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1976. Der vierfache Kindermörder Jürgen Bartsch stirbt bei seiner Kastration, die ihn von seinen kranken, sexuellen Neigungen abbringen soll, an einer falschen Dosierung des Narkosemittels Halothan. Damit wurde die Akte der Bestie von Langenberg geschlossen, durch die in den Jahren zwischen 1962 und 1966 vier Jungen ihr Leben verloren. 2004. Der Journalist Viktor Brenner bekommt Besuch von einem aufdringlichen jungen Mann, der von Visionen gepeinigt wird. Eigentlich ist Viktor etwas ganz anderem auf der Spur, aber die Vorkommnisse nehmen den genervten Journalisten unerbittlich gefangen, führen ihn direkt bis zu jener Bestie und schließlich zur Aufklärung des Falles, die vollkommen anders verläuft als erwartet. Andy Claus begibt sich in diesem Mystery Roman in ein vollkommen anderes Genre. Zwar bleibt sie auch hier den Gays treu, die Ereignisse jedoch führen den Leser in eine Welt jenseits des Erklärbaren. Im Laufe der recht turbulenten Ereignisse lüftet die Autorin gekonnt das Geheimnis um die Bestie und führt, wie es nicht anders zu erwarten ist, die Leser mit sicherer Dramaturgie durch den Roman. Spannung und Gänsehaut sind garantiert!
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Thriller
von
Andy Claus
Von Andy Claus erschienen unter anderem noch:
Stalker – Du gehörst mir ISBN 978-3-940818-15-7
Ben – der Fremdenlegionär ISBN 978-3-934825-90-1
Eric – Aus dem Leben eines Miststücks ISBN 978-3-934825-82-6
Albtraumprinzen ISBN 978-3-86361-287-0
Narziss – Verbrannte Erde ISBN 978-3-86361-415-7
Alle Bücher auch als E-books
Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.de
E-mail: [email protected]
Originalausgabe, Print April 2005 (vergriffen)
E-book: September 2014
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.
Coverfoto: Alle Rechte beim Autor
ISBN epub978-3-86361-436-2
ISBN pdf: 978-3-86361-437-9
Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.
Es gibt Themen, die für unsern Geist stets von Interesse sein werden, die aber zu entsetzlich sind, als dass die Dichtung sie behandeln könnte. Der Romanschreiber muss sie vermeiden, wenn er nicht in die Gefahr geraten will, Abscheu und Ekel zu erwecken. Es ist nur dann möglich, wenn Ernst und Majestät des Todes sie heiligen und stützen.
Edgar Allen Poe
Jeder von uns trägt Himmel und Hölle in sich.
Oscar Wilde
Botschaften
EINS
Köln, 25.08.2004
„Verflucht, ich kann die Story nur so recherchieren, wie sie passiert ist. Und wenn dieser Oberregierungsrat sich seine Nutten vom Staat finanzieren lässt, werde ich nicht behaupten, er hätte die Damen mit rosa Schleife von seinen vier minderjährigen Kindern und der blaublütigen Schwiegermutter zum Geburtstag bekommen. Es ist mirverdammt noch mal egal, ob seine Ehe hops geht und er seine Karriere einmotten kann. Ich bin Journalist und keinMärchenonkel! Das hätte er sich überlegen können, bevor er seinen Lümmel auf Abwege schickte!“
Viktor Brenner schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch seines Chefredakteurs, der diese Ausbrüche scheinbar gewöhnt war und ruhig blieb.
„Ich werde den Teufel tun und irgendwas beschönigen, damit du meine Arbeit endlich mit Veröffentlichung würdigst. Ich hab dir die Story verkauft, ich hab dir die Bilder verkauft. Und ich will, dass sie endlich gebracht werden. Und zwar auf der Titelseite!“ brüllte Viktor.
„Vielleicht mit deiner Bankverbindung? Für Spenden von der Opposition?“
Georg Ulrich lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nahm einen Schluck Kaffee. Über den Tassenrand hinweg beobachtete er den inzwischen nervös wie ein hungriger Tiger auf und ablaufenden Viktor.
„Ich habe über ein halbes Jahr recherchiert, hatte meine Nase immer an seinem Arsch und glaub mir, es gibt weiß Gott attraktivere Ärsche zum schnüffeln. Und jetzt will ich, dass der Biedermann seine schmutzigen Hände nicht mehr verstecken kann.“
„Das wirst du wohl oder übel mir überlassen müssen. Und jetzt komm runter von deiner Palme. Mensch Viktor, du weißt, wir sympathisieren mit der Partei, in welcher er aktiv ist! Wir können es uns nicht leisten, das eigene Nest zu beschmutzen!“
„Bin ich hier im falschen Film oder was? Sag, wenn ich mich irre: Wir sind die freie Presse und berichten, egal ob wir der Partei nahe stehen ... ach was, wirhabenkeiner Partei nahezustehen!“
„Seit wann das denn?“
„Ist das dein letztes Wort?“
„Ja!“
„Dann vergiss die Story. Ich finde schon jemanden, der keine Rücksicht auf Abhängigkeiten nehmen muss und sie bringt!“
„Die Story gehört uns, du kannst sie nicht noch mal verkaufen! Das muss ich einem alten Hasen wie dir doch wohl nicht mehr erklären. Wenn ich sie in der Schublade verschimmeln lasse, ist das ganz allein mein Problem. Finde dich damit ab.“
Viktor warf die Tür hinter sich zu und augenblicklich verstummten alle Gespräche im Großraumbüro, das er durchquerte. Dreizehn Augenpaare folgten ihm.
