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In Biberach ist nichts mehr, wie es scheint. Bei einem Fotoshooting in Laupheim treibt eine junge Frau im Meerjungfrauenkostüm tot im Wasser. Als kurz darauf auch der herbeigerufene Notarzt ermordet wird, erkennt Kommissar Wellmann, dass er es mit einem hochkomplexen Fall zu tun hat. Die Ermittlungen führen zu einer Gruppe von Aktivisten, die einem Umweltskandal auf der Spur sind. Doch die Hintermänner kennen keine Skrupel, und bald ist nicht nur Wellmanns Leben, sondern auch das seiner Familie in Gefahr.
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Seitenzahl: 389
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Matthias Ernst wurde 1980 in Ulm/Donau geboren. Nach dem Studium der Psychologie arbeitete er in mehreren psychiatrischen Kliniken in Oberschwaben. In seinen Kriminalromanen verbindet er seine beiden größten Leidenschaften miteinander: die Psychologie und das Schreiben.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Carmen Hauser
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-028-0
Schwaben Krimi
Originalausgabe
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’s leit a Klötzle Blei glei bei Blaubeura,glei bei Blaubeura leit a Klötzle Blei.
Eduard Mörike, »Die Historie von der schönen Lau«
»Papa, beeil dich!«
Lisa Wellmann zerrte an der Hand ihres Vaters, der leise stöhnend sein Tempo erhöhte.
»Wir werden schon nicht zu spät kommen«, sagte er.
Lisa rollte mit den Augen. Er kapierte es einfach nicht. Als ob es nur darum ginge, pünktlich zu sein. Seit Monaten hatte sie sich auf diesen Moment gefreut, darauf hingefiebert, voller Ungeduld die Tage in ihrem Kalender durchgestrichen. Und nun, da sie noch ein paar Minuten von der Erfüllung ihres lang gehegten Traumes trennten, war es wohl nicht zu viel verlangt, dass Papa sich ein wenig beeilte.
Immerhin mussten sie Opa und ihren kleinen Bruder Dominik nicht mitschleppen, die hatten sich an der Kasse des Laupheimer Parkbads verabschiedet und waren in Richtung Liegewiese abgezogen. Lisa war das recht. Sosehr sie Dominik mochte, er konnte manchmal ganz schön nervig sein. Und heute wollte sie sich das nicht antun. Es reichte, dass ihr Vater sie begleitete. Hoffentlich war er nicht so peinlich wie sonst immer.
»Ich zieh mich dann mal um«, sagte sie und verschwand in der Umkleidekabine.
Mit zitternden Händen zog sie sich das T-Shirt über den Kopf. Den blaugrünen Bikini mit den Seepferdchen und den goldenen Korallen hatte sie zu Weihnachten bekommen. Und heute durfte sie ihn zum ersten Mal tragen.
Lisa stopfte ihre Straßenklamotten in den Rucksack und trat aus der Kabine. Vor sich sah sie eine lange Reihe von Spinden. Sie packte ihre Sachen in eine der Boxen, schloss die Tür und zog den an einem Stoffarmband hängenden Schlüssel ab.
»Lass mich in Ruhe!«, hörte sie eine Frauenstimme hinter sich rufen.
Lisa drehte sich um und erstarrte. Auch ohne Fischflosse hätte sie ihr Idol sofort erkannt. Es war Sylvia Mayr, die unter dem Pseudonym @DieSchoeneLau ihre über zweihunderttausend Follower auf Instagram jeden Tag mit traumhaften Meerjungfrauenfotos beglückte. In der einen Hand hielt sie einen Thermosbecher. Mit der anderen zeigte sie einem Mann den Stinkefinger. Der Kerl trug ein AC/DC-T-Shirt, auf seinem Kopf saß eine windschiefe Schirmmütze. Er hob die Hände zu einer flehenden Geste und sah Sylvia mit weit aufgerissenen Augen an.
Ehe Lisa sich aus ihrer Erstarrung lösen konnte, war ihr Idol an ihr vorbeigerauscht. Der Typ ließ die Arme sinken und den Kopf hängen. Dann schlug er mit der Faust gegen eine Kabinenwand, dass es schepperte. Lisa zuckte zusammen. Was war denn das für ein Aggro? Rasch schlüpfte sie in ihre Flipflops und eilte zur Dusche.
Vor dem Nichtschwimmerbecken traf sie ihren Vater wieder. Er hatte sich nicht umgezogen, stand da, die Hände in den Taschen seiner Shorts vergraben. Sie spürte, wie ihre Wangen sich vor Scham röteten. Warum hatte er ausgerechnet das grellbunte Hawaiihemd anziehen müssen? Hoffentlich blieb er so weit im Hintergrund, dass keines der anderen Mädchen mitbekam, dass er zu ihr gehörte.
»Na, aufgeregt?«, fragte er und ging neben ihr her, als sie sich auf den Weg zum Schwimmerbecken machte.
Sie nickte nur, denn ein großer Frosch schnürte ihr den Hals zu. Zwei Jungs stürmten an ihr vorbei und rannten sie dabei beinahe über den Haufen.
»Das sind meine zehn Euro!«, rief der eine.
»Nein«, entgegnete der andere, der einen Geldschein in der Hand hatte. »Die gehören uns beiden.«
Die Jungs liefen in Richtung Café davon, wahrscheinlich würden sie das Geld in Süßigkeiten anlegen. Schon bei dem Gedanken daran krampfte sich Lisas Magen zusammen.
Als sie um die Ecke bogen, blieb ihr fast das Herz stehen. Waren das viele Mädchen! Mindestens dreißig. Der Fotograf hatte seine Sachen am anderen Ende der Halle aufgebaut. An zwei aus dem Wasser ragenden Stangen waren runde Dinger festgeschraubt, die aussahen wie Lampen. Die hintere Wand des Beckens war mit weißem Stoff verhängt. Auf dem Boden daneben lagen sechs oder sieben Monoflossen. An einem Kleiderständer hingen blaugrüne Spandex-Fischhäute. Dahinter standen zwei Tische, auf denen große, aufrechte Spiegel angebracht waren. Ob das der Arbeitsplatz der Stylistinnen war?
Sie sah einen Berg von Tüchern in allen Farben des Regenbogens. Eines der Mädchen hielt eine Kugel, die bunt schimmerte. Es ging zu wie in einem Bienenstock. Lisa blieb kurz stehen.
»Alles okay?«, fragte Papa und drückte ihre Hand.
»Alles gut«, sagte sie und entzog sich ihm. »Ich geh mal zu den anderen. Bis später.«
Aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass er ihr nicht mehr folgte. Er hatte ihren Wink mit dem Zaunpfahl also verstanden.
Scheu ging sie zu den übrigen Teilnehmerinnen, die die Accessoires für das Shooting begutachteten.
»Das dunkelgrüne Tuch und die Haut mit den silbernen Schuppen machen sich gut zusammen«, sagte ein Mädchen mit Kennermiene.
Ihre Nachbarin schüttelte den Kopf: »Nie im Leben. Das rote passt viel besser.«
Da erblickte sie Sylvia Mayr wieder. Sie nahm gerade einen tiefen Schluck aus ihrem Kaffeebecher, verzog das Gesicht und stellte ihn auf einer der Bänke am Fenster ab. Dann trat sie zu einem besonders prächtigen Fischschwanz, auf dem die glitzernden und funkelnden Schuppen plastisch hervortraten. Der war sicher aus Silikon oder Latex gefertigt. Sie rieb sich die Oberschenkel mit einem weißen Zeug ein. Ob das Kokosnussöl war? Lisa hatte gelesen, dass man damit besser in Profischwänze hineinkam. Sylvia Mayr setzte sich auf den Boden und schlüpfte in den Schwanz. Ein Typ in einem Neoprenanzug eilte zu ihr, griff unter ihre Achseln und Knie, hob sie hoch und trug sie zum Beckenrand.
