DIE PIRATENPARTEI - Jan Seibert - E-Book

DIE PIRATENPARTEI E-Book

Jan Seibert

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Beschreibung

Alles ist gratis, keiner braucht mehr zu arbeiten und man kann sich ganztägig dem Raubkopieren hingeben, während man straffrei Drogen konsumiert. So stellen sich viele die -Piratenwelt vor. Die Piraten werden als Hype und Spaß-Partei wahrgenommen, die nun zum Entsetzen vieler Politiker und Bürger angeblich ohne Programm die Parlamente entert. Doch es lohnt, sich genauer mit den Themen und vor allem der Struktur der Piratenpartei zu beschäftigen. Sowohl ein großer Teil der Politiker als auch der Gesellschaft verschließt bewusst oder unbewusst die Augen vor dem, was die Piraten aufbauen, und verkennen den Aktivismus, der die Partei zu einer bedeutenden Größe gemacht hat. Manche Vorschläge der Piraten mögen gewöhnungsbedürftig, vielleicht sogar anarchistisch erscheinen. Doch niemand darf sich wundern, dass solche Forderungen erhoben werden und dass die Piratenpartei auch noch auf so viel Zuspruch stößt. Dafür hat die Politik besonders in den vergangenen Jahren gesorgt. Dieses Buch beschäftigt sich erstmals umfassend mit der Geschichte und Herkunft der Piratenpartei, ihren Forderungen und ihrem Programm - aber auch mit ihren internen Auseinandersetzungen und Querelen.

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Jan Seibert

DIE PIRATENPARTEI

Der Beginn einer neuen politischen Ära

VORWORT

ÖFFENTLICHE MEINUNGEN ÜBER DIE PIRATENPARTEI

»Wenn am Sonntag Bundestagswahlen wären, dann könnten die Piraten mit 8 oder 9 Prozent rechnen. Manche Meinungsforscher sehen diese Partei sogar schon bei 12 Prozent. Auch ihr Einzug in die Landtage von Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen gilt als sicher. So richtig erklären kann diesen Erfolg niemand. Und niemand kann so genau sagen, wofür diese Piraten stehen.«

Hugo Müller-Vogg in der Sendung »die meinungsmacher«, Hessischer Rundfunk, 4. April 2012

»Auch Piraten kann man resozialisieren!«

Renate Künast in der Kandidatenbefragung der IHK zur Landtagswahl in Berlin im Ludwig-Erhard-Haus

»Das Gesellschaftsbild, das Politikbild, das Menschenbild [der Piraten] ist stark von der Tyrannei der Masse geprägt.«

Patrick Döring, FDP-Generalsekretär, am Sonntagabend in der Gesprächsrunde nach der Landtagswahl im Saarland

»Ich frag mich schon, wie Menschen dazu kommen, eine Partei zu wählen mit einem Namen, die wir andererseits am Kap, am Horn von Afrika mit Waffengewalt bekämpfen. Man kann das spaßig finden, ich find das nicht spaßig. Die nächste Gruppierung, die sich neu bildet, heißt dann Terroristen vielleicht.«

Wolfgang Kubicki, FDP-Spitzenkandidat Schleswig-Holstein, Bayerischer Rundfunk, report München, 3. April 2012

»So sicher ich mir vor dreißig Jahren war, dass aus den Grünen eine starke Partei wird, so groß sind nun meine Zweifel, dass in zehn Jahren noch jemand über die Piraten spricht.«

Erhard Eppler (SPD), ehem. Bundesentwicklungs-minister, Süddeutsche Zeitung, 2. Mai 2012

»Die Piratenpartei ist ein Ventil für Leute, die nicht wissen, was sie wählen sollen.«

Ottfried Fischer, Schauspieler und Kabarettist, Welt Online, 5. Mai 2012

»Die Freibier-für-alle-Partei«

Die FAZ in einem Artikel über das Bedingungslose Grundeinkommen, 6. Dezember 2011

»Die Piraten sind eine Linkspartei mit Internetanschluss.«

Christian Lindner (FDP), Parteitag Duisburg, 1. April 2012

»Eine populistische Protestpartei ohne Programm mit pseudoliberalen und kirchenfeindlichen Vorstellungen. In der virtuellen Welt von Internet, Facebook und Twitter entstanden, präsentiert sich diese Partei mit ihrer verantwortungslosen Radikalkritik an unseren demokratischen Parteien als bunte Spaßbewegung, ohne inhaltlich auch nur einen ernsthaften Vorschlag anzubieten.«

Jürgen Henkel, Bezirkschef vom Evangelischen Arbeitskreis der CSU in Oberfranken (EAK)

»Die Piraten kann man ja wählen, aber die Stimme ist natürlich dann im Gulli! Wer die Piratenpartei wählt, wird lediglich dafür sorgen, dass die Stimme verloren ist!«

Guido Westerwelle (FDP) in einem Wahlkampf-Statement für die VZ-Social Networks, 2009

»Ahnungslose Illusionisten, die die demokratischen Spielregeln aushöhlen wollen!«

Joachim Hermann (CSU), Der Tagesspiegel, 8. April 2012

»Eine Partei, die alles umsonst fordert, gibt es eigentlich schon: Das ist die Linkspartei!«

Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), Focus, 16. April 2012

»Es gibt keinen Piraten-Hype. Dass die Piraten so stark sind, entspringt eher einem Lebensgefühl, einer spontanen Stimmung. Das hat ja nichts mit Veränderungswillen zu tun.«

Torsten Albig, Spitzenkandidat der SPD Schleswig-Holstein, Handelsblatt, 24. April 2012

»Wenn eine Partei wie die Piraten neun Prozent hat und gar nicht weiß, wofür sie eigentlich steht, dann macht mir die Sache Angst. Was passiert da eigentlich? Wenn sich da einer hinstellt und sagt: Afghanistan? Haben wir noch keinen Plan. Steuergeschichten? Hm. Haben wir noch nicht drüber gesprochen. Oder wie müssen wir das machen mit unserer Wirtschaft? Müssen wir vielleicht in vier Wochen eine Antwort geben? Das ist doch keine Politik! Wir brauchen Leute, die eine Richtung anbieten, die Visionen haben, die wissen, wie die Absicherung der Bürger gehen soll. Da kann ich nicht so einen Schwachsinn erzählen, wie die das zum größten Teil machen.«

Uli Hoeneß, Präsident FC Bayern München, BILD, 6. April 2012

»Die Piraten haben derzeit kein Projekt, keine Idee, wie sie eine bessere Zukunft gestalten wollen.«

Andrea Nahles, SPD-Generalsekretärin, Passauer Neue Presse, 30. April 2012

»Die Piraten sind eine Kein-Themen-Partei. Möglicherweise liegt ihr Erfolg darin begründet, dass sie sich in vielen Fragen zurückhalten.«

Peter Altmaier (CDU), Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 3. April 2012

»Das Angebot von denen ist unschlagbar: Doppelter Hartz-IV-Satz, freies Internet, freie S-Bahn – kein Wunder, dass die meisten Piratenwähler von der Linkspartei kommen!«

Jan Fleischhauer, Journalist und Autor, zitiert von Markus Lanz in der Talkshow Markus Lanz am 11. April 2012

»Wer die Piratenpartei wählt, wählt die Handlungsunfähigkeit des politischen Systems. Wenn das Volk mit der Willensbildung durch Volksparteien nicht mehr zufrieden ist und neue Parteien gründet, schwächt es damit zugleich die Verfassungsorgane.«

Prof. Oliver Lepsius, Staatsrechtler an der Universität Bayreuth, Der Tagesspiegel, 9. Juni 2012

»Alle Auguren der Republik sind angetreten, um den unerklärlichen Aufstieg einer obskuren Sekte zu erklären, von der man nur weiß, dass sie aus IT-Junkies besteht, die für die totale Freiheit im Internet eintreten, sogar für die Liebhaber von Kinderpornografie.«

Henryk M. Broder, Welt Online, 5. Mai 2012

*

Politische Kontrahenten und Medien haben bislang keine gute Meinung von der Piratenpartei. Und trotzdem »enterte« sie bereits mehrere Landtage. Das neue politische Phänomen können sich viele einfach nicht erklären. Sie wird als Spaßpartei, Ansammlung von durchgeknallten Jugendlichen oder politisch gewordener Computer-Nerds wahrgenommen.

Weder Politiker etablierter Parteien noch die Medien nehmen die »Newcomer« wirklich ernst. In politischen Debatten und TV-Talks werden die Vertreter der neuen Partei immer wieder belächelt und fast wie Kinder behandelt. Nicht selten enden Sätze der etablierten Politiker mit den Worten »Wenn Sie mal in der Politik angekommen sind, werden Sie das auch anders sehen« oder »Das kann man so nicht machen«.

Was also sehen viele Wähler, wovor Politiker und Medien die Augen verschließen? Lange Zeit wurden die Piraten in den Zeitungen und Magazinen weitgehend als Randnotiz wahrgenommen und in den Umfragen und Hochrechnungen unter den »Sonstigen« verbucht.

Obwohl die Piraten in mehrere Landesparlamente mit souveränen Ergebnissen einzogen, ließen sich die Äußerungen in Bezug auf die Piraten von Spitzenpolitikern zählen. Man zeigt sich immer überrascht, hilflos, ratlos.

»Was will die Partei und wer sind sie« – mit dieser rhetorischen Frage fängt häufig eine Einleitung journalistischer Berichte über die neue Partei an, aber eine Erklärung bleibt danach trotzdem schuldig. Dieses Buch führt in die innovativen Konzepte der Piratenpartei ein und stellt eine Auswahl politischer Entwicklungen zusammen, die wesentlich zum Erfolg der Piratenpartei beitrugen. Es erklärt anhand von Beispielen die Politik- oder gar Demokratieverdrossenheit der Wähler und Nichtwähler, die Intransparenz des Staatswesens und warum die etablierten Parteien immer noch nicht reflektieren, dass eine neue unverbrauchte politische Kraft aus Sicht vieler Bürger dringend notwendig ist.

Jan Seibert

TEIL I

ENTSTEHUNG UND AUFBAU DER PIRATENPARTEI

1.1 Der Ursprung

Die Wiege der Piratenbewegung liegt in Schweden. Weil das Tauschen illegal kopierter Dateien immer wieder polemisch als »Piraterie« bezeichnet wird, gründete sich dort 2001 das »Svenska Antipiratbyrån« (»schwedisches Antipiraterie-Büro«). Es handelt sich dabei um eine Lobbyistenvereinigung von Rechteinhabern, die wiederum ungefähr 30 Firmen aus der Medienbranche vertritt.

Als Reaktion auf die Kriminalisierung und Stigmatisierung des Filesharings formierte sich dann mit dem »Piratbyrån« (dt. »Das Piratenbüro«) im Jahre 2003 eine Gegenbewegung. Es handelt sich dabei um eine Organisation, die den Kampf gegen Copyright und geistiges Eigentum durch Informationsaustausch unterstützt. Piratbyrån hat keinerlei illegale Aktivitäten mit Filesharing begangen. Der Verein erstellte im Internet Newsgroups und Webforen, um ein neues Bürgerbewusstsein zu schaffen, dass Filesharing an sich nichts Kriminelles ist.