„Was ist? Noch nie ein idealistisches Arschloch gesehen?“
Im Vorbeigehen fegte er einen Stapel Papiere von der Platte irgendeines Schreibtisches und verschwand in seinem Büro. Dort warf er sich auf den abgewetzten Ledersessel, legte seine Fingerspitzen zusammen und versuchte sich zu beruhigen. Sein scharf geschnittener Unterkiefer mahlte und sein Blick fraß sich an den Fotos der Story fest, die so nicht gedruckt werden sollte. Seit fast zwanzig Jahren machte er nun den Job, war inzwischen vierzig Jahre alt geworden und hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass die Wahrheit nur eine Chance hatte, wenn sie auch nützlich war. Er zog die unterste Schreibtischschublade auf, nahm die Flasche Bourbon heraus und goss sich ein fleckiges Wasserglas randvoll. Er nahm einen großen Schluck und zündete sich anschließend eine filterlose Zigarette an. Immer noch drehten sich seine Gedanken um die Vorgänge im Büro seines Redakteurs. Wieder kochte die Wut in ihm hoch. Es stimmte, er hatte das Geld für die Story bekommen. Die Rechte waren futsch und er konnte nichts tun, damit sie auch wirklich veröffentlicht wurde.
„Scheiße!“
Er griff den übervollen Aschenbecher, sprang auf und warf ihn quer durchs Büro an die Wand. Ein junger Redaktionsassistent, der soeben die Tür öffnete, konnte gerade noch abtauchen.
„Hey, bist du bescheuert?“
„Was willst du?“
„Da draußen ist ein junger Mann. Er möchte mit dir reden!“
„Was für ein Mann? Sag ihm, ich bin verreckt.“
„Er glaubt, er habe eine Geschichte für dich.“
„Wieso für mich? Will er, dass die Storynichtgebracht wird? Sag ihm, der weltfremde Träumer Viktor Brenner schreibt ab heute nur noch Werbeslogans fürs Fernsehen. Da weiß wenigstens jeder, dass sie erstunken und erlogen sind!“
Der Assistent verdrehte die Augen.
„Was ist jetzt? Soll ich ihn reinschicken?“
„Meinetwegen. Aber in fünf Minuten kommst du wieder und holst mich zu einer Konferenz!“
Der Redaktionsassistent enthielt sich eines Kommentars und schloss die Tür hinter sich.
Es dauerte nur zwei Minuten, bis ein zaghaftes Klopfen erklang.
Viktor runzelte die Stirn. Er hatte gehofft, der Besucher würde aus irgendeinem Grund doch nicht zu ihm durchdringen. Ihm war tatsächlich nicht danach, Konversation zu betreiben.
„Was ist?!“ rief er unfreundlich.
Die Tür öffnete sich zögernd, dann stand ein Mann Anfang zwanzig in Viktors unaufgeräumten Büro. Er war knapp einmeterfünfundsechzig groß, sehr schlank und wirkte ein wenig verloren. Viktor betrachtete ihn einen Moment lang aufmerksam. Seine halblangen, dichten Haare lagen ungebändigt um sein blasses Gesicht, sie waren genau wie seine Augen tiefschwarz. Er wirkte zart, fast zerbrechlich. Er spielte nervös mit seinen Händen und alles in allem strahlte er eine solche Hilflosigkeit aus, dass Viktor übergangslos wieder aggressiv wurde. Er stand auf, warf die Zigarette halb geraucht in den RestBourbon und kam auf seinen Besucher zu. Neben ihm kam er sich mit seinen einmeterzweiundneunzig wie ein Bär vor, der dabei war, eine Bergziege zu reißen.
„Also los, wer sind Sie und was wollen Sie von mir? Und fassen Sie sich kurz, ich hab auch noch was anderes zu tun!“
„Mein Name ist Chris. ChristopherSadronitzki. Ich ... ich muss mit Ihnen sprechen. Es gibt da etwas, das sollen die Menschen unbedingt erfahren!“
„Und was habe ich damit zu tun?“ bellte Viktor und baute sich immer noch vor dem jungen Mann auf. Dieser schaute zu ihm hoch, dann sackte er plötzlich übergangslos und völlig lautlos in sich zusammen. Viktor war zu überrascht, um ihn festzuhalten.
„Auch das noch! Womit hab ich das bloß verdient?!“
Einen Moment stand er unschlüssig vor ihm.
„Hallo?“
Chris’ Augen blieben geschlossen, er reagierte nicht.
„So ne verfluchte Scheiße!“
Viktor ging zur Tür.
„Kann mir mal einer helfen? Mein Charme hat jemand aus den Socken gehauen.“
Einige Minuten später hatte man Chris ohne Viktors Mithilfe auf dessen Stuhl gesetzt. Er hielt ein Glas Wasser in der Hand und starrte schweigend vor sich hin. Es dauerte eine Weile, ehe er fragte:
„Haben Sie hier irgendwo ein Bad? Ich möchte mich ein wenig frisch machen!“
„Was brauchen Sie noch außer Erster Hilfe? Einen Friseur? Vielleicht einen Psychiater? Oder einen Platz im Tierheim?“
Nun sah Chris ihn plötzlich voll an. Seine schwarzen, sonst sanft wirkenden Augen funkelten zornig.
