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Eine grausame Mordserie und nur eine Psychologie-Professorin kann das Rätsel entschlüsseln …
Der hochspannende und packende Thriller von Matthias Ernst
London: Ein Serienkiller tötet und verstümmelt junge Frauen. Die Polizistin Olivia Jenner ist überzeugt davon, dass es sich bei dem Täter um den Putney-Slasher handelt, der sieben Jahre zuvor mehrere Frauen auf die gleiche Weise ermordete. Das Problem: Der Hauptverdächtige wurde damals angeschossen und ist seitdem bei vollem Bewusstsein in einem gelähmten Körper gefangen. Mithilfe der Psychologin Susanna Madueke gelingt es Olivia mit dem Verdächtigen zu kommunizieren und während sie selbst ins Visier des Slashers geraten, erkennen die beiden, dass sie schnell handeln müssen, um weitere Morde zu verhindern …
Erste Leser:innenstimmen
„Ich habe schon ‚Der Therapeut‘ des Autors verschlungen und auch dieser Thriller hat mich komplett in Atem gehalten!“
„Sehr interessanter Fall, fesselnder Schreibstil und damit eine klare Leseempfehlung.“
„Wer sich für die menschliche Psyche allgemein oder speziell für das Locked-In-Syndrom interessiert muss hier unbedingt zugreifen!“
„Spannender Thriller mit überraschenden Wendungen.“
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Seitenzahl: 468
London: Ein Serienkiller tötet und verstümmelt junge Frauen. Die Polizistin Olivia Jenner ist überzeugt davon, dass es sich bei dem Täter um den Putney-Slasher handelt, der sieben Jahre zuvor mehrere Frauen auf die gleiche Weise ermordete. Das Problem: Der Hauptverdächtige wurde damals angeschossen und ist seitdem bei vollem Bewusstsein in einem gelähmten Körper gefangen. Mithilfe der Psychologin Susanna Madueke gelingt es Olivia mit dem Verdächtigen zu kommunizieren und während sie selbst ins Visier des Slashers geraten, erkennen die beiden, dass sie schnell handeln müssen, um weitere Morde zu verhindern …
Erstausgabe Oktober 2022
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98637-628-4 Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-631-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-954-4
Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Andrii, © jakkapan depositphotos.com: © Nik_Merkulov, © pedro2009 shutterstock.com: © Yuliia Konakhovska Lektorat: Astrid Pfister
E-Book-Version 09.01.2024, 10:11:17.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Eine grausame Mordserie und nur eine Psychologie-Professorin kann das Rätsel entschlüsseln …Der hochspannende und packende Thriller von Matthias Ernst
„Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich.“ René Descartes
London, Juli 2016
Die Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen eng wie ein Nadelkopf. Die Stirn lag in tiefen Falten, der Mund schien erstarrt zu sein zu etwas, das einen Schrei oder ein bizarres Grinsen darstellen mochte. Zwei dünne Blutfäden rannen aus der Nase, deren Spitze abgeschnitten worden war. Sie hinterließen eine schmierige, rot glänzende Spur auf der Oberlippe und tropften auf die beiden Schneidezähne, die aus dem Mund hervorragten wie vom Mond beschienene Grabsteine aus einem pechschwarzen Friedhof.
Sein Blick wanderte zuerst über die tiefe Wunde in der Kehle und dann zu dem zerfetzten T-Shirt, das wohl einmal weiß gewesen war. Durchtränkt von Blut, Schleim und Regen hatte es eine rostbraune Färbung angenommen. Der Brustkorb und das weiche, unförmige Gewebe, das von den Brüsten übrig geblieben war, wiesen unzählige Einstiche, klaffende Krater und weit ausladende, wellige Schnitte auf.
Er wandte sich ab und betrachtete das Messer in seiner Hand. Die Klinge war mit einer klebrigen Schicht geronnenen Blutes überzogen. Sie zitterte wie die Nadel eines Seismografen, der gerade ein Erdbeben der Stärke vier auf der Richter-Skala registrierte. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinab und eine Gänsehaut wanderte über seinen Körper.
Plötzlich hörte er Schritte. Schwere Stiefel auf dem Asphalt. Sein Mund wurde trocken.
„Polizei! Lassen Sie das Messer fallen!“
Langsam drehte er sich um. Es waren zwei Beamte. Eine kleine, stämmige Frau und ein hochgewachsener, hagerer Mann. Sie hatten ihre Dienstwaffen auf ihn gerichtet.
„Lassen Sie das Messer fallen, sofort!“, rief die Polizistin.
Die Pistole in ihrer Hand zitterte noch stärker als ihre Stimme. Sie würde nicht schießen. Ganz anders als ihr Kollege.
„Messer weg“, knurrte dieser.
Er sah auf die Klinge, die seine Finger noch immer umklammert hielten. Sie war wie festgeklebt. Er konnte sie nicht fallen lassen, so sehr er es auch wollte. Sein Körper verweigerte ihm den Dienst. Seine Lippen öffneten sich. Er suchte den Blick des Polizisten und quälte sich einen letzten Laut ab:
„Aragorn!“
Einen Herzschlag später peitschte ein Schuss durch die Gasse. Er spürte noch die Wucht des Einschlags, die seinen Körper zurückwarf, während das Projektil Haut, Muskeln und Blutgefäße an seinem Hals zerfetzte. Dann stürzte sein Bewusstsein in eine tiefe, grauenvolle Dunkelheit.
London, Februar 2023
Chief Inspector Olivia Jenner saß in ihrem Büro und kämpfte gegen die Gravitation an. Wie verführerisch es wäre, die Wange einfach auf der Plastikablage des Schreibtisches zur Ruhe zu betten und für ein paar Minuten die Augen zu schließen. Sie schüttelte den Gedanken ab, griff nach der Tasse und nahm einen weiteren großen Schluck in der Hoffnung, dass der extra starke Kaffee ihr den dringend notwendigen Energieschub verpassen würde.
Doch ein Blick auf ihren Kalender und insbesondere auf den Termin mit Greg Waltham, vor dem es sie schon seit Wochen graute, erstickte den Energiefunken, den das Koffein in ihrem Körper anfachen sollte. Sie atmete tief durch und lehnte sich zurück. Was für ein Mist!
Olivia mochte ihren Job. Die Polizeistation in Wandsworth war eine überschaubare Welt und die Leitungstätigkeit ließ ihr genügend Freiraum für die praktische Ermittlungsarbeit, die sie so sehr liebte. Aber manchmal brachte der Job Aufgaben mit sich, die so unerfreulich waren, dass sie sich wünschte, doch nur eine einfache Streifenpolizistin zu sein, die sich mit diesem Kram nicht auseinandersetzen musste.
Es klopfte an der Tür und Greg Waltham trat ein. Noch ehe sich der Gestank nach abgestandenem Zigarettenrauch und schalem Bier in ihre Nase drängte, sah sie, dass er betrunken war. Seine Augen waren blutunterlaufen, die feisten Wangen gerötet und von einem feinen Netz aus dunkelblauen Äderchen durchzogen. Seine rechte Hand zitterte, obwohl er versuchte, sie mit der linken an seinem ausladenden Bauch zu fixieren. Sein Gang war steif und ungelenk. Der oberste Knopf der Uniformjacke stand offen und als Olivia genauer hinsah, erkannte sie, dass die gesamte Leiste falsch zugeknöpft worden war, sodass das unterste Loch frei über Gregs Schritt baumelte. Auf der Hose war ein eingetrockneter Fleck zu erkennen, der nach einer Mischung aus Ketchup und Mayonnaise aussah. Sie deutete auf den Stuhl vor sich und Waltham setzte sich. Das Möbelstück knarrte, als er sich zurücklehnte. Hoffentlich hielt die Rücklehne!
„Du weißt, warum ich dich zu diesem Gespräch gebeten habe?“, begann sie.
Er zuckte mit den Achseln und kämpfte dabei gegen ein Gähnen an, als ob diese minimale Bewegung ihn schon überanstrengte.
Olivia seufzte. „Greg, so kann es nicht mehr weitergehen.“
Er kniff die Augen zusammen, die dadurch unter den Wülsten seiner buschigen Brauen verschwanden. „Was kann so nicht weitergehen?“
Seine Worte ließen noch mehr Bier- und Zigarettendunst in Olivias Richtung wabern. Sie erhob sich und kippte das Fenster, dann nahm sie wieder Platz und fixierte Greg.
„Du musst dein Alkoholproblem endlich in den Griff bekommen“, sagte sie.
Seine Mundwinkel zuckten. „Ich habe kein Problem mit Alkohol“, sagte er und sah sie grinsend an. Olivia ahnte, was nun kommen würde.