Inzwischen waren alle Augen auf den Star der Veranstaltung gerichtet. Es gab hier wohl kein Mädchen, das nicht ein glühender Fan von ihr gewesen wäre. Sylvia glitt mit einer eleganten Bewegung ins Becken. Das Publikum applaudierte. Auch Lisa stimmte begeistert mit ein.
»So, jetzt mal alle zu mir herschauen!«, rief der Mann in dem Neoprenanzug. »Ich bin euer Fotograf. Und bevor wir mit dem Styling und der Mermaid-Schule anfangen, machen wir erst noch ein Gruppenfoto. Stellt euch mal alle neben das Fenster da drüben!«
Die Mädchen liefen gackernd durcheinander. Lisa versuchte, sich eher am Rand zu platzieren. Sie ließ den Blick noch einmal über das Becken schweifen. Sylvia Mayrs Schwanzflosse tauchte auf und verschwand wieder in den sich kräuselnden Wellen.
»Hierherschauen!«, hörte sie den Fotografen sagen. Sie wandte sich ihm zu. Es dauerte einige Minuten, bis er alle Teilnehmerinnen so aufgestellt hatte, wie es ihm passte. Er begann, komische Witzchen zu reißen und Fotos zu schießen. Lisa rollte mit den Augen, als er die Mädchen zum fünften Mal dazu aufforderte, laut »Ameisenscheiße« zu rufen. Das hasste sie schon bei den jährlichen Klassenfototerminen.
Als der Fotograf auf das Display seiner Kamera schaute, nutzte sie den Moment, um noch einmal nach Sylvia Mayr zu suchen. Da war sie. Mitten im Becken. Sie bewegte sich nicht. Lag still da, das Gesicht dem Boden zugewandt, sodass man nur ihren Rücken sehen konnte. Ihre hüftlangen Haare fächerten sich um ihren Kopf herum im Wasser auf wie ein goldener Algenteppich. Ein schönes Bild. Und doch auch irgendwie gruselig.
Lisa hoffte, dass Sylvia sich gleich wieder bewegen würde. Dass sie eine Runde im Becken drehen und danach endlich mit den Coachings beginnen würde. Doch das geschah nicht. Die Meerjungfrau lag weiter reglos im Wasser.
Wie lange sie die Luft anhalten konnte! Wow. Lisa zählte mit. Der Fotograf war weiterhin mit seiner Kamera beschäftigt. Zehn Sekunden. Zwanzig. Dreißig. Noch immer keine Bewegung. Da stimmte etwas nicht. Lisa hob den Arm, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen. Doch der schaute nicht zu ihr.
»Hallo!«, rief sie. Inzwischen war sie bei vierzig Sekunden angekommen.
Der Fotograf sah auf und suchte irritiert nach der Stimme.
»Was ist los?«, fragte er, als er sie entdeckt hatte.
»Sylvia Mayr«, sagte Lisa. »Sie bewegt sich nicht.«
Er lachte.
»Das ist die hohe Kunst, im Wasser zu schweben. Aber keine Sorge.«
Er drehte sich um.
»Sylvia!«
Die Meerjungfrau regte sich nicht.
»Sylvia!«, rief er noch einmal.
Der Körper trieb still im Wasser dahin.
»Verdammt!«, knurrte der Mann. Nun schien auch den anderen Mädchen aufzugehen, dass etwas nicht stimmte. Ein summendes Getuschel hob an. Der Fotograf legte seine Kamera auf den Boden und sprang ins Becken. Nach wenigen Schwimmzügen hatte er Sylvia erreicht. Er drehte sie auf den Rücken. Ihre Augen waren weit aufgerissen und doch leer. Die Lippen blau, das Gesicht bleich. Und Lisa begann zu schreien.
»Komm schon!«
Wellmann drückte mit ineinander verschränkten Händen auf das Brustbein der jungen Frau. In seinem Kopf sang er sich die Melodie von »Stayin’ Alive« vor, so wie es der Kollege in der letzten Erste-Hilfe-Fortbildung empfohlen hatte. Im Rhythmus des alten Hits der Bee Gees fuhr er dreißigmal mit der Herzmassage fort, ehe er innehielt und zwei Atemzüge in den Mund von Sylvia Mayr blies.
Ihre Lippen waren kalt, und die offenen Augen starrten leer an die Decke der Halle. Doch Wellmann gab nicht auf. Er legte erneut seine Hände auf den Brustkorb und presste. Es knirschte und knackte, und der Kommissar hielt einen Moment inne.
»Egal«, rief der Fotograf, der neben ihm kniete. »Wenn sie wieder zu sich kommt, wird sie ein oder zwei gebrochene Rippen verschmerzen können.«
Wellmann setzte erneut mit der Reanimation ein, vollkommen in seine Aufgabe versunken. Der Schweiß lief ihm über die Stirn, tropfte auf den Bauch der reglosen Gestalt.
»Der Notarzt kommt gleich«, hörte er den Bademeister sagen.
Die dreißig Wiederholungen waren vorüber, und er setzte erneut zu zwei Atemspenden an.
»Wollen wir uns abwechseln?«, fragte der Fotograf.
Etwas in Wellmann sträubte sich dagegen, sich von dem Körper der jungen Frau zu lösen. Er wollte weitermachen, so lange pressen und beatmen, bis sie wieder aufwachte.
Doch dann erinnerte er sich an die Empfehlungen aus dem Erste-Hilfe-Kurs. Es war besser, sich abzuwechseln, denn sie wussten nicht, wie weit ihre Kräfte noch reichen würden. Wellmann zog sich zurück und ließ den Fotografen fortfahren, der sich neben Sylvia Mayrs Kopf kniete, ihr die Nase zuhielt und seinen Mund über ihre Lippen legte.
Der Kommissar schaute sich um. Überall standen Grüppchen von schlohweißen Mädchen. Manche weinten, andere schauten den drei Männern zu, die um das Leben ihres Idols kämpften, einige wurden bereits von ihren Eltern hinausgeführt.
Sein Blick suchte Lisa. Er fand sie auf einer Bank sitzend, das Gesicht in den Händen vergraben.
»Ich muss kurz zu meiner Tochter«, sagte er zu dem Bademeister. Er würde die nächste Reanimationsrunde übernehmen, was dem Kommissar ein paar Minuten verschaffte, um sich um Lisa zu kümmern.
Wellmann eilte zu ihr, setzte sich neben sie und legte ihr vorsichtig den Arm um die Schultern. Sie zuckte zusammen und blickte auf.
»Ist sie … tot?«, fragte sie mit bebenden Lippen.
»Wir geben unser Bestes, um sie am Leben zu halten«, sagte er. »Der Notarzt muss jeden Moment eintreffen.«
»Es ist so furchtbar!« Lisa vergrub das Gesicht in den Händen.
Der Kommissar sah zu der leblosen Gestalt, die wenige Meter entfernt auf dem Boden lag. Sie trug noch den Fischschwanz, ihre Haare waren unter ihrem Kopf aufgefächert. Ein grausiges Bild.
»Ich muss wieder helfen«, sagte er. »Gehst du bitte raus zu Opa und Dominik? Ich komme nach.«
»Okay«, flüsterte sie. Ihre Knie schlotterten, als sie sich langsam in Richtung Außenbereich entfernte. Wie jung sie war. Und wie verletzlich.