„Was ist los mit Ihnen? Hab ich Ihnen was getan? Habe ich Ihnen einen Anlass gegeben, mich wie den letzten Dreck zu behandeln?“
Viktor hockte auf der Ecke seines Schreibtisches und zum ersten Mal an diesem Tag fehlten ihm die Worte. Die Stimme des jungen Mannes war nicht laut gewesen, aber auf eine eigentümliche Art eindringlich. Und er hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, was er so natürlich nicht zugeben wollte.
„Ich hab selbst Probleme und da kann ich mich nicht um die Zwangslagen anderer kümmern!“ brummte er.
„ Wenn Sie wissen, was ich Ihnen zu sagen habe, wird es keine anderen Probleme mehr für Sie geben!“
„Das Bad ist am anderen Ende des großen Büros!“ murmelte Viktor und setzte sich auf seinen Stuhl. Als sein Besucher die Tür hinter sich geschlossen hatte, stellte er fest, dass sein Interesse geweckt war. Er spürte den gewohnten Jagdinstinkt, der sich immer dann einstellte, wenn er irgendwelchen Geheimnissen auf die Spur kommen konnte.
Was würde es sein, das dieser Junge ausgerechnet ihm sagen wollte? Fast wurde ihm die Zeit zu lang, bis er wieder in sein Büro kam.
„Setzen Sie sich. Was wollen Sie mir also so dringend sagen?“
„Werden Sie mir einen Gefallen tun?“
„Was denn noch?“
„Hören Sie mir bis zum Schluss zu und kommentieren Sie erst dann!“
„Meinetwegen auch das. Schießen Sie los und machen Sie’s kurz!“
„Kurz? Okay! Sie haben doch sicher schon von den verschwundenen Jungen rund um Wuppertal gehört. Sie sind tot und der Mörder ist nicht aus Fleisch und Blut.“
Na Mahlzeit, er war einer von denen. Viktor verzog das Gesicht. Er hatte die Nase voll von all den Verrückten, die sich durch frei erfundene Storys wichtig tun wollten. Von einer Minute zur anderen verlor er das Interesse, sein Jagdinstinkt schlief jäh wieder ein, er wollte es nur noch zu Ende bringen.
„Und aus was ist er sonst? Stahl und Beton? Müsli und Milch? Was soll ...?“
„Sie haben versprochen, mich ausreden zu lassen!“ fuhr Chris ihm über den Mund.
„Da dachte ich auch noch, Sie bringen eine echte Story!“
Chris tat, als hätte er Viktors letzten Einwurf nicht gehört und fuhr einfach fort.
„Wenn ich sage, dass der Mörder nicht aus Fleisch und Blut ist, meine ich damit, dass er ein Geist ist!“
Viktor verdrehte die Augen. Das war ja noch schlimmer als erwartet. Chris hatte offenkundig einen Knall. Und zwar einen großen. Jetzt gab es nur noch die Frage, wie er ihn wieder los wurde.
„Der Mörder ist also ein Geist ... und weiter?“
„Er treibt schon sein 1989 sein Unwesen, über fünfzehn Jahre lang gehen viele der ungeklärten Morde an kleinen Jungen überall in Deutschland auf sein Konto. Und er wird weiter machen, denn Zeit spielt für ihn keine Rolle.“
„Zeit spielt keine Rolle für ihn? Wenn das so ist, dann kam er damals bestimmt mit der Bundesbahn aus dem Jenseits hier an! Sie sagen also, seit fünfzehn Jahren rennt ein mordender Geist durchs Unterholz und das hat noch niemand rausgekriegt?“
Chris ließ sich nicht beirren und fuhr fort:
„Nein. Es ist leider so, dass die Menschen genau wie Sie sind, Viktor. Glauben Sie vielleicht, die Kripo ermittelt auch nur im Ansatz in eine parapsychologische Richtung?“
„Woran das wohl liegen mag?!“
„Es hat Indizien gegeben, die man nicht entschlüsseln konnte. Genug Fingerzeige, die einfach unter den Tisch fielen. Und das alles nur, weil man stur weggeschaut hat ... weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Niemand erkannte das Offensichtliche.“
„Doch! Ich! Und das Offensichtliche, das ich erkenne, betrifft Sie. Wollen Sie’s hören?“
Viktor merkte, dass er sich tatsächlich auf eine Diskussion mit seinem Besucher eingelassen hatte und schüttelte ungläubig den Kopf. Ein weiteres Mal beschloss er, das Gespräch schnellstens zu beenden, ohne ihm allzu deutlich zu zeigen, was er von seinen absurden Phantastereien hielt. Schließlich wollte er nicht, dass Chris ein weiteres Mal ohnmächtig wurde.
„Und woher wissen Sie das alles? Hat er ihnen ein SMS geschickt? Und ich habe immer noch nicht begriffen, warum Sie das gerade mir erzählen!?“
„Ich bin ein Medium. Ein Sensitiver, wenn Ihnen das was sagt. Ich habe die Anzeichen gesehen, hatte Visionen. Auch gestern wieder und diese war besonders nachhaltig. Jetzt weiß ich, dass er nach Hause zurückgekehrt ist. Dorthin, wo er seine Morde beging, als er noch lebte.“
„Warten Sie, ich will nichts missverstehen ... Sie sagen also, gestern hat ein mordender Geist Kontakt zu Ihnen aufgenommen?!“
„Ja. Und? Werden Sie mir helfen?“
Er sah zu Victor hoch und sein Blick war fragend und zwingend zugleich.