»Piratbyrån« gründete dann im November 2003 den weltweit bekannten BitTorrent-Tracker »The Pirate Bay« in Schweden. Auch das war nicht illegal, denn P2P-Tauschbörsen wie BitTorrent sind ganz normale PC-Anwendungen, deren Verwendung zu legalen Zwecken dienen und nicht grundsätzlich wegen der Verbreitung urheberrechtlich geschützten Materials verboten werden können. Auch werden auf »The Pirate Bay« keinerlei urheberrechtlich geschützte Dateien angeboten, sondern lediglich Links bereitgestellt, um diese über das Tauschbörsen-Programm »BitTorrent« aufzurufen.

»The Pirate Bay« wurde nach Meinung der Medienindustrie jedoch zu den Zwecken benutzt, wogegen das »Svenska Antipiratbyrån« den Kampf aufnahm – nämlich den Tausch von Filmen und Musikstücken.

»The Pirate Bay« wuchs zu einer der erfolgreichsten Seiten in der Filesharing-Szene. Dieser Entwicklung schauten die Rechteinhaber in Schweden nicht tatenlos zu und bemühten sich darum, sowohl die Plattform BitTorrent durch das Einspeisen von kaputten Dateien zu sabotieren1 als auch auf Gesetzesebene dagegen vorzugehen.

Bis 2005 war der Dateientausch über das Internet in Schweden nicht illegal.2 Dann wurde das Urheberrechtsgesetz geändert.3 Das geschah vor allem, weil die europäische Urheberrechtsrichtlinie in nationales Recht umgesetzt werden musste.4 Das neue Gesetz sah vor, dass es ausschließlich dem Rechteinhaber gestattet ist, sein Werk öffentlich zur Verfügung zu stellen.

Es kam daraufhin zu rechtlichen Auseinandersetzungen, in denen sich schwedische Gerichte mit der Frage befassen mussten, ob das Einspeisen von urheberrechtlich geschützten Dateien das neu geschaffene ausschließliche Recht des Rechteinhabers verletze. Auch mussten schwedische Richter in Prozessen darüber urteilen, ob die Katalogisierung von Download-Links, wie bei »The Pirate Bay«, eine strafbare Beihilfe ist. Die Justiz stellte sich weitgehend auf die Seite der Rechteinhaber.5

Diese Entwicklung gab den Anstoß für eine neue politische Bewegung. Am 1. Januar 2006 gründete Rick Falkvinge die Piratpartiet (Piratenpartei). Falkvinge zufolge waren die etablierten Parteien nicht imstande, eine angemessene Internetpolitik zu betreiben und das Internet zu verstehen. Der Piratpartiet-Gründer sah in der Entwicklung die Stellung Schwedens als eine weltweit führende IT-Nation gefährdet. Falkvinge war der Überzeugung, dass eine Piratenpartei notwendig sei, um etablierte Parteien aufzuscheuchen und mit politischem Druck zu zwingen, Internet- und Zukunftsfragen ernster zu nehmen.6

Laut Falkvinge war es notwendig, dass die Politik das Urheberrecht, Patentrecht und den Markenschutz zeitgemäß reformiert und an die Entwicklungen des Internets anpasst. Gleichzeitig sollen persönliche Daten und Rechte gesichert und geschützt werden.7

Die schwedische Piratpartiet und »The Pirate Bay« sind also begrifflich eng miteinander verknüpft, haben tatsächlich aber nichts miteinander zu tun. Durch die begriffliche Anlehnung profitierte die neue politische Bewegung jedoch von der Publicity um »The Pirate Bay«.

Denn die Rechteinhaber gingen immer massiver gegen das Torrent-Portal vor. Im Frühjahr 2006 kam es zu einer groß angelegten und international beachteten Razzia gegen »The Pirate Bay«. Die Mitgliederzahl der Piratpartiet stieg daraufhin extrem an.

Die Partei trat direkt bei der schwedischen Reichstagswahl 2006 an und erzielte 0,63 Prozent der Stimmen. Für den Einzug in das Parlament reichte das nicht.8

Trotz Serverbeschlagnahmungen und härterer juristischer Vorgehensweise stellte »The Pirate Bay« seine Torrent-Tracker-Seite nicht ein. Unterstützung bekam das Portal von der Piratpartiet – die neue Partei organisierte Demonstrationen in Göteborg und Stockholm.9

Die Entwicklungen um »The Pirate Bay« wurden international aufmerksam verfolgt. Zeitweise war das Portal unter den 50 beliebtesten Seiten weltweit,10 mit mehr als 35 Millionen Nutzern täglich.11 Die Torrent-Seite wird bis zu eine Million Mal pro Minute aufgerufen. Die Nutzer kommen dabei aus China (22,3 %), USA (11,0 %), Kanada (3,9 %), Großbritannien (5,5 %), Spanien (5,4 %), Frankreich (4,4 %), Italien (3,5 %) und Deutschland (1,9 %).12 In China und den USA ist das politische System extrem festgezurrt, sodass hier zu dem Zeitpunkt keine Bewegung zu erwarten ist, die sich den Zielen der Piratenpartei verschreibt.

Im Juli 2006 wird als zweiter nationaler Verband die Piratenpartei Österreich (PPÖ) von Florian Hufsky gegründet. Der PPÖ gelingt es im Sommer 2006 nicht, die notwendigen 2600 Unterstützungserklärungen für einen Antritt bei den Nationalratswahlen am 1. Oktober 2006 zu sammeln.

Es verwundert zunächst, dass ausgerechnet in Deutschland mit einer vergleichsweise geringen »Pirate Bay«-Nutzerzahl die Idee der Piratenpartei besonders konsequent aufgegriffen wird. Am 10. September 2006 findet eine Versammlung mit 53 Teilnehmern im c-base statt, einem Treffpunkt der Berliner Hackerszene. Die Piratenpartei Deutschland wird gegründet.

Am 18. April 2009 gründen sich in Wiesbaden die Jungen Piraten (JuPis) als Jugendorganisation der Partei. Nach und nach entstehen immer mehr Landesverbände der Piratenpartei. Seit dem 28. Juni 2009 gibt es in jedem der 16 deutschen Bundesländer einen Piratenpartei-Verband.

Doch warum haben die Piraten ausgerechnet in Deutschland einen so großen Erfolg, obwohl die restriktiven Maßnahmen gegen »The Pirate Bay« aufgrund der prozentualen Nutzerzahlen in Ländern wie Großbritannien, Spanien, Frankreich und Italien dort viel mehr Grund für politischen Widerstand bieten?

Die Erklärung für den Aufstieg liegt in der Politik- und Demokratieverdrossenheit der deutschen Bürger. Die schwedische Piratpartiet erarbeitete eine Steilvorlage, welche geeignet war, die politisch und demokratisch unzufriedenen Kräfte in Deutschland – insbesondere unter den Jugendlichen – zu bündeln und die Teilhabe am politischen System zu revolutionieren.

Während die Piratpartiet den Schwerpunkt auf das Thema Internet legte, besetzten die deutschen Ableger schnell Themen aus den Bereichen Bildungs-, Agrar- und Verbraucherschutzpolitik.

Im rigorosen Verbot des Filesharings sehen die deutschen Piraten den Start für weitere politische Einschränkungen. Das Internet wird als Zugang zu freiem Wissen betrachtet. Deutschland ist bei der Verbreitung von Wissen im Internet besonders engagiert. So weist der deutschsprachige Ableger der Wikipedia seit Gründung der Online-Enzyklopädie nach der englischen Version die zweitmeisten Artikel auf, obwohl Chinesisch, Spanisch und Russisch von deutlich mehr Muttersprachlern gesprochen wird. Die Diversifizierung der Themen schritt bei den deutschen Piraten schnell voran.

»Wir sind eine taufrische Partei, die sich mit den entscheidenden Themen des 21. Jahrhunderts beschäftigt, statt im Einheitsbrei politischer Themen des vergangenen Jahrtausends zu fischen. Wir kämpfen für das Recht auf Privatsphäre im Angesicht von Sicherheitshysterie und Überwachungsfetisch. Statt gläsernem Bürger fordern wir gläserne Verwaltung. Weiterhin forcieren wir die Modernisierung des Urheberrechtes im Sinne der digitalen Kopie. Wir stemmen uns gegen innovationsfeindliche Elemente des Patentsystems: Keine Patente auf Gene, Pflanzen oder Software«, heißt es im Dezember 2006 auf der Homepage der Piratenpartei.13

Die deutschen Piraten griffen einerseits das Kernthema »Filesharing« und Urheberrecht auf, welche Rick Falkvinge in Schweden zur Gründung der Bewegung veranlassten, und ergänzten es mit mehreren eigenen Themen, darunter Förderung der Kultur, Abbau privater Monopole, offene Märkte, Transparenz des Staatswesens und Open Access in der Forschung.14

Mit diesem Konzept war der Grundstein für den Erfolg einer neuen politischen Bewegung gelegt. Es setzten dann zahlreiche politische Entwicklungen sowohl in Deutschland als auch auf EU-Ebene ein, die der Piratenpartei reges Interesse und Zulauf bescherten.

Auch das basisdemokratische Konzept wurde 2006 auf der Homepage festgeschrieben: »Die Piratenpartei [...] ist basisdemokratisch organisiert: Die Gründung, Parteiprogramm und Satzung wurden für jedermann öffentlich in unserem Forum und Wiki erarbeitet. Dabei konnte jeder Inhalt hinzufügen, ändern und kritisieren. Denn unseren Wurzeln bleiben wir treu, die Mitarbeit an den Inhalten soll auch weiter niemandem verwehrt bleiben. Das Engagement eines Jeden ermöglicht erst die Kettenreaktion des Erfolges der Piraten – darum: Verbreiten Sie ihre Entrüstung über den Status quo, verbreiten Sie das Wort. Die Piratenparteien sind eine Bewegung mit internationalem Hintergrund. Uns eint ein neues Verständnis von der Rolle des kreativen Schöpfungsprozesses, technologischer wie kultureller Errungenschaften und deren Nutzung, sowie die Ablehnung der sich abzeichnenden Überwachungsgesellschaft.«15

Der Grundstein für eine neue deutsche Partei und internationale Bewegung war gelegt.

1.2 Einordnung ins politische Spektrum

»Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.« Francis Picabia, frz. Schriftsteller, 1879–1953

Ist die Piratenpartei links oder rechts? Natürlich muss eine Partei immer in eine politische Richtung einsortiert werden. Sonst könnte man ja gar nicht an Wahlabenden mit Tortendiagrammen Koalitionsspielchen »Wer geht mit wem zusammen« veranstalten. Doch so einfach machen es die Piraten den Medien nicht. Die Piratenpartei versucht eine Links-Rechts-Einordnung bewusst zu vermeiden. Sie ist nach eigener Darstellung weder das eine noch das andere, sondern »vorne«.

