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Malta ist nicht einmal halb so groß wie Berlin. Doch mit seinen steinzeitlichen Tempeln und majestätischen Festungsanlagen birgt es einige der bedeutendsten Kulturschätze Europas. Agnes Imhof hegt seit ihrer Jugend eine innige Liebe zu dem Archipel im Mittelmeer, auf dem an mehr als 300 Tagen im Jahr die Sonne scheint, Englisch Amtssprache ist und nicht nur Steuersünder ihr Paradies finden. Sie flaniert mit uns durch das stolze Valletta, reist in den Gassen von Mdina durch die Zeit und erkundet die mystischen Legenden von Gozo. Dabei erzählt sie mit leichter Hand, wie die Malteser südeuropäische und orientalische Einflüsse in ihren Kochtöpfen friedlich vereinen und wie sie mit ihren Kirchturmuhren dem Teufel ein Schnippchen schlagen. Was es mit dem legendären Ritterorden auf sich hat und warum berühmte Filmemacher hier die ideale Kulisse finden.
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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deVollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlagerschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2018ISBN 978-3-492-99022-6
Deutschsprachige Ausgabe:© Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: Birgit KohlhaasCover: Christopher Groenhout / Getty ImagesDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenAlle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Inhalt
Einleitung
Die Big-Bang-Theorie
Unter den Fittichen der Großen Mutter
Unterm achtspitzigen Kreuz
Touristen und andere Invasoren
Begegnungen der anderen Art
Bonġu Babylon!
Aljotta ist kein Mädchenname
Liebesnester, Schutzräume, Spielplätze
Paläste und moderne Piraten
Die Erben der Johanniter
Schatten über dem Paradies
Trau keiner Kirchturmuhr
Brot und Steine
Zwischen zart und hart
Ein Kapitel für sich
Game of Thrones
Calypso zum Abschied
Aussprache maltesischer Wörter
Lektüreempfehlungen
Einleitung
»Der Ort, von dem aus man it-Tieqa tad-Dwejra sehen konnte. Herzzerreißend«, twitterte der maltesische Präsident Joseph Muscat am 8.3.2017.
Das Fenster von Dwejra war zusammengebrochen. Ziemlich sicher haben Sie es schon gesehen, vielleicht in der Serie Game of Thrones. Auch bekannt als das Azure Window auf Maltas Schwesterinsel Gozo: ein natürliches Steintor an der zerklüfteten Küste über dem azurblauen Mittelmeer.
Entstanden ist es ebenfalls durch einen Einsturz: durch den Zusammenbruch einer Höhlenstruktur. Die Westseite Gozos ist windig, den häufigen Nordweststürmen schutzlos ausgesetzt. Unruhige See setzt dem Korallen- und Globigerinenkalk der gesamten Steilküste zu. Die Erosion, die vermutlich auch das benachbarte Blue Hole, eine eingestürzte Höhle unter Wasser, schuf, schritt am Azure Window fast von Jahr zu Jahr erkennbar voran. Schon 2012 war ein Teil des Tors abgebrochen, Ende 2016 wieder ein Stück. Möglich, dass auch die von der Filmkulisse angelockten Touristen zum vorzeitigen Ende beigetragen haben.
Als eines der Wahrzeichen und eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten des maltesischen Archipels schmückte es das Cover von Reiseführern, Werbeplakate und Zeitungsaufmacher: Überbleibsel und Symbol einer Landbrücke zwischen Afrika und Europa, die bis vor rund 13000 Jahren bestand und zu der einst das gesamte maltesische Archipel gehörte. Eine Brückenrolle zwischen den Kontinenten, die noch heute für Malta charakteristisch ist. Nun existiert es nicht mehr.
Am 8. März 2017 fegten orkanartige Stürme über Süditalien und Malta. Selbst der Fährverkehr zwischen Malta und Gozo musste teilweise eingestellt werden. Um 9.40 Uhr gab der Felsbogen plötzlich nach, stürzte mit einem lauten Krachen ins Meer. Nur noch ein vorgelagerter Felsen verriet, dass hier bis vor wenigen Sekunden eine weltbekannte Filmkulisse gestanden hatte, geformt in Jahrtausenden.
Obwohl der fragile Zustand des Tors allgemein bekannt war, hatte kaum jemand mit einem so schnellen Ende gerechnet. »Verwaist« fühlten sich nach Auskunft der Times of Malta die Bewohner der umliegenden Orte und mit ihnen viele andere Gozitaner und Malteser. Mir ging es wie ihnen. Seit meinem ersten Besuch auf Malta kannte ich das Azure Window, und das ist eine lange Zeit. Ich war ein halbes Kind, als ich das erste Mal auf dem Felsbogen stand und mir der raue Seewind durchs Haar fegte. Er war so lange da gewesen, vielleicht schon zur Zeit der Megalithkultur, auf jeden Fall aber als die Johanniterritter sich auf Malta niederließen. Hatte die Zeit von Queen Victoria erlebt und den Zweiten Weltkrieg überstanden. Natürlich hatte ich gedacht, er würde noch da sein, lange nachdem ich nicht mehr da bin. Er schien mir unsterblich. Aber die Zeit ist manchmal kapriziös, und das Wasser formt die schroffen Küsten der Inseln immer neu.