„Also ehrlich gesagt – wohl eher nicht! Wäre jetzt alles gesagt? Ich hab zu tun!“
Chris legte eine Visitenkarte auf seinen Schreibtisch und fuhr fort:
„Sie sollten darüber nachdenken. In Ruhe nachdenken! Und wenn sie es nur für eine gute Story tun und nicht, um Schlimmeres zu verhindern ...“
Allmählich wurde Viktor wieder sauer. Was zum Henker tat er hier? Was war das für ein Tag? Zuerst wies man seine Arbeit aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen zurück und jetzt kam auch noch dieser Spinner und wollte ihm ein Zimmer in seinem psychopathischen Lügengebäude vermieten.
„Suchen Sie sich jemanden, der an Ihre Visionen und den mordenden Geist glaubt. Ich bin der Falsche, das ist mal sicher!“
Er ging an Chris vorbei, öffnete die Tür und machte eine Geste, die diesen dazu animieren sollte, aus dem Büro zu gehen. Es sah so aus, als wolle sein Besucher der unausgesprochenen Aufforderung nachkommen, aber als er sich mit ihm auf gleicher Höhe befand, blieb er noch einmal stehen. Er griff so überraschend nach Viktors Arm, dass diesem keine Chance blieb, auszuweichen. Einen Moment standen sie so da, Chris’ Blick schien in die Ferne zu schweifen. Dann ließ er los und machte einen weiteren Schritt Richtung Tür. Viktor wollte schon aufatmen, als er sich noch einmal umdrehte.
„Georg Ulrich wird geschmiert, damit er Sie mundtot macht. Er kassiert kräftig dafür, damit er Ihre Story unter den Tisch fallen lässt. Und die Gelder kommen direkt vom Konto dieses Regierungsrates auf das Privatkonto Ihres Chefredakteurs. Die Unterlagen darüber finden Sie im mittleren Metallschrank seines Büros. Den Schlüssel dazu bewahrt er im Schreibtisch auf. Schublade unten links.“
Damit drehte Chris sich endgültig um und verließ das Büro. Viktor stand wie vom Donner gerührt noch in der gleichen Position wie in den letzten Minuten und bekam den Mund nicht zu. Woher wollte er das wissen?
ZWEI
Viktor Brenner saß in seiner Wohnung inmitten in der ihm eigenen Unordnung. Es war Freitag, zwei Tage vergingen, seit Chris ihn besucht hatte und seine Gedanken kreisten immer noch um das, was dieser gesagt hatte. Allerdings waren es seine letzten Worte, die ihn fesselten und nicht all das, weshalb er ihn eigentlich aufgesucht hatte.
Wurde Georg Ulrich tatsächlich geschmiert? Und falls ja, hatte Chris Recht und er konnte die Beweise dafür in diesem Schrank finden? Er trank an seinem Kaffee und zündete sich am Stummel der letzten eine neue Filterlose an. Was konnte er tun?
Eigentlich gab es nur eine Möglichkeit und die ging ihm seit zwei Tagen durch den Kopf. Er musste die Sache nachprüfen. Nach einer weiteren Tasse Kaffee, der sechsten an diesem Feierabend, hatte er seinen Entschluss gefasst. Inzwischen war es nach Mitternacht, trotzdem warf er sich seine Lederjacke über, verließ die Wohnung und stieg in seinen alten, anthrazitfarbenen Benz. Sein Ziel war die Redaktion. Er würde der Sache jetzt auf den Grund gehen, damit er wieder zur Ruhe kam.
Der Weg am Nachtwächter vorbei war kein Problem. Weil er bei der Zeitung nicht fest angestellt war, hatte man sich daran gewöhnt, dass es für ihn keine festen Arbeitszeiten gab. Außerdem wussten alle, wenn er an einem Fall dran war, wurde er zum Bluthund, den keine Bürozeiten aufhalten konnten. Er wechselte ein paar belanglose Worte mit dem Wachmann, tat so, als sei er an einer wichtigen Story und müsse unbedingt an seine Unterlagen. Daraufhin schloss dieser ihm wie schon so oft vorher und vom Chef abgesegnet, die Tür auf.
Diesmal führte ihn der erste Weg jedoch nicht an seinen Computer. Schnurstracks ging er auf Ulrichs Zimmer zu. Er ließ die Tür offen, damit das Licht des großen Büros den Raum erleuchten konnte. Den Schlüssel zum Metallschrank fand er auf Anhieb in der Schublade unten links. Er lag in einer kleinen Schale mit Büroklammern, scheinbar hatte Ulrich keine Angst vor der Entdeckung gewisser Unregelmäßigkeiten.
Viktor öffnete den Schrank und durchstöberte ihn. Er stieß auf eine Menge Kontoauszüge und Schreiben. Alles war nach Datum geordnet und er hatte keine Zeit, sich näher damit zu befassen. Deshalb ging er hinüber in seinBüro und faxte die Kontoauszüge der letzten sechs Monate direkt zu sich nach Hause. Dann richtete er alles wieder so her wie vor seinem Besuch und verließ die Redaktion.
Er war zu neugierig, um Rücksicht auf den spärlichen Verkehr zu nehmen. Mehrere Male erzwang er sich die Vorfahrt und überholte rechts. Auf das ärgerliche Hupen der anderen, nächtlichen Autofahrer hin zeigte er großzügig immer wieder seinen Mittelfinger. Dann war er endlich zu Hause. Er stürzte sich auf die Seiten, die sein Fax ausgespuckt hatte. Er fand tatsächlich, was er suchte und Chris’ Worte bestätigten sich. Es gab zwei Überweisungen dieses Beamten auf das Konto seines Chefredakteurs. Einmal waren es zehntausend, einmal fünfundzwanzigtausend Euro.