„Nur ohne.“ Er lachte, aber das anfängliche Bellen verwandelte sich rasch in ein keuchendes Würgen. Olivia griff instinktiv nach dem Papierkorb unter ihrem Tisch und stellte ihn vor Greg hin. Doch der Kollege schüttelte den Kopf. Er hustete zwei Mal, atmete tief durch und sagte: „Alles in Ordnung.“
Olivia schnaubte. „Nein“, sagte sie. „Nichts ist in Ordnung. Du kommst betrunken zum Dienst, und das nicht zum ersten Mal.“
„Ich bin nicht betrunken.“
„Soll ich den Alkomat holen?“
Er zuckte zusammen. „Vielleicht habe ich gestern ein Bier zu viel zum Abendessen gehabt“, murmelte er.
„Wohl eher heute Morgen zum Frühstück.“
Greg senkte den Kopf. Seine Schultern sackten nach unten und sein ganzer Körper sank in sich zusammen. Olivias Wut verpuffte und an ihre Stelle trat Mitleid.
„Ich will dir nichts Böses“, sagte sie in einem deutlich freundlicheren Tonfall. „Aber es gibt Beschwerden von Kollegen, und auch von der Frau, bei der du gestern den Einbruch aufnehmen solltest.“
„Das war ein Versehen“, murmelte er.
„Dass du über deine Füße gestolpert und in eine Glasvitrine gefallen bist? Ein Wunder, dass du dich dabei nicht verletzt hast.“
Er sah zu Boden.
„Greg, ich setze dir hiermit ein Ultimatum. Kümmere dich um dein Alkoholproblem. Such dir Hilfe. Mach eine Entziehungskur. Ich stehe hinter dir. Aber so kann es nicht weitergehen. Wenn du bis Ende des Monats nichts unternommen hast, werde ich ein Disziplinarverfahren einleiten müssen, und du weißt, was das für Konsequenzen haben kann.“
„Ich habe kein Alkoholproblem“, sagte er leise.
Sie seufzte. „Oh doch, das hast du. Denk darüber nach.“
Sie stand auf und er erhob sich ebenfalls. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, kippte nach hinten und krachte auf den Boden. Greg benötigte drei Anläufe, bis es ihm gelang, sich so weit nach vorne zu bücken, dass er das Möbelstück aufheben und wieder vor Olivias Schreibtisch stellen konnte. Sie beobachtete, wie er sich danach schwankend aus ihrem Büro entfernte. An der Tür wäre er beinahe mit Omar zusammengestoßen. Der Anblick des jungen, fitten, immer wohlriechenden und vor allem nüchternen Kollegen, der erst seit zwei Monaten in Wandsworth arbeitete, hellte Olivias Stimmung augenblicklich auf.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
Sie winkte ab. „Personalgespräche zu führen, gehört eindeutig nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.“
Omar lächelte. „Das kann ich mir vorstellen. Wenn man einen echten Serienkiller geschnappt hat, müssen administrative Tätigkeiten todlangweilig sein.“
Sie winkte ab. „Das ist bereits sieben Jahre her, und geschnappt habe ich ihn auch nicht. Dass wir den Kerl auf frischer Tat ertappt haben, war reiner Zufall.“
„Ich glaube nicht an Zufälle. Sie waren ihm auf den Fersen und haben ihn erwischt. Fertig.“
Olivia wollte gerade nicht darüber sprechen, deshalb fragte sie: „Was gibt es denn?“
Omars Miene verdüsterte sich. „Können Sie bitte mal in den Befragungsraum mitkommen?“
Sie warf einen Blick auf ihren Terminkalender. In zwanzig Minuten stand ein Telefonat mit dem Leiter des Administrationsdirektorats der Metropolitan Police an. Wahrscheinlich wollte er wieder an ihrem Stellenschlüssel schrauben.
„Kann das nicht Berners übernehmen?“
Omar schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nicht.“
Sie folgte ihm durch das Großraumbüro in den rückwärtigen Bereich der Dienststelle, wo sich die Befragungsräume und die Kammer des Erkennungsdienstes befanden, in der Fingerabdrücke und Fotos angefertigt wurden. Omar öffnete die Tür zum Befragungsraum 1 und sie trat ein. Als Olivia die Gestalt erkannte, die auf dem unbequemen Stuhl kauerte, schossen ihre Augenbrauen in die Höhe.
„Tim!“
Der Junge hob den Kopf. Sein Gesicht war leichenblass. Sogar aus den zitternden Lippen war jede Farbe gewichen. Er starrte sie mit großen Augen an.
Sie hörte, wie Omar die Tür hinter sich schloss.
„Was macht mein Sohn hier?“, fragte Olivia verwirrt.
Der Kollege räusperte sich. „Wir haben ihn mit einer leider nicht unbedeutenden Menge Marihuana aufgegriffen und da er bereits achtzehn Jahre alt ist, konnten wir ihn nicht einfach nur verwarnen und wieder gehen lassen.“
Olivia schloss die Augen. Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken.
„Wo haben Sie ihn erwischt?“
„Wir haben die Dealer in Putney Heath observiert und dabei beobachtet, wie Ihr Sohn mit einem der Kerle ins Geschäft gekommen ist. Der andere Typ sitzt im zweiten Vernehmungsraum. Für den wird es richtig brenzlig, denn der hatte noch ein halbes Pfund von dem Zeug bei sich.“
„Wie viel hat Tim gekauft?“
„Zehn Gramm“, sagte Omar.
„Zehn Gramm? Heilige Scheiße!“
Omar trat einen Schritt zurück und Tim zuckte zusammen.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, zischte Olivia.
Tim wich ihrem Blick aus und starrte die Tischplatte an.
„Soll ich rausgehen?“, fragte der Kollege.
Olivia schüttelte den Kopf. „Sie bringen das hier bitte ordnungsgemäß zu Ende und danach fahre ich den Herrn nach Hause.“
Sie kehrte in ihr Büro zurück, rief im Vorzimmer des Direktors an und bat seine Sekretärin, das Telefonat auf den Nachmittag zu verlegen.
Als sie zehn Minuten später zum zweiten Mal das Verhörzimmer betrat, setzte Tim gerade seine Unterschrift unter das Protokoll.
„Komm“, sagte sie und bugsierte ihn durch die Hintertür in Richtung des Parkplatzes. Ihr Sohn ließ sich auf dem Beifahrersitz ihres Nissans nieder. Sie startete den Wagen und fuhr los. Eine Weile schwiegen sie. Olivia spürte, wie die Wut in ihr brodelte und immer mehr hochkochte. Schließlich platzte es aus ihr heraus: „Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?“
Tim hob den Kopf und sah sie an. Sie schaute kurz auf die Straße und als sie sicher war, dass sie geradeaus fuhr und nicht mit dem spärlichen Gegenverkehr kollidieren würde, begegnete sie seinem Blick. In seinen Augen standen Tränen, doch die vorherrschende Emotion war nicht Traurigkeit, Furcht oder gar Scham, es war Trotz.
„Ich wollte einfach ein bisschen Spaß haben“, sagte er.
„Für ein bisschen Spaß hätte auch ein Gramm gereicht. Dann wärst du mit einer Verwarnung und neunzig Pfund Strafe davongekommen“, rief sie. „Ist dir klar, dass dich eine Anklage erwartet?“
Er zuckte mit den Achseln. „So schlimm wird das schon nicht werden.“
„Sag mal, hast du sie noch alle?“
Der Wagen ruckte zur Seite, als sie das Lenkrad verzog, und Olivia hatte Mühe, ihn wieder in die Spur bringen.
„Ich werde vor Gericht schön brav Reue zeigen, dann wird das Verfahren bestimmt eingestellt“, sagte Tim. „Du brauchst dir da gar keinen Kopf machen.“
„Ach so, ich muss mir also keine Sorgen machen, wenn mein achtzehnjähriger Sohn Drogen konsumiert.“
„Es ist doch nur Gras.“
„Auch das Zeug hält man am besten von den Gehirnen heranwachsender Menschen fern, vor allem, wenn diese nur mit Mühe und Not eine Meningitis überlebt haben.“
Tims Stimme schraubte sich in Höhen, die sie seit dem Einsetzen seiner Pubertät vor vier Jahren nicht mehr bei ihm gehört hatte: „Das schiebst du doch nur vor. Du machst dir überhaupt keine Sorgen um mich oder um mein heranwachsendes Gehirn. Das mit der Meningitis ist schon ewig her. Dir ist nur wichtig, dass die Kollegen nicht über dich reden. Es geht dir lediglich um deinen Job. So wie immer. Ich bin dir scheißegal.“
„Das nimmst du sofort zurück!“, rief Olivia.
„Nein“, schrie Tim. „Wenn dir wirklich etwas an mir, Lucy, Wendy oder Dad liegen würde, würdest du mehr Zeit mit uns verbringen, aber für dich gibt doch immer nur deine Arbeit. Die scheint ja so viel spannender zu sein als wir.“
„Ich …“
„Ja, ich kenne deine Ausreden zur Genüge“, knurrte er.
Sie hatten inzwischen die Einfahrt zu dem schmalen Reihenhaus erreicht, in dem Olivia mit ihrer Familie lebte. Ohne sie noch einmal anzusehen, öffnete Tim die Tür, stieg aus und knallte sie geräuschvoll hinter sich zu. Olivia sah ihrem Sohn hinterher. Mit zitternden Fingern wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel, dann legte sie den Rückwärtsgang ein und fuhr zurück zur Dienststelle.