Ich bin eine Meereskreatur – Wasser formte mich.
Mal schläfert es mich ein, mal weckt es mich.
Wellen tanzen wie Flammen von Feuer.
Doch Wellen kommen und gehen,
Feuer geht nicht.
So die zeitgenössische maltesische Dichterin Simone Inguanez in ihrem Gedicht Nymphe.
Indes geht das Leben weiter, und im Umgang mit den alltäglichen und weniger alltäglichen Katastrophen des Lebens sind die Malteser ohnehin Meister. Schon eine Woche später listete das Schweizer Reisenachrichtenportal Travelnews.ch neun weitere Felsentore wie das Qrendi Window auf, die sich als Nachfolger von it-Tieqa tad-Dwejra empfehlen.
Das sind ziemlich viele fremde Namen. Entschuldigung. Wenn man sehr lange mit einem Ort auf Du und Du ist, vergisst man, dass es eine Zeit gab, in der er einem fremd war. Malta ist für mich ein Teil meiner selbst geworden, so sehr, dass ich manchmal vergesse, dass es je anders war. Daran haben auch die Malteser ihren Anteil. Manchmal beklagen sie sich zwar schon über den vielen Tourismus. Aber irgendwie sind sie selbst daran schuld. Sie geben einem eben dieses gute Gefühl, als ob man schon immer dazugehören würde. Selbst Odysseus hat es auf Gozo (angeblich) sieben Jahre ausgehalten, länger als auf jeder anderen Station seiner Reise. Einer wie ich, der nirgendwo richtig heimisch wurde.
Der Wind und das Wasser formen Malta bis heute. Umtost vom Sturm wie ein Schiff, das ein bisschen zu groß geraten ist. Und das einer wie mir das Gefühl gibt, dass sie ein Stück weit immer noch auf See ist und nur ein ganz klein bisschen gelandet. Vielleicht ist das der Grund, warum ich seit so langer Zeit immer wiederkomme. Und während andere Inseln wie Mallorca oder Rhodos oder Zypern präsenter sind, habe ich manchmal das Gefühl, dass Malta ein wenig der schwimmenden Insel des Aiolos oder anderen mythischen Inseln gleicht. Irgendetwas Magisches zwischen Schiff und Insel, das ständig neue Gestalten annehmen kann und immer für eine Überraschung gut ist. Verzaubert eben.
In Wirklichkeit schwimmt Malta natürlich nicht, aber unbekannt ist es trotzdem noch vielen. Anfang 2017 übernahm Malta die EU-Ratspräsidentschaft, 2018 ist Valletta europäische Kulturhauptstadt, und noch immer muss man hin und wieder zeigen, wo es liegt. Dabei hat der maltesische Archipel eine Tourismustradition, die bis zu Odysseus zurückreichen soll, überstand eine Belagerung durch die Türken (1565) und italienische und deutsche Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg (1940–1942) und verfügte seit Mitte des 16. Jahrhunderts über das wahrscheinlich modernste Krankenhaus Europas – zum Nulltarif.
Als ich als Teenager das erste Mal nach Malta, Gozo und Comino kam, hatte die Insel gerade einen intensiven Flirt mit Gaddafis Libyen abgebrochen und Kurs auf Europa genommen. Im Industriehafen von Valletta sprang schon mal ein Arbeiter in der Pause kurz von seinem Kran ins Wasser, um eine Runde zu schwimmen, und auf den Straßen kurvten Busse, die bereits zu Lebzeiten von Queen Victoria museumsreif gewesen sein dürften. In Liedern wie dem Maltese Calypso machten sich die Malteser liebevoll über die Eigenarten ihrer Insel lustig, mit britischem Humor und mediterranem Esprit. Der Refrain lautet: Malta, we love Malta: These are the things we’d alter. Und was man so alles ändern möchte – davon werde ich Ihnen nachher noch ein Liedchen singen.
Von all dem wusste ich natürlich damals noch nichts, als ich hier das erste Mal die windige Luft schnupperte. Irgendwo in nicht allzu großer Entfernung war ein Feuerwerk zu sehen. Später sollte ich erfahren, dass der August auf Malta die Zeit der festas ist – der Dorffeste zu Ehren der lokalen Heiligen. Vorerst stand ich auf der Treppe, die vom Flugzeug auf den Asphalt von Luqa führte. Luqa? Apropos … wie sprach man das eigentlich aus? Luka? Luqwa? Lucha? Monate vor dem Flug hatte ich Malti zu lernen begonnen, die einzige semitische Sprache mit lateinischen Buchstaben – und zwar mit einem englischsprachigen Lehrbuch, dem einzigen, das damals in Deutschland erhältlich war. Der Buchstabe q wurde dort umschrieben als ein Laut aus dem Cockney, das ich nicht beherrschte.