Wellmann gesellte sich wieder zu den beiden Männern, die um das Leben von Sylvia Mayr kämpften. Er bat den Bademeister, die übrigen Mädchen vom Ort des Geschehens wegzuführen. Als er sich neben den Fotografen kniete, bemerkte er einen weiß gekleideten Mann mit einer Arzttasche, der auf sie zuspurtete. Es war Dr. Kugelmann, ein Allgemeinmediziner aus Ummendorf, mit dem Wellmann schon häufiger zu tun gehabt hatte.
Der Kommissar machte dem Arzt Platz und beschrieb in aller Kürze, was geschehen war, während der Fotograf unbeirrt mit der Reanimation fortfuhr. Dr. Kugelmann drückte zwei Finger seiner rechten Hand in den Hals der Frau, um den Puls zu fühlen. Fluchend griff er in seine Arzttasche und holte ein Gerät heraus, in dem Wellmann einen Defibrillator erkannte. Mit geübten Handgriffen brachte der Arzt die Elektroden an und schaltete den Apparat ein. Auf dem Display erschien eine durchgehende flache Linie.
Er schüttelte den Kopf. »Die Frau ist tot.«
Wellmanns Mund wurde staubtrocken. Das konnte doch nicht sein. Offenbar bemerkte der Arzt seine Bestürzung, denn er sagte: »Sie haben alles getan, was möglich war. Ich habe gesehen, wie Sie sie reanimiert haben. Der Rhythmus hat gepasst. Ihr Kopf ist sogar leicht überstreckt. Das war vorbildlich. Aber so wie es aussieht, ist sie schon länger tot. Der Defibrillator zeigt nicht einmal ein Kammerflimmern an. Wahrscheinlich war sie bereits nicht mehr am Leben, als Sie sie aus dem Wasser gezogen haben. Das muss die Autopsie klären.«
»Autopsie?«, fragte der Bademeister, der die restlichen Mädchen ins Freigelände geführt hatte und nun wieder zu ihnen zurückgekehrt war.
Der Arzt nickte. »Ich sehe auf den ersten Blick keinen Anhalt für Fremdverschulden. Vielleicht war ihr Tod die Folge eines chronischen Leidens. Oder ihr Herz hat versagt, weil sie sich nicht gut genug abgekühlt hat, ehe sie ins Wasser gegangen ist. Diese abartige Hitze in den letzten Tagen ist eine enorme Belastung für den Kreislauf. Aber wenn ein so junger Mensch plötzlich stirbt, müssen wir immer auch die Möglichkeit einer unnatürlichen Ursache in Betracht ziehen.«
»Ja, da haben Sie recht«, sagte Wellmann. »Ich werde die Ermittlungen aufnehmen.«
Der Bademeister sah ihn irritiert an.
»Ich bin leitender Kriminalkommissar bei der Kripo in Biberach«, erklärte Wellmann.
»Fühlen Sie sich in der Lage, hier zu ermitteln?«, fragte Dr. Kugelmann.
»Es ist mein Job«, erwiderte der Kommissar.
»Gut, wenn Sie meinen. Ich werde mich um den Transport in die Gerichtsmedizin kümmern und den Totenschein ausstellen.«
Wellmann zog das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Dezernats. Seine diensthabende Kollegin Linda Keller meldete sich nach dem ersten Klingeln.
»Tobias, was ist los? Hast du Sehnsucht? Du sollst doch deinen Urlaub genießen.«
Er erklärte ihr, was vorgefallen war, und ihr Ton wurde sofort sachlich.
»Okay«, sagte sie. »Soll ich nach Laupheim kommen?«
»Nein, das übernehme ich.«
»Bist du dir sicher?«, fragte sie. »Deine Tochter –«
»Die ist bei meinem Vater in guten Händen. Ich lasse mir von dem Fotografen die Kontaktdaten aller Teilnehmerinnen geben und sichere die Hinterlassenschaften der Toten. Wenn das Ergebnis der Autopsie auf einen natürlichen Todesfall lautet, können wir die Ermittlungen einstellen.«
»Und wenn nicht, müssen wir Dutzende von Teenagern befragen«, knurrte Linda.
»Ja, das könnte uns blühen. Also, ich werde mich mit dem Bademeister kurzschließen, vielleicht hat der auch noch etwas beobachtet. Und dann nehme ich die Habseligkeiten der Toten in Verwahrung. Ich bringe sie später im Dezernat vorbei. Wir sehen uns Montag.«
»Und was, wenn die Ergebnisse der Autopsie schon früher vorliegen?«, fragte Linda. »Soll ich mich dann bei dir melden?«
»Ich denke, wir werden bis Anfang nächster Woche warten müssen. Heute ist Feiertag, und der Fall hat nicht die oberste Priorität für die Gerichtsmediziner. Wenn es etwas Neues geben sollte, meldest du dich bitte. Als kommissarischer Dezernatsleiter bin ich natürlich auch im Urlaub erreichbar.«
Wellmann legte auf und trat zu dem Arzt. »Ich weiß, dass es schwierig ist, das festzustellen, aber gibt es irgendwelche Hinweise auf eine Todesursache?«
Dr. Kugelmann zuckte mit den Achseln. »Ich kann keine seriöse Aussage dazu treffen. Am ehesten würde ich auf einen plötzlichen Herztod tippen. Bei einer einschlägigen Vorerkrankung ist das auch bei jungen Menschen möglich. Oder vielleicht ein Zuckerschock, wenn sie Diabetikerin war. Aber das wird die Autopsie ergeben. Ein Jammer.«
Wellmann nickte. Er sah zu der Gestalt, die leblos vor ihm lag, und sein Mund wurde noch eine Spur trockener.
Ein schriller Klingelton riss Korbinian Mächle aus dem Schlaf. Er schaute auf die Uhr an der Wand. Ein grauer Streifen Dämmerlicht lag quer über dem Zifferblatt. Seine Augen hatten sich noch nicht scharf gestellt, und so dauerte es eine Weile, bis er sah, dass es kurz nach sieben war. Währenddessen nervte das Klingeln weiter. Korbinians übermüdetes Gehirn konnte keinen rechten Sinn darin erkennen. Der Pflegedienst musste doch seit über einer halben Stunde bei seiner Mutter sein. Warum läutete sie dann schon wieder bei ihm?
Die Nacht war schlimm gewesen. Dreimal hatte sie ihn geweckt, weil sie Angst gehabt hatte zu ersticken. Wie üblich hatte er vorgegeben, die Sauerstoffversorgung zu verbessern, indem er die Regler an der Flasche hin- und hergedreht und die Position des Schlauchs verändert hatte. Wenn er danach die Hand seiner Mutter hielt, beruhigte sie sich rasch. Gelobt sei der Placeboeffekt! Trotzdem kostete ihn jede dieser Episoden wertvollen Schlaf. In dieser Nacht waren es insgesamt dreieinhalb Stunden gewesen.
Korbinian sah sich um. Sein Handy vibrierte. Und das Display war erleuchtet. Der Anruf kam aus der Dienststelle. Na super.
Ob er das Klingeln einfach ignorieren sollte? Doch schließlich siegte die Neugier, und er tippte auf das grüne Hörersymbol. Es war Linda.
»Was ist los?«, brummte er.
»Wir haben einen Fall.« Offenbar hatte sie sich dazu entschieden, ebenfalls auf die Höflichkeitsfloskeln zu verzichten.