Viktor stieß einen Fluch aus. Er hatte Georg Ulrich einiges zugetraut, sie waren gemeinsam bereits durch eine Menge Dreck gewatet und nicht jeder Weg war legal gewesen. Aber dass sein Chef käuflich war, damit hatte Viktor nicht gerechnet.
Jetzt war die Frage, wie er das neue Wissen für sich und seine Enthüllungsstory nutzen konnte. Allerdings war er augenblicklich zu wütend, um wirklich darüber nachzudenken. Dafür überfiel ihn der dringende Wunsch, sich voll laufen zu lassen. Ohne Rücksicht auf Verluste und so, dass der morgige Tag noch im gleichen Dunst unterging. Er verließ seine Wohnung wieder und fuhr Richtung seiner StammszenekneipeCherin der Altstadt. Er stellte den Benz im Parkverbot ab.
Er musste klingeln, um insCherherein gelassen zu werden, ungeduldig drückte er immer wieder den Knopf unter dem bronzenen SchildMen’s only.
Dirk, der Kellner und Türsteher, öffnete ihm und schnauzte ihn zur Begrüßung an:
„Hätte ich ja wissen müssen, keine Sau klingelt so unverschämt wie du!“
Viktor drückte ihn wortlos zur Seite und stürmte Richtung Bar. Dort drängte er sich zwischen die anderen Männer und bestellte lautstark einen Bourbon, obwohl David, der Barkeeper, gerade einen anderen Gast bediente.
„Hey, halt den Ball flach. Du bist nicht der einzige Durstige hier!“ meinte Markus, der Besitzer des Etablissements, der wie jeden Abend mit den Gästen an der Theke saß.
„Quatsch mich nicht von der Seite an. Beweg lieber deinen Arsch und mach mir nen Doppelten.“
Markus ging hinter die Theke, widmete sich zuerst der Bestellung und nachdem er das Glas auf die Theke gestellt hatte, Viktor.
„Was ist dir denn schon wieder schief gegangen? Du hast ja noch schlechtere Laune als sonst!“
Viktor stürzte den Whisky hinunter und knallte das Glas zurück auf die Theke.
„Noch einen!“
Er bekam den Drink diesmal sofort.
„Die ganze, gottverdammte Welt ist so käuflich wie ein Pissbudenstricher!“ murmelte er eher zu sich selbst.
„Erzähl mir was Neues!“ antwortete Markus.
„Das Neue ist, dass auch meine Freunde käuflich sind.“
„Willkommen im Club der Erleuchteten. Es ehrt dich, dass du uns bisher fürunbezahlbargehalten hast.“ Markus grinste. „Wenn der Preis stimmt, ist jeder käuflich, dabei schützt es nicht, mit dir befreundet zu sein.“
„Ach ja? Und um welchen Preis würdest du zum Schwein?“
„Ich denke, wenn jemand käme und würde mich vom Virus befreien, könnte er einiges von mir verlangen.“
Damit erinnerte sich Viktor an die HIV Infektion seines Freundes und stürzte den nächsten Whisky herunter. Irgendwann einmal waren er und Markus ein Paar gewesen, die Affäre hatte knapp ein Jahr gedauert. Für ViktorsVerhältnisse eine sehr lange Zeit. Er war es, der damals mit der Begründung Schluss gemacht hatte, aus der Beziehung sei die Luft raus. Verborgen hatte er dabei den wirklichen Grund. Er fühlte sich eingeengt, die Nähe zwischen ihnen wurde zur Belastungsprobe. Markus hattediese Trennung nicht gewollt und sich daraufhin exzessiv und fahrlässig in Liebschaften gestürzt, um seinen Kummer zu betäuben. Er war nun seit etwa zwei Jahren HIV positiv. Viktor gab sich eine Teilschuld an dieser Tatsache und bekam deshalb jedes Mal, wenn die Sprache darauf kam, ein schlechtes Gewissen.
„Mensch Vik, was ist denn passiert? In deinem Leben voller Katastrophen dürfte eine mehr oder weniger doch kaum auffallen ... was wirft dich so aus den Schuhen?“
Was sie heute noch verbannt war eine tiefe Freundschaft und Viktors Angewohnheit, sich bei Problemen aller Art Markus gegenüber auszuheulen, deshalb ließ dieser auch jetzt nicht locker. Viktor hatte in kürzester Zeit den vierten Whisky getrunken, seine Zunge lockerte sich sowieso schon und seine Bockigkeit machte einem heftigen Redebedürfnis Platz. Markus erfuhr von der Sache mit Georg Ulrich.
„Ich hab dir schon immer gesagt, dass er ein Windei ist. Auf manche Leute kann man sich nicht mal verlassen, wenn man mit ihnen im Schützengraben gelegen hat. Er gehört dazu. Egal, was ihr zusammen erlebt habt, im Inneren wird er immer gegen dich sein und dir dabei breit ins Gesicht grinsen. Der Einzige, für dessen Vorteile er mit Hingabe sorgt, ist er selbst.“
„Ach was? War ja klar ... du wusstest das schon wieder vorher.“
Markus schaffte es diesmal nicht, Viktors Frustration abzufedern. Sogar das Gegenteil war der Fall, nach dem sechsten Drink ließ er Markus stehen und machte sich auf die Suche nach einem Gespielen für diese Nacht.
