sich die Hand küssen. Es war verwirrend, hier unter all diesen erfahrenen Männern zu stehen, und sie kam sich irgendwie unpassend vor. Aber sie dachte auch nicht daran, sich von diesem Gefühl einschüchtern zu lassen. Die Männer waren schon in der Arktis gewesen, aber sie hatte an der Smithsonian Institution gearbeitet, so wie ihr Vater. »Lassen Sie sich durch mich nicht stören«, meinte sie.

Robert lächelte ihr zu. »In Grönland werden wir zunächst die dänische Kolonie Godhavn anlaufen«, erklärte er. »Ein Walfängerort in der Diskobucht. Danach geht es weiter nach Upernavik, zum letzten Außenposten der Zivilisation. Nördlich von dort gibt es nur noch Eis und Bären und Eingeborene.«

Pike zeigte auf die Karte, die vor ihnen auf dem Tisch lag. Er roch nach Tabak, und seine Finger waren gelblich verfärbt. »Hoffentlich spielt das Wetter mit. Wenn das Packeis nicht rechtzeitig taut, kann man schnell festsitzen. Mit dem Schiff komme ich nicht weiter als bis hierher, zu dieser Bucht. Dort werden Sie das Basiscamp bauen und im nächsten Frühjahr die Expedition starten. Ich hole Sie dann im August an derselben Stelle wieder ab.«

»Wir werden uns eine Familie Einheimischer suchen, die mit uns dort überwintert«, meinte Robert. »Sie können uns ihre Jagdgebiete zeigen. Die Aufgabe meiner Frau wird es sein, uns den Aufenthalt so angenehm zu machen, wie es unter diesen Umständen eben möglich ist. Erwarten Sie aber trotzdem keine Teegesellschaften.«

Die Männer lachten, und wieder fragte sie sich unwillkürlich, ob sie dort würde bestehen können. Sie war ja schon hier an Bord ein Fremdkörper.

Bert zeigte auf die Karte. »Laut Mr Pike liegen auf diesen Inseln die Brutgebiete der Eiderenten. Wir werden genug schießen, um über den Winter zu kommen.«

»Keine Walrösser?«, rief Astrup vorlaut.

»Ein Walross würde ich nur verspeisen, wenn mir der Hungertod droht«, erwiderte Bert trocken. »Haben Sie mal eines probiert? Wir schießen sie für die Hunde und wegen der Zähne. Allerdings ist mit diesen Biestern nicht zu spaßen. Anders als Enten wehren sie sich.«

Wieder lachten alle. Josephine ließ ihren Blick über die bärtigen Gesichter schweifen. Vermutlich zog Bert die anderen absichtlich auf, um ihr zu zeigen, dass sie sich an ihn zu halten hatte. So unwiderstehlich dieses männliche Imponiergehabe auch war, Josephine würde ihm einen Strich durch die Rechnung machen.

Sie lächelte ihm niedlich zu, winkte Matt, ihr zu folgen, und verließ die Kapitänskajüte. Im Hinausgehen nahm sie ihre Flinte mit, die neben der Tür lehnte.

Ein paar Minuten später zuckten die Männer am Tisch zusammen.

»Was zur …« Pike starrte Peary an, als ein Schuss direkt über ihren Köpfen knallte. Dieser riss die Augen auf. Dann rannten sie alle nach oben.

Mrs Peary stand an Deck, in ihrem langen, elegant geschnürten schwarzen Kleid mit Spitzenbesatz und dem niedrigen Zylinder. An ihren ondulierten Locken zerrte der Wind. Und in der Hand hielt sie die Flinte. Sie wies Matt an, die nächste Tontaube abzufeuern, und drückte den Abzug.

Die Herren der Schöpfung zogen die Köpfe ein.

»Mrs …«

»Mr Peary, Sie gesellen sich zu uns! Wie nett!«

Josephine nickte Matt zu, die nächste Tontaube flog in die Luft und zerbarst, als sie feuerte.

»Nun, Mr Peary«, wandte sich Josephine an ihren Mann, während sie indes vor allem Kapitän Pike ins Auge fasste. Seine Hände zuckten verräterisch, als wolle er jeden Moment klatschen. »Was meinen Sie: Bin ich treffsicher genug für einen feinen Entenbraten?«

Erst als sie den nördlichen Wendekreis erreichten, gab es ungemütliches Wetter. Regen peitschte die Segel der Kite, und die Taue ächzten in ihren Verankerungen. Das ganze Schiff stöhnte und knarrte. Unter ihren Füßen schwankten die Holzplanken, und die beiden Neufundländer, Jack und Frank, die sie unterwegs noch gekauft hatten, beschwerten sich mit lautem Bellen in ihren Verschlägen über die unsanfte Behandlung.