Korbinian richtete sich auf. »Was ist passiert?«
»Auf der B 30 zwischen Biberach-Süd und Biberach-Nord gab es einen Verkehrsunfall. Ein Auto ist von der Straße abgekommen und gegen die Böschung geprallt. Der Fahrer ist dabei ums Leben gekommen.«
Korbinian runzelte die Stirn. »Sein Pech. Seit wann ermitteln wir in Verkehrsdelikten?«
Er hörte Linda schnauben. »Es sieht nicht aus wie ein normaler Unfall«, sagte sie. »Die Windschutzscheibe ist mit grüner Farbe verklebt. Die Kollegen von der Schupo gehen davon aus, dass jemand das Auto gezielt mit Farbbeuteln oder so etwas beworfen hat.«
»Hast du Wellmann auch wach geklingelt?«
Ihr Schweigen war ihm Antwort genug.
»Na, das war ja klar. Der darf wieder auf der faulen Haut liegen bleiben.«
»Tobias hat Urlaub. Ich werde ihn anrufen, sobald wir uns ein Bild von der Situation gemacht haben«, erwiderte sie, klang dabei aber ungewohnt defensiv.
»Hättest du das bei Martin auch so gehandhabt?«
»Ja, hätte ich. Urlaub schlägt Frei. Mir ist bewusst, wie sehr du in die Pflege deiner Mutter eingespannt bist. Tobias und ich kommen dir entgegen, soweit es uns möglich ist. Aber manchmal geht es einfach nicht anders.«
»Ach, vergiss es«, sagte Korbinian und wuchtete sich aus dem Bett. »In einer halben Stunde treffen wir uns am Unfallort.«
Er tippte auf das rote Hörersymbol und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen und zu duschen, und schaute noch kurz bei seiner Mutter vorbei, die friedlich schlief. Einen Augenblick lang beneidete er sie darum, dann sah er die Schläuche unter ihrer Nase, und das Gefühl verflog. Die Pflegekraft neben dem Bett gab ihm ein Zeichen, dass alles in Ordnung sei, und er nickte ihr zum Abschied zu.
Der morgendliche Verkehr an diesem Brückentag war noch ziemlich spärlich, und so brauchte er mit seinem SUV nur eine Viertelstunde bis zur Unfallstelle. Die Feuerwehr und der Rettungswagen blockierten die rechte Spur. Korbinian stellte sich hinter den Sanka und schaltete die Warnblinkanlage ein.
Lindas Pferdeschwanz schwang hin und her, während sie mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr sprach.
»Also, was haben wir?«, fragte er hinzutretend.
»Unfall mit Personenschaden«, sagte der Kommandant. »Das Auto ist von der Straße abgekommen und muss mit hoher Geschwindigkeit gegen die Böschung geprallt sein. Da bleibt auch von einem SUV nicht mehr allzu viel übrig. Aber sehen Sie selbst.«
Er deutete mit dem Finger auf eine graue Masse, die im Straßengraben lag. Korbinian schluckte, als er registrierte, welche Zerstörungen der Aufprall angerichtet hatte.
Der vordere Teil des Wagens war auf ein Viertel seiner ursprünglichen Länge zusammengestaucht worden. Der Motorblock lag rauchend vor dem Wrack. Die Frontscheibe war gesplittert, auf der Fahrerseite konnte man deutlich einen großen grünen Fleck erkennen.
Neben dem Wagen waren die Bestatter damit beschäftigt, den Leichnam des Fahrers in einen mobilen Transportsarg zu heben.
»Haben wir die Personalien?«, fragte Korbinian.
Linda nickte. »Es handelt sich um einen gewissen Dr. Walter Kugelmann. Siebenundfünfzig Jahre alt und wohnhaft in Ummendorf. Die Kollegen von der Schupo sind bereits unterwegs und informieren die Angehörigen.«
Korbinian glaubte, Erleichterung in ihrem Tonfall zu hören. Das war nicht verwunderlich. Im Überbringen von Todesnachrichten war Linda eine ziemliche Niete.
Er trat näher an das zerstörte Auto heran. Der Farbbeutel, oder was immer die Frontscheibe getroffen hatte, war etwa in Kopfhöhe des Fahrers aufgeprallt. Durch die plötzliche Einschränkung seines Sichtfeldes musste Kugelmann erschrocken sein und das Steuer verrissen haben. Er hatte keine Chance gehabt.
Korbinian stellte sich neben das Auto und stutzte, als er sich die rechte Seite ansah. »Ist das ein Wagen des ärztlichen Bereitschaftsdienstes?«
»Ja, Dr. Kugelmann ist … war der diensthabende Bereitschaftsarzt. Wahrscheinlich war er gerade unterwegs zu einem Einsatz.«
»Haben die Kollegen von der Feuerwehr Spuren des Farbbeutels entdeckt?«
»Nein«, sagte der Einsatzleiter. »Und wenn Sie mich fragen, werden wir da auch keine mehr finden. Das sieht mir eher nach einer Paintball-Kugel aus.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Linda.
»Schauen Sie sich doch mal die Frontscheibe an. Der Kern des Flecks, der den Punkt markiert, an dem das Geschoss das Glas getroffen hat, ist relativ klein. Dafür läuft das Spritzmuster in alle Richtungen. So was kenne ich von Paintball-Munition.«
Korbinian zog die linke Augenbraue nach oben und neigte den Kopf.
»Und da sind Sie Experte?«
»Na ja, wir gehen jedes Jahr von der Feuerwehr aus einmal zum Paintball-Spielen in den Burrenwald. Ein Team-Event, wie man das heute nennt. Die Anzüge, die wir da überziehen, sehen hinterher genauso aus wie die Scheibe hier.«
»Das könnte auch die Präzision erklären, mit der die Fahrerseite getroffen wurde.«
»Ich denke, wir sollten der KT ein Urteil in der Sache überlassen, ehe wir hier wild drauflosspekulieren«, sagte Korbinian. »War denn schon jemand oben auf der Brücke?«
Der Feuerwehrmann verneinte.
Korbinian stapfte an dem Wrack vorbei auf die Böschung am Rande der Fahrbahn zu. Linda folgte ihm. Sie kletterten den Grashang hinauf und gelangten auf die schmale Landstraße, die hier die B 30 überquerte. Ein paar Augenblicke später sahen sie von der Brücke hinab auf die Unfallstelle.
»Er muss auf der anderen Seite gestanden haben«, sagte Linda.
Korbinian nickte. Er ging bis zur Mitte der Straße, wo er seinen Blick aufmerksam umherschweifen ließ. Doch da war nichts. Was hatte er erwartet? Dass der Schütze, wenn es denn einer gewesen war, am Geländer hängen geblieben war und einen Stofffetzen mit seiner DNA zurückgelassen hatte? Oder ausgeworfene Patronenhülsen? Oder grüne Fußspuren?
»Wir sollten auch hier die KT ihren Job machen lassen«, sagte Linda. Sie lief zum Ende der Brücke und brachte die Absperrbänder an. Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.
Korbinian warf ihr einen auffordernden Blick zu, und sie stellte das Gerät auf laut.
»Hallo, Tobias, ich muss dich leider schon wieder nerven«, begann Linda, und Korbinian verdrehte die Augen. Bei ihm hatte sie keine derartigen Skrupel. Sie berichtete Wellmann von dem Fall, und als sie den Namen des Arztes nannte, sog der Kollege hörbar die Luft ein.
»Dr. Kugelmann? Der war gestern im Parkbad im Einsatz«, sagte er.
Korbinian sah Linda fragend an, doch sie schüttelte den Kopf und formte mit den Lippen ein »Später«.