DREI
Das Erwachen am nächsten Vormittag war fürchterlich. Viktor hatte vergessen, die Rollos zu schließen und als erstes blendete ihn die Sonne. Der schale Geschmack auf seiner Zunge verband sich mit dem Gefühl, sein Kopf sei mit Watte und sein Magen mit verdorbenem Fleisch gefüllt. Angewidert schloss er die Augen wieder. Was waren doch gleich die Vorteile eines Besäufnisses?
Er drehte sich zur Seite und sein Blick fiel auf den haarigen Rücken eines Mannes mit blondem Militärhaarschnitt. Dunkel erinnerte er sich an den Ledertypen, der ihm am Abend als besonders attraktiv ins Auge gefallen war. Er hatte also Erfolg gehabt und das Wild erlegt! Aber was sollte er jetzt am Morgen noch damit?
Bedächtig setzte er sich auf, was nicht verhinderte, dass er das Gefühl bekam, er befände sich tausend Meter unter Wasser und sein Kopf würde geknackt wie eine Walnuss. Kraftlos ließ er sich wieder in die Kissen fallen. Das wiederum weckte seine Eroberung auf, dieser drehte sich auf den Rücken und seine Brust zauberte zwei umfangreiche, üppig bewachsene Höhenzüge ins Bett. Der Mann war ein Gebirge von Kerl mit der Brust eines Berggorilla und Viktor versuchte sich zu erinnern, wie er hieß. Hatte er den Namen überhaupt schon erfahren? Er fiel ihm jedenfalls nicht ein und so beschloss er, diesbezüglich auch keine Fragen zu stellen. Er wollte keine Vertraulichkeiten aufkommen lassen und wäre am liebsten auf der Stelle wieder allein gewesen.
„Morgen!“ brummte das muskulöse Gebirgsmassiv und schaute Viktor aus wasserblauen Augen an. Augen wie Bergseen. Viktor beschloss, ihn für sich selbst St. Gotthard zu nennen.
„Mmmmh!“
Viktor warf die Decke zurück und anschließend die Beine über die Bettkante. Zu schnell, wie er gleich darauf feststellte, denn ihm wurde schwindelig.
„Hey, wohin? Hat mir gut gefallen letzte Nacht. Schreit nach Wiederholung.“
Ach ja? Viktor konnte sich nicht erinnern. St. Gotthard richtete sich ebenfalls auf, griff mit seinen großen Händen nach ihm und zog ihn zurück in die Kissen. Viktor war jedoch absolut nicht in der Verfassung, sich näher mit dem Gotthardtunnel zu beschäftigen, dessen Nutzung ihm kurz darauf ohne weiteres mautfrei angeboten wurde.
„Mir ist übel!“ presste er hervor und während er Richtung Bad rannte, hörte er ein:
„Na, vielen Dank auch.“
Übergeben musste Viktor sich nicht, dafür stand er einen Augenblick später unter der Dusche und wünschte sich, seine Eroberung wäre weg, wenn er aus dem Bad kam. Aber weit gefehlt, St. Gotthard lümmelte noch immer auf dem Bett herum, hielt mittlerweile seinen eigenen Schwanz in der Hand, dessen pralle Größe nicht umsonst wirkte, als sei er mit einem bestimmten Ziel ins Kraut geschossen. Na wunderbar, Frühlingserwachen in den Alpen!
„Sonst gerne, aber es wäre sehr freundlich, wenn du jetzt gehst. Ich will noch etwas pennen.“
„Ich kann warten ... wo ist denn die Küche? Ich mach uns in der Zwischenzeit Kaffee und bis du wach wirst, könnte ich einfach fernsehen.“
„Bitte sei so freundlich und lass mich allein. Vielleicht sieht man sich ja im Cher wieder ...“
St. Gotthard zuckte die Schultern, stand auf und zog sich an. Beim Schließen der Hose hatte er Platzprobleme und warf Viktor, der vor seinem Bett stehen geblieben war, einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann war er endlich aus der Tür.
Viktor schlief bis in den frühen Nachmittag hinein und als er erwachte, fühlte er sich um einiges besser. Eine Kanne Kaffee half, auch den Rest seiner Mattigkeit zu beseitigen, während zwei Aspirin ihn von den übrigen Symptomen dieser durchzechten Nacht befreiten. Dafür waren die Gedanken an seinen Chefredakteur wieder da. Er begann darüber nachzudenken, was er Georg Ulrich am Montag an den Kopf zu werfen gedachte. Wahrscheinlich würde ihm schon ein Viertel der zurechtgelegten Schimpftiraden eine Beleidigungsklage einbringen. Während er der Not gehorchend und dementsprechend genervt der Unordnung in seiner Wohnung Herr zu werden versuchte, klingelte es an seiner Wohnungstür.
VIER
Chris lief allein in seinem WG Zimmer umher. Er wirkte panisch, gerade erst war er aus einer Vision aufgetaucht, die ihm noch immer in den Knochen saß. Ulrich, Rudolf, Klaus und Manfred ... er wurde diese Namen genau wie die bleichen Kindergesichter einfach nicht mehr los. Er fühlte Angst und Entsetzen und den dringenden Wunsch, zu helfen. Dabei war ihm nicht klar, wie genau er das beginnen sollte. Nur eines wusste er ... er durfte bei Viktor Brenner noch nicht aufgeben. Er brauchte diesen unbestechlichen Pressemann an seiner Seite, um etwas erreichen zu können und die starren Krusten typischer Polizeiarbeit aufzubrechen. Es gab keinen anderen Weg als den über die Öffentlichkeit, um die polizeilichen Ermittlungen in die richtige Richtung zu lenken.