Der Zollbeamte war einigermaßen überrascht über den Teenager, der ihn, kaum den Wolken entstiegen, mit einer philologischen Frage ansprang. Normalerweise ist jeder Tourist heilfroh, dass er nicht Malti sprechen muss, sondern sich mit Englisch, der zweiten Landessprache, verständigen kann. Dann aber gab er mir Auskunft – freundlich, augenzwinkernd und in der sicheren Gewissheit, dass dieser Nerd zwar ein bisschen spleenig war, aber so what? Q, erfuhr ich also, wird gar nicht gesprochen, es ist ein Stimmabsatz: Luqa spricht man Lu’a. Und ohne es zu wissen war ich durch diese Aktion auch selbst schon ein wenig maltesisch geworden: Denn ich hatte in Sachen maltesische Sprachkompetenz zu improvisieren gelernt. Und damit die wahrscheinlich wichtigste Kulturtechnik der Inselgruppe erworben.
Heute ist Malta nicht nur Ferieninsel, auch die ganz große Filmindustrie hat das Eiland aus gelbem Kalkstein über dem azurblauen Meer entdeckt. Hollywoodgrößen wie Brad Pitt oder Daniel Craig gehen hier ein und aus. Die Autos wurden größer und schicker, und unter der Dusche geht nicht mehr das Wasser aus. Die Frauen haben die sonntägliche għonnella abgelegt, den gestärkten Schleier.
Nachdem der streitbare Sozialist Dom Mintoff mit Gaddafi angebandelt und der libyschen Botschaft einen prominenten Palazzo im Zentrum der Hauptstadt überlassen hatte, sind heute in Valletta die Europafreunde am Ruder (und die Libyer sind umgezogen). Mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft leitete die ehemalige britische Kolonie Malta die Brexit-Verhandlungen – und Joseph Muscat war dabei kein einfacher Verhandlungspartner für die ehemaligen Kolonialherren. Er kann stolz sein: Als einziges südeuropäisches Land hat Malta die Finanzkrise gut überstanden.
Urlauber träumen von glasklarem Wasser in tausend Schattierungen von Blau, von kühnen Felsformationen, Höhlen und versunkenen Schiffen, die das Tauchen und Schnorcheln zum Erlebnis machen. Pilgertouristen hoffen auf spirituelle Weiterentwicklung im Kloster oder beim Inselpatron, dem heiligen Paulus. Faszinierende Befestigungsanlagen, niemals eroberte Bollwerke gegen das expansionsfreudige Osmanische Reich erheben sich in strahlendem Goldgelb über dem azurblauen Meer. Weltweit einmalige Megalithtempelanlagen, älter als die Pyramiden, ragen aus der kargen, nach Thymian duftenden Landschaft und geben bis heute Rätsel auf. Der Finanzsektor, der Tourismus und die Spieleindustrie boomen.
Aber auch Trauriges gibt es zu berichten. Durch den Mord an der investigativen Journalistin Daphne Caruana Galizia gerieten Malta und seine Regierung in die Kritik: als Hort der Korruption und der internationalen organisierten Kriminalität. Es folgten Demonstrationen und weltweit schlechte Presse. Malta hat auch ein hässliches Gesicht, das gezeichnet ist von Geldgier, Skrupellosigkeit und Brutalität. Das Image des Ferienparadieses bröckelt, so wie die Felsformationen an der Küste. Irgendwie passend, dass das Azure Window im selben Jahr zusammenbrach wie die sonnige Fassade.
Was geblieben ist? Das Denkmal von Queen Vicky auf dem Republic Square blickt noch immer auf die Cafés von Valletta, wo es die beste Figolla gibt, das traditionelle Ostergebäck. In den Häfen von Valletta und Marsaxlokk dümpeln noch immer die luzzi genannten bunten Fischerboote, auf deren Vorderfront Augen gemalt sind. Für Grundschüler ist es völlig normal, in einem Palast aus dem 16. Jahrhundert unterrichtet zu werden. Das vielleicht bedeutendste vorgeschichtliche Monument ist unter der Erde, und die Pools sind auf dem Dach. Der unverwechselbare Humor der Bewohner ist geblieben, der wilde Kulturmix und natürlich das beneidenswerte Improvisationstalent. Im Turbogang ist Malta im 21. Jahrhundert angekommen – und die Malteser haben es mit der ihnen eigenen Gelassenheit und Natürlichkeit geschafft, trotzdem sie selbst zu bleiben. Nur im Maltese Calypso müssen bisweilen Strophen umgeschrieben werden.
Die Big-Bang-Theorie
Festa und Feuerwerk
Wenn man an einem schönen Augustabend in Luqa aus dem Flugzeug steigt, wird man zuallererst diese unverwechselbare Luft spüren. Eine Luft, schwül und schwer vom Salzwasser und gleichzeitig von einem leichten Wind bewegt. Im Wind schwanken die dunklen Palmen am Flughafen. Alles ist so friedlich.
Dann aber ertönt auf einmal ein Knall, als würde das Flugzeug hinter einem in die Luft gejagt. In einiger Entfernung schießt ein ungeheures Feuerwerk in den südlich-warmen Nachthimmel. Legt gerade ein wichtiger Politiker eine Stippvisite auf Malta ein? Gar die Queen? Oder ist heute irgendein Nationalfeiertag, von dem nichts im Reiseführer stand?