»Bist du alleine?«, fragte Wellmann.
»Nein, Korbinian ist bei mir.«
»Guten Morgen, Korbinian.«
»Morgen«, brummte er.
»Danke, dass du Linda unterstützt.«
»Ehrensache«, sagte er, meinte dabei aber etwas ganz anderes.
»Ich fürchte, ich muss dich bitten, auch weiterhin an dem Fall dranzubleiben«, fuhr Wellmann fort.
»Aber ich habe ein freies Wochenende.«
»Ich weiß. Und ich weiß auch, wie aufwendig es für dich ist, das Einspringen mit der Pflege deiner Mutter unter einen Hut zu bringen. Ich würde mich andernfalls einklinken, aber ich kann aus familiären Gründen nicht. Wenn ich wieder im Dienst bin, können wir gerne über einen Zeitausgleich reden.«
Korbinian lag es auf der Zunge, dass die Pflege seiner Mutter sicher aufwendiger sei als ein entspannter Urlaub mit den Kindern. Aber hier waren weder die Zeit noch der Ort, eine Grundsatzdiskussion zu führen. Zudem wäre es ohnehin sinnlos. Rein formal war Wellmann sein Vorgesetzter, so lange, bis Martin Waibel wieder fit genug war, um an seinen Posten zurückzukehren. Und als kommissarischer Dezernatsleiter hatte er das letzte Wort.
»Okay. Aber übernächstes Wochenende will ich dafür freihaben.«
»Das besprechen wir wie gesagt am Montag. Haltet mich bitte über alles auf dem Laufenden, was sich bezüglich dieser Ermittlung oder der Sache im Parkbad ergibt.«
Korbinians Neugier wuchs. Was war in Laupheim vorgefallen? Und warum wusste Linda Bescheid, er aber nicht?
»Und nun?«, fragte er, als sie aufgelegt hatte.
»Jetzt lassen wir die Kollegen von der Kriminaltechnik ihre Arbeit tun und fahren in die Dienststelle. Ich brauche dringend einen Kaffee.«
Wellmann nahm das Handy vom Ohr, schob es in die Hosentasche, kehrte zurück in die Küche und setzte sich zu seinem Vater an den Tisch. Er musste gegen den Impuls ankämpfen, Linda anzurufen und ihr mitzuteilen, dass er am Nachmittag in die Dienststelle kommen würde, um sie bei den Ermittlungen zu unterstützen. Er wusste, wie viel er Korbinian zumutete, wenn er ihn darum bat, an einem freien Wochenende einzuspringen, und das nagte an ihm.
Doch er musste standhaft bleiben. Das schlechte Gewissen war ihm nie ein guter Ratgeber gewesen. Es hatte ihn in die Selbstüberforderung getrieben, damals in Stuttgart, als er mit seiner Karriere beim LKA, seiner Ehe und dem Leben mit zwei kleinen Kindern jongliert hatte. Natürlich hatte das nicht funktioniert. Er hatte Alkohol und Kokain missbraucht und war nur haarscharf an einem Rauswurf vorbeigeschrammt.
In den letzten beiden Jahren hatte er gelernt, besser auf sich achtzugeben. Er war ausgeglichener und hatte nur noch selten das Bedürfnis, sich zu betäuben. Das hatte sich auch auf sein Verhältnis zu den Kindern übertragen. Gut, Lisa war zwar in letzter Zeit pubertätsbedingt ein wenig kühl. Aber Dominik hing sehr an ihm. Das war schön. Andererseits fühlte Wellmann sich dadurch unter Druck gesetzt, ein noch besserer Vater zu sein. Das schlechte Gewissen war allgegenwärtig, und das ging ihm auf die Nerven.
Dominik trat in die Küche. Er gähnte und rieb sich die Augen. »Guten Morgen«, sagte er. »Gehen wir jetzt das Auto für Opa kaufen?«
Arnold Wellmann strich seinem Enkel zärtlich durch die Wuschelfrisur. »Jetzt nimmscht dir erscht amol an Kaba, ond dann sehet mir weiter.«
Eine halbe Stunde später waren sie auf dem Weg nach Biberach. Wellmann hatte bei Lisa vorbeigeschaut, doch sie hatte tief und fest geschlafen. Es war ihr nicht zu verdenken. Er hatte noch bis Mitternacht an ihrem Bett gesessen, ehe der Schlaf die Tränen getrocknet hatte, die sie über Sylvia Mayrs Tod vergossen hatte.
Wellmann hatte ihr eine Nachricht hinterlassen und war mit Vater und Sohn aufgebrochen, um einen Ersatz für den altersschwachen Subaru zu suchen.
Arnold mied die B 30 und fuhr direkt über Rißegg. Am Kreisverkehr bei der Tankstelle bog er links ab, und nach knapp einhundert Metern hatten sie ihr Ziel erreicht.
»Und du bist dir sicher, dass du ausgerechnet hier einen Wagen kaufen willst?«, fragte Wellmann. Er ließ seinen Blick über die langen Reihen von blank geputzten Autos schweifen. »Der Hellberger hat nicht den besten Ruf.«
Sein Vater winkte ab. »Des ischt eine alteingesessene Werkstatt. Die hot’s scho gebe, als du no mit de Mugge gfloge bischt.«
»Ich weiß«, erwiderte Wellmann. »Aber damals hat den Betrieb auch noch der Vater des jetzigen Inhabers geführt, wenn ich mich nicht irre. Ich habe gehört, dass Hellberger junior nicht immer die fairsten Preise macht.«
»Des ka i beurteile, i hon scho Autos kauft, da …«
»Ja, ich weiß, da bin ich mit den Mücken geflogen«, vervollständigte Wellmann.
Eine ziemlich große Frau in einem grauen Kostüm trat auf sie zu. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Mir wollet uns erscht amol umschaue«, brummte Arnold sofort und zog seinen Sohn und seinen Enkel mit sich.
»Wir melden uns, wenn wir eine Frage haben«, sagte Wellmann in entschuldigendem Ton zu der Verkäuferin, die eine grimmige Miene aufsetzte und wieder abdrehte.
»Des ischt die Schweschter vom Hellberger. Die ischt no griesgrämiger, als i se in Erinnerung ghabt hon. Des war scho immer a alte Beißzang«, sagte Arnold, während sie an einer Reihe ziemlich teurer Sportwagen entlanggingen.
»Arbeitet sie in dem Betrieb mit?«, fragte Wellmann.
»Ohne die würd ihr Bruder ganz schee alt aussehe. Die schmeißt ihm de Lade. No hot er no mehr Zeit, an irgendwelche Oldtimer rumzuschraube.«
»Was für ein Auto willst du denn kaufen, Opa?«, fragte Dominik, den der Klatsch und Tratsch über den Inhaber des Autohauses sichtbar langweilte.
»Am liebschte en Kombi. Da passt viel nei, und die sind meischtens au sparsam.«
Wellmann schaute sich um. Nirgends war ein Auto zu sehen, das auf die Beschreibung gepasst hätte. Er sah eine ganze Reihe von Klein- und Kleinstwagen, ein paar aufgemotzte Sportlimousinen und SUVs. Haufenweise SUVs.
»So was kommt für dich nicht in Frage?« Er deutete auf ein besonders bulliges Modell.
Arnold verdrehte die Augen.
»Hör mir bloß auf mit dene Spritschleudre. Do findsch doch koin Parkplatz.«
Wellmann trat zu einem der SUVs, und zu seiner Überraschung entdeckte er Spuren von grüner Farbe an der Seite der Windschutzscheibe.