„Gib Paddy sofort her!“ Ellas Augen füllten sich mit Tränen. Sie streckte ihre knubbeligen Fingerchen nach dem Stofftier aus, das ihr großer Bruder gerade über ihrem Kopf außerhalb ihrer Reichweite hin und her schwenkte.
„Hol ihn dir!“ Dan tanzte triumphierend um das Mädchen herum.
„Dan!“, rief Susanna, ließ die Bürste fallen und eilte aus dem Bad ins Kinderzimmer. Dabei verfing sich eine ihrer in alle Richtungen abstehenden, krausen Haarsträhnen am Türgriff. Ihr Kopf wurde mit einem schmerzhaften Ruck zurückgerissen.
„Au!“, fluchte sie und befreite sich vorsichtig. Währenddessen verrannen wertvolle Augenblicke, in denen sie die Situation hätte entschärfen können. Ellas leises Weinen und ihre vergeblichen Bitten steigerten sich nun zu einem lautstarken Geheule. Ihr Gesicht lief knallrot an und sie schrie in einer Tonlage, die dünnwandige Weingläser zum Platzen gebracht hätte. Dan schien die hilflose Verzweiflung seiner Schwester offenbar nur noch mehr anzuspornen, denn er rief: „Heulsuse, Pampelmuse“, und hüpfte kreischend auf und ab, während er mit dem Paddington Bär vor Ellas Augen herumfuchtelte.
Susanna griff nach dem Stofftier und entwand es ihm. Ihr Sohn stieß einen protestierenden Laut aus, doch sie versuchte sich an ihrem strengsten Blick und dieser brachte den Sechsjährigen wie immer zuverlässig zum Verstummen.
„Geh runter und iss dein Müsli. Aber sofort!“
Dan gehorchte ohne Widerrede und während er die Holztreppe hinab trampelte, kniete sie sich vor Ella hin und hielt ihr den Teddy entgegen. Die Vierjährige griff danach und drückte das Kuscheltier fest an ihren bebenden Körper. Susanna nahm ihre Tochter in den Arm und wiegte sie sanft hin und her. Sie schloss die Augen und sog Ellas Duft nach Milch, nach Honig und nach Mandeln ein.
„Susi? Alles in Ordnung bei dir?“
Die etwas zu hohe und etwas zu laute Stimme ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken. Wie sie es verabscheute, Susi genannt zu werden!
„Wir kommen gleich“, rief sie. Sie wischte Ella mit einem Taschentuch die Tränen von den Wangen. Da erst wurde ihr bewusst, dass ihre Tochter noch im Schlafanzug steckte. Rasch half sie ihr, in die Kleidung zu schlüpfen, die sie am Vorabend bereitgelegt hatte.
„Lass dich anschauen“, sagte sie schließlich und schob das Mädchen vor den Spiegel.
„Ich find mich hübsch“, sagte Ella und zum ersten Mal seit dem Streit mit ihrem Bruder erschien ein zaghaftes Lächeln auf ihren Lippen. „Aber du musst dringend deine Haare kämmen.“
„Oh nein! Geh schon mal runter“, sagte Susanna. „Grandma hat bestimmt etwas Leckeres zum Frühstücken für dich.“
Mit dem Bären im Arm hüpfte Ella die Treppe hinab, während Susanna ins Bad eilte, um ihre widerspenstige Mähne endlich in Form zu bringen. Zehn Minuten später als geplant betrat sie die Küche. Die Kinder saßen an dem kleinen Tisch und löffelten ihr Müsli. Ihre Mutter stand hinter Ella und streichelte dem Mädchen über den Kopf, während sie die andere Hand vor den Mund hielt, offenbar, um ein Kichern zu unterdrücken.
„Was ist denn so komisch?“, fragte Susanna und griff nach einer der schon abgekühlten Toastscheiben, die auf einem Teller neben der Spüle bereitlagen.
„Ach, diese kleine Maus hier hat mir gerade erzählt, dass sie eine Hexe gesehen hat. Als ich sie gefragt habe, wann das gewesen ist, hat sie mir gesagt gerade eben und als ich dann gefragt habe, ob sie die Hexe schon mal vorher gesehen hat, hat sie gesagt: Aber klar, es ist Mama, wenn sie die Haare nicht gekämmt hat.“
Ihre Mutter prustete los und die Kinder schlossen sich ihr an. Susanna verdrehte die Augen. Ihr Blick fiel anschließend auf die Uhr. „Was, schon so spät?“ Sie biss ein gutes Drittel des ungebutterten Toasts ab, trank einen Schluck aus der Teetasse und eilte dann in ihr Arbeitszimmer. In einer halben Stunde würde die Sitzung des Fakultätsrates beginnen. Das würde sie nie im Leben schaffen.
„Kannst du die Kinder bitte in den Kindergarten bringen?“, fragte sie ihre Mutter, während sie den obersten der drei Aktenordner vom Tisch nahm und ihn in ihre Umhängetasche steckte.
„Puh, das kommt aber ein wenig plötzlich. Ich habe heute wieder schlimmes Rheuma“, erwiderte ihre Mutter und hielt sich mit einer Hand die Hüfte. „Ich werde mich nie an die Kälte in diesem Land gewöhnen.“
„Du bist im Alter von zwei Jahren nach London gekommen“, sagte Susanna. „Da solltest du inzwischen mit dem Wetter zurechtkommen.“
„Wer keine chronischen Schmerzen kennt, dem kommt so etwas natürlich leicht über die Lippen“, sagte ihre Mutter und überkreuzte die kurzen Arme vor ihrem massigen Busen.
Susanna unterdrückte ein Stöhnen. Sie musste sich am Riemen reißen, so schwer es ihr manchmal auch fiel.
„Stimmt, da hast du recht“, sagte sie. „Kannst du Dan und Ella denn zum Kindergarten bringen oder nicht?“
Ihre Mutter legte daraufhin eine der Kunstpausen ein, über die Susanna sich schon geärgert hatte, als sie selbst erst in Ellas Alter gewesen war. Schließlich seufzte die alte Frau.
„Nun gut. Ich werde eben die Zähne zusammenbeißen müssen, dann wird es schon gehen. Abholen muss ich die beiden ja auch wieder, oder? Wann kommst du heute Abend nach Hause?“
„So gegen neun Uhr, denn ich habe noch eine Vorlesung“, sagte Susanna, ignorierte das Stöhnen ihrer Mutter und nahm das Handy von der Ladestation. Vier neue Nachrichten. Sie öffnete die erste und zuckte zusammen. Dekan Walters hatte ihr geschrieben.
Vielleicht können wir vor der Sitzung noch kurz miteinander sprechen? Kommen Sie doch einfach in mein Büro.
Sie schluckte. Dafür hatte sie keine Zeit. Stattdessen würde sie sich nun die nächsten fünfundzwanzig Minuten Gedanken darüber machen, worüber der Dekan mit ihr reden wollte. Sie schrieb ihm zurück, dass sie es nicht schaffen würde, dann eilte sie in die Küche, um Dan einen Kuss auf die Stirn zu geben und Ella und ihren Bären ganz fest zu drücken.
„Können wir heute Abend Paddington Bär anschauen?“, fragte ihre Tochter.
„Ach nein, nicht schon wieder“, rief Dan.
„Das müsst ihr mit Grandma klären, ich komme leider erst spät nach Hause.“
Die Antworten ihrer Kinder und das Klagen ihrer Mutter hörte sie schon nicht mehr, da sie bereits den Vorgarten durchquerte und in Richtung der Tube-Station rannte.
Als sie schwitzend und abgehetzt den Bahnsteig der Haltestelle Clapham North erreichte, sah sie allerdings nur noch die Rücklichter der Bahn. Na super, jetzt würde sie auf jeden Fall zu spät zur Sitzung kommen.
Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Der Dekan hatte ihr geantwortet.
Schade.
Das Herz sackte ihr in die Hose. Was sollte das denn bedeuten? Sie spürte den schwer zu unterdrückenden Impuls ihres Gehirns, sich ausführlich mit dieser Frage und allen daraus resultierenden Konsequenzen auseinanderzusetzen, hielt den anlaufenden Denkprozess aber mit einem kräftigen, gedachten Stopp an, noch ehe ihr Frontalhirn und ihr limbisches System voll in Aktion treten konnten. Es war sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Sie musste Walters fragen, was es mit seinen Nachrichten auf sich hatte, und dazu musste sie erst einmal bei der Arbeit ankommen.
Als sie um zehn Minuten nach neun vollkommen abgehetzt in den Sitzungssaal der Fakultät für Sozialwissenschaften an der University of Roehampton platzte, hatte das Meeting natürlich bereits begonnen. Dekan Walters stand vor einer Leinwand und deutete gerade mit einem Laserpointer auf steil in die Höhe schießende Balkendiagramme. Susanna nahm ihren Platz auf der linken Seite des Tischhufeisens ein. Enoch Daltrey, der Professor für kognitive Psychologie, der ihr gegenübersaß, zog eine seiner buschigen Augenbrauen nach oben und deutete auf die Uhr an der Wand hinter dem Dekan.