Bevor Sie jetzt hektisch Ihre Smartphones zücken – nein, beruhigen Sie sich. Sie haben nichts verpasst. Das ist kein Piratenüberfall, kein Nationalfeiertag und auch nicht die Rückkehr der Jedi-Ritter, von der Sie nichts mitbekommen haben. Das, was Sie da hören und sehen, ist vermutlich nur ein Dorffest.
Nein, ich will Sie nicht auf den Arm nehmen. Ja, ich weiß, Malta hat rund 436000 Einwohner (Stand: 2017). Ja, ich weiß, was das für die Einwohnerzahl eines durchschnittlichen Dorfs bedeutet. Und ja, ich weiß auch, dass das ziemlich viel Pyrotechnik pro Kopf ist. Aber meinetwegen, wenn Sie mir nicht glauben, gehen Sie nachsehen.
Im Ernst: Fragen Sie nach der nächsten Festa. Und Sie werden feststellen, dass der große Knall alles bestimmt. Dies ist meine persönliche Big-Bang-Theorie:
Birgu, 10. August. Jedes Jahr – todsicher.
Es ist später Nachmittag. Seit Stunden prallt die Sonne auf das weitläufige Hafengebiet um Valletta. Müde dümpeln die bunten Fischerboote auf dem Wasser. Die nachmittägliche Schwüle hat ihren Höhepunkt überschritten, allmählich kann man wieder atmen, und die ersten Malteser beenden ihre Siesta.
Wir setzen von Valletta aus über den Großen Hafen. Lassen die Kreuzfahrtschiffe hinter uns und steuern auf Birgu, Senglea und Cospicua zu, die Drei Städte. Sie werden durch eine beeindruckende Verteidigungsmauer beschützt, erbaut von Großmeister Cotoner. Wenn Sie mit Maltesern sprechen, werden Sie feststellen, dass die meisten »Cottonera« statt »Three Cities« sagen. Wir werden noch öfter hören, dass es für viele maltesische Orte zwei Namen gibt: einen allgemein gebräuchlichen und einen Insidernamen, wie etwa bei Senglea (L’Isla) und Cospicua (Bormla). Das ist typisch für Malta und spiegelt die jahrhundertelange Zweisprachigkeit wider.
Das trutzige Fort St. Angelo, das Birgu dominiert, war während der Türkenbelagerung 1565 Sitz des Ordensgroßmeisters. Nach dem Sieg über die Türken wurde das Dörfchen, in dem Großmeister La Valette und die meisten Ordensritter die Belagerung überstanden hatten, in »Vittoriosa« umbenannt: italienisch für »die Siegreiche«. Es war die Anerkennung eines Großmeisters, der im Grunde keine andere zu vergeben hatte: Sein Lehen war gerade von den Türken verwüstet worden, die Schatulle leer vom monatelangen Krieg, und er konnte froh sein, dass er noch am Leben war.
Die Malteser nahmen den Ruhmestitel mit all der Höflichkeit an, deren sie zu Recht gerühmt werden, und heute noch steht auf der Landkarte Vittoriosa. Doch sie nennen die Stadt bis heute Birgu.
Unten am Fuß des Kalkfelsens, auf dem der Ort liegt, schiebt sich der Große Hafen weit ins Land hinein und bildet den Dockyard Creek. An seinen Ufern geht Birgu in Bormla (Cospicua) über. Während der Großen Belagerung lagen hier die Ordensgaleeren. Heute legen die Fähren aus Valletta hier an, und am Ufer schaukeln Jachten. Geht man die Uferpromenade entlang in Richtung Birgu, erreicht man nach kurzer Zeit die Kirche San Lawrenz. Von außen eine schlichte Barockkirche, gelber Kalkstein. Innen viel roter Samt, ein paar Seitenkapellen. Und das Wichtigste: der heilige Laurentius.
Auf seinen Auftritt am 10. August warten Einwohner und Besucher schon Wochen vorher. In diesen Wochen ist Birgu ein wirklich gefährdeter Ort. Mit den Feuerwerkskörpern, die hier für den großen Tag gehortet werden, könnte man halb London in die Luft jagen.
Unten am Hafen im Sonnenschein merkt man davon nichts. Birgu sieht noch ein bisschen verschlafen aus, wie so oft. Auch wenn Touristen kommen, um die Befestigungen aus der Ordenszeit zu sehen und um das Malta Maritime Museum, das erste Ordenshospital oder den Inquisitorenpalast zu besuchen. Vielleicht wundern sie sich, dass ab und zu schon ein Böller widerhallt und im makellosen Blau des Himmels weißer Rauch zu sehen ist. Aber noch liegt der Große Hafen ruhig in der Sonne.
Nutzen wir die Zeit noch zu einem kleinen Rundgang.
Birgu war ein unbefestigtes Fischerdörfchen, als die Johanniterritter 1530 Malta bezogen. Vertrieben von einer türkischen Streitmacht, hatten sie Rhodos verlassen müssen und waren auf der Suche nach einer neuen Heimat von Fürstenhof zu Fürstenhof getingelt – oder gleich auf ihren europäischen Besitzungen geblieben. Die Zeit der Kreuzritter war vorbei. Großmeister Philippe Villiers de l’Isle-Adam konnte froh sein, als Karl V. ihm Malta als Lehen gab. Die Hauptstadt Mdina lag im Landesinneren und war bewohnt von aufsässigen Lokaladligen, die alles andere als glücklich über die neuen Herren waren. Und da die Johanniter ohnehin eine Seemacht waren, war ein Hauptsitz am Hafen nicht das Schlechteste.