Frau Hellberger, die ihre herumstreunende Kundschaft nicht aus den Augen gelassen hatte, kam auf ihn zu.
»Sollten Sie sich für dieses Modell entscheiden, werden wir es natürlich noch ausgiebig reinigen lassen«, sagte sie.
»Was ist hier passiert?«, fragte der Kommissar, dem aufgefallen war, dass auch an den SUVs daneben Spuren von grüner Farbe zu sehen waren.
»Ein kleines Missgeschick mit der Lackierpistole. Unserem Azubi ist ein Schlauch geplatzt«, sagte sie. »Aber was für ein Auto interessiert Sie denn?«
»Hont Se au en stinknormale Kombi?«, fragte Wellmann senior.
»Hm, lassen Sie mich mal überlegen. Nein, Kombi haben wir zurzeit keinen im Angebot. Die laufen gar nicht mehr. Aber warum probieren Sie es nicht mal mit einem von denen hier?«
Sie zeigte auf die Reihe von SUVs, deren blank polierte Lackierungen in der Sonne glänzten und funkelten.
»Mit denen können Sie viel transportieren, sie sind bequem, und zudem haben Sie eine bessere Sitzposition im Vergleich zu einem Kombi.«
»SUVs sind schädlich für die Umwelt«, sagte Dominik.
Frau Hellbergers Mund verzog sich zu einer Schnute. »Na, na«, sagte sie barsch. »So kann man das aber jetzt auch nicht sagen.«
»Doch, kann man«, erwiderte Dominik. »Sie verbrauchen viel Benzin und stoßen mehr CO2 aus als ein kleineres Auto.«
Arnold nickte.
»Genau, ond viel teurer im Unterhalt send se au. Ond verratet Se mir doch amol, wie i mit so em Boliden do in der Biberacher Altstadt en Parkplatz finde soll.«
Wellmann registrierte anerkennend, wie rasch die Verkäuferin einsah, dass hier kein Blumentopf zu gewinnen war.
»Ich verstehe schon, das hier ist nichts für Sie«, sagte sie, sichtlich darum bemüht, freundlich zu bleiben, obwohl eine Ader an ihrer Stirn bedenklich anschwoll. »Aber ich habe vielleicht einen Wagen, der Ihnen mehr zusagt.«
Sie deutete auf den Teil des Verkaufsgeländes, der sich hinter dem Werkstattgebäude fortsetzte. Sie folgten ihr dorthin. Wellmann sah auf den ersten Blick, dass hier die Modelle ausgestellt waren, die älter, abgenutzter und deutlich weniger präsentabel waren.
Frau Hellberger blieb vor einem Minivan stehen. »Der bietet Ihnen viel Platz, ist dabei aber ein gutes Stück schmaler als ein SUV. Damit können Sie überall einparken.«
Arnold schien nicht so recht überzeugt zu sein. Als er dann erfuhr, dass das Auto zwölf Jahre auf dem Buckel hatte, trotzdem aber fünftausend Euro kosten sollte, winkte er ab. »I glaub, mir stehlet ons bloß gegeseitig die Zeit. Hier gibt’s nix. Danke schön.«
Er zog Dominik mit sich zurück in Richtung des Subaru.
Wellmann warf der Verkäuferin einen halb mitleidigen, halb entschuldigenden Blick zu. »Okay, dann danke ich Ihnen mal für die Beratung, auch wenn wir uns leider nicht einig geworden sind.«
Sie verabschiedeten sich, und der Kommissar kehrte zum Subaru zurück.
»Du hascht doch jetzt net etwa heimlich so en Panzer kauft, oder was?«, sagte Arnold, als Wellmann einstieg.
Der schüttelte den Kopf. »So, und was jetzt? Zum nächsten Händler? Der Keil in Rißegg soll gute Gebrauchte haben.«
Arnold schnaubte. »Oins ka i dir sage, Bua. I hon gnuag von dene Gebrauchtwage. Mir fahret jetzt zur Subaru-Werkstatt und froget, was der mir für a Angebot mache ka.«
Korbinian parkte seinen SUV direkt vor der Praxis von Dr. Kugelmann in der Fischbacher Straße in Ummendorf. Linda war schon einige Male an dem unauffälligen Zweifamilienhaus aus den Siebzigern vorbeigefahren, hatte jedoch nie Notiz von dem Gebäude genommen. Dass sich darin eine Arztpraxis befand, hatte sie zwar gewusst, aber mit dem verstorbenen Bereitschaftsarzt hatte sie bislang noch nicht zu tun gehabt.
An der Eingangstür war ein Schild angebracht worden: »Bis auf Weiteres geschlossen. In dringenden Notfällen wenden Sie sich bitte an die Praxis von Dr. Gabriel.«
Korbinian klingelte.
Das Türschloss surrte, und Linda drückte den Knauf aus abgeschabtem Messing. Es klackte, und sie fand sich in einem modern eingerichteten Empfangsbereich wieder.
Hinter einem weiß getünchten Tresen stand eine junge Frau. In ihren langen schwarzen Wimpern hingen Tränen, und ihr Gesicht war vom Weinen gerötet.
»Guten Morgen«, sagte Linda. »Sind Sie Frau Hoffmann, die Sprechstundenhilfe von Dr. Kugelmann?«
Die Frau nickte.
Linda streckte ihr die Hand entgegen, die sie zaghaft drückte. »Wir haben telefoniert. Mein Name ist Linda Keller, ich bin von der Kriminalpolizei. Und das hier ist mein Kollege Korbinian Mächle.«
Er schüttelte der Arzthelferin ebenfalls die Hand und sagte: »Mein herzliches Beileid.«
Linda biss sich auf die Unterlippe. Verdammt, das hätte sie nicht vergessen dürfen. »Von mir natürlich auch«, schob sie nach und grub ihre Zähne gleich noch einmal in die Lippe. Wie bescheuert klang das denn?
»Das muss ein großer Schock für Sie gewesen sein«, sagte Korbinian in einem einfühlsamen Ton, den ihm wohl niemand zugetraut hätte, der ihn näher kannte.
Frau Hoffmann schluchzte.
»Wir möchten Sie bitten, uns einige Fragen zu beantworten«, fuhr er fort, was die Sprechstundenhilfe wiederum mit einem Nicken quittierte.
Sie holte ein zerknülltes, gelbfleckiges Taschentuch aus ihrer Hose und schnäuzte sich lautstark.
Linda beschloss, das Heft der Befragung wieder in die Hand zu nehmen: »Sie waren die letzten vierundzwanzig Stunden im Dienst? Ist das richtig?«
»Es sind jetzt schon sechsundzwanzig Stunden«, erwiderte sie leise. »Ich wusste ja nicht, ob ich einfach heimgehen darf, als ich gehört habe, dass Dr. Kugelmann …«
»Wie haben Sie von seinem Tod erfahren?«, fragte Linda.
»Ihre Kollegen sind vorbeigekommen. Dr. Kugelmann war ja alleinstehend, und deshalb haben sie niemand bei ihm zu Hause angetroffen.«
»Wann haben Sie Ihren Chef das letzte Mal gesehen?«
»Gleich nachdem der Anruf kam. Dr. Kugelmann hatte sich hingelegt. Der Dienst war relativ ruhig. Um zwei heute Nacht musste er zu einer alten Frau, der das Asthmaspray ausgegangen war. Danach konnte er ein bisschen schlafen. Ich hatte schon gehofft, dass es das war. Aber dann kam der Anruf aus Barabein.« Sie schluckte schwer.