Grundsatz- und Wahlprogramm der Piratenpartei enthalten jedoch Forderungen wie fahrscheinlosen öffentlichen Nahverkehr und das Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, was in der öffentlichen Wahrnehmung von vielen durchaus als »radikal links« bezeichnet wird.

Die Piratenpartei verfolgt keine bestimmte Ideologie, sondern fühlt sich vorrangig dem Grundsatz der Freiheit, der Grundrechte-Wahrung und der basisdemokratischen Mehrheiten verpflichtet. Aber ist das nicht Merkmal jeder Partei in Deutschland? Vorgeblich ja! Die genannten Grundwerte der Piraten entziehen sich bereits einer Einordnung nach dem klassischen Links-Rechts-Schema.

Die Piraten wollen die Gesellschaft verändern durch mehr direkte Demokratie, mehr Transparenz und mehr Mitspracherecht des Bürgers bei politischen Entscheidungen. Diese Ziele können die Piraten nach eigener Auffassung jedoch nur erreichen, wenn sie sich selbst danach strukturieren und innerhalb der Partei nach diesen neuen Strukturen arbeiten. Unterschiedliche Probleme erfordern unterschiedliche Lösungsansätze. Wenn eine Partei sich nun aber irgendeiner Ideologie verschreibt, sei es soziale Marktwirtschaft, Neoliberalismus oder Sozialismus, so ist es ihr bei einem Thema nicht möglich, diese grundsätzliche Ausrichtung zu verlassen, ohne dabei ihre Identität zu gefährden.

Die Piraten zielen eher darauf ab, bei einzelnen Fragen Sachverstand und Offenheit für alternative Lösungsansätze zu zeigen. Wenn nötig, wird auch einem Gesetzesvorschlag des politischen Gegners zugestimmt, wenn dieser sinnvoll erscheint.

Der Bürger ist das Fundament des Staates, dessen Rechte vom Staat in Form von Gesetzen eingeschränkt werden können. Dies muss jedoch nachvollziehbar und mit Augenmaß geschehen. Die Piraten bauen daher zum einen auf einen schwachen, gläsernen Staat, der die Freiheiten der Bürger so wenig wie möglich einschränkt. Zum anderen soll das Prinzip des mündigen, informierten und eigenverantwortlich handelnden Bürgers gestärkt werden. Die Piraten fordern einen sachlichen, wissenschaftlichen Diskurs, um eine moderne Demokratie zu erreichen, in der Grundrechte vor Eingriffen des Staates und der Wirtschaft geschützt sind. Um diese Ziele zu erreichen, sind ungehinderter Informationszugang und Meinungsfreiheit unerlässlich. Hierbei handelt es sich um klassisch liberale Prinzipien.

Neues Konzept und somit eine innovative Stärke der Piraten ist, dass die Partei nicht in politischen Lagern denkt. Der Kurs der Partei soll sich ausschließlich nach Inhalten und Themen richten, nicht aber anhand einer ideologischen Ausrichtung als Parteileitlinie.

Links-Rechts-Machtspielchen, welche existieren, seit es Parteien in Deutschland gibt, gilt es nach Ansicht der Piraten zu brechen. Die Piratenpartei soll eine Ansammlung politisch interessierter Menschen sein, aber kein Selbstzweck für Amt und Macht. Zahlreiche Piraten vertreten die Maxime: »Handle politisch so, dass die Partei überflüssig wird«.

Wer dennoch anhand der politischen Ziele eine klassische Einordnung treffen möchte: Eine ungefähre Einschätzung bietet der von zahlreichen Parteimitgliedern veröffentlichte politische Kompass (http://www.politicalcompass.org) auf den persönlichen Piraten-Wiki-Seiten. Der Kreis markiert die Position, welche in den meisten Profilen der Parteianhänger als Selbsteinschätzung zu finden ist.

1.3 Innovative Mitmach-Wahlkämpfe

Schon bei den Wahlkämpfen gehen die Piraten konsequent andere Wege als die etablierten Parteien. Man nutzt das Internet, um Mitglieder wie Sympathisanten gleichermaßen zu beteiligen.

Für die Bundestagswahl 2009 konnte jeder, egal ob Piratenmitglied oder nicht, bei Gestaltungen von Wahlplakaten mitmachen. Diese Strategie führte dazu, dass innerhalb weniger Wochen ein Sammelsurium von weit über 100 öffentlichkeitswirksamen Motiven vorlag. Vorschläge, die es nicht unter die Top 10 der besten Motive für die bundesweite Kampagne schafften, konnten von den Erstellern immer noch in Eigenregie für Flyer oder Plakate verwendet werden, wovon viele Regionalverbände Gebrauch machten.

In den großen Parteien ist diese Flexibilität bislang unbekannt. Dort entscheidet die Parteispitze, welche Politikerköpfe auf ein Wahlplakat kommen. Sie bedienen sich dabei unter anderem professioneller PR- und Werbeagenturen. Die Piratenpartei führte bislang nahezu jeden Wahlkampf ausschließlich mit Sachmotiven. Außer vereinzelt bei regionalen Wahlen sind Personenmotive in der Regel nicht Gegenstand eines Wahlplakats.

Während andere Parteien den Fokus eher darauf legen, Spitzenpolitiker aufzustellen, die Botschaften und Parteiziele charismatisch vermitteln sollen, steht das Personal der Piraten bei Wahlkämpfen stark im Hintergrund. Parteiziele und politische Themen werden mit auffälligen Plakatmotiven wie Überwachungskameras oder gläsernen Menschen vermittelt.

Selbst Aktionen wie das unfaire Plakat-Überkleben wird von den Piraten nicht stillschweigend hingenommen. Im parteieigenen Wiki listet die Seite »Plakatfoul« überklebte, gestohlene, beschädigte oder verunstaltete Piratenpartei-Plakate mit Fotobeweis für jedermann anschaulich auf. So entstand 2009 eine Rangliste, in der andere Parteien angeprangert wurden, wenn diese ein Piratenpartei-Plakat unfair überklebten. Derartige Angebote wecken den Eifer, sich in das Wahlkampfgeschehen aktiv einzubringen.

Auch die landesübergreifende Kooperation der Piratenparteien hebt sich deutlich von den etablierten Parteien ab. Die Piratepartei Lëtzebuerg (Luxemburg) sammelte beispielsweise für den Landesverband Saarland benötigte Unterstützungsunterschriften von Saarländern, die im Nachbarland an der Tankstelle hielten.16 Auch bundesländerübergreifend helfen sich die Verbände gegenseitig. Die Piraten Brandenburg leisteten dem Landesverband Mecklenburg-Vorpommern Wahlkampfhilfe mit Material und durch personelles Engagement.17

Neben den Plakatwerbungen und Mitmachaktionen setzen die Piraten sehr stark auf das Internet als Werbemedium. Youtube-Videos mit Wahlwerbespots sind zu jeder Landtags- oder Bundestagswahl im Internet zu finden. Hinzu kommen zahlreiche Aktivisten-Aktionen, wie die Teilnahme an Demonstrationen und Unterstützung von Bürgerrechtsinitiativen.

1.4 Piraten-Wahlerfolge im Fokus

Seit der Nachkriegszeit wurden Hunderte Parteien gegründet. Darunter befanden sich Verbände mit sehr einseitiger Themenausrichtung (Autofahrerpartei, Initiative Pro DM, Rentnerparteien, Tierschutzpartei), christliche Vereinigungen (Partei bibeltreuer Christen, Christliche Mitte), spirituelle Bewegungen (Die Violetten, Naturgesetz-Partei), Spaß- und Satireparteien (Chance 2000, Die PARTEI) sowie zahlreiche Parteien mit Vollprogrammen innerhalb eines bestimmten politisch-ideologischen Spektrums, die sich als Alternative zu den großen Parteien präsentierten. Doch bisher gelang es nach den Grünen und den Linken keiner anderen Bewegung mehr, in den Deutschen Bundestag einzuziehen.

Das liegt vor allem am Aufwand, der zu betreiben ist, um eine neue Partei aufzubauen. Bis eine neue Partei den Weg in die Parlamente schafft, ist es ein langer steiniger Weg. So sind beispielsweise Zigtausende Unterstützungsunterschriften einzuholen, um überhaupt bei Wahlen teilnehmen zu dürfen. Landes-, Kreis- und Kommunalverbände müssen gegründet werden, um die Partei regional zu verankern.

Um in die Parlamente einzuziehen, sind in Deutschland fünf Prozent der gültigen Wählerstimmen notwendig. Die Fünf-Prozent-Hürde soll der Zersplitterung der Parlamente entgegenwirken und eine Nichtregierbarkeit wie zu Zeiten der Weimarer Republik verhindern. Fünf Prozent der Wählerstimmen zu bekommen, ist ein äußerst schwieriges Unterfangen. Und dennoch hat die Piratenpartei all diese Hürden überwunden und die 5-Prozent-Hürde mehrmals souverän übertroffen. Diese Entwicklung ist manchen etablierten Parteien und sogar Verfassungsrechtlern ein Dorn im Auge, denn sie befürchten die Unregierbarkeit des Parlaments.

Es sollte jedoch vielmehr die Frage gestellt werden, warum eine neue politische Kraft sich überhaupt etablieren konnte, wenn sie angeblich gar kein Programm hat. Denn etwas muss die Piraten von all jenen Gruppierungen unterscheiden, die sich oft seit vielen Jahren um Wählerstimmen bemühen, aber bei Wahlen oft nicht einmal die Hürde der Wahlkampfkostenerstattung überspringen.

Hinzu kommt, dass zahlreiche Sympathisanten von Kleinparteien vor einer Wahl zurückschrecken, in der Sorge, ihre Stimme vergeudet zu haben. Dies ist Unsinn, da jede gültige abgegebene Stimme das Ergebnis prozentual nach unten drückt und somit Protest zum Ausdruck bringt. Zudem setzt damit ein eigendynamischer Prozess ein. Würde jeder so denken, zöge überhaupt keine neue Partei mehr in die Parlamente ein. Der beachtlichste Erfolg der Piraten ist es also, überhaupt Einzug in Parlamente erhalten zu haben.

In den Anfängen der Bewegung waren die Erfolge gering. In Schweden erzielte die neu gegründete Piratpartiet bei den Reichstagswahlen 2006 lediglich 0,63 Prozent.

Zum zweiten Mal zu einer Wahl trat bereits der hessische Landesverband der deutschen Piratenpartei an Bei der Landtagswahl Hessen 2008 votierten 6.955 Wähler für die Piraten, was 0,3 Prozent der Zweitstimmen entspricht.

Die dritte Wahlteilnahme kam vom Piratenverband Hamburg. Bei den Bürgerschaftswahlen 2008 wurden 0,2 Prozent der Zweitstimmen erzielt. In einzelnen Stadtteilen gab es Achtungserfolge, die deutlich darüber hinausgingen (Kleiner Grasbrook mit 2,3 %).