Er war froh, dass er keinem der WG Mitglieder begegnete, als er über den Flur huschte, als hätte er etwas zu verbergen. Er verließ die graue Mietskaserne in Köln Kalk und machte sich auf den Weg nach Weiden.
FÜNF
„Woher haben Sie meine Adresse?“ war Viktors Begrüßung, als er erkannte, wer dort vor seiner Wohnungstür stand.
„Ich weiß alles über Sie und den Grund für mein Interesse setze ich als bekannt voraus.“
„Und Ihnen dürfte bekannt sein, dass dieses Interesse nicht erwidert wird.“
Chris zog eine Augenbraue hoch und drückte sich an Viktor vorbei in die Wohnung.
Dieser war zu überrascht, um ihn aufzuhalten, mit einem solch unverschämten Durchsetzungswillen hatte er in Bezug auf den zartgliedrigen, eher schüchtern wirkenden Mann nicht gerechnet.
„Ich kann mich nicht erinnern, dich hereingebeten zu haben!“
„Halt die Klappe und mach die Tür zu, siehst du nicht, dass ich schon drinnen bin?!“
Damit waren sie wenigstens schon einmal dazu übergegangen, sich zu duzen und Chris fand, das sei ein Fortschritt. Er setzte sich auf einen Stuhl und schaute zu Viktor hoch.
„Komm, setz dich doch.“ bot er ihm an und Viktor war versucht, sich zu bedanken, ehe auch er sich niederließ.
„Wir müssen miteinander reden, nur damit können wir erreichen, dass das Morden aufhört. In meinen Visionen ...“
„Fängst du schon wieder mit dem Mist an? Ich hab auch manchmal Visionen, aber ich belästige keine anderen Leute damit.“
„Ich rede von Visionen, nicht vom Delirium. Es wäre ein ganz guter Anfang, wenn du wenigstens schon mal an mein zweites Gesicht glauben könntest. Oder hast du die Kontoauszüge nicht gefunden?“
„Doch, hab ich. Weiß der Henker ... sag schon, woher du das wusstest ... und komm mir jetzt nicht wieder mit dem Hellseherkram.“
Chris sah ihm schweigend direkt in die Augen, bis Viktor nervös wurde.
„Was ist denn nun?“
„Du willst die Wahrheit nicht hören und lügen werde ich nicht.“
Viktor verzog das Gesicht, ihm war schon wieder nach einem Whisky.
„Ich wünschte, du würdest mir mal sagen, was du nun wirklich von mir willst. Setzen wir voraus, es ist so, wie du sagst ... „
„Es ist, wie ich sage!“
„Setzen wir voraus,ich würde dir glauben, was ich nicht tue ... was macht mich laut deiner Visionen zum Ghostbuster? Ich hab ja nicht mal einenProtonenbeschleunigerund wenn Slimer mir begegnet, bin ich hilflos.“
Chris schaute Viktor finster an, dann nickte er bedächtig, stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung.
Viktor schaute ihm verduzt nach. Irgendwo bedauerte er seine respektlose Art Chris gegenüber, andererseits war er froh, ihn jetzt wohl endgültig los zu sein. Er nutzte die Ruhe seiner leeren Wohnung dafür, sich aufs Bett zu legen und schließlich über dem laufenden Fernsehprogramm einzuschlafen.
SECHS
Chris rannte aus der Wohnung und hätte am liebsten aus Wut und Enttäuschung geheult. Es konnte doch nicht sein, dass er diesen Mann nicht dazu bewegen konnte, ihm wenigstens zuzuhören. Er kannte und hasste diesen nachsichtigen Blick von Menschen, die einfach nichtglauben wollten, was für ihn selbst schon seit frühester Kindheit Tatsache war. Mit sieben Jahren hatte er seine erste Vision, wusste erst lange nicht, was das zu bedeuten hatte. Als er sich seinen Eltern anvertraute, versuchten sie, das alles nicht zu ernst zu nehmen, dann kam Strenge ins Spiel, mit der sie ihm seineAmmenmärchenauszutreiben suchten. Schließlich landete er in der Psychiatrie und lernte dort, sich einfach nicht mehr zu offenbaren, um als normaler Mensch zu gelten. Daran hatte er sich bis heute gehalten.
Viktor gegenüber jedoch musste er ehrlich sein, deshalb hatte er über seine Gabe gesprochen und erntete nichts als Skepsis, verpackt in beißender Ironie.
Er kam zurück in die triste Mietskaserne und konnte es wieder verhindern, einem seiner beiden Mitbewohner über den Weg zu laufen. Er warf sich auf die Matratze, die sein Bett war und versuchte, seine Wut in den Griff zu bekommen. Immer noch sah er das spöttische Grinsen von Victor vor sich und merkte, dass ihm nicht nur aus dem Grund, dass er dessen Hilfe benötigte, daran lag, ernstgenommen zu werden. Dieser mürrische Mann mit all seinen aufgesetzten Ecken und Kanten war ihm sympathisch. Sein Gesicht mit den melancholischen Augen verriet Chris eine durch Erfahrungen und Enttäuschungen tief vergrabene Sensibilität. Die schwarzen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare ließen auf den Rebellen schließen, auf den er durch dessen objektiv und sauber recherchierten Artikel gehofft hatte. Chris war sicherer denn je, dass Victor der Richtige war. Aber was nützte das alles, wenn er keinen Zugang zu ihm fand?