»Haben Sie dieses Telefonat entgegengenommen?«, fragte Korbinian.
»Es war ein Mann. Er klang relativ jung, soweit ich das beurteilen kann. Er hat gesagt, dass er Schmerzen in der Brust hat, so ein Engegefühl. Ich habe Dr. Kugelmann geweckt und ihm gleich den Apparat weitergereicht. Er hat kurz mit dem Patienten telefoniert und ist dann aufgebrochen. Das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend gesehen habe.«
Sie schlug sich die Hände vor das Gesicht. Zwischen ihren Fingern quollen dicke Tränen hervor.
Linda wollte etwas fragen, doch Korbinian schüttelte den Kopf. Sie warteten eine Weile, bis die Frau sich so weit beruhigt hatte, dass sie nicht mehr laut schluchzte.
»Warum ist Dr. Kugelmann selbst gefahren?«, fragte sie schließlich, als sie es nicht länger aushielt. »Gibt es nicht Fahrer für die Ärzte vom Bereitschaftsdienst?«
»Ja, der war auch bis gestern Abend mit Dr. Kugelmann unterwegs. Aber er hatte sich irgendwie den Magen verdorben, und dann hat der Chef ihn heimgeschickt.«
»Haben Sie den Namen und die Adresse des Anrufers notiert?«, fragte Korbinian.
Die Arzthelferin leckte sich über die Lippen. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen darf. Das fällt doch sicher unter die Schweigepflicht.«
»Das dürfte in diesem Fall unbedenklich sein«, log Korbinian.
Linda warf ihm einen empörten Blick zu und wollte einschreiten, doch da hatte ihm Frau Hoffmann schon einen Zettel in die Hand gedrückt.
»›Christian Wieland. Barabein 58. Warthausen‹«, las er vor.
»Haben Sie auch die Telefonnummer?«
»Ich schreibe sie Ihnen schnell ab. Sie ist im Mobilteil abgespeichert«, sagte sie.
Während sie die Handynummer notierte, fragte Linda: »Hat sich der Patient später noch einmal bei Ihnen gemeldet? Als Dr. Kugelmann unterwegs war zum Beispiel?«
Die Sprechstundenhilfe verneinte und reichte Linda das Blatt mit der Nummer.
»Wissen Sie, ob Ihr Chef bedroht wurde? Gab es unzufriedene Patienten? Oder hatte er finanzielle Probleme?«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Dr. Kugelmann war sehr beliebt. Ich habe nie mitbekommen, dass jemand sich beschwert hätte. Und die Praxis lief super. Erst letzten Monat hat er unsere Gehälter erhöht.«
Sie verabschiedeten sich und gingen zum Auto zurück.
»Sollen wir gleich nach Barabein fahren?«, fragte Korbinian.
»Klar, warum nicht?«
Er setzte den SUV in Bewegung.
»Warum hast du die Frau wegen der Schweigepflicht belogen?«, fragte Linda.
Korbinian zuckte mit den Achseln. »Wer sollte ihr denn deswegen Probleme machen? Je schneller wir die Info haben, desto besser. Oder wolltest du erst einen Richter bemühen? Für einen Namen und eine Adresse?«
Linda seufzte. Er hatte ja recht. Trotzdem war es nicht korrekt gewesen. »Und eine Telefonnummer«, sagte sie. »Ich versuche mal mein Glück.«
Sie tippte die Nummer in ihr Handy ein und drückte auf das grüne Hörersymbol. Es tutete nicht, stattdessen wurde sie sofort auf eine Mailbox weitergeleitet. Anstelle eines persönlich aufgesprochenen Textes oder eines Namens begrüßte sie die elektronische Ansagestimme mit der Nummer, die sie eben gewählt hatte, und bat sie, eine Nachricht nach dem Signalton zu hinterlassen.
»Mailbox«, brummte sie.
»Wenn wir Glück haben, können wir gleich persönlich mit diesem Herrn Wieland sprechen. Sofern er noch am Leben ist.«
Korbinian grinste breit, doch Linda verzog angesichts seines geschmacklosen Scherzes keine Miene.
»Warst du schon mal in Barabein?«, fragte sie stattdessen.
Er nickte. »Als ich für meinen letzten Marathon trainiert habe, bin ich da ab und an durchgelaufen. Ein typisches oberschwäbisches Bauerndorf mit einer Kapelle und durchnummerierten Häusern.«
»Ich habe die Dächer immer nur von der B 30 aus gesehen. Der Ort sieht ein bisschen so aus, als ob sich Fuchs und Hase dort Gute Nacht sagen würden.«
»Ja, aber das muss ja nicht das Schlechteste sein, oder?«
Ein paar Minuten später fuhren sie durch Barabein. Die meisten Häuser hatten eindeutig bessere Zeiten hinter sich. Linda hielt Ausschau nach der Nummer 58. Sie überquerten die Schienen der Öchsle-Bahn und wurden ganz am Ende des Dorfes fündig.
»Immerhin gibt es die Adresse«, sagte Korbinian. »Ich hatte schon befürchtet, dass es sich um einen Fake handeln würde.«
Es war brütend heiß, und die Hitze traf sie wie eine Wand, als sie aus dem voll klimatisierten SUV stiegen. Sie gingen zur Tür des Hauses, und Linda versuchte, das abgenutzte Emailschild mit dem Namen der Bewohner zu entziffern. Täuschte sie sich, oder stand da tatsächlich »Wieland«?
Sie klingelte. Ein altmodischer Ton, der an die Glocken von Big Ben erinnerte, ertönte aus den Tiefen des Gebäudes. Sie hörte schlurfende Schritte. Eine alte Frau öffnete die Tür.
»Was wollet Se?«, fragte sie in barschem Ton.
Linda war an Begrüßungen wie diese gewöhnt und hielt ihr den Dienstausweis unter die Nase. Die Frau schob den Kopf etwas zurück, weniger vor Schreck als vielmehr aufgrund einer wohl ziemlich ausgeprägten Altersweitsichtigkeit.
»So, von der Kripo send Se also? Des beantwortet mir immer no net, was Se von mir wollet.«
»Sind Sie Frau Wieland?«, fragte Korbinian, der versuchte, mit seinem Schwiegersohncharme zu punkten.
»Ja, des steht doch auf meim Klingelschild. Oder nit?«
»Wir möchten gerne mit Herrn Christian Wieland sprechen.«
Sie kniff die Augen zusammen und musterte die beiden Beamten einen Moment lang, ehe sie in ein polterndes Gelächter ausbrach. »Da kommet Se siebzehn Jahr zu spät. Der Christian war mei Ma. Der liegt em Friedhof in Warthause, Gott hon en selig!«
»Los, Papa, aufstehen!«
Wellmann spürte, wie ihn jemand am Arm zog. Er öffnete die Augen und sah das Gesicht seines Sohnes nur Zentimeter von seinem eigenen entfernt.
»Komm, wir müssen aufbauen«, drängte Dominik und zerrte noch einmal an ihm.
»Gleich«, sagte er und gähnte herzhaft. »Sag bitte dem Opa, dass er einen starken Kaffee machen soll.«
Dominik schüttelte den Lockenkopf.
»Ich soll dir sagen, dass er das schon gemacht hat. Und dass du runterkommen sollst, weil er die Platte nicht alleine heben kann.«
Wellmann wischte sich den Schlaf aus den Augen und erhob sich, während er Dominik die Treppe hinunterstürmen hörte. Er sah auf die Uhr. Viertel nach fünf. Wie konnte man so früh schon so fit sein?