»Das ist nur eine steife Brise!«, meinte Pike, während im selben Moment ein Schwall Wasser über die Reling schwappte, sodass er einen Satz machen musste, um sich in Sicherheit zu bringen. »Kein Grund zur Sorge!«

»Wer sagt, dass ich mich sorge?«, schrie Josephine durch den Sturm zurück. Ein neuer Brecher ließ plötzlich die Planken unter ihren Füßen nachgeben, und sie verlor das Gleichgewicht. Im letzten Moment hielt sie sich an einem der Taue fest.

»Geh unter Deck!«, schrie Bert. Er kam herüber, legte den Arm um sie und wollte sie zur Treppe schieben. Josephine blieb noch einmal stehen. Es war alles zu faszinierend: die meterhohen Wellenberge, die das Schiff wie eine Nussschale schwanken ließen und spielerisch herumwarfen, die Wolkenfetzen, die über den Himmel getrieben wurden, die finsteren Schwaden, die sich um sie herum ballten. Das schwere Stampfen des Dampfantriebs unter ihren Füßen kämpfte weiter gegen das Wetter an, und schwarzer Rauch waberte über das Deck, um im selben Moment vom nächsten Wellenberg weggespült zu werden. Klatschend und eiskalt strömte das Wasser über die Planken. Atemlos bewunderte sie die Schönheit der Zerstörung.

Ein neuer Brecher schlug auf dem Deck zusammen, genau dort, wo es unter Deck ging und wo sie gestanden hätten, hätte Josephine nicht noch einmal auf die stürmische See geblickt. Sie konnte sich nicht gegen das Lachen wehren. Um ein Haar wäre sie völlig durchnässt, vielleicht sogar von den Füßen gerissen worden!

Bert schob sie zur Treppe und stieg hinter ihr in den Bauch des Schiffs.

Josephine fühlte sich so belebt und so erregt, dass sie gar nicht wusste, wohin damit. Ihr Leben lang hatte man ihr beigebracht, sich zu benehmen, nicht zu zeigen, was sie fühlte. Sie hatte das Gefühl, förmlich Funken zu sprühen. Bert schien etwas zu spüren. Er sah sie an, und seine Lippen zuckten. Auf einmal zog er sie in Richtung ihrer Kajüte.

Der Boden schwankte wie verrückt, es war, wie auf einer Schaukel zu liegen. Der Gedanke, dass oben alle Männer gegen den Sturm kämpften, während sie sich hier unten liebten, war erregend. Es war so eng, dass sie nicht nebeneinander Platz hatten, und in der niedrigen Koje unter ihrem auch nicht gerade klein gewachsenen Mann liegend hätte ein zarter besaitetes Gemüt längst Platzangst bekommen. Josephine fand es einfach nur romantisch. Bert war gezwungen, sich eng an sie zu schmiegen, und sie konnte seinen schweren Atem an ihrem Ohr hören, die Bewegungen seines muskulösen Körpers intensiver spüren denn je. Die rötlichen Haare auf seiner Brust, die sich leicht rau anfühlten, das Keuchen, das sich nach und nach zu einigen kurzen, gierigen Schreien steigerte. Josephine durchlief ein Schauer. Das war ein wilder, verrückter Traum. Sie fühlte sich, als könnte sie die ganze Welt erobern.

Der Sturm ließ nach wenigen Stunden nach, und der frische Wind trug die Kite nach Norden. Einige Tage später hörte sie am Morgen den Ruf des Schiffsjungen oben im Mastkorb, der Land am Horizont meldete. Knapp drei Wochen nach ihrer Abreise hatten sie die Arktis erreicht.

Grönland!

Josephine lief die Treppe zum Deck hinauf und wollte die Tür öffnen. Aber dann hielt sie auf einmal inne. Da draußen, das war die Wildnis. Kälte, Stürme, Dunkelheit. Wilde Tiere und Mücken. Endlose Eiswüsten. Was, wenn sie dem doch nicht gewachsen war? Wenn Bert am Ende bereuen würde, sie mitgenommen zu haben?

Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Das war es, wovon sie geträumt hatte. Wollte sie jetzt wirklich lieber zu Hause sitzen und sich mit Mrs Collins über Popolster am Rock unterhalten?