Schon im Jahr 2009 musste der hessische Landtag erneut gewählt werden. Die Piratenpartei trat wieder an und konnte ihre Stimmen immerhin auf 0,5 Prozent fast verdoppeln.

Bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen 2009 erlangten die Piraten jeweils einen Sitz in den Stadträten von Aachen und Münster.

Im selben Jahr fand die Europawahl 2009 statt. Hier holten die deutschen Piraten 0,9 Prozent der Stimmen (229.117 Wähler). Die schwedische Piratenpartei erlangte jedoch in Schweden 7,1 Prozent der Stimmen und zog mit dem Abgeordneten Christian Engström ins Europaparlament ein.

Bei der Bundestagswahl 2009 erhielt die Piratenpartei 2 Prozent. Auch wenn sich manches Mitglied gleich den direkten Parlamentseinzug gewünscht hat, so war das Ergebnis näher betrachtet ein extremer Erfolg.

Die Piratenpartei konnte flächendeckend 847.870 Wähler für sich gewinnen. Sie wurde aus dem Stand heraus die stärkste Partei unter den »Sonstigen«. Als erste Hochburgen zeigten sich vor allem Universitätsstädte, besonders im Osten Deutschlands. Beispielsweise erreichte die Partei in Ilmenau 6,1 Prozent und in Jena 4,8 Prozent der Zweitstimmen. Bezogen auf die damalige Mitgliederanzahl zeigt sich der starke Wählergewinn.

ParteiZweit- stimmenMitgliederPro Mitglied haben … Nichtmitglieder gestimmtCDU11.824.794530.000 22SPD 9.988.843530.000 18FDP 6.313.02365.000 97Grüne 4.641.19744.000105Linke 5.153.88474.000 69Piratenpartei 845.9049.000 93

Bei darauf folgenden Landtagswahlen erzielten die Piraten in etwa vergleichbare Werte (Sachsen-Anhalt 2011: 1,4 %, Hamburg 2011: 2,1 %, Baden-Württemberg 2011: 2,1 % Rheinland-Pfalz 2011: 1,6 %, Mecklenburg-Vorpommern 2011: 1,9%). All diese Ergebnisse trugen dazu bei, dass die Piraten künftig Mittel aus der Parteienfinanzierung erhalten.

Besondere Erfolge konnten die Piraten in Deutschland auf kommunaler Ebene erzielen. Bei den Kommunalwahlen in Hessen 2011 gelang es den Piraten, 31 Sitze in Kreistagen und Stadtverordnetenversammlungen kreisfreier Städte zu erlangen.

Bei den Bezirksversammlungswahlen in Hamburg 2011 erreichte die Piratenpartei zwei Sitze im Bezirk Hamburg-Mitte18 sowie mit 2,9 Prozent einen Sitz in der Bezirksversammlung in Bergedorf.19

Ende Februar 2011 hielt die Piratenpartei bereits 15 kommunale Sitze durch Wahlergebnisse zwischen 1,6 und 4,7 Prozent.20

An diese Erfolge konnten die Piraten Bremen anknüpfen. Bei der Bremer Kommunalwahl im Mai 2011 wurden fünf Mandate erzielt. Auch bei den Kommunalwahlen Niedersachsen im September 2011 holte man Sitze. Dort wurden für die Kreistage, Stadträte, Gemeinderäte, Samtgemeinderäte, Stadtbezirksräte, Ortsräte und Regionsversammlungen insgesamt 56 Mandate gewonnen. Zudem wurden in Kommunen von 13 Bundesländern Mandate erlangt, weil Abgeordnete aus anderen Parteien zu den Piraten übertraten. Die Abgeordneten stammen aus den Parteien CDU, CSU, SPD, Grüne, FDP, Die LINKE sowie aus verschiedenen Freie Wählergemeinschaften. Damit ziehen die Piraten Mandatsträger aus dem gesamten politischen Spektrum an.

Diese zahlreichen kommunalen Erfolge mögen mit dazu beigetragen haben, dass bei der Landtagswahl Berlin (Senat) im September 2011 der endgültige Durchbruch erzielt wurde. Die Piratenpartei erzielt 8,9 Prozent der Zweitstimmen und zieht mit 15 Abgeordneten in den Senat ein. Auf der Wahlliste kandidierten 15 Piraten, sodass die gesamte Kandidatenliste vollständig ein Mandat erlangte. Zudem zogen die Piraten auch in alle zwölf Berliner Bezirksverordnetenversammlungen in Fraktionsstärke ein. In fünf Bezirken haben sie mehr Sitze erlangt, als sie besetzen können.

Bei der Landtagswahl Saarland 2012 erreichte die Piratenpartei 7,4 Prozent und zog mit vier Abgeordneten in das Landesparlament. Sechs Parlamentssitze erhielt die Piratenpartei bei der Landtagswahl Schleswig-Holstein 2012. Sie erreichte 8,2 Prozent. Bei der Landtagswahl Nordrhein-Westfalen 2012 wählten 7,8 Prozent der Wähler die Piratenpartei. Mit 20 Abgeordneten bilden die NRW-Piraten bislang die stärkste Piratenfraktion in einem Parlament.

Den Piraten half unter anderem auch der Umstand, dass die Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen vorgezogen wurden und sie den Rückenwind aus dem Erfolg der Berliner Senatswahl vom Oktober 2011 für sich nutzen konnten.

TEIL II

ZUSAMMENSETZUNG DER PIRATENPARTEI

2.1 Zusammensetzung der Wähler

Die Themen der Piratenpartei gehen bereits weit über das Urheberrecht hinaus. Damit erweitern sich auch die Wählerschaft und das Wählerpotenzial. Die Wählerschaft der Piratenpartei setzt sich zu einem bedeutenden Teil aus Protestwählern zusammen, die sich von anderen Parteien abwenden.

Nach einer repräsentativen Forsa-Umfrage von Oktober 2011 gaben von den potenziellen Wählern 39 Prozent an, die Piraten anzukreuzen, weil sie kein Vertrauen mehr zu den anderen Parteien haben. 27 Prozent sind der Meinung, die Piratenpartei bringe frischen Wind in die Politik. Betrachtet man die bisherigen Landtagswahlerfolge der Piraten, so zeigen sich einige Auffälligkeiten, die Vorurteile gegen die Piraten widerlegen.

Landtagswahl Berlin 2011

Gesamtanzahl Piratenwähler Berlin: 130.105

Erstwähler/Stammwähler: 31.105

Bei der Berliner Senatswahl 2011 gaben Parteien des linkspolitischen Spektrums im Vergleich zum »bürgerlichen Lager« am meisten Wähler an die Piraten ab. Darüber hinaus sammelten die Piraten 22.000 Wähler ein, die sich schon bei vorherigen Wahlen nicht dazu entschließen konnten, eine der etablierten Parteien anzukreuzen.

Den größten Anteil der Berliner Piraten-Wählerschaft bilden jedoch die Nichtwähler (23.000). Die Piratenpartei hat somit einen beachtlichen Anteil daran, dass die Wahlbeteiligung in Berlin nicht noch weiter gesunken, sondern erstmals seit Jahren wieder auf über 60 Prozent gestiegen ist.21

Die Berliner Wahl zeigte auch bei der Altersstruktur der Wähler eindeutige Tendenzen auf. Die Piraten gewannen am meisten Zuspruch bei den unter 30-Jährigen (19 %). Die Piratenpartei war unter den jungen Wählern nach der SPD (25 %) die zweitbeliebteste Partei. Von den jungen Wählern zwischen 18 und 29 Jahren wählten eindeutig mehr Männer (20 %) als Frauen (11 %) die Piraten.22 Nur drei Prozent aller Berliner Piratenwähler sind über 60 Jahre alt.23

Landtagswahl Saarland 2012

Gesamtanzahl Piratenwähler Saarland: 35.656

Erstwähler/Stammwähler: 3.656

Bei der Saarland-Wahl 2012 wurden die Piraten-Wähler relativ gleichverteilt von anderen Parteien angezogen. Von den etablierten Parteien gab Die LINKE in absoluten Zahlen am meisten Wähler an die Piraten ab (7.000). Auch im Saarland lag die größte »Beute« bei den Nichtwählern. Die Piraten zogen 28 Prozent der gesamten mobilisierten Nichtwählerschaft an.

Von den Erstwählern konnten die Piraten 25 Prozent überzeugen und damit das zweitbeste Ergebnis erzielen. Bei Nachwahlbefragungen gaben 40 Prozent der Piratenwähler an, die Partei aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit gewählt zu haben.24

Auch im Saarland ist eine klare Tendenz des Jugendzuspruchs für die Piraten feststellbar. Von den männlichen Jung- und Erstwählern kreuzten 22 Prozent die Piraten an. Das ist eine beachtliche Zahl, denn damit rangieren die Piraten knapp hinter den großen Volksparteien SPD (26 %) und CDU (23 %). Im wichtigen Nachwuchs-Bereich verdrängten die Piraten deutlich die Linkspartei (13 %) und die Grünen (6 %). Der Anteil weiblicher Erst- und Jungwähler lag mit 14 Prozent leicht über dem Berliner Ergebnis.

Landtagswahl Schleswig-Holstein 2012

Gesamtanzahl Piratenwähler Schleswig-Holstein: 108.740

Erstwähler/Stammwähler: 34.740

Bei der Landtagswahl 2012 in Schleswig-Holstein ist auffällig, dass die Parteien des »bürgerlichen Lagers« in absoluten Zahlen am meisten Wähler an die Piratenpartei verloren. Jeweils 14.000 CDU- und FDP-Wähler kreuzten die Piraten an.

Während die Piraten noch bei der Saarland-Wahl bei den Linken am meisten Wähler der Etablierten einsammelten, verlor Die LINKE in Schleswig-Holstein in Relation zu anderen Parteien hingegen am wenigsten. Diese Wahl widerlegt ganz klar die Annahme, dass Piratenwähler nur dem linken Parteienspektrum die Wähler abgraben.

In dem Wahlkampf gelang es den Piraten, ihr Wahlthema »Soziale Gerechtigkeit« besonders glaubhaft zu vermitteln. Die Piraten wurden von Befragten noch deutlich vor IT- und Netzpolitik mit diesem Thema in Verbindung gebracht.

Die Altersstruktur der Piraten-Wähler in Schleswig-Holstein bestätigt die Zahlen aus Berlin und dem Saarland. 16 Prozent aller Erstwähler stimmten für die Piraten.25 Bei männlichen Erstwählern erreichten die Piraten sogar 20 Prozent. Nur die Grünen übertrafen diese Zahl noch mit 22 Prozent.26

Besonders populär sind die Piraten in der Altersgruppe zwischen 25 und 34 Jahren.