Schlaumeier! Sie wusste selbst, dass sie zu spät dran war. Aber Daltrey war schon immer ein Mansplainer gewesen.
„… sind wir leider durch die Vorgaben der Regierung gezwungen, Einsparungen im mittleren sechsstelligen Bereich zu realisieren“, hörte sie Walters sagen.
Romuald Murdoch, Professor für Psychologische Diagnostik, dessen schottischer Akzent bisweilen nur schwer zu decodieren war, meldete sich nun zu Wort.
„Was bedeutet das konkret?“
Der Dekan schürzte die Lippen. „Das heißt, dass wir gezwungen sind, eine komplette Professur zu streichen.“
Susanna stimmte in das kollektive Stöhnen der Kolleginnen und Kollegen des Fachbereichs Psychologie mit ein. Alle waren sie gerade hier versammelt. Sieben Professorinnen und sechs Professoren. Eine oder einer von ihnen würde also seinen oder ihren Job verlieren. Susannas Puls beschleunigte sich und ihre Fingerspitzen wurden feucht. Diese Nachricht rief eine Stressreaktion in ihrem vegetativen Nervensystem hervor.
„Wie werden Sie entscheiden, welche Professur gestrichen wird?“, fragte Debbie Miller, eine drahtige Amerikanerin, der man ihre knapp sechzig Lebensjahre überhaupt nicht ansah. Ob das daran lag, dass sie das Fach Entwicklungspsychologie vertrat?
Ehe der Dekan antworten konnte, meldete sich Enoch Daltrey zu Wort. Beim Klang seiner näselnden Stimme stellten sich unwillkürlich die Härchen an Susannas Oberarmen auf.
„Das ist doch klar“, sagte er, nahm seine Nickelbrille ab und begann, die Gläser zu putzen. „Wir schauen uns an, wer am wenigsten Drittmittel eingeworben hat. Weitere Kriterien könnten die Anzahl und die Qualität der Veröffentlichungen sein. Das lässt sich ja glücklicherweise einfach berechnen, wenn wir uns die Impactfaktoren der Fachzeitschriften ansehen, in denen unsere Paper publiziert wurden.“
Er lehnte sich zurück und grinste selbstzufrieden. Sein Lehrstuhl beschäftigte nämlich so viele Doktoranden, dass er selbst kaum etwas veröffentlichen musste, da er in den Fachartikeln seiner Mitarbeiter automatisch als Mitautor geführt wurde. Susanna hingegen hatte im letzten Jahr lediglich zwei Artikel in wenig einflussreichen Journals unterbringen können. Sie ließ ihren Blick über ihre Kolleginnen und Kollegen schweifen und in diesem Augenblick traf die Erkenntnis sie wie eine Ohrfeige … alle Anwesenden hatten wesentlich mehr veröffentlicht als sie in den drei Jahren, seit sie die Professur für Neuropsychologie innehatte.
„Wir werden einen Kriterienkatalog erarbeiten“, sagte der Dekan nun und fügte hinzu: „Einen fairen und transparenten Kriterienkatalog.“
„Bis wann wird die Entscheidung fallen?“, fragte Murdoch.
„Bis Ende nächster Woche“, erwiderte Walters. „Bei der Sitzung in zehn Tagen werden Sie alle die Gelegenheit bekommen, Argumente vorzulegen, warum Ihre Professur erhalten bleiben sollte.“
Susanna spürte, wir ihre Kehle eng wurde. Zehn Tage blieben ihr, um zu begründen, warum sie nicht gefeuert werden sollte. Ihre Gedanken begannen damit, um die Frage zu kreisen, was sie nun tun sollte. Ihr emsiges und niemals untätiges Gehirn wagte einen Blick in die Zukunft. Es malte ihr allerhand Szenarien aus, von denen eines katastrophaler war als das andere. Welche Chancen hatte eine alleinerziehende Neurowissenschaftlerin mit einer leider nur mittelprächtigen Veröffentlichungshistorie, eine gleichwertige Professur an einer Uni im Vereinigten Königreich zu ergattern? Waren durch die Auswirkungen des Brexits nicht alle Universitäten und Forschungseinrichtungen zum Sparen gezwungen? Wie sollte sie den Stress eines weiteren Bewerbungsmarathons schultern, wenn ihr schon die alltäglichen Aufgaben als Lehrende, Forschende und Mutter über den Kopf zu wachsen drohten?
Die Versammlung löste sich langsam auf. Susanna wollte sich am liebsten an ihren Schreibtisch verkriechen, um dort in Ruhe ihre Optionen durchzuspielen, doch Dekan Walters winkte sie zu sich. Er lotste sie in sein Büro und bot ihr einen Sitzplatz an.
„Schade, dass ich Sie nicht vorwarnen konnte“, sagte er.
„Ich habe die Tube verpasst. Es war mal wieder stressig heute Morgen.“
Er nickte. „Das kann ich mir vorstellen. Es ist schon bewundernswert, wie sie das alles managen.“
Susanna zuckte mit den Achseln. „Das müssen viele Frauen jeden Tag leisten, ohne dafür Lob oder Anerkennung zu ernten.“
„Na ja, wie auch immer. Die Situation ist äußerst ernst.“
Susanna schluckte, obwohl sich kaum noch Speichel in ihrem Mund befand.
„Sie wollen meine Professur streichen, nicht wahr?“
Er seufzte leise. „Ich kann Ihnen nicht verhehlen, dass Sie die schlechtesten Karten haben.“
„Kann ich denn überhaupt noch etwas bewirken oder ist alles schon entschieden?“
Er sah sie eine Weile stumm an, dann sagte er: „Nein, entschieden ist noch nichts. Aber um das Spiel nicht zu verlieren, benötigen Sie dringend einen Trumpf. Zeigen Sie den Leuten vom Bildungsministerium, warum ausgerechnet Ihr Fachbereich es verdient, finanziert zu werden.“
„Wie soll ich das denn in nur zehn Tagen anstellen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Lassen Sie sich etwas einfallen, Professor Madueke!“
Olivia stellte den Nissan in der Einfahrt ab. Ihr Schädel brummte. Es war spät geworden. Wieder einmal. Das Meeting mit dem Direktor hatte erst um achtzehn Uhr stattfinden können und daher war sie bis halb acht damit beschäftigt gewesen, mit ihm über Stellenschlüssel, Personalkosten und diverse Kennzahlen zu diskutieren.
Im Laufe des Gesprächs hatte sie begriffen, dass es nicht mehr nur darum ging, ob eine oder zwei Vollzeitstellen gestrichen wurden. Die gesamte Station stand auf der Kippe. Der Direktor hatte es zwar vermieden, das Ganze deutlich auszusprechen, aber aus einem halben Dutzend Andeutungen wie „man muss alles auf den Prüfstand stellen“ und „es gibt ohnehin zu viele Dienststellen in London“ hatte sie sich erschließen können, worum es eigentlich ging.
Olivia war zuversichtlich, dass sie das Schlimmste vorerst abgewendet hatte, denn der Direktor hatte weder Kündigungen noch vorzeitige Pensionierungen von ihr verlangt. Sie war erleichtert darüber, keine weiteren Personalgespräche führen zu müssen. Wenn sie an ihre Unterredung mit Greg zurückdachte, lief ihr immer noch eine Gänsehaut über den Rücken. Falls es zu Stellenstreichungen kommen sollte, würde es ihn als Ersten treffen. Wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihm mitteilte, dass er sich einen neuen Job suchen musste?
Sie stieg aus ihrem Wagen. Als sie die Haustür öffnete, wehte ihr der Geruch einer Lasagne entgegen. Eine Welle der Dankbarkeit durchströmte sie. Andy hatte also das Kochen übernommen … wieder einmal.
Olivia streifte ihre Schuhe ab, hängte die Jacke auf den Haken im Flur und trat in die Küche. Ihr Mann bückte sich gerade zum Ofen hinunter und streckte ihr sein inzwischen ein wenig ausladendes Hinterteil entgegen. Ächzend erhob er sich und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Schweiß von der hohen Stirn.
„Hi Andy“, sagte sie.
Er drehte sich um. „Hi“, erwiderte er, trat auf sie zu und küsste sie auf die Wange. „Kannst du mir verraten, was mit Tim los ist?“, fragte er, während er die Plastiktüte mit dem Salat öffnete und die bereits etwas welken Blätter in eine Schüssel fallen ließ. „Er hat sich in seinem Zimmer verbarrikadiert und hört hirnlosen Gangsta-Rap in einer Lautstärke, dass die Wände wackeln.“
Olivia vernahm unter dem Rauschen des Umluftofens tatsächlich ein Wummern. Sie atmete tief durch. „Ein Kollege von mir hat Tim heute dabei ertappt, wie er Marihuana gekauft hat.“
Sie sah, dass Andy im Begriff war, die Schüssel fallen zu lassen, deshalb griff sie vorsorglich danach.