Entschlossen drückte sie die Klinke.

Sie hatte eisige Kälte erwartet. Stattdessen empfingen sie strahlender Sonnenschein und beinahe angenehme Temperaturen. Über ihr flatterten die Segel in einem milden Wind. Die Hunde bekundeten mit lautem Bellen, dass sie genug von der Enge an Bord hatten. Das Holz der Planken knarrte, und die tausendmal geschrubbten Balken der Reling hatten einen ungewohnten Schimmer. Ein hellblauer Himmel wie aus durchsichtigem Glas wölbte sich über ihnen. Aber was ihr förmlich den Atem verschlug, war die ungeheure weiße Wand des Frederikshaab-Gletschers, die fast senkrecht aus dem Meer herausragte. Durchzogen von Rissen und Spalten schimmerte das Eis matt und erinnerte an Marmor. Sie waren so nah, dass sie das Gefühl hatte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um es berühren zu können.

Kleine Eisbrocken schwammen im Wasser. Die leicht bläulich schimmernden Gebilde, die an venezianisches Glas erinnerten, waren bizarr und filigran zugleich. Milchig weiß schienen sie den Werkstätten von Feen entkommen zu sein. Felsen und Eis spiegelten sich in der glatten Wasseroberfläche mit der Klarheit eines saphirblauen Spiegels. Wo es schattig war, webten sich zart letzte Nebelschleier – als würden sie ihre ganze Schönheit noch ein letztes Mal aufscheinen lassen, ehe sie im Sonnenschein verglühten.

Das Eis wich auf der rechten Seite zurück, und die blaue Spiegelfläche lag kristallklar vor ihnen. Eisberge in bizarren Formen glitzerten in der tiefblauen See, bildeten Diamanten in einem Saphirmeer. Hin und wieder rannen Tropfen daran herunter und bildeten durchsichtige Kristalle. Ein gigantischer Eisberg erhob sich wie ein Felsentor über der seidenglatten Wasserfläche. Der nie endende Tag tauchte ihn in ein bläulich weißes Licht, in das sich kaum wahrnehmbare Spuren von Rosa mischten. Verloren wie ein unbedeutender Fleck inmitten dieser riesigen Eisberge bahnte sich die Kite ihren Weg durch die Formationen und hinterließ eine Spur aus schwankenden Brocken.

Ich wusste nicht, dass es so schön ist!, dachte Josephine. Sie hatte sich eine stürmische Wüste vorgestellt, in der messerscharfe Kristalle wie tausend schneidende Klingen über die kahlen Böden getrieben wurden. Das hier war wie ein verrückter, irrer Traum: diese unfassbaren, gigantischen Eisberge auf dem kristallklaren Wasser und die Sonne und die angenehm laue Luft, die es beinahe ermöglichten, den Mantel zu öffnen. Das war keine eisige Wüste, sondern ein Märchen. Josephine saugte die Bilder förmlich auf. Was immer dieses raue, hinreißende Land für sie bereithielt, sie war bereit.

Kapitel 4

»Das ist unglaublich!« Nur wenige Tage später stand Josephine oberhalb von Godhavn in ihrem roten Kostüm auf einer Bergwiese. Zu ihren Füßen breitete sich die saphirblaue Fläche der Diskobucht aus, mit glitzernden Eisbergen, mit den schwarzen Sandstränden und bizarr geformten Felsen. Das Städtchen auf der Diskoinsel schmiegte sich zwischen Berg und Meer, wobei selbst das Wort »Städtchen« reichlich hochtrabend war: außer drei oder vier Häusern gab es nur eine Kirche und einige Torfhütten. Godhavn, oder Qerqertarsuaq, wie es die Einheimischen nannten, war vor allem ein Walfängerort. Die morgendlichen Nebelschwaden hatten sich gehoben, und langsam zog ein gigantischer, die Häuser um ein Vielfaches überragender Eisberg an einem rot gestrichenen Holzbau vorbei wie ein Dampfer.