SIEBEN
Gegen vier Uhr in der Nacht erwachte Victor. Er war es nicht gewöhnt, so viel zu schlafen und wurde sofort hellwach, während die Stadt um ihn herum noch schlief.Dazu war Sonntag und er hatte nicht die geringste Ahnung, mit welchen Aktivitäten er den Tag verbringen sollte. Seine erste Tasse Kaffee trank er im Stehen an den Kühlschrank gelehnt und seine Gedanken gingen hin zu Chris, der ihn am Vortag so ärgerlich verlassen hatte. Unwillkürlich musste er grinsen, als er sich die wütend glitzernden, von langen, dichten Wimpern umkränzten Augen und den beleidigten Zug um dem Mund wieder insGedächtnis rief. Alles an Chris hatte Bockigkeit ausgedrückt, während er die Wohnung wortlos verließ.
Viktor nahm sich eine weitere Tasse Kaffee, entführte diese jedoch ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Wieso konnte er eigentlich nicht wenigstens versuchen, den Jungen ernst zu nehmen?Weil das, was er sagt, kompletter Unsinn ist und du das weißt!antwortete ihm ungebeten sein Verstand. Und wie konnte es sein, dass Chris das mit dem Bestechungsgeld gewusst hatte? Viktor fand auf Anhieb jede Menge bessere Erklärungen als die der Hellsichtigkeit. Trotzdem ... sollte er noch mal mit dem Jungen reden? Er ertappte sich dabei, dass seine Gedanken immer öfter von den Reibungspunkten weg hin zur Person Chris abschweiften. Plötzlich wurde ihm klar, dass es sexuelles Interesse war, das ihn darüber nachdenken ließ, wenigstens noch ein Treffen zu arrangieren. Er war verwundert, denn normalerweise stand er auf unverwüstliche Männerbären, wenn’s um Sex ging und nicht auf zartgliedrige, sensible Jungs. Er schüttelte den Kopf, um für sich selbst einen Schlussstrich zu ziehen. Der Spaß, den er vielleicht mit Chris haben könnte, würde niemals die Probleme aufwiegen, die das mit sich bringen konnte.
Er zappte sich durchs Fernsehprogramm, bis es acht Uhr geworden war und er sich die dritte Kanne Kaffee machte. Dann gingen ihm die Zigaretten aus. Er knüllte die leere, blaue Packung zusammen und warf sie in eine Zimmerecke, schnappte sich den Autoschlüssel und verließ die Wohnung Richtung Tankstelle. Mit einer neuenStange Gauloises auf dem Beifahrersitz war er wenig später stadtauswärts unterwegs. Wenn er zu Hause sowieso nur rumsaß, konnte er auch ein wenig spazieren fahren und später bei McDonalds frühstücken.
Allerdings fand er sich irgendwann in Köln Kalk wieder, was ihn erneut an Chris erinnerte. An einer Ampel zog er seine Brieftasche heraus und schaute sich die Visitenkarte an. Es würde sicher nicht schaden, sich mal anzuschauen, wo der andere wohnte.
Er fuhr auf den Randstreifen gegenüber des Hauses mit der Nummer zehn, als er die öde Siedlung erreicht hatte und stellte den Motor ab. Es gab nur wenige Grünflächen, die teilweise abgerissenen Mülleimer quollen über und meist waren es Flaschen, die sich um sie herum verteilten. Die Häuser wirkten marode und hässlich. Zertrümmerte Bushäuschen, demolierte Telefonzellen und abgerissene Plakate ringsherum zeugten von Jugendlichen, die perspektivlos die Zeit totschlugen. Würde nicht jeder Geschichten erfinden, um aus dieser Tristesse herauszukommen?
Wieder hatte er Chris’ trotziges Gesicht vor sich und er stellte sich vor, wie Geilheit es verändern würde. Er spielte mit dem Gedanken, auszusteigen und bei ihm zu klingeln. Dann grinste er über sich selbst. Ganz abgesehen davon, dass er nicht wusste, ob Chris wirklich wie von ihm ohne wirklichen Grund vermutet auf Männer stand ... wie alt musste er eigentlich werden, damit ihn sein Schwanz nicht mehr steuern konnte?
Als nächstes sah er eine Gruppe Jugendliche, die sich auf dem Bürgersteig von hinten genähert hatten und genau vor seinem Benz auf die Straße wechselten. Sie klopften auf seine Kühlerhaube, grölten und prosteten ihm morgens gegen neun mit Bierflaschen zu. Sie überquerten die Straße und setzten sich gegenüber auf die niedrige Mauer vor dem Haus Nummer zehn. Ihre Langeweile war klar ersichtlich.
Viktor wollte gerade den Motor starten, als einer von ihnen an die Fahrertürscheibe klopfte.
„Hey, haste mal ne Fluppe?“
Viktor nahm eine Packung aus der Stange neben sich und reichte sie aus dem Fenster. Der Jugendliche, der eigentlich einen Streit vom Zaun brechen wollte, schaute erstaunt, bedankte sich verlegen und zog ab. Viktor grinste in sich hinein und griff wieder zum Zündschlüssel, als das Gejohle auf der anderen Straßenseite plötzlich anschwoll. Dann sah er Chris, der Spießruten lief, um an der lärmenden Gruppe vorbeizukommen, deren Mitglieder um ihn herumsprangen, ihn schupsten und beschimpften.