Er ging ins Bad, putzte sich die Zähne, unterzog sich einer Katzenwäsche und begab sich in die Küche. Ein himmlischer Kaffeeduft stieg ihm in die Nase. Er griff sich eine der dampfenden Tassen vom Tisch und trank einen Schluck.
»So, Bua, komm«, hörte er seinen Vater hinter sich sagen. »Mir müsset aufbaue.«
Der alte Wellmann ging voran durch den Flur, und sein Sohn folgte ihm. Dominik stand schon draußen im Hof und hüpfte aufgeregt hin und her.
»Die zwoi Böck hon i scho aufgschtellt«, sagte Arnold und deutete auf die beiden Gestelle, die am Rand des Gehsteigs standen. »Aber die Platte ischt sauschwer.«
Der Kommissar folgte ihm in die Scheune. Sein Vater zeigte auf eine alte Tür, die an der Wand lehnte.
»Komm, pack mit a«, sagte er und nahm sich seine Ecke vor.
Wellmann ging zur anderen Seite und hob die Platte an. Arnold tat es ihm ächzend nach.
»Soll ich den Nachbarn fragen, ob er uns hilft?«, schlug der Kommissar vor.
»I wo, des schaff i scho«, stieß sein Vater hervor und verzog das Gesicht.
Sie trugen die Tür gemeinsam über den Hof. Arnold stöhnte und schnaufte wie eine alte Dampflok, und zweimal mussten sie pausieren und die Platte kurz abstellen. Ein kritischer Moment ergab sich noch einmal, als sie die Tür mit Schwung auf die beiden Böcke wuchteten, aber als sie schließlich mit einem Knall zum Liegen kam, entspannte sich Wellmann.
Sein Vater stand vornübergebeugt da, die Hände auf den Oberschenkeln, schwer atmend.
»Alles okay, Opa?«, fragte Dominik.
»Passt scho«, ächzte Arnold.
»Prima, dann hol ich mal das Tischtuch.«
Wellmann sah seinem Sohn nach, der wie ein Derwisch in Richtung Wohngebäude raste und im Hauseingang verschwand.
»So, und jetzt müsset mir die Sache naustrage, die mir verkaufe wollet«, stieß Arnold hervor.
Wellmann klopfte seinem Vater auf die Schulter. »Das können doch Dominik und ich machen. Setz du dich in die Stube und verschnauf ein bisschen. Ich komm auch dazu, und dann trinken wir erst einmal unseren Kaffee fertig.«
»Aber die erschte Leut werdet scho bald komme.«
»Keine Sorge, Vater, ich glaube, dass wir genügend Kundschaft haben werden. Der Hochdorfer Flohmarkt wird von Jahr zu Jahr voller. Und nachdem er die letzten Male wegen Corona ausgefallen ist, werden heute wahrscheinlich noch mehr Besucher auftauchen als sonst.«
Sie gingen in die Stube zurück und setzten sich an den Küchentisch. Dominik kam herein. Er hatte ein weißes Tischtuch in der Hand.
»Was ist denn los?«, fragte er. »Ich kann das doch nicht allein ausbreiten. Da muss mir wer helfen.«
»Gleich, Dominik«, sagte Wellmann und strich seinem Sohn über die Haare. Im Gegensatz zu seiner großen Schwester, bei der zärtliche Gesten schon seit zwei Jahren verpönt waren, tolerierte er das noch.
»Und ich darf wirklich alles Geld behalten, was wir einnehmen?«, fragte Dominik.
»Versproche«, erwiderte Opa Wellmann. »Aber i befürcht, dass du davo net reich wirscht.«
Sie tranken den Kaffee aus und gingen hinaus, um den Verkaufstisch zu bestücken. Arnold hatte eine alte Vase aus den fünfziger Jahren gefunden, die seiner Mutter gehört hatte. Außerdem hatte er ein halbes Dutzend rostige Hufeisen und einen antiken Lockenstab beigesteuert. Wellmann hatte seine CD-Sammlung ausgemistet, und Dominik bot Kinderbücher an, die er schon lange nicht mehr vorgelesen bekommen wollte.
Die ersten Interessenten erschienen bereits gegen sechs Uhr. Trotz der morgendlichen Stunde war es schwül.
Nach einer Viertelstunde hatte Dominik zwei CDs und ein Kinderbuch verkauft.
Stolz deutete er auf die Kasse, die zwölf Euro enthielt. »Wenn das so weitergeht, kann ich mir bald eine Playstation leisten.«
Gegen halb neun beschloss Wellmann, einen Spaziergang über den Markt zu unternehmen. In der Ortsmitte herrschte reges Treiben. Zwar war der Schwerpunkt des Flohmarktes aufgrund von Bauarbeiten in den letzten Jahren eher an den nordwestlichen Ortsrand gerückt, wo es einen großen Parkplatz gab. Aber auch in den Nebengassen und den Ausläufern des Dorfes hatten die Anbieter ihre Stände aufgebaut.
Einmal mehr staunte der Kommissar darüber, was alles feilgeboten wurde. Von der verstaubten E-Gitarre über Hirschgeweihe bis hin zu Schaukelpferden konnte man jeden möglichen Krempel kaufen.
Ab und zu begegnete er einem bekannten Gesicht, die meisten Leute hatte er jedoch noch nie gesehen. Inzwischen kamen auch viele Fremde nach Hochdorf. Der jährliche Flohmarkt an dem auf Fronleichnam folgenden Samstag war der zweitgrößte in der Gegend nach dem in Riedlingen.
Wellmann bog in den großen Parkplatz ein, auf dem die meisten Stände eng aneinandergedrängt aufgebaut worden waren. Die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr waren dabei, Gasgrills anzuschließen. Bald würden hier die unvermeidlichen Würstchen im Fett brutzeln.
Eben wollte er weitergehen, als er einen markerschütternden Schrei hörte. Er drehte sich um. Auch die anderen Passanten schauten in die Richtung, aus der der Laut gekommen war. Vor einem Stand fuchtelte eine Frau mittleren Alters wild mit den Armen herum. Ein junger Kerl neben ihr versuchte, sie mit Gesten zu beschwichtigen. Hinter dem Tresen verfolgte ein grauhaariger Mann in einem AC/DC-Shirt die Szene mit ausdrucksloser Miene.
Wellmann ging auf die Streitenden zu. In der Auslage des Standes sah er mehrere Figuren. Eine davon war groß und vergoldet. Er konnte nicht genau erkennen, was sie darstellte. Die Frau zeigte mit dem Finger darauf. Inzwischen war er nah genug herangekommen, dass er verstehen konnte, was sie schrie.
»… hast sie auf dem Gewissen. Meine Tochter. Und jetzt verscherbelst du auch noch ihre Trophäen!«
Der jüngere Mann sagte in einem halb verzweifelten, halb flehenden Ton: »Mutter, bitte beruhig dich. Das lässt sich alles klären.«
Doch die Frau war so außer sich, dass sie ihn nur wild anfunkelte. »Klären? Was klären? Dass dein Vater meine Tochter auf dem Gewissen hat?«
Der Mann in dem AC/DC-Shirt hustete. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Schmerzes. Seine Haut sah ungesund gräulich aus.
Wellmann musterte die Trophäen, um die der Streit sich drehte, und erkannte, dass es sich um Nachbildungen von Meerjungfrauen und Nixen handelte.
»Die Sylvia ischt scho ganz alloi dafür verantwortlich, dass se versoffe ischt. Des mit dene Fotos war von Anfang an a bescheuerte Idee. Ond jetzt hot se da Salat«, sagte der Mann.