„Wie bitte?“, rief er entsetzt.
Sie nickte. „Das ist aber noch nicht alles. Da er mehr als fünf Gramm bei sich hatte, wird es auf jeden Fall zu einer Anklage kommen.“
Andy schlug mit der flachen Hand auf die Anrichte. Die dort bereitgestellten Teller schepperten laut.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“
Sie legte einen Arm um seine Schulter. Früher hatte diese Geste immer bewirkt, dass er sich entspannte, aber heute blieb er stocksteif stehen.
„Und wo warst du so lange?“, fragte er.
Sie hörte den Vorwurf in seinem Tonfall, an der Art, wie er versuchte, die Gefühle aus seinen Worten herauszuhalten, und es doch nicht schaffte. Seine Stimme zitterte.
„Ich hatte eine Besprechung mit dem Direktor.“
„Das ist natürlich wichtiger, als sich um unseren Drogen missbrauchenden Sohn zu kümmern.“
Andys Ärger war einer Bitterkeit gewichen, die Olivia ganz und gar nicht gefiel. Sie wollte etwas erwidern, doch plötzlich stand Wendy, ihre dreizehnjährige Tochter, im Türrahmen. Sie strahlte.
„Ich habe ein A für mein Bild bekommen“, sagte sie stolz. Olivia versuchte, ein überzeugend wirkendes Lächeln aufzusetzen. Sie trat auf ihre Tochter zu und nahm sie in den Arm.
„Ich bin sehr stolz auf dich“, sagte sie.
Wendy löste sich von ihr. „Kannst du mich morgen zum Ballett fahren?“
Olivia zögerte. Sie hatte ihren Terminkalender nicht im Kopf.
„Ich muss mal schauen, ich …“, setzte sie an, doch Andy unterbrach sie sofort.
„Ich fahre dich. Mama hat bestimmt keine Zeit.“
Wendy stürmte auf ihren Vater zu und umarmte ihn.
„Gibt es bald Essen?“, hörte Olivia Lucy, ihre sechzehnjährige Tochter fragen. Sie saß im dunklen Wohnzimmer auf dem Sofa. Ihr Gesicht wurde vom Handybildschirm beleuchtet, auf den sie unverwandt starrte, während ihre Finger in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit darauf herumtippten.
„Gleich fertig“, rief Andy. „Holst du bitte Tim?“
Das Abendessen war eine unerfreuliche Angelegenheit. Wendy plapperte fröhlich drauflos, erzählte von ihrem Tag und was sie mit ihren Freundinnen alles erlebt hatte. Lucys Handy brummte alle paar Sekunden und deren Aufmerksamkeit wanderte zunehmend vom Teller unter den Tisch. Tim mied jeden Blickkontakt ebenso wie jede Konversation. Er stocherte nur in seiner Lasagne herum und verkündete irgendwann, dass ihm schlecht sei, ehe er sich wieder in sein Zimmer verzog.
„Hat der seine Tage?“, fragte Wendy und kicherte. Olivia war allerdings nicht nach Späßen zumute. Sie wollte Tim folgen, doch dann hörte sie, wie ihr Sohn im ersten Stock seine Zimmertür zuknallte und den Schlüssel im Schloss umdrehte.
„Ich rede später mit ihm“, sagte Andy, ohne sie anzusehen.
Sie würgte ein paar Bissen Lasagne hinunter, obwohl ihr inzwischen jeglicher Appetit abhandengekommen war. Nach dem Essen halfen ihre Töchter Andy beim Einräumen der Spülmaschine.
Olivia ließ sich auf das Sofa fallen und spürte, wie der letzte Rest von Energie aus ihrem Körper entwich. Sie fühlte sich so müde und fertig wie schon lange nicht mehr. Sie wollte nicht mehr und sie konnte nicht mehr.
Andy stellte wortlos ein Glas Primitivo vor ihr auf den Wohnzimmertisch und setzte sich dann in den Sessel auf der gegenüberliegenden Seite.
„Danke“, sagte Olivia, griff nach dem Wein und nahm einen großen Schluck. Sie spürte den Alkohol sofort. Er stieg ihr zu Kopf und gleich darauf wurde alles ein wenig leichter. Ob Greg deswegen mit dem Trinken begonnen hatte? Vielleicht hatte ein Bier pro Abend irgendwann nicht mehr ausgereicht, um sich zu entspannen. Waren dann zwei oder drei daraus geworden?
„Wir müssen reden.“ Andys Tonfall war ruhig, doch seine Sachlichkeit fühlte sich unheilvoller an, als wenn er sie angeschrien hätte.
„Ja, das stimmt wohl“, sagte sie.
„So kann es nicht weitergehen“, meinte er. „Dass Tim mit Drogen erwischt wurde, ist nur die Spitze des Eisbergs. Bei uns läuft schon lange nichts mehr rund.“
Sie kniff die Augen zusammen. „Wie meinst du das?“
Er stieß ein freudloses Lachen aus. „Dass dir das vollkommen entgangen ist, ist mal wieder so typisch. Aber du bist ja auch nie zu Hause.“
„Das stimmt nicht“, erwiderte sie, doch schon während sie die Worte aussprach, wusste sie, dass er recht hatte. „Ich komme oft spät, aber dann bin ich zu Hause.“
„Körperlich anwesend zu sein ist das eine, in Gedanken bist du aber oft nicht da, und das spüren wir alle. Besonders aber die Kinder.“
„Ich …“ Sie wollte sich verteidigen, doch Andy hob die Hand.
„Ich bin noch nicht fertig. Olivia, ich liebe dich. Du weißt, dass ich zu dir stehen werde, egal, was auch kommen mag. Deshalb muss ich jetzt auch eingreifen. So kann es nicht weitergehen. Du entfernst dich immer mehr von uns. Ist dir das nicht aufgefallen?“
„Doch, schon“, sagte sie. „Mein Job …“
„Es ist nicht nur dein Job. Es ist auch dieser verdammte Fall, der dich einfach nicht mehr loslässt. Du bist vollkommen besessen davon!“
Sie hob den Blick. „Ich bin nicht besessen, ich habe einfach nur Zweifel.“
Er schüttelte den Kopf. „Wirf mal einen Blick in dein Arbeitszimmer. Das ist doch nicht mehr gesund. Bitte, ich versuche es noch einmal im Guten. Schmeiß das ganze Zeug weg. Lass uns einen Hobbyraum daraus machen oder was auch immer. Vergiss den Fall! Was ist wichtiger, die Kinder und ich oder ein geisteskranker Frauenmörder?“
Sie zögerte. Dass sie ihm nicht spontan darauf antworten konnte, erschreckte sie.
„Überleg es dir“, sagte Andy. „Ich rede jetzt mit Tim.“
Er erhob sich und ging die Treppe hinauf. Olivia griff nach dem Weinglas und nahm einen weiteren Schluck. Andys Worte hallten in ihrem leicht betäubten Kopf nach. War das eine Warnung gewesen? Hatte er ihr ein Ultimatum gestellt, so wie sie es heute bei Greg getan hatte? Was würde er tun, wenn sie seiner Bitte nicht nachkam? All diese Fragen stürmten durch ihren Kopf und versuchten, sie daran zu hindern, sich die eine Frage zu stellen, die wirklich zählte: Hatte er recht? Natürlich war ihre Familie wichtiger als der Fall, der sie nicht mehr losließ. Sogar unendlich viel wichtiger. Die Frage war absurd und doch …
Olivia erhob sich und ging auf die Tür auf der gegenüberliegenden Seite zu. Sie zögerte kurz, dann holte sie den Schlüsselbund aus ihrer Tasche, entriegelte das Schloss, drückte die Klinke hinunter und trat in ihr Arbeitszimmer. In der Mitte stand ein alter PC auf einem Tisch, der eingerahmt war von Umzugskartons, in denen kiloweise lose Akten gestapelt waren. Auch die deckenhohen Regale an den drei Seiten des Raumes waren mit Aktenordnern vollgestellt. Nur ein kleiner Fleck an der Wand neben dem Fenster war noch frei. Dort befand sich eine Tafel, auf die sie ins Din A4 Format vergrößerte Fotos von fünf grausam verstümmelten Frauenkörpern geheftet hatte, die der Grund dafür waren, dass sie das Arbeitszimmer stets abschloss, um ihren Kindern den Anblick zu ersparen, den sie selbst nur schwer ertrug.
Alle Bilder waren mit roten Fäden verbunden wie überdimensionale Insekten, die sich in einem Spinnennetz verfangen hatten. In der Mitte der Anordnung prangte eine Karteikarte, auf die Olivia in Großbuchstaben ein einziges Wort geschrieben hatte: ARAGORN.
Susanna klickte auf das Icon auf dem Desktop ihres MacBooks und gleich darauf öffnete sich die Präsentation, die sie in den Semesterferien vorbereitet hatte. Wenn die Kinder im Bett gewesen waren, hatte sie sich oft noch spätabends an ihren Computer gesetzt und diese Vorlesung erarbeitet. Die erste Folie zeigte ihren Namen Prof. Susanna Madueke, PHD und darunter den Titel der Veranstaltung: Einführung in die Neuropsychologie.