Sie hatten den Berg oberhalb des Orts erklommen, und Josephine war fasziniert von dem weichen, samtigen Boden unter ihren Mokassins und von den Tausenden atemberaubend blühenden winzigen Wildblumen. Anemonen, arktischer Mohn, Polsternelken und alle Arten von Heidekraut hielt sie im Arm. Nicht nur aus Gründen der Romantik, sondern vor allem, um sie zu wissenschaftlichen Zwecken zu pressen. Bert hatte sogar einen kleinen Steinhaufen errichtet, unter den sie Zettel mit ihren Namen und ein paar amerikanische Münzen legten – ein erster symbolischer Akt der Inbesitznahme, auch wenn man in Sichtweite der dänischen Verwaltung wohl kaum von unverteiltem Land sprechen konnte. Von hier aus hatte man einen weiten Blick. Überall traf man auf Bäche aus den Bergen mit frischem, eisklarem Wasser. Winzig lag die Kite unten in der Bucht, die Segel eingeholt, wie ein Baum, der noch winterkahl auf den Frühling wartet.

»Morgen geht es nach Upernavik. Jenseits davon gibt es nur noch die Wildnis.« Bert war neben sie getreten und legte den Arm um sie. »Heute Abend kannst du das letzte Mal in diesem Jahr ein hübsches Kleid tragen. Danach tauschst du Seide gegen Robbenfell!«

Josephine lachte. »Womöglich finde ich ja noch Gefallen am Robbenfell.«

Als Josephine in ihrem eleganten Kleid das Haus des dänischen Gouverneurs, Inspektor Anderssen, betrat, hatte sie das Gefühl, mitten in Europa zu sein. Das Haus war klein, aber wohnlich und gänzlich europäisch eingerichtet. Die Kleidung – Bert trug ganz formell seine Marineuniform –, das Benehmen der Anwesenden, der Wein beim Essen: Nichts ließ darauf schließen, dass man sich am Rande der Wildnis befand. Nur wenn man zwischen Dorsch, Kartoffeln, gebratenem Schneehuhn und dem Nachtisch aus dem Fenster sah und die Eisberge vorbeizogen, wurde man daran erinnert.

»Grönland ist reicher, als es aussieht«, meinte Mrs Anderssen. Bert, Kapitän Pike und Professor Heilprin bewunderten die geologische Sammlung des Inspektors im Obergeschoss, sodass die Frauen beim Kaffee unter sich waren. »Mein Mann hat oben in der Sammlung Stückchen aus Meteorgestein. Die Eingeborenen machen Messer und Speere daraus. Diese Brocken können sehr wertvoll sein, wenn sie nur groß genug sind. Ich nehme an, Ihr Mann sucht auch nach so etwas.«

Überrascht ließ Josephine ihre Tasse sinken. »Davon hat er noch gar nichts gesagt.«

Mrs Anderssen lachte. »Das tun die Männer doch nie! Aber der Westen ist erobert. Die Indianerkriege sind vorbei und mit ihnen der Goldrausch. Kein Wunder, dass die Amerikaner nun neue Eroberungen suchen.«

Josephine nippte an ihrem Kaffee. Bert hatte gesagt, sie würde die Zivilisation in die Wildnis bringen, aber vielleicht konnte sie ja mehr tun. Beim Erobern konnte sie nicht mithalten, aber sie konnte aufschreiben, was sie sah. So wie die Museen der Smithsonian Institution konnte sie etwas beitragen, indem sie Dinge sammelte und nach Hause brachte. Und wenn sie mit den Einheimischen ins Gespräch kam, würden sie ihr vielleicht von den verborgenen Schätzen dieses Landes erzählen. »Das klingt äußerst interessant. Mich interessiert auch, wie die Menschen hier leben. Ob es wohl eine Möglichkeit gibt, sich das anzusehen?«

»Sie können nachher noch zum Speicherhaus hinuntergehen. Dort findet ein Tanzabend statt. Wenn Sie Grönländer kennenlernen wollen, ist das die beste Möglichkeit.«

Auf jeder Expedition gab es Männer, die eroberten, und andere, die beschrieben. Charles Darwin, James Cook, John Franklin, sie alle hatten Wissenschaftler gehabt, die niederschrieben, was sie erlebten und sahen. Diese Expeditionsmitglieder trugen zur Erforschung fremder Völker ebenso bei wie die, deren Namen in den Geschichtsbüchern zuerst genannt werden. Josephine beschloss, ihre wissenschaftlichen Absichten vorerst nicht offen beim Namen zu nennen. Es gelang ihr, Bert ins Speicherhaus zu lotsen. Besonders Astrup und Verhoeff, die nicht mit beim Essen gewesen waren, waren ihr eine Hilfe. Sie fanden die Aussicht auf ein letztes Tänzchen vor der langen, dunklen Einsamkeit des Polarwinters verführerisch. Vermutlich hegten sie Hintergedanken, die sie so genau gar nicht kennen wollte.