San Lawrenz wurde ab 1532 die Hauptkirche des Ordens. An der Spitze der Landzunge von Birgu, dort, wo der Fels steil ins Meer abfällt, bauten die Ritter ein Fort, das sie – möglicherweise mit Bezug auf Rom – das Engelsfort nannten: »Castel St. Angelo« ist auch die italienische Bezeichnung für die Engelsburg in der Ewigen Stadt, die Fluchtburg der Päpste. Vermutlich hatte an der Stelle schon in römischer Zeit ein Junotempel gestanden. In der Stauferzeit gab es hier eine Befestigung, von der noch die St. Anne’s Chapel, der älteste Teil der Anlage, und die Reste eines Turms zeugen. Dokumentiert ist seit den 1240er-Jahren ein castrum maris, also eine Meeresburg. Spätestens während der kurzen Herrschaft der Anjou war hier auch eine kleine Garnison untergebracht. Die Malteserritter bauten den Ort, der auf drei Seiten von Meer umschlossen ist, zu einer Festung aus, die zur Landseite hin durch einen Graben gesichert wurde. Angeblich hat man während der Großen Belagerung 1565 einem osmanischen Gesandten die Festung gezeigt. Beeindruckt soll dieser ausgerufen haben, niemals würden die Türken diesen Ort erobern – und sich zur Bekräftigung dieser Aussage gleich gewaltig in die Hosen gemacht haben.
Apropos Knalleffekte: St. Angelo war auch Munitionslager während der Großen Belagerung – woran man sich während der Festa immer wieder erinnert fühlt. Da hat man nämlich bisweilen das Gefühl, dieses Munitionslager sei versehentlich explodiert. Was einem echten maltesischen Pyrotechniker natürlich nie passieren würde. Weder 1565 noch heute. Schlendern wir also noch ein bisschen weiter.
Vielleicht zum 1535 erbauten Inquisitorenpalast. Der Gerichtssaal hat eine ausnehmend niedrige Tür, sodass die Delinquenten zwangsläufig in gebeugter Haltung eintreten mussten. Oder durch die entzückenden Gassen von Birgu, in denen wir an den Herbergen der Ordensritter vorbeikommen. Diese wurden einst, nach Muttersprachen sortiert, in acht Gruppen eingeteilt, die sogenannten Zungen: acht wie die Anzahl der Spitzen des Malteserkreuzes. Die Heiratspolitik Heinrichs VIII. und das Aufkommen der anglikanischen Kirche führten indes zu massivem Personalmangel in der englischen Zunge: Zur Zeit der Großen Belagerung bestand sie nur noch aus einem einzigen Ritter. Deshalb wurde bald darauf eine bayerische Zunge gegründet und mit der englischen fusioniert. Die auberges, die Ordenshäuser der einzelnen Zungen, sind heute bis auf eine in Privatbesitz und daher nur von außen zu betrachten. Lediglich in der englischen Herberge befindet sich eine Bibliothek. Es sind eher unspektakuläre Steinhäuser, deren schlichte Fassaden nicht vermuten lassen, dass hier die Crème de la Crème des europäischen Adels logierte.
Inzwischen wurde Fort St. Angelo für den Tourismus geöffnet, Museen entstanden. Einzig der oberste Teil des Forts mit der St. Anne’s Chapel ist seit 1998 für 99 Jahre an den Malteserorden verpachtet und nur mit Sondererlaubnis zu besuchen. Der untere Teil der Festung ist inzwischen von der Seite des Dockyard Creek her zugänglich, eine weitere neue Brücke befindet sich in Planung. Der waghalsig schmale Zugang über den Graben zur Landseite hin, früher der einzige überhaupt, ist als Denkmal übrig geblieben. Zu seinen Füßen breiten sich die Sonnenschirme eines Cafés aus. Gegenüber zieht sich ein neuer Apartmentkomplex bis an den Graben, mit Panoramafenstern und allem Drum und Dran. Die Jachten sind größer geworden, die Wohnungen auch. Birgu hat sich schick gemacht, der Blick auf die Skyline von Valletta ist einmalig, und mit der Fähre gelangt man heute in wenigen Minuten in die Hauptstadt. Die Filmstudios in Kalkara, ein bedeutender Arbeitgeber, sind ebenfalls schnell zu erreichen. Längst arbeitet man nicht mehr nur in den Trockendocks. Die Uferpromenade mit dem Schifffahrtsmuseum hat sich mit Cafés und Restaurants herausgeputzt.
Da hören wir schon wieder einen Donner, und in die heiße Nachmittagsluft über St. Angelo steigt weißer Rauch. Zeit, ins Ortszentrum zurückzugehen. Und in der Tat – hier hat sich einiges getan! Die roten und gelben Fahnen, Wimpel und Stoffe, mit denen der ganze Ort geschmückt ist, sind Ihnen natürlich schon aufgefallen. In allen Hauptstraßen hängen sie. Aber was ist jetzt passiert?