Sie drehte sich um und sah, dass das Titelbild wie geplant auf die große Leinwand im Audimax der Roehampton University projiziert wurde. Susanna atmete zuerst ein und dann langsam wieder aus, um ihren rasenden Puls nach unten zu regulieren. Es war ihr schon immer schwergefallen, vor Leuten zu sprechen, und wenn es irgendetwas gab, was sie an ihrem Job nicht mochte, dann waren es Vorlesungen. Sie wusste, dass sie gut darin war, komplexe Zusammenhänge zu vermitteln, aber sie konnte es nicht leiden, dabei jedes Mal das Gefühl zu haben, gleich sterben zu müssen.
Sie wandte sich den dreihundert Studierenden zu, die sie mehr oder weniger interessiert musterten. Nur ein Bruchteil von ihnen hatte Psychologie im Hauptfach belegt. Die meisten studierten ein verwandtes Fach und benötigten einfach nur einen Schein. Für sie war Susannas Einführung in die Neuropsychologie die zweite oder dritte Wahl gewesen, da die weitaus beliebteren Veranstaltungen zur Klinischen Psychologie chronisch überlaufen waren. Die wenigsten waren aus ehrlichem Interesse hier, und das erschwerte ihr die Aufgabe noch zusätzlich.
Während sie ihren Blick über die Sitzbankreihen schweifen ließ, fragte sich Susanna, ob sich der ganze Aufwand, den sie in diese Vorlesung gesteckt hatte, überhaupt lohnte. Denn in nicht einmal zwei Wochen würde ihre Professur gestrichen werden, wenn nicht noch ein Wunder geschah. Was würde dann aus dieser Veranstaltung werden? Würde sie das Semester noch ordentlich zu Ende bringen dürfen, oder würde man ihr einen schlecht bezahlten Honorarvertrag anbieten und sie bitten, die Vorlesung und ein paar Seminare auf Stundenbasis weiterzuführen?
Sie schob die Gedanken beiseite, räusperte sich und wandte sich dann an die Zuhörerschaft: „Guten Morgen. Schön, so viele von Ihnen hier begrüßen zu dürfen. Mein Name ist Susanna Madueke. Ich bin Professorin für klinische Neuropsychologie und ich werde Ihnen in diesem Semester einen Einblick in dieses – zumindest aus meiner Sicht – hoch spannende Forschungsgebiet gewähren.“
Ein blonder Student, dessen von einem Sonnenbrand gerötetes Gesicht darauf schließen ließ, dass er mehr Zeit draußen als in Lehrveranstaltungen verbrachte, fragte, wie man an einen Schein kommen konnte.
„Wir werden am Ende des Semesters eine Klausur schreiben“, sagte Susanna. „Die vertiefende Literatur werde ich Ihnen noch bekannt geben.“
Sie hörte das erwartete Murren. Über die Vorlesungsfolien hinaus weitere Artikel oder gar Bücher in den Prüfungsstoff aufzunehmen, war keine allzu populäre Maßnahme.
„Gut, dann fangen wir jetzt an. Beginnen möchte ich mit einer Frage an Sie: Wer von Ihnen glaubt, dass der Geist unabhängig vom Gehirn existieren kann?“
Wie erwartet schossen die meisten Hände nach oben.
„Prima“, sagte Susanna. „Das entspricht ziemlich genau den Resultaten einer Studie meiner Berliner Kollegen. Die sind zu dem Ergebnis gekommen, dass neunzig Prozent der von ihnen Befragten dem Dualismus zugeneigt sind. Weiß jemand von Ihnen, was sich hinter diesem Begriff verbirgt?“
Eine androgyne Gestalt mit blauen Haaren meldete sich.
„Dass Geist und Körper halt zwei getrennte Dinge sind, und dass es so etwas wie eine Seele gibt.“
Susanna nickte. „Dem ersten Teil Ihrer Ausführungen stimme ich zu, über den zweiten sollten Sie besser mit einer Theologin sprechen. Die Mehrheit von Ihnen hält dualistische Vorstellungen für plausibel. Ich möchte im Laufe dieser Vorlesung versuchen, Ihre Ansichten zu diesem Thema ins Wanken zu bringen.“
Sie klickte die nächste Folie an. Diese zeigte das Schwarz-Weiß-Bild eines Mannes, der Kleidung aus dem 19. Jahrhundert trug. In beiden Händen hielt er ein Gewehr. Sein Kopf sah deformiert aus, ein Auge war geschlossen.
„Das ist Phineas Gage“, erklärte Susanna. „Haben Sie bereits von ihm gehört?“
Eine Kaugummi kauende Studentin meldete sich.
„Ist das nicht der von In 80 Tagen um die Erde?“
Susanna lächelte. „Nein, das war Phineas Fogg, aber zeitlich liegen Sie richtig. Phineas Gage war ein Arbeiter bei der Eisenbahn, der durch einen tragischen Unfall berühmt wurde. Bei einer Explosion bohrte sich eine Eisenstange in seinen Schädel.“
Sie klickte weiter. Die nächste Folie zeigte eine Rekonstruktion der Verletzung. Eine rote Stange trat von unten her in die Augenhöhle ein und durch die Schädeldecke wieder aus. Im Auditorium wurde es unruhig. Manche Studenten lachten nervös, die Person mit den blauen Haaren sah weg. Susanna schluckte. Hoffentlich würde sich niemand später darüber beschweren, dass sie vor dieser Stelle auf eine Triggerwarnung verzichtet hatte.
„Phineas Gage verlor sein linkes Auge“, fuhr sie fort. „Die Metallstange bohrte sich außerdem in den orbito- und den präfrontalen Cortex, die Hirnareale, die direkt hinter seiner Stirn lagen. Haben Sie eine Idee, zu welchen Beeinträchtigungen das geführt haben könnte?“
Mehrere Arme zuckten nach oben.
„Gedächtnisstörungen?“, mutmaßte ein Student in einem altmodischen Tweed-Anzug.
Susanna schüttelte den Kopf und rief seine Nachbarin auf, deren Gesicht von einem pinken Kopftuch eingerahmt wurde.
„Vielleicht Einschränkungen der Bewegungen? Lähmungen oder so etwas in der Art?“
Susanna schüttelte wieder den Kopf.
„Sprachstörungen?“, bot eine Dritte an.
Erneut verneinte Susanna.
„Gar keine Beeinträchtigungen?“
Der Vorschlag der blauhaarigen Person löste allgemeine Heiterkeit aus. Susanna lachte kurz mit, dann schüttelte sie erneut den Kopf.
„Leider nicht. Die sogenannten kognitiven Fähigkeiten wie Sprache, Gedächtnis, Konzentrationsleistung oder auch die Bewegungssteuerung waren bei Phineas Gage vollständig erhalten. In der Zeit nach dem Unfall fiel jedoch auf, dass sich seine Persönlichkeit immer mehr veränderte. War er zuvor ein ruhiger, ausgeglichener Mann gewesen, wurde er nun zunehmend impulsiv, wütend und unberechenbar. Es gibt Berichte darüber, dass Frauen empfohlen wurde, sich von ihm fernzuhalten, da man damit rechnen müsste, dass er ohne Vorwarnung gewalttätig wurde.“
Ein Student meldete sich und fragte: „Vielleicht hatte er starke Schmerzen?“
Susanna nickte. „Das ist möglich. Aber selbst eine anhaltend hohe Schmerzintensität erklärt diese Verhaltensänderungen nicht. Wie wir sehen werden, sind nicht nur kognitive Funktionen, sondern auch der Kern unseres Wesens, unsere Persönlichkeit darauf angewiesen, dass das Gehirn einwandfrei funktioniert.“
Sie klickte die nächste Folie an. „Mit Phineas Gage begann das Studium der Gehirnschädigungen, das uns viel darüber verraten hat, wie Biologie, Erleben und Verhalten zusammenhängen. Das ist das Fachgebiet der Neuropsychologie.“
Die restliche Stunde verflog so rasch, dass Susanna vollkommen aus dem Konzept geriet, als plötzlich der Gong ertönte. Sie kam gerade noch dazu, den bereits ihre Sachen packenden und sich geräuschvoll erhebenden Studierenden als Hausaufgabe einen Abschnitt aus dem Lehrbuch mitzugeben, ehe ihre Worte durch den Lärm des allgemeinen Aufbruchs komplett erstickt wurden.
Sie stellte sich hinter ihren PC und schloss die Präsentation. Das Adrenalin, das seit eineinhalb Stunden durch ihren Körper geflutet war, versiegte nun langsam. Ihr Herzschlag beruhigte sich und ein Gefühl der Schwere machte sich in ihr breit. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, gleichzeitig aber auch zufrieden. Die erste Vorlesung war geschafft.
In diesem Moment hörte sie ein Klatschen. Sie blickte auf und sah einen Mann auf sie zukommen, der ihr applaudierte. Susanna kniff ihre Augen zusammen und sah genauer hin. Sie kannte das von einem feuerroten Haarschopf gekrönte, bleiche Gesicht nur zu gut.