Den Piraten gelang es außerdem, deutlich mehr Wähler unter Arbeitern (14 %) und Arbeitslosen (15 %) für sich zu gewinnen, als dies Die LINKE vermochte.27

Landtagswahl Nordrhein-Westfalen 2012

Gesamtanzahl Piratenwähler NRW: 608.957

Erstwähler/Stammwähler: 148.957

Am 13. Mai 2012 »entert« die Piratenpartei den vierten Landtag in Folge. Erreichten die Piraten mit einem Stadtwahlsieg (Berlin) und dem parlamentarischen Einzug im bundesweit kleinsten Flächenland (Saarland) noch vergleichsweise kleine Erfolge, so ziehen sie mit 7,8 Prozent in Nordrhein-Westfalen in das Parlament des bevölkerungsreichsten deutschen Bundeslandes ein. Diese hohe Hürde ist für neue Parteien traditionell besonders schwer zu nehmen. Die NRW-Piraten bestanden somit den »Lackmustest« und widerlegten die Vorurteile, dass es sich bei den vorherigen Wahlergebnissen um regionale Ausreißerwerte handelt.

Auch bei der NRW-Wahl konnten die Piraten 17 Prozent aller Erstwähler überzeugen. Damit rangierten sie knapp hinter den Grünen (18 %).28

Die Untersuchung der Wählerwanderung zeigt erstaunliche Kuriositäten. Es kommt normalerweise kaum vor, dass CDU-Wähler plötzlich zur Linken wechseln und umgekehrt. Die Anteile solcher extremen Sprünge bei der Wählerwanderung sind zu vernachlässigen. Umso bemerkenswerter ist, dass es den Piraten bei der Landtagswahl Nordrhein-Westfalen gelang, neben der großen Gruppe an Nichtwählern nahezu gleichverteilt bei allen anderen Parteien Protestler und Wechsler einzusammeln. 60.000 CDU-Wähler und 80.000 Linken-Wähler wechselten in das Sammelbecken der Piraten.

Das Ergebnis zeigt: Die »Geradeaus«-Strategie ohne klare Festlegung auf ein politisches Spektrum geht tatsächlich auf.

Perspektive und Wählerpotenzial

Die Wahlerfolge zeigen, dass die Piraten ganz besonders Jung- und Erstwähler ansprechen. Die Wähler und Mitglieder stammen aber zunehmend aus allen Altersbereichen. Lediglich die Gruppe der über 60-Jährigen ist stark unterdurchschnittlich vertreten. So wie die Piraten von allen etablierten Parteien die Wähler anziehen, gelingt ihnen dies auch bei den Berufsgruppen. Die Piraten werden sowohl von Arbeitern, Angestellten und Selbstständigen als auch von Schülern und Studenten gewählt. Lediglich die Berufsgruppe der Beamten ist bei den Piraten-Anhängern eher unterdurchschnittlich präsent.29

Bei allen Wahlen erreichten die Piraten bislang ungefähr 20 Prozent Zuspruch bei den unter 24-Jährigen. Damit erreicht die junge Partei in Bezug auf zu erwartende Zukunftswerte Perspektiven, die deutlich über jenen der etablierten Parteien liegen.

Bei den Piraten ist die demografische Zusammensetzung noch eine Alterspyramide und kein Alterspilz. Das unterscheidet sie nicht nur von der demografischen Struktur anderer Parteien, sondern auch von der deutschen Bevölkerung.

Mobilisierung von Nichtwählern

Der Piratenpartei gelingt es den Wahlforschern zufolge, in außerordentlich hoher Anzahl die Nichtwähler für sich zu gewinnen. Dies ist jedoch sehr differenziert zu betrachten. Nichtwähler haben oft bestimmte Gründe, warum sie von der Wahl fernbleiben, und protestieren oft bereits mit ihrer Wahlabstinenz.

Viele Nichtwähler haben sich bisher gänzlich aus der Politik zurückgezogen, weil sie sich von keiner Partei mehr vertreten fühlten. Dabei setzte offenbar ein eigendynamischer Prozess ein. Die Politik bemühte sich gar nicht mehr groß darum, die verlorenen Wähler mit einer offenen, bürgernahen Politik wieder zurückzugewinnen, sondern beklagte formal bei jedem Wahlabend die immer weiter sinkende Wahlbeteiligung. Tatsächlich fand man sich aber mit den Zuständen ab. Es ist mutmaßlich der andere, neue Politikstil der Piraten, welcher auf Zuspruch bei manchen bisherigen Nichtwählern stößt. Nichtwähler werden von den Piraten besonders als Zielgruppe fokussiert. Im Bundestagswahlkampf 2009 schrieben die Piraten einen Offenen Brief an die Nichtwähler, in dem sie die Politikverdrossenheit thematisierten.

Keinen Grund, zur Wahl zu gehen

Trotz Teilnahme der Piratenpartei sinken oder bestenfalls stagnieren die Wahlbeteiligungen. Auf Landesebene liegen sie oft nur noch zwischen 50 und 60 Prozent. Es bleiben also auch bei relativ wichtigen Landtagswahlen oft über 40 Prozent der Wähler zu Hause. Auch der Bundestagswahl bleiben bis zu 30 Prozent der Wahlberechtigten fern. Das entspricht ungefähr 13 Millionen Bundesbürgern.

Nach einer repräsentativen Studie von Infratest-Dimap sind lediglich 29 Prozent der Nichtwähler politisch desinteressiert.30 Die Studie führt als Gründe an:

•80 Prozent überzeugen Parteien und Politiker nicht.

•71 Prozent fühlten sich vom Wahlkampf nicht angesprochen.

•42 Prozent fühlen sich von keiner Partei angesprochen.

Wahlbeteiligungen bei Bundestagswahlen

Wahljahr

Wahlbeteiligung

Wahlmöglichkeiten194978.5 %15 Parteien195386,0 %13 Parteien195787,8 %14 Parteien196187,8 % 9 Parteien196586,8 %11 Parteien196986,7 %12 Parteien197291,1 % 8 Parteien197690,7 %16 Parteien198088,6 %12 Parteien198389,1 %13 Parteien198784,3 %16 Parteien199077,8 %24 Parteien199479,0 %22 Parteien199882,2 %40 Parteien200279,1 %28 Parteien200577,7 %25 Parteien200970,8 %27 Parteien

Die Wahlbeteiligungen bei Bundestagswahlen befanden sich in den Jahren 1972 und 1976 auf ihrem Höhepunkt und sinken seitdem – mit Ausnahme der Wahlen 1994 und 1998 – kontinuierlich. Landtagswahlbeteiligungen liegen aufgrund ihrer geringeren Bedeutsamkeit noch deutlich unterhalb der Bundestagswahlbeteiligungen.

An der mangelnden Auswahl an Parteien kann das nicht liegen, denn die Anzahl der Parteien stieg im Gegensatz zur Wahlbeteiligung deutlich an. Seit der Wiedervereinigung stehen mehr als 20 Parteien zur Auswahl.

Die Beweggründe der Nichtwähler, von der Wahlurne fernzubleiben, sind extrem unterschiedlich. Nichtwähler geben oft nicht preis, warum sie sich dafür entschieden haben, der Wahl fernzubleiben, sodass sich lediglich Schätzungen vornehmen lassen.

Zu den Nichtwählern gehören:

•Personen mit Migrationshintergrund, die zwar nach ihrer Einbürgerung wahlberechtigt sind, aber sich dennoch weder mit dem Land noch mit dessen Politik identifizieren,

•streng religiöse Personen, die der festen Überzeugung sind, dass allein Gott die Welt regieren darf,

•Personen mit vollkommen fehlendem politischen Interesse und völligem Desinteresse am politischen Tagesgeschehen,

•Personen mit sehr ausgeprägtem politischen Interesse, die jedoch das bestehende demokratische System nicht anerkennen.

Diese Gruppen werden bei nahezu jeder Wahl aus Prinzip fernbleiben und auch durch neue politische Parteien sehr wahrscheinlich nicht angesprochen. Die prozentuale Bestimmung dieser Gruppen mit belastbaren Zahlen ist zudem äußerst schwierig.

Hinzu kommen zahlreiche Fälle, die ebenfalls zum Anstieg der Nichtwählerzahl beitragen (sogenannte technische/unechte Nichtwähler):

•Versäumnisse, wie Abwesenheit durch Auslandsreise und zuvor vergessener Beantragung der Briefwahlunterlagen,

•zu spät abgeschickte Briefwahlunterlagen,

•kurz vor der Wahl verstorbene Personen, die noch in den Wahlregistern geführt werden,

•plötzliche Erkrankung oder kurzfristige Verhinderung am Wahltag bei nicht zuvor abgegebenen Briefwahlunterlagen,

•verlegte Wahlbenachrichtigungskarten,

•abgelaufene Personalausweise bei gleichzeitiger Unwissenheit, dass man auch mit abgelaufenem Personalausweis wahlberechtigt ist,

•Fluktuation durch Umzug in ein anderes Bundesland, aber nicht erfolgter Ummeldung des Wohnsitzes.

Der Mobilisierungsgrad bei den Nichtwählern ist also stark begrenzt. Es ist davon auszugehen, dass es auch der Piratenpartei nicht gelingen wird, die Wahlbeteiligung bedeutend zu erhöhen, da sich viele Bundesbürger ganz bewusst dafür entscheiden, am politischen Geschehen nicht teilzunehmen. Leichte Steigerungen wie bei der Landtagswahl Berlin sind nennenswerte Erfolge der Nichtwählermobilisierung.

2.2 Zusammensetzung der Mitglieder

Vom Gründungsjahr 2006 bis zum Sommer 2009 hatte die Piratenpartei nur mehrere Hundert Mitglieder. Von Juni 2009 bis Oktober 2009 erfuhr die Partei dann einen starken Mitgliederzuwachs. In diesem Zeitraum verzehnfachte sich die Mitgliederzahl. Ursachen waren der erhöhte Bekanntheitsgrad nach der Europawahl, die Diskussion um das Zugangserschwerungsgesetz und der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2009.31 Seit Anfang September 2009 ist die Piratenpartei die siebtgrößte Partei Deutschlands.32 Mitte April 2010 verzeichnete die Partei deutlich über 10.000 Mitglieder.Bis zum September 2011 stagnierte die Mitgliederzahl auf diesem Niveau.

Mit dem Erfolg bei der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses 2011 nahm die Mitgliederanzahl drastisch zu. Vier Monate nach der Berlin-Wahl wurde die Grenze von 20.000 Mitgliedern gebrochen. Nach den Landtagswahlerfolgen Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen erreichte die Piratenpartei weit über 30.000 Mitglieder.

Der Frauenanteil in der Piratenpartei ist nicht bekannt, denn dieser wird offiziell nicht erfasst. Der Anteil dürfte jedoch prozentual gering sein, da bei offiziellen Wahlen die Anzahl der Kandidatinnen deutlich in der Minderheit ist. Entsprechend wählen auch weniger Frauen die Piratenpartei.33 Der hohe Anteil junger männlicher Mitglieder ist auf die IT-bezogene Themenausrichtung aus der Gründungsphase zurückzuführen.