Überall an den Straßenrändern stehen kleine Buden mit Zuckerwatte, gebrannten Mandeln und anderen Süßigkeiten. Es duftet nach Zucker und Honig. Musik spielt, laut, rhythmisch und mit sehr vielen Blechblasinstrumenten. Sogar das Gebäude der sozialistischen Labour Party hat geflaggt.
Hu jum sabiħ il 10 tal-Awwisu – es ist ein schöner Tag, der zehnte August, schallt es per Lautsprecher durch die engen Straßen, die plötzlich gar nicht mehr verschlafen wirken. Überall drängen sich Leute, reden aufgeregt durcheinander. Kinder essen Hotdogs und Süßigkeiten. Die Luft scheint auf einmal zu vibrieren, die erwartungsvolle Stimmung greift über. O ja, es ist ein schöner Tag, dieser zehnte August!
Seit jeher haben die Gemeinden eine sehr enge Beziehung zu »ihrem« Heiligen. Man engagiert sich in Pfadfindergruppen, Chören, in der banda, der Musikgruppe, oder anderen Vereinen »seiner« Kirche. Gibt es mehr als eine Kirche und damit mehr als einen Heiligen am Ort – was auf Malta, wo es mehr Kirchen gibt als in Rom, eher der Normalfall ist –, artet eine Festa schnell in einen veritablen Wettbewerb aus. Wer hat die schönere Dekoration, die lauteren Fans, das prachtvollere Feuerwerk? Nicht umsonst beschwört der San-Lawrenz-Song aus Birgu die dominanza assoluta in der ganzen Cottonera!
Eine Festa wird Wochen im Voraus vorbereitet. Jeder hat irgendetwas dafür gespendet oder irgendeine noch so kleine Aufgabe inne – sei es bei der Dekoration, beim Feuerwerk oder in der Durchführung. Das Spektakel kann mehrere Tage dauern und folgt einem genau festgelegten Plan. Krönender Abschluss und absoluter Höhepunkt ist die feierliche Prozession des Heiligen mit anschließendem Feuerwerk. Für die meisten Dörfer ist die Festa das zentrale Ereignis des Jahres. Ein Social Event, das man auf keinen Fall verpasst.
Wer im August nach Malta kommt, wird früher oder später eine Festa besuchen – freiwillig oder unfreiwillig. Irgendwo wird plötzlich die Straße voller Menschen sein, Buden verkaufen Süßigkeiten, und wo immer Platz ist (und das ist Definitionssache, glauben Sie mir!), gibt es vielleicht auch ein Karussell. Und das berühmte Feuerwerk.
Der heilige Laurentius wacht ganz besonders über alle, die mit Feuer arbeiten. Er ist ihr Schutzheiliger, und das nicht von ungefähr: Schließlich wurde er weiland im Jahre des Herrn 258 selbst auf einem Eisenrost aufs Feuer gelegt. Und vielleicht ist das der Grund, warum seine Verehrer jedes Jahr Tonnen von Feuerwerk verschießen und so stolz darauf sind. Mit San Lawrenz sind die Pyrotechniker auf der sicheren Seite. Schließlich haben sie einen Spezialisten an Bord.
Das ist auch nötig. Denn der Anblick der ganzen hier gelagerten Pyrotechnik ist nichts für schwache Nerven. Die Raketen, die auf ihren großen Auftritt warten, sehen aus, als stammten sie aus dem Arsenal des amerikanischen Verteidigungsministeriums und wären eher dafür gedacht, eine ganze Alien-Invasion abzuschießen, als bunten Funkenregen am Himmel zu erzeugen. Hier wird mit Pulver hantiert, als ob die nächste Türkenbelagerung anstünde.
2017 konnte man sich im April beim International Fireworks Festival von der Kunstfertigkeit der Malteser überzeugen – mit einem Firemusical-Wettbewerb und gigantischen Effekten bei der Abschlussfeier über dem Großen Hafen. Orffs Carmina Burana mit dem berühmten »O Fortuna«-Chor, begleitet von Feuerkaskaden und Lichtblitzen im Takt der Musik, maltesische Volksmusik mit bunten Lichtkugeln, die über die dunkle Wasserfläche zu huschen scheinen wie Irrlichter, das Auf und Ab von blumenartigen Fontänen im Walzertakt. Die St. Mary’s Fireworks Factory lässt auch schon mal zur Titelmusik von Star Wars rote und grüne Lichtblitze sausen, sodass man das Gefühl hat, der Krieg der Sterne hätte wirklich begonnen.
Und deshalb schnell zurück zum Hauptplatz! Denn es ist so weit! Von der Kirche San Lawrenz her schwebt urplötzlich eine gigantische Heiligenstatue durch die enge Straße, getragen von kräftigen Männern in Mönchskutten.