„Eddie?“
Er antwortete mit einem breiten Grinsen, das seine ungewöhnlich weißen Zahnreihen zur Geltung brachte.
„Sanna“, rief er und breitete die Arme aus. Sie überlegte kurz, ob sie sich auf die Umarmung einlassen sollte, streckte ihm dann aber die Faust entgegen.
„Habe ich mir während der Corona-Zeit angewöhnt“, sagte sie. „Sauber, klasse Vorlesung“, erwiderte er. „Endlich habe ich das mit dem Leib-Seele-Problem verstanden.“
Sie sah ihn schief an. „Dann hast du mir was voraus, denn ich habe bis heute keine klare Meinung dazu. Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?“
„Ich bin für ein paar Tage in London und habe einfach mal gegoogelt, wer von der alten Gang noch in der Gegend ist. Das allwissende Datenorakel hat mir verraten, dass du hier Professorin bist. Da konnte ich nicht widerstehen, einmal Mäuschen zu spielen. Du hast eine ganz schöne Karriere hingelegt.“
„Wie hat es dir gefallen? Das Mäuschen spielen?“
Sie stöpselte den Laptop ab und verstaute ihn in ihrer Tasche.
„Du hast ein Talent für die Lehre. Aber das hattest du immer schon. Deine Referate waren stets die klarsten und einprägsamsten.“
„Danke. Ich gebe mir auch Mühe.“
Sie hörte nur mit halbem Ohr hin, denn in Gedanken war sie schon auf dem Weg zur U-Bahn. Sie durfte nicht zu spät nach Hause kommen, wenn sie ihren Kindern noch einen Gutenachtkuss geben wollte. Den hatte sie, nebenbei bemerkt, heute genauso nötig wie Ella und Dan.
„Wie läuft es sonst so bei dir?“, fragte Eddie.
Sie zuckte mit den Achseln und schulterte ihre Laptoptasche.
„Geschieden, zwei Kinder. Wie das Leben halt so spielt, und bei dir?“
„Geschieden ohne Kinder. Das macht es wesentlich einfacher.“
Sie sah ihn an. Er grinste.
„Ich möchte meine Kinder nicht missen“, sagte sie und setzte sich in Bewegung. Er hob die Hände und folgte ihr.
„Das war jetzt auch nicht als Kritik gemeint.“
Eddie hielt ihr die Tür auf.
„Wollen wir mal etwas trinken gehen?“, fragte er nun.
Sie hielt inne und legte ihren Kopf schief. „Was willst du von mir Eddie?“
Auf seiner Stirn erschienen Falten. „Wie meinst du das?“, fragte er gespielt ahnungslos.
„Nun, ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du zu unserer gemeinsamen Studienzeit warst. Verzeih mir die Offenheit, aber damals hat immer alles, was du getan hast, einem Zweck gedient. Deinem Zweck. Ich kann mir daher schwer vorstellen, dass dich aus heiterem Himmel die Lust überkommen hat, meinen Namen zu googeln, meine Vorlesung zu besuchen und mich auf einen Drink einzuladen … und das ohne jeden Hintergedanken.“
Er sog an seiner Unterlippe und Susanna erkannte, dass sie einen Treffer gelandet hatte. „Nun“, sagte er und druckste herum. „Ich habe da tatsächlich ein Anliegen.“
„Na also, sag‘s doch gleich. Das spart uns beiden Zeit und Nerven. Schieß los, worum geht es?“
„Um meinen Großvater. Er hatte vor ein paar Wochen einen schweren Schlaganfall. Vielleicht hast du davon gehört, es war in allen Zeitungen, denn er hat einen Sitz im House of Lords. Hatte, muss man jetzt wohl sagen.“
„Das tut mir sehr leid“, sagte Susanna.
Eddie schloss die Augen und einen Moment lang sah es so aus, als ob er mit den Tränen kämpfen würde. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper und er schüttelte sich.
„Ich … ich hatte keine Gelegenheit mehr, mich von ihm zu verabschieden. Ich wollte ihm noch so viel sagen“, flüsterte er.
„Ist er denn bewusstlos? Liegt er im Koma?“, fragte Susanna, zu deren Mitgefühl sich nun Interesse hinzugesellte.
„So etwas Ähnliches. Sie nennen es Locked-in-Syndrom.“
„Ah, daher weht der Wind. Du hast gehört, dass das mein Spezialgebiet ist.“
Er nickte. „Ja, und ich hatte gehofft, dass du mir helfen könntest. Ich möchte noch einmal mit ihm sprechen.“
Susanna sah ihn aufmerksam an. Er wirkte traurig, geknickt und überhaupt nicht mehr so großspurig wie früher. Daher tat es ihr leid, seine Bitte ablehnen zu müssen.
„Ich kann dir leider nicht helfen. Mit einem LIS-Patienten Kontakt aufzunehmen ist ein äußerst aufwendiger Prozess. Das Ganze ist materialintensiv und kann sehr lange dauern. Mir fehlt momentan leider die Zeit dafür.“
Er seufzte. „Das hatte ich schon befürchtet. Kann man denn da gar nichts machen? Der alten Zeiten wegen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid.“
Eddie streckte ihr eine elfenbeinfarbene Visitenkarte entgegen. „Okay, trotzdem danke. Falls du es dir doch noch anders überlegen solltest, ruf mich einfach an.“
Olivia legte die Fingerspitzen aneinander und führte die Seiten der Zeigefinger an den Mund. Sie atmete tief durch und betrachtete dann ihren Terminkalender. Der Vormittag war mit einem roten Block gefüllt, in dem mit fetten Buchstaben das Wort Quartalsplanung geschrieben stand. Sie seufzte.
Aber es half nichts. Als sie sich entschieden hatte, die Leitung der Station in Wandsworth zu übernehmen, war ihr klar gewesen, dass sie sich nicht nur die Rosinen herauspicken können würde. Sie musste sich auch mit Angelegenheiten abgeben, gegen die sich jede Faser ihres Seins sträubte, und dazu gehörte ganz besonders die vierteljährliche Budgetplanung.
Sie öffnete das Dokument aus dem letzten Quartal. Dann griff sie nach ihrer Tasse, ging nach nebenan in das Großraumbüro und goss sich frisch gebrühten Kaffee ein. Sie nahm einen kräftigen Schluck und kehrte an ihren Schreibtisch zurück. Nun fehlte nur noch eines, damit sie beginnen konnte. Sie schaltete den Empfänger neben ihrem Desktop-PC ein und kurz darauf erfüllte das statische Brummen der Polizeifunkwelle den gesamten Raum.
Dieses Geräusch beruhigte sie aus irgendeinem Grund. Es war Musik in ihren Ohren. Ihre Kollegen hatten nicht nur einmal Scherze über Olivias Vorliebe für Radio Scotland Yard gerissen, aber das war ihr gleichgültig. Sie war gerne auf dem Laufenden, was draußen auf den Straßen Londons passierte. Dadurch konnte sie notfalls rasch reagieren, wenn Beamte auf Streife in gefährliche Situationen gerieten.
Sie nahm noch einmal einen Schluck und begann dann damit, komplette Blöcke aus der Planung des letzten Quartals in das aktuelle Dokument hineinzukopieren. Warum sollte sie sich die Mühe des Formulierens jedes Mal aufs Neue machen? Ein Kollege des angrenzenden Bezirks Fulham meldete, dass in einem Supermarkt ein Einbrecher erwischt worden war und dass er sich nun daran machen würde, die Personalien aufzunehmen.
Olivia kopierte den Stellenschlüssel in das Dokument. Sie hoffte, dass er immer noch Bestand haben würde. Entgegen der Versprechungen der Regierung hatte der Brexit nicht zu paradiesischen Zuständen geführt. Ganz im Gegenteil, das Geld schien sogar noch knapper zu sein und im Schatten der Streichungen im Gesundheitswesen mussten nun auch andere öffentliche Stellen Einbußen hinnehmen.
Der Funkapparat knisterte und knackte. Dann war die Stimme eines Kollegen zu hören. Sie klang aufgeregt. „Passant meldet Leichenfund in Chelsea. Michael Road 19. Wir sind unterwegs.“
Olivia ging im Kopf die Karte von London durch. Das war auf der anderen Seite der Themse. Also nicht ihr Revier. Was die Beamten wohl vorfinden würden? Sie war selbst schon viel zu oft mit ähnlichen Situationen konfrontiert worden, und jedes Mal hatte sie mit den furchtbaren Bildern und den oft noch quälenderen Geruchsempfindungen an den Tatorten ringen müssen.
Sie wandte sich wieder dem Dokument zu und änderte zwei Details im Stellenplan, die sich dadurch ergeben hatten, dass eine Kollegin sich inzwischen in Elternzeit befand und eine andere deswegen aufgestockt hatte. Plötzlich knackte der Lautsprecher und die Stimme des Polizisten, der eben den Leichenfund gemeldet hatte, erklang erneut. Er schien mit den Worten zu kämpfen, die nun zitternd und abgehackt aus dem Gerät drangen.