Ebenso sind Senioren in der Piratenpartei deutlich unterrepräsentiert. Auch dies liegt wohl an der computerorientierten Ausrichtung der Partei. Aufgrund des Themenzuwachses treten zunehmend Senioren der Piratenpartei bei. So befassen sich beispielsweise die »AG Senioren« und »AG 60+« mit den Themen Rente und Umwelt. Das Durchschnittsalter der Parteimitglieder beträgt im Juli 2012 ungefähr 37 Jahre.

2.3 Verhältnis zu anderen Parteien

Die Piratenpartei lässt sich nicht eindeutig einem politischen Spektrum zuordnen. Aufgrund der programmatischen Ausrichtung lassen sich jedoch starke Unterschiede zu anderen Parteien feststellen.

Die Union steht nach Ansicht vieler Piraten stark oppositionell gegenüber, da sie bei IT-Reglementierungen eine konsequent andere Haltung vertritt. CDU und CSU sind konservativ geprägt, die Ausrichtung der Piraten ist dagegen sehr progressiv. Hauptunterschied ist das Staatsverständnis. Während die CDU eher einen starken Staat mit relativ wenig politischem Bürgereinfluss befürwortet,34 setzen die Piraten auf den »schwachen«, gläsernen Staat mit starker Bürgerbeteiligung bei den Entscheidungen. Ähnlich geprägt ist das Verhältnis zur SPD, da diese zahlreiche Vorhaben der Union (Zugangserschwerungsgesetz) mittrug. Mehrere SPD-Abgeordnete befürworteten auch die Vorratsdatenspeicherung, welche von den Piraten klar abgelehnt wird.

Starke programmatische Überschneidungen gibt es hingegen mit der FDP, da sich die Liberalen ähnlich wie die Piraten als klassische Bürgerrechtspartei verstehen. Die Piraten grenzen sich jedoch oppositionell von der FDP ab und kritisieren deren Wirtschaftslobbyismus. Die Piraten bezeichnen sich zuweilen auch als die »wahren« Liberalen. Allerdings sind Zusammenarbeiten dennoch möglich. In der Bezirksversammlung in Hamburg-Bergedorf vereinbarten FDP und Piratenpartei eine Fraktionsgemeinschaft.35

Sehr starke Parallelen werden von Beobachtern zu den Grünen gezogen. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass die Piraten in ihrer politischen Anfangszeit ähnlich wie die Grünen in den Parlamenten auftreten. Die Grünen waren die einzige Partei im Bundestagswahlkampf 2009, die der Internetpolitik ein eigenes Kapitel im Wahlprogramm widmete. In diesem Programm finden sich zahlreiche Forderungen der Piratenpartei wieder. In der Umsetzung dieser Grundsätze unterscheiden sich die Grünen jedoch erheblich von der Piratenpartei. Auch beim Piraten-Kernthema Urheberrecht gibt es deutliche Unterschiede.In den Anfängen waren die Grünen strukturell ähnlich basisdemokratisch aufgebaut, wie es heute die Piraten sind. Ebenso zielte man auf Vernetzung bei der Kommunikation. Auf europäischer Ebene bildete die schwedische Piratpartiet eine Fraktionsgemeinschaft mit »Die Grünen/Europäische Freie Allianz« im Europäischen Parlament.

Mit der Partei Die LINKE gibt es bei den Piraten thematische Überschneidungen bei der politischen Bürgerbeteiligung. Die Fokussierung auf IT-bezogene Themen ist jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen den Parteien. Auch die demografische Struktur bei den Parteimitgliedern ist sehr unterschiedlich. Auf kommunaler Ebene (Wiesbaden und Hannover-Laatzen) vereinbarten Die LINKE und die Piraten wegen der inhaltlichen Nähe bei Kommunalthemen eine Fraktionsgemeinschaft. Im Kreistag Waldeck-Frankenberg zerplatzte eine Fraktionsgemeinschaft zwischen Piraten und Die LINKE wegen Differenzen bei der Veröffentlichung von Unterlagen.36

Weitere kommunale Fraktionsgemeinschaften wurden von den Piraten mit den Freien Wählern (Kreistag Darmstadt-Dieburg) und der Rentnerinnen- und Rentner-Partei (Bremerhaven) vereinbart. 37

Altersstruktur der Parteimitglieder

Von besonderem Interesse ist die Alterszusammensetzung der Parteimitglieder. Die Altersstruktur der Piratenpartei unterscheidet sich grundlegend von den anderen Parteien. Während bei den Volksparteien und der Linken nahezu die Hälfte aller Mitglieder über 60 Jahre alt ist, liegt der Wert bei den Piraten bei ungefähr vier Prozent.

Ungefähr 30 Prozent aller Piratenmitglieder sind jünger als 29 Jahre – dies ist mit weitem Abstand der höchste Wert aller Parteien. Am ehesten vergleichbar sind die Altersstruktur der Piratenpartei mit jener von Bündnis 90/Die GRÜNEN.

2.4 Piraten versus Political Correctness

Die Piraten werden ihrem Wählerauftrag, frischen Wind in die Parlamente zu bringen, bereits durch das Auftreten gerecht. Die Reden von Piraten-Abgeordneten sind sehr direkt, von der Wortwahl aufrüttelnd und vielleicht manchmal überzogen. Piraten-Vertreter tragen oft statt Anzug und Krawatte T-Shirts oder einen Overall im Parlament. Wer um die Etikette im Plenum bedacht ist, mag zuweilen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

Die Rede zum Thema »Handyrasterfahndung« am 26. Januar 2012 im Berliner Senat veranlasste den Abgeordneten Alexander Morlang zur Äußerung: »Wir haben genügend Daten, um einfach mal Leuten ’ne SMS zu schicken, wir müssen dafür keine Daten verarbeiten – wenn Sie jetzt sagen: Zum Schicken einer SMS müssen Daten verarbeitet werden, dann sag ich Ihnen: Zum Schicken eines Briefes auch, oh my fucking God.«

Zum Abschluss der Rede wies der Parlamentspräsident darauf hin: »Und auch der Begriff ›oh fucking‹ ist auch nicht parlamentarisch. Ich muss mich etwas wundern heute, verehrte Kollegen, ich kenne andere Debatten mit einem geschliffeneren Wortschatz!«

Auch der Piraten-Abgeordnete Christopher Lauer hat schon diverse Äußerungen im Parlament gemacht, die entgegen der Political Correctness stehen und für die das Parlamentspräsidium unmittelbar eine Rüge aussprach.

Die Piraten heben sich aber nicht nur in der Rhetorik, sondern auch mit dem orangefarbenen Flaggen-Logo und ihrem Parteinamen sehr stark von den bisherigen Parteien ab. Die Partei hat es politisch schwer, sich einen guten Namen zu machen. Ist doch der Begriff »Piraten« negativ besetzt und steht für Seeräuberei. Diese ist verbunden mit Gewalttaten, Eigentumsdelikten, Freiheitsberaubungen und Kaperei.

Wenige verbinden mit dem Wort aber auch Heldenmut, Freiheit und Abenteuerlust. Woher der Name »Piratenpartei« stammt, wurde im Kapitel 1.1 schon ausführlich erwähnt. Der Parteiname ist ein besonders offensichtliches Zeichen der Unangepasstheit. Gerade in den Anfängen der Partei wurde immer wieder im Piratenwiki vorgeschlagen, die Partei solle ihren Namen ändern, um sich den bürgerlichen Wählern attraktiver zu präsentieren.

Möglicherweise hat der Name »Piraten« trotz der negativen Assoziation mit dazu beigetragen, dass die Partei überhaupt solche Erfolge erzielen konnte.

Drei-Buchstaben-Kürzel wirken insbesondere bei jungen Wählern altmodisch. Zudem würde die Festlegung auf bestimmte Attribute wie »sozial«, »christlich« oder »liberal«, die Partei in eine bestimmte politische Richtung festlegen. Der Name »Piraten« wirkt hingegen jugendlich und modern. Vor allem gibt es keine Verwechslungsgefahr. In der Presse wird beispielsweise die FDP des Öfteren irrtümlich mit FPD abgekürzt. Es lässt sich im Nachhinein selbstverständlich nicht beweisen, doch möglicherweise wäre die Partei weit weniger bekannt und erfolgreich, wenn sie dem Druck der Bedenkenträger nachgegeben und sich umbenannt hätte. Unkundige befassen sich vielleicht eher mit dem Programm der Piraten, um zu erfahren, was sich hinter dem kuriosen Namen verbirgt. Die medienwirksame Bezeichnung wollen die meisten Piratenmitglieder deswegen heute unbedingt beibehalten. Viele Parteimitglieder sehen es daher nicht gerne, wenn die Partei mit PP abgekürzt wird. Die offizielle Kurzbezeichnung ist »Piraten«.

Im Sommer 2009 führten die Erfolge und die Aufmerksamkeit der Piratenparteien auf internationaler Ebene dazu, dass auch in Russland ein erneuter Versuch zur Gründung einer Piratenpartei unternommen wurde. Der neuen Partei wurde jedoch der Antritt bei den Parlamentswahlen 2011 verboten, da der Name einen kriminellen Hintergrund aufweise. Piraterie sei ein Verbrechen und Verbrecher, die eine längere Haftstrafe absitzen, dürfen in Russland keine Organisationen gründen, so die offizielle Begründung. Gegen diese Entscheidung des Justizministeriums klagte die russische Piratenpartei am 21. März 2011. Die Klage wurde am 8. Juli 2011 abgewiesen.38

Der Name »Piratenpartei« weist aber auch in Deutschland gewisse Schwierigkeiten auf. So macht er es beispielsweise bestimmten Personengruppen schwerer, sich aktiv in der Partei zu engagieren. Wer in Berufen mit seriöser Ausstrahlung arbeitet, fühlt sich eher gehemmt, sein Parteibuch zu offenbaren. Auch Senioren verbinden mit der Bezeichnung nicht unbedingt etwas Positives.

Mag der Begriff »Piraten« negativ behaftet sein, so ist er doch öffentlichkeitswirksam, aufmerksamkeitserregend und polarisierend. Durch die großen Wahlerfolge dürfte die Diskussion um den ungewöhnlichen Namen zunehmend nachlassen oder sogar ganz verschwinden. Denn mit jedem Wahlerfolg wird der Name gesellschaftlich akzeptierter.

Hinzu kommt, dass sich die Piratenpartei Deutschland als der deutsche Teil einer internationalen Bewegung versteht. Das Wort »Pirat« ist sehr international und in nahezu allen Sprachen in ähnlicher Schreibweise mit der gleichen Bedeutung vorhanden. Es leitet sich ab vom griechischen »peiratés«, was so viel heißt wie »Angreifer«.

Am 17. April 2010 wurde mit Pirate Parties International (PPI) ein internationaler Weltverband gegründet. Nach deren Satzung können nur Parteien beitreten, die eine Abwandlung des Wortes »Piraten« im Namen führen.