Und jetzt bricht es los: Alle Anwesenden brüllen und singen und klatschen und johlen. Fromme Lieder – die auf Malta immer ein bisschen klingen wie italienischer Belcanto – werden gesungen, und der sich allmählich verdunkelnde Himmel wird erleuchtet von Fackeln und Lichtern. Schwankend nähert sich der Heilige, schwebt sanften Blicks wie betäubt von all der Begeisterung durch die Menge. Schwitzend drängen sich die Träger hindurch und halten immer wieder an, erschöpft von der Last. Dann werden Stangen mit Silberköpfen unter die Trageleisten geschoben, damit die Träger sich kurz die Stirn abwischen und einen Schluck trinken können. Auf Kommando, mit militärischer Präzision, schultern sie dann gleichzeitig wieder die Last. Die Stützen werden weggezogen, und weiter geht die Reise des Heiligen.
Konfettikanonen schießen glitzernden Regen in die Luft. Von der Kirche regnet ebenfalls Konfetti auf den Eingang herab. Kirchenschätze glänzen, Baldachine schwanken, Kreuze aus Gold und Silber, mit Edelsteinen besetzt, werden bannergleich vor den Geistlichen hergetragen. Wer kann, hüpft und springt und versucht, die Trage zu berühren, während der Heilige vorbeizieht. Kinder werden hoch über die Köpfe der Eltern gehoben. »Viva San Lawrenz!«, brüllen die Leute. Wunderkerzen werden geschwungen. Wenn Brad Pitt jetzt mitten in der Menge stünde, würde niemand auf ihn achten. Vielleicht tut er es sogar, denn er gilt als bekennender Maltafan. Und drehen kann er heute sowieso nicht – an Festa-Tagen stellen die Filmstudios im nahen Kalkara die Arbeit weitgehend ein.
Wenn Sie es übrigens nicht schaffen, die Festa San Lawrenz zu besuchen – keine Bange. Die direkte Konkurrenz, die beinhart ist, hat ihren großen Tag kurz darauf, nämlich am 27. August: Dann wird der heilige Dominikus, dessen Kirche quasi Rücken an Rücken mit San Lawrenz steht, unter Jubelgeschrei durch die Gassen getragen! Und weil man es den Fans von San Lawrenz zeigen will, natürlich auch mit einem gewaltigen Feuerwerk.
Auch dieser Heilige hat natürlich seine Konfettikanonen, seine Banda, seinen Chor und seine Cheerleader: Mädchen auf den Schultern der Jungs, die laut johlend und in Vereins-T-Shirts sein Lob singen. Lieder wie Kemm int sabiħ, o kbir Duminku! (Wie bist du schön, großer Dominikus!) oder Kemm inħobbuk, Duminku tagħna! (Wie ich dich liebe, unser Dominikus!). Diese Lieder von Chören oder Solisten werden dank Verstärkern in der ganzen Stadt und bis hinüber nach Valletta vernehmbar sein. Religiöse Inbrunst mischt sich hier zwanglos mit dem, was die Malteser briju nennen und was mit Religion ansonsten eher marginal zu tun hat.
Briju ist vermutlich verwandt mit dem italienischen brio (Feuer, Pep, Schwung). Ein Hochgefühl wie ein Rauschzustand, die Stimmung der Festa eben. Es steht auch allgemein für das Feiern zu Ehren der Heiligen, für das eigene Vereine zuständig sind. Ob das nun in Mqabba Mitte August oder in Qala auf Gozo Anfang Juli ist: Il-briju ist die Belohnung für die wochenlange Arbeit. Da wurden Banner geschmückt, Straßen in Prunkmeilen verwandelt. Da wurden Heiligenfiguren hergestellt, die kostbaren barocken Statuen auf Marmorsockeln täuschend ähnlich sehen. Da wurden Lieder geübt, die Muskeln der Träger trainiert, kostbare Stoffe für die Kirche ausgepackt und Fahnen gehisst. Und selbstverständlich wurde gespendet für das Feuerwerk.
Alle sind in Bewegung. Kinder tanzen auf den Schultern ihrer Eltern. Die Banda spielt sich die Seele aus dem Leib. Ohrenbetäubend, rhythmisch und immer wieder untermalt vom Donner der Böller. Schneller und schneller. Und während alle um einen herum klatschen, hüpfen und johlen, als käme gerade Beyoncé persönlich vorbei und nicht San Lawrenz, wird man plötzlich bis ins Mark erschüttert von einem gigantischen Knall. Das ist nun endlich der Beginn eines Feuerwerks, das die laue Sommernacht zu einem glitzernden, bunt funkelnden und qualmenden Tag macht und bis zum Flughafen zu hören ist (der ja auf einer Insel von rund dreißig Kilometer Länge nie weit weg ist).
Rauch schwebt in der Luft, mischt sich mit dem Geruch von Weihrauch. So mancher Malteser dachte nach Auskunft des Magazins Il-Bizzilla in seiner Kindheit, dass der Schwefelgeschmack zum Hotdog dazugehörte. Und wenn ich das ergänzen darf: Genau genommen schmeckte die ganze Luft nach Schwefel (und je nachdem, wo man feiert, kann das noch heute so sein), weil die Rauchschwaden meterdick durch die Gassen waberten.