„Es ist … bitte schicken Sie den Erkennungsdienst … und am besten gleich auch noch ein Mordermittlungsteam. Bei der Toten handelt es sich um eine junge Frau. Zahlreiche Stichverletzungen im Brustkorb. Die Bauchhöhle wurde geöffnet. Neben dem Körper liegt … liegt ein Organ. Ich glaube, es ist die Leber …“
Es knackte und dann war nur noch Rauschen zu hören. Wahrscheinlich war der Kollege hinter einem Busch verschwunden, um sich zu erbrechen. Der Gedanke wich einer Reihe von Erinnerungsbildern, die Olivia nur zu gut kannte. Verstümmelte Leichen … Frauen jüngeren Alters … auf dem Rücken liegend, die Kehlen durchgeschnitten, Dutzende Einstichkrater in den Brustkörben, die Bauchhöhlen geöffnet, Organe neben den Leichnamen.
„Armstrong“, murmelte sie. Eine Gänsehaut überzog schlagartig ihren gesamten Körper. War nun das eingetreten, was sie all die Jahre über befürchtet hatte? Wie in Trance speicherte sie das Dokument, erhob sich, nahm ihre Jacke und trat ins Großraumbüro.
„Ich muss kurz weg“, sagte sie zu Omar, der sie irritiert anstarrte.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er. „Sie sehen aus, als ob Sie einen Geist erblickt hätten.“
Olivia nickte. „Ich fürchte, das habe ich auch. Bis später.“
„Soll ich Sie begleiten?“
Sie schüttelte nur den Kopf und eilte hinaus auf den Mitarbeiterparkplatz. Mit quietschenden Reifen bog sie auf die Straße ein und bewegte den Nissan mit raschen, intuitiven Spurwechseln durch den Vormittagsverkehr. Sie musste vor den Kollegen der Mordkommission eintreffen, denn diese würden sie garantiert nicht vorlassen. Der Streifenpolizist hingegen, der mit bleichem Gesicht und schweißbedeckter Stirn am Tatort ausharrte, würde sie bestimmt nicht daran hindern, sich ein Bild der Lage zu machen. Sie war nämlich im Rang über ihm.
Es dauerte nur zehn Minuten, bis sie die Michaels Road erreicht hatte. Schon von Weitem sah sie, dass sich eine Menschenansammlung gebildet hatte. Sie parkte am Straßenrand, stieg aus und zückte ihren Dienstausweis. Die Menschentraube blockierte den Eingang zu einer Seitengasse. Ein einzelner Polizist harrte an einem schwarz-gelben Absperrband aus und versuchte, den Schaulustigen den Blick auf das Grauen zu versperren, das sich hinter ihm auf dem feuchten Asphalt befinden musste.
Olivia schob sich durch die Menge hindurch, setzte die Ellenbogen ein und hielt jedem, der murrte, ihren Ausweis unter die Nase. Als sie endlich vor dem Kollegen stand, sagte sie: „CI Jenner. Ich war gerade in der Gegend und dachte, Sie könnten Unterstützung brauchen.“
Auf dem grünlichen Gesicht des Bobbies machte sich ein Hauch von Erleichterung breit.
„Das ist sehr nett von Ihnen“, sagte er und flüsternd fuhr er fort: „Ich habe noch nie so etwas Furchtbares gesehen. Meine Kollegin ist gerade bei der Leiche.“
Er hob das Absperrband an und Olivia schlüpfte darunter hindurch. Sie ging etwa zwanzig Meter in die Gasse hinein. Mit jedem Schritt konnte sie die Szenerie deutlicher erfassen und was sie sah, ließ einen kalten Schauer über ihren Körper strömen. Die Leiche der jungen Frau lag rücklings auf dem Boden. Ihr Oberkörper war nackt, die Arme weit ausgebreitet. Die Beine waren leicht gespreizt, die Jeans und der Slip waren bis zu den Knien heruntergezogen. Die Bauchdecke der Toten war geöffnet und ein handtellergroßer Hautlappen war zur Seite geklappt worden. Neben ihrer rechten Schulter lag ein blutiger Klumpen, in dem der Kollege zurecht die Leber erkannt hatte. Als Olivia näherkam, sah sie, dass der Oberkörper von mehreren Dutzend Stichwunden übersäht war. Das Gesicht der Frau war verzerrt und ihre Augen weit aufgerissen. Olivia stutzte. Die Kehle war unversehrt.
„Wer sind Sie?“, hörte sie nun eine Frauenstimme fragen.
Erst jetzt sah sie, dass eine Polizistin an der Wand auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse lehnte.
Olivia zeigte der jungen Kollegin ihren Ausweis und deren Augen weiteten sich.
„Sie sind die, die den Putney-Slasher geschnappt hat?“
Olivia nickte. „Ja, ich war daran beteiligt“, sagte sie. „Von wem wurde die Leiche gefunden?“
„Ein LKW-Fahrer wollte gegen acht Uhr Paletten aus der Wäscherei hier abholen.“
Sie zeigte auf ein Gebäude, an dessen Rückseite eine Rampe zu sehen war, auf der mehrere Behälter standen, die mit weißen Wäschestücken gefüllt waren.
„Er hat etwas im Rückspiegel gesehen und als erkannt hat, worum es sich handelte, hat er sofort den Notruf gewählt.“
Olivia nickte. „Und es wurde nichts verändert?“
„Ich habe nichts angefasst“, sagte die Kollegin.
„Was ist hier los?“
Olivia hatte niemanden kommen hören. Sie drehte sich um. Vor ihr stand ein großer, schlaksiger Mann. Er war in Zivil gekleidet und trug einen teuer aussehenden Trenchcoat über einem noch teurer aussehenden Zweireiher.
„Marcus“, sagte Olivia.
„Olivia“, erwiderte Marcus Harrison, Leiter der Mordsonderkommission der Metropolitan Police. Er schüttelte ihr die Hand.
„Lange nicht mehr gesehen. Was hat dich denn hierher verschlagen?“
„Ich war gerade in der Gegend und habe den Notruf gehört. Ich dachte, ich könnte vielleicht helfen.“
„Das ist nett von dir. Die junge Kollegin kann bestimmt ein wenig Zuspruch gebrauchen.“
Er rieb sich über die Wange und betrachtete die Leiche.
„Oh je, das ist ja ein Schlachtfest.“
„Das sieht genauso aus wie damals …“, sagte Olivia leise. „… beim Slasher Fall.“
Marcus kniff die Augen zusammen. Dann schüttelte er den Kopf.
„Die Kehle wurde nicht verletzt. Das war doch Armstrongs Spezialität.“
Olivia hörte plötzlich Schritte hinter sich. Sie wandte sich um und sah sich vier weiteren Beamten gegenüber. Die große Rothaarige hatte sie noch nie zuvor gesehen, die musste neu im Team sein. Die drei Männer kannte sie hingegen gut, denn sie hatte fünf Jahre lang mit ihnen und Marcus zusammengearbeitet. Der eine war Harry Edgecombe. Sein Bauchumfang hatte noch weiter zugenommen, dafür waren ihm mittlerweile alle Haare ausgefallen. Er lächelte Olivia zu. Basil Rutherford, der missgelaunte Schweiger in seinem schlecht sitzenden Anzug bedachte sie hingegen nur mit der Andeutung eines Nickens. Und Frank Calvin, klein und drahtig und hibbelig wie immer, funkelte sie aus seinen Wieselaugen an, während er seine Hände knetete.
„Was machst du denn hier?“, fragte er verwirrt.
„Ich freue mich auch, dich mal wieder zu treffen, Frank“, sagte Olivia. „Ich war gerade zufällig in der Gegend und dachte, ich könnte die Kollegen vor Ort unterstützen, bis ihr eintrefft.“
„Wie nobel“, sagte Calvin. „Dann kannst du den Fall ja jetzt den Profis überlassen. Du hast doch garantiert irgendetwas Spannendes zu tun auf deinem Revier in Putney oder Clapham oder wo immer du jetzt auch bist.“
„Wandsworth“, sagte sie, machte aber keine Anstalten, zu gehen.
„Marcus, ich meine es ernst“, sagte sie. „Die Parallelen zum Slasher-Fall sind doch augenscheinlich.“
Harrison seufzte. „Lass uns erst einmal die Ergebnisse der kriminaltechnischen Analysen und der Obduktion abwarten. Dann werden wir ja sehen, ob diese scheinbar augenfälligen Parallelen tatsächlich Bestand haben. Aber selbst, wenn es Ähnlichkeiten zu den Morden damals geben sollte … Armstrong kann es nicht gewesen sein.“
„Ja, das ist sicher“, murmelte Olivia. Sie nickte Marcus, Harry, Basil und der Rothaarigen zu und ging durch die weiter anschwellende Menge der Schaulustigen davon.
Seine Fingerspitzen kribbelten noch immer. Das musste der letzte Rest des Adrenalins sein. Er schloss die Augen und projizierte die Bilder in sein Kopfkino.