In der folgenden Tabelle sind Piratenparteien verschiedener Staaten aufgelistet. In ungefähr weiteren 30 Ländern sind Piratenparteien in der Gründung oder im Aufbau (Stand August 2012). Damit ist der Name nicht nur innerhalb der deutschen Organisation fest etabliert, sondern bezeichnet eine neue weltweite Bewegung.

Australien – The Pirate Party of Australia

Belgien – Pirate Party Belgium

Brasilien – Partido Pirata

Bulgarien – Piratska Partija

Dänemark – Piratpartiet

Deutschland – Piratenpartei Deutschland

Finnland – Piraattipuolue

Frankreich – Parti Pirate

Griechenland – Κόμμα Πειρατών Ελλάδας

IrlandPirate – Party of Ireland

ItalienPartito – Pirata Italiano

KanadaPirate – Party of Canada/Parti Pirate du Canada

Kasachstan – Ķаzаķstan Ķaraķshylar Partijasy

Kroatien – Piratska Stranka Hrvatske

Luxemburg – Piratepartei Lëtzebuerg

Marokko – Parti Pirate Maroc

Neuseeland – The Pirate Party of New Zealand

Niederlande – Piratenpartij Nederland

Österreich – Piratenpartei Österreich

Portugal – Partido Pirata Português

Rumänien – Partidul Piratilor

Russland – Пиратская Партия России

Schweden – Piratpartiet

Schweiz – Piratenpartei Schweiz

Serbien – Piratska Partija Srbije

Slowenien – Piratska Stranka

Spanien – Partido Pirata

Tschechien – Ceská pirátská strana

Tunesien – Hizb al-Qarāșinah at-Tūnisī

Vereinigte Staaten – Pirate Party in den US-Bundesstaaten: Florida, Massachusetts, New York und Oregon

UK – Pirate Party UK/Plaid Mor-leidr DU

TEIL III

STRUKTURELLE ZIELSETZUNGEN DER PIRATENPARTEI

»Ich glaube, dass es Transparenz nur in Diktaturen gibt.«

SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, 6.10.2012

3.1 Transparenz und Umgestaltung 2.0

Transparenz des Staatswesens ist eine Kernforderung der Piraten. Was für viele wie ein leeres Wort ohne echte Bedeutung klingen mag, birgt in Wirklichkeit die Macht, ganze Staatsapparate zu kippen und Staaten nachhaltig zu verändern.

Glasnost und Perestroika waren Mitte der 1980er-Jahre in der Sowjetunion unter Präsident Michail Gorbatschow ein Umdenken hin zu Transparenz und Umgestaltung des Staates.

Die Führung der Sowjetunion erkannte im Verlauf der 1980er-Jahre immer deutlicher, dass sie ihr System korrigieren musste.39 Michail Gorbatschow wurde 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt und stieß die Reformen an. Dazu gehörten der Umbau der Wirtschaft (Perestroika) sowie eine größere Transparenz des Staatswesens und eine freiere Presse (Glasnost). »Glasnost« bedeutet wörtlich übersetzt »Offenheit«, »Redefreiheit« und »Informationsfreiheit«.

Diese Merkmale waren in der Sowjetunion stark eingeschränkt und behinderten deshalb die Innovationsfähigkeit des Landes. Es wurden erste Pläne vorgelegt, Partei und Staat, Ökonomie und Politik sowie Ideologie und Gesellschaft voneinander zu entflechten. Hauptziel der Transparenz und Umgestaltung war im Wesentlichen die Demokratisierung des Staates.40

Freiwillig geschah dies jedoch nicht. Der Staatsapparat wurde zu dieser Politik durch die Umstände gezwungen. Der Ostblock musste sich zwangsläufig reformieren, weil er in Bezug auf die Demokratie, wirtschaftlichen Entwicklungen, Menschenrechte und Reisefreiheiten dem Westen stark hinterherhinkte. Dies führte zur Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung.

Glasnost ermöglichte eine weitreichende Rede- und Meinungsfreiheit innerhalb der Sowjetunion. Gorbatschow beabsichtigte, mit Hilfe von Glasnost eine kritische öffentliche Diskussion über die in der Krise befindlichen sowjetischen Wirtschaft auszulösen und so eine große Akzeptanz für die 1987 eingeführte Reformpolitik Perestroika zu schaffen.

Es ist kein Zufall, dass Glasnost und Perestroika in die gleiche Zeit fallen wie der Reaktorunfall von Tschernobyl. Das Atomunglück wurde zu einem antreibenden Motor für mehr Offenheit in der sowjetischen Politik und Gorbatschows Kampf für die Liberalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft. Tschernobyl demonstrierte zum ersten Mal, dass die ständige Geheimhaltung in der Sowjetunion nicht mehr funktionierte. Das Ereignis stellt den eigentlichen Beginn von Glasnost dar.41

Die Reaktorkatastrophe ließ eine Geheimhaltung innenpolitischer Ereignisse in der UdSSR gar nicht mehr zu. Denn eine Atomwolke machte vor Ländergrenzen genauso wenig Halt wie heute das Internet. Da kann eine nationale Regierung sich noch so sehr um dessen Kontrolle bemühen, es wird ihr bei beidem nicht gelingen.

Der Staat wird sozusagen von den Umständen überrollt und muss sich zwangsläufig an sie anpassen. Das gilt nicht nur für das Internet, sondern auch für die Wirtschaft.

Verdunkelung von Regierungsaktivitäten

Dass Politiker amtierender Bundesregierungen zuweilen in dubiose oder gar kriminelle Aktivitäten verstrickt sind, ist für den beobachtenden Bürger nichts Neues. Man liest immer wieder von Affären, Skandalen und Klüngeleien.

Es ist auch dem intransparenten Staatswesen geschuldet, dass Politiker sich das Staatssystem für ihre Extratouren zunutze machen.

Als sich im Herbst 1998 abzeichnet, dass die unter Dr. Helmut Kohl geführte CDU-Regierung nach 16 Jahren vor der Ablöse steht, wird der in Demokratien normale Regierungswechsel offenbar als eine »feindliche Übernahme« verstanden. Die rot-grüne Bundesregierung stellt im Jahre 2000 Strafanzeige gegen Unbekannt, weil im Bonner Kanzleramt gigantische Mengen an Akten und Daten verschwunden sind. Nach einem Protokoll von Sonderermittler Burkhard Hirsch konnte ein Zeuge beobachten, wie das geschredderte Papier »mit Kleinlastern« aus dem Kanzleramt abtransportiert wurde. Es gelang, hinterher Daten zu rekonstruieren. Zu den Dokumenten zählten »keineswegs nur Privatpapiere, sondern Akten über den Bundesnachrichtendienst, Waffenverkäufe oder außenpolitische Strategiepapiere«.42

Auf sämtlichen Regierungsebenen wurden seinerzeit Akten gesäubert. »Wir wollen nicht die Existenz des Bundeswirtschaftsministeriums auslöschen«, beschwichtigte seinerzeit Mitarbeiterin Regina Wierig und erklärte während der Schredderaktion, dass die privaten Kalender des Ministers niemanden etwas angehen.43

Die neue Regierung bezeichnete die Akten- und Datenträgervernichtung als »Bundeslöschtage«, machte es aber nicht besser, obwohl sie aufgrund der eigenen Erfahrungen in Sachen Verdunkelung sensibilisiert sein müsste. Drei Monate vor der Bundestagswahl 2002 bestellte das von Gerhard Schröder geführte Kanzleramt ebenfalls gleich neun neue Reißwölfe. Diesmal mutmaßt die CDU-Abgeordnete Andrea Voßhoff, ob diese Aktion nicht dazu diene, Akten beiseite zu räumen, falls die Wahl aus Regierungssicht unverhofft schiefgehe.44

Die Säuberung aktenkundigen »Staatshandelns« kennt man sonst nur von Unrechtsregimen, wie beispielsweise der Staatssicherheit der DDR. Die kam mit dem Schreddern der Dokumente bei der sich abzeichnenden Regierungswende 1989 ebenfalls nicht hinterher, weshalb Mitarbeiter die belastenden Papiere schließlich per Hand zerreißen mussten.45

Insbesondere in der Europäischen Union gibt es mit der Transparenz immer wieder gewaltige Probleme. Der österreichische, fraktionsfreie EU-Abgeordnete Dr. Hans-Peter Martin beanstandete in einer Rede des Europäischen Parlaments am 10. März 2004: »Wir sind in die Globalisierungsfalle gefallen, gerade auch weil es uns nicht geglückt ist, die Europafalle zu vermeiden. Die Europafalle besteht entscheidend darin, dass wir eben nicht nach den bewährten Prinzipien der Transparenz skandinavischer Staaten und anderer Staaten gehandelt haben und handeln. Ich bin jetzt zehn Jahre in diesem Haus und nicht durch Zufall hab ich, als ich hierhergekommen bin […] ganz schnell gesagt: Menschenskinder, Transparenz ist das entscheidende Problem. Und dessetwegen bereits im Jahr 2000 die Europäische Transparenzinitiative übernommen. […] Um diese Europäische Union zu retten, gibt’s nur eines: Wirkliche Transparenz nach schwedischem Vorbild plus Freedom of Information Act der USA – sofort und jetzt!«46

Am 22. April 2009 legte Dr. Martin im Europäischen Parlament den Finger erneut in die Wunde: »Herr Präsident! Ich melde mich hier als glühender Pro-Europäer zu Wort und bin überzeugt davon, dass wir gerade eine Lehrstunde in Nicht-EU-Demokratie erleben. Dass der Rat es in keiner Form für notwendig hält, den sehr klaren Vorhaltungen des Europäischen Parlaments in irgendeiner akzeptablen Form zu begegnen, zeigt doch, dass all die EU-Kritiker und auch diejenigen, die mittlerweile die Institution ablehnen, leider recht haben, weil wir genau die Grundprinzipien, auf der eine Demokratie aufgebaut sein müsste, massivst missachten.

Weil wir es zulassen – Vertrag um Vertrag –, dass in Wirklichkeit das Machtzentrum vollkommen unkontrolliert bleibt, dass dieser Rat – und dieser Beweis ist erbringbar – faul und inkompetent ist, und im Wesentlichen im Geheimen arbeitet. Faul deshalb, weil es nachweisbar ist, dass der Großteil der Minister – diejenigen also, die die wirklich wichtigen Entscheidungen für Europa hinter geschlossenen Türen treffen – oft gar nicht anwesend sind, und bei wesentlichsten Fragen Beamte entscheiden. Das hat es in Österreich bis 1848 gegeben, danach wurde es ein bisschen besser. Das ist nicht Demokratie.

Es ist der Rat, der nicht einmal einen Zugang geben will, zu den Tagesordnungspunkten, die behandelt werden. Das kann man sich als Abgeordneter – ich habe das gemacht –, über parlamentarische Anfragen klitzeklein, Pünktchen für Pünktchen erarbeiten, und die Ergebnisse sind verheerend. Es wird einfach gefaulenzt. Diejenigen, die in Wirklichkeit legislativ wichtiger sind als wir hier im Parlament, sie kommen nicht und überlassen die Anwesenheit anderen.