Jetzt startet die erste Batterie des Feuerwerks, und ein Funkenregen schießt über die dunkle Wasserfläche des Großen Hafens. Das Wasser glänzt und wirft die Reflexe zurück. Silberne, rote und goldene Lichtblitze zerreißen die Schwärze. Immer höher schrauben sich die glitzernden Türme aus Feuer in den warmen südlichen Nachthimmel. Und wer dann immer noch nicht mitjohlt und klatscht und hüpft, dem ist nicht zu helfen.
Wenn Sie vom Hüpfen übrigens einen Hexenschuss bekommen – kein Problem, der zuständige Schutzheilige ist schließlich … genau: San Lawrenz.
Unter den Fittichen der Großen Mutter
Familie und andere Bräuche
Der Maltese Calypso führt diverse Eigenheiten der Inselgruppe auf, die man zu ändern gesonnen ist: Malta, we love Malta, lautet der Refrain, these are the things we’d alter. Und eines der prominentesten Dinge, die man gern ändern möchte, ist die behütete Jugend der weiblichen Bevölkerung.
Dazu heißt es:
Maltese girls are very fine:
Dark skin and eyes that shine.
(…)
I asked a girl to go out with me till late,
I picked her up about half past eight.
Her mother said: Now, have a real good time
But she’ll better be back by half past nine!
Maltas Mädchen sind wirklich toll:
Dunkle Haut, die Augen glutvoll.
(…)
Wir wollten ausgehen bis spät in die Nacht,
Ich holte sie ab, es war schon nach acht.
Die Mutter sprach: Na dann, viel Spaß und viel Glück.
Doch um Punkt halb zehn ist sie zurück!
Wenn man seine Liebste gern ausführen möchte, kann es also durchaus sein, dass die Mutter sie nach einer guten Stunde wiederhaben will. Die maltesische Mutter ist ein ebenso großes soziologisches Klischee wie die italienische. Sie hat traditionell eine lange Herrschaftsgeschichte auf Malta.
Um diese zu erforschen, begeben wir uns zunächst in eine der berühmtesten Sehenswürdigkeiten. Sie liegt etwas außerhalb des Speckgürtels von Valletta in dem Örtchen Paola. Bitte ziehen Sie festes Schuhwerk an, und legen Sie die Sonnenbrille ab. Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass sich die vielleicht wichtigste Sehenswürdigkeit unter der Erde befindet.
Heute ist das Hypogäum Monate im Voraus ausgebucht. Es ist ausgeschildert und von außen klar zu erkennen. Das war nicht immer so. Bei meinem ersten Besuch als Teenager lief ich zwei- oder dreimal daran vorbei. Damals bekam man den Eindruck, es würde sich quasi im Keller des Wohnhauses befinden, unter dem es 1899 beim Bau per Zufall gefunden worden war.
Seine Existenz wurde anfangs geheim gehalten. Wer will schon ständig fremde Leute im Keller haben? 1902, als der Fund dann endlich gemeldet wurde, war nicht abzusehen, dass man gerade auf die einzige komplett erhaltene europäische Tempelanlage der Steinzeit gestoßen war – eine Sensation. Das Hypogäum ist älter als die Pyramiden von Gizeh und natürlich längst Weltkulturerbe der UNESCO. Seit 1913 ist es für die Öffentlichkeit zugänglich, von 1992 bis 2000 wurde es renoviert und im April 2016 überraschend wieder für mehrere Monate geschlossen. Jetzt ist es kulturhauptstadtfein und hoffentlich wieder für längere Zeit zugänglich.
Ħal Saflieni, Begräbnisort, nennen es die Malteser. Die Funktion des rund fünftausend Jahre alten Höhlenlabyrinths ist bis heute nicht ganz klar: Begräbnisstätte, Tempel, Ort der Weissagung? Gefunden wurden gut siebentausend meist weibliche Skelette, die Wände zieren dieselben mit Ocker gemalten Spiralranken wie im nahen oberirdischen Tempel von Tarxien. Rund fünfhundert Quadratmeter groß, bohrt sich das Hypogäum gute elf Meter in die Tiefe, über drei Etagen mit 33 Räumen.
Ein dunkler, faszinierender Ort. Man kann sich vorstellen, wie es Sir Themistocles Zammit gegangen ist, als er hier die Ausgrabungen übernahm. Ein schier undurchdringliches Geflecht von ineinander verkeilten Nischen und nierenförmigen Kammern. Artefakte, die noch niemand katalogisiert hatte, Menschenknochen. Im flackernden Licht der Fackeln starren paarweise angeordnete konzentrische Kreise von den Wänden wie die Augen einer riesenhaften Eule. Vermutlich hat Zammit sich genauso beobachtet gefühlt wie ich, wenn ich daran vorbeigehe.
Irgendwo hier hat sie gelegen, in ihrem jahrtausendelangen Schlaf: die Tonstatuette der Schlafenden Frau, die heute im Archäologischen Museum in Valletta ausgestellt ist. Eine Frau, die, auf einen Arm gestützt, seitlich auf einem Bett liegt und schläft. Die üppigen Hüften ragen nach oben, die Brüste sind von einem Arm bedeckt. Vermutlich symbolisierte sie die Nähe des Schlafs zum Tod. Zwölf Zentimeter lang und sieben Zentimeter hoch – und einzigartig.
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