Dann wird behauptet, es gäbe mehr Transparenz im Rat. In Wirklichkeit gibt es im Rat seit dem EU-Ratsbeschluss 2006 weniger Transparenz. Ein einziger von 130 Tagesordnungspunkten im wichtigsten Rat, nämlich dem der Außenminister, im Jahre 2008, wurde öffentlich behandelt. Alles andere in camera secreta. Alles andere ist weniger transparent als die Mafia.

Dann kommen wir noch zu der Verwendung von Geldern. Wo fließen sie denn hin, die vielen Millionen? Warum verweigert sich da der Rat? Wie sieht es aus mit einem Geheimdienst, der unter der Regie von Javier Solana immer weiter ausgebaut wird? Der von Spanien aus agiert, wo eingeräumt wird, dass es natürlich einen EU-Geheimdienst gibt. Wohin fließen die Gelder? Wie korrupt sind diese Leute und wie intransparent?«47

Schon 2004 dokumentierte der EU-Abgeordnete Dr. Martin zusammen mit sternTV einen Spesenskandal im EU-Parlament. Abgeordnete wurden dabei gefilmt, wie sie sich in Tagegeldlisten eintrugen, aber den Sitzungsort direkt danach wieder verließen. Dr. Martin stellte Korruptionsanzeigen an das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF). sternTV zeigte auf RTL die Aufnahmen aus dem EU-Parlament. Kurz darauf kam es zu einer Razzia beim damaligen Brüssel-Korrespondenten des Nachrichtenmagazins »Stern« und journalistische Unterlagen wurden beschlagnahmt.

Der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments Pat Cox kritisierte massiv die Beschattung und das Filmen der EU-Abgeordneten. Dr. Martin hätte »null Beweise« in Bezug auf den Spesenmissbrauch vorgelegt. Es gebe »keinen Hinweis, dass Parlamentarier die Regeln des Hauses gebrochen haben«, äußerte der Parlamentspräsident.48 Cox war der Auffassung, die Vorwürfe hätten lieber parlamentsintern behandelt und geregelt werden sollen, anstatt die Vorfälle in die Öffentlichkeit zu tragen.49

Doch ob diese interne Kontrolle effizient gearbeitet hätte, darf arg bezweifelt werden. Im Jahre 2008 hakte RTL noch einmal nach und kontrollierte, ob der Zustand im EU-Parlament immer noch besteht. Die Journalisten filmten auf den Fluren des EU-Parlaments, wie sich Abgeordnete kurz vor dem Wochenende in die Sitzungsgelder-Listen eintragen. Das geschah also immer noch zahlreich. Mehrere ertappte Abgeordnete fluchten und flüchteten vor der Kamera. Noch während der Dreharbeiten wies der Generalsekretär des EU-Parlaments den Sicherheitsdienst an, die Reporter trotz Akkreditierung und Drehgenehmigung aus dem Gebäude zu werfen.50

Der Begriff »wehrhafte Demokratie« scheint hier offenbar von den EU-Organen etwas missverstanden zu sein.

Am 14. Januar 2011 veröffentlichte Dr. Martin auf seiner Homepage eine Liste mit gigantischen Verschwendungen des EU-Haushalts. Darunter fallen

•horrende Kosten für fragwürdige Umbauten und Erweiterungen der Parlamentsgebäude,

•ein Luxus-Pensionsfonds für EU-Abgeordnete,

•die mietfreie Unterbringung von Wirtschaftslobbyisten in Parlamentsgebäuden,

•zahlreiche Dienstreisen der Abgeordneten,

•die Beschäftigung von Familienangehörigen als »parlamentarische Assistenten«,

•Millionenspenden an europäische Stiftungen ohne Kontrolle durch eine Aufsicht,

•nicht ordnungsgemäße Zahlung von Beamtenzulagen und die ausufernde Verbeamtung von Parlamentsmitarbeitern sowie zahlreiche Millionenverschwendungen des täglichen Parlamentsbetriebs.

Dr. Martin kommentiert dies mit den Worten: »Von den Steuerzahlern werden überall Opfer verlangt. Doch im EU-Parlament wird weiter geprasst. Diese Sümpfe müssen endlich trockengelegt werden. EU-Beamte und Abgeordnete müssen radikalen Reformen zustimmen und auf Privilegien verzichten. Ansonsten darf man sich nicht wundern, wenn sich der Zorn der Bürger bald auch massiv gegen das Parlament richten wird.«51

Der Zugang zu Dokumenten der Europäischen Union wird oft torpediert. Das ist nicht verwunderlich, denn die EU ist aus Sicht vieler Bürger zu einem Selbstbedienungsladen der Politiker verkommen. Wer den Finger zu sehr in die Wunde legt, muss damit rechnen, selbst unter Beschuss zu geraten. Der Abgeordnete Dr. Martin sah sich selbst mit Beschuldigungen der eigenen Bevorteilung konfrontiert. In den Jahren 2008 und 2011 hob das EU-Parlament seine Immunität auf, um den Weg für Ermittlungen freizumachen.52

Die Bürger gewinnen immer mehr den Eindruck, dass es nicht mehr in der Politik um Sachfragen geht, sondern nur noch um das Prinzip des Machterhalts und der Selbstbevorteilung.

Die stark geforderte Transparenz des Staatswesens ist keine leere Floskel der Piratenbewegung, sondern auf nationaler und internationaler Ebene dringend notwendig.

3.2 Kampf der Hinterzimmer-Politik

»Die Welt ist im Wandel, wie es im ›Herr der Ringe‹ so schön heißt. Dunkle Wolken ziehen auf, allerdings nicht über Mordor, sondern über Berlin und Brüssel. In der Eurokrise sehen wir eine Entdemokratisierung der Gesellschaft, eine Entparlamentarisierung der Politik. Merkel und Sarkozy führen Europa weg von repräsentativen Demokratien, die Tendenzen zu präsidialen Vertretungen sind überdeutlich. Am eindrucksvollsten zeigt das unser alter Freund Finanzminister Dr. Schäuble. Er schlägt für eine Änderung der EU-Verträge vor, das Europakonvent, also die Parlamente, zu umgehen und an deren Stelle Spitzengespräche zu stellen. Ist eine ganz tolle Idee, Herr Dr. Schäuble, so werden Sie ganz sicher Verständnis für Ihre Pläne schaffen. Aber nicht nur dort, auch in der Diskussion um den EFSF, das zurückgezogene griechische Referendum, überhaupt in den politischen Debatten, sehen wir eine ständige Konzentration auf die Spitze. Ein Parlament, das wenige Stunden vor einer Entscheidung darüber informiert wird, das hat keine tatsächliche Macht mehr. Ein Parlament, das abweichende Meinungen unterdrücken will, das hat den Namen nicht verdient.« Sebastian Nerz am 8. September 2011 auf dem Bundesparteitag der Piratenpartei in Offenbach

Die Piratenpartei setzt sich zum Ziel, auf die Transparenz aller staatlichen Prozesse hinzuwirken. Das soll unter anderem auch erreicht werden, indem geschlossene Debatten auf ein Minimum reduziert werden.

Gerade in Zeiten der Finanzkrise, die zwar schon länger am Schwelen ist, aber erst im Herbst 2008 durch den Zusammenbruch der Großbank Lehman Bros. ausuferte, haben viele Bürger das Vertrauen in das Staatshandeln verloren. Das gilt nicht nur für die unzureichenden Lösungskonzepte, welche von den Politikern vorgelegt werden. Es ist auch die allgemeine Verwaltungs- und Politikvorstellung der Parlamentarier, die Bürger für überholt und reformbedürftig halten. Denn es darf zu Recht bezweifelt werden, ob Politiker bei abgeschotteten politischen Prozessen überhaupt dem Volk die Wahrheit sagen.

Der luxemburgische EU-Politiker Jean-Claude Juncker hat sich dazu bereits eine Meinung gebildet. Am 20. April 2011 äußerte Juncker bei einer Veranstaltung in Brüssel zum Thema Finanzpolitik: »Ich bin für geheime Debatten unter einigen wenigen Verantwortlichen!« und um Schäden auf den Finanzmärkten zu vermeiden, fügte er hinzu: »Wenn es ernst wird, muss man lügen!«53

Es liegt auf der Hand, dass diese ungeheuerlichen Aussagen beim Volk für Empörung sorgen. Die Volksmehrheit fasst diese Äußerungen nicht nur als Affront auf, sondern auch als Beweis für die Klüngelei der regierenden Politiker mit der Wirtschaftselite. Je mehr die demokratische Basis am Zustandekommen von Gesetzen und Regierungsentscheiden beteiligt ist, desto weniger Spielraum bleibt für Lobbyismus.

Wenig Spielraum für Abschottung dank Internet

Vor allem lässt sich die Hinterzimmer-Politik wegen der besseren Kommunikationstechniken nicht mehr aufrechterhalten. Die Internet-Community nutzt die technischen Möglichkeiten des Web 2.0, um beispielsweise schnell und effizient Video-Clips zu verbreiten. Mitschnitte von Podiumsdiskussionen oder die Existenz politischer Geheimtreffen werden heute auch ohne Anwesenheit des Rundfunks in die Öffentlichkeit gebracht. In den letzten Jahren hat sich die Geschwindigkeit, mit der solche Informationen ausgetauscht werden, enorm erhöht.

Für jene politischen Kräfte, die auf Konspiration und Verschwiegenheit setzen, mag das Internet schon zu einem echten Problem geworden sein.

Mit einer stark basisdemokratisch ausgerichteten Partei in den Parlamenten wird es jedoch noch schwieriger, geheime Gesprächsrunden abzuhalten oder offen kundzugeben, die Bürger im Ernstfall zu belügen.

Geheimtreffen, die auch noch dementiert werden, sind alles andere als vertrauensbildend und gipfeln letztendlich in einer Hysterie. Bei Videoportalen wie Youtube finden sich Tausende Videos, in denen politische Fehlentwicklungen auf geheime Debatten und Schattenregierungen zurückgeführt werden.

Ein Beispiel sind »Aufklärer-Videos« über Bilderberg-Konferenzen. »Es hat im Laufe auch des Kalten Krieges, also der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine Reihe solcher Einrichtungen gegeben – ich erinnere mich zum Beispiel an die Bilderberg-Konferenzen, die Prinz Bernhard der Niederlande jedes Jahr ein Mal einberufen hat, eine wunderbare Einrichtung […], die muss es auch in Zukunft geben.« Altkanzler Helmut Schmidt im Zwiegespräch mit Henry Kissinger zum Thema »Global Power and Order«, 12. März 2009 in Berlin.54

Die Bilderberg-Konferenz wurde 1954 von Prinz Bernhard der Niederlande in dessen Hotel de Bilderberg im holländischen Oosterbeek gegründet. Etwa 100 »Bilderberger« treffen sich seitdem jährlich einmal an teils bekannten, teils geheimen Orten und debattieren von der Öffentlichkeit abgeschottet über die aktuelle Weltpolitik.