Louis & Justin - Andy Claus - E-Book

Louis & Justin E-Book

Andy Claus

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Beschreibung

Louis und Justin, zwei sechzehnjährige Jungs, haben auf tragische Weise ihre Eltern verloren. Sie begegnen sich im Jugendhaus, einem sozialen Modellprojekt, das neue Wege geht und schwierige, elternlose Jugendliche unterschiedlicher Schichten zusammenbringt. Louis ist ein Einzelgänger aus reichem Elternhaus und finanziell abgesichert. Allerdings schafft es sein Vormund, ihn für psychisch instabil zu erklären und ins Jugendhaus einweisen zu lassen, statt ihn wie laut Testament vorgesehen in einem Internat unterzubringen.Justins Eltern waren Trinker und sein Vater ein Schläger. Justin hat in seinem Elternhaus gelernt, wie man sich wehrt und ist sehr selbstständig. Er weiß bereits, dass er schwul ist, hält es jedoch für sich. Nach dem Tod seiner Eltern würde er lieber auf der Straße leben als in einem Heim, wird jedoch mit Gewalt dort abgeliefert. Justin und Louis finden zueinander und können ihre Liebe eine Weile geheim halten. Sie entdecken, dass einiges im Jugendhaus nicht mit rechten Dingen zugeht und überlegen, wie sie dies zu ihren Gunsten nutzen können. Aber der Erziehungsleiter erpresst sie zum Schweigen und zwingt sie darüber hinaus zum Sex vor der Kamera, da er sie sonst outen und aus dem Projekt werfen wird. Die beiden wissen, dass sie dann getrennt würden und geben nach. Während eines Aufenthaltes in einem holländischen Sommercamp versucht der Erziehungsleiter Louis zu vergewaltigen. Justin will seinen Freund verteidigen, nimmt einen Schürhaken und schlägt zu. Der Mann bricht zusammen und die beiden Jungen beschäftigen sich die restliche Nacht damit, sich des leblosen Körpers zu entledigen. Sie schwören sich, niemals über die traumatischen Dinge zu sprechen, die vorgefallen sind. Von diesem Moment an haben die beiden jedoch nur noch Angst. Sie wollen gemeinsam weglaufen, vor dem Heim und den Konsequenzen der Tat fliehen. Die Möglichkeit ergibt sich jedoch nicht, da alle Bewohner des Jugendhauses wegen des Angriffs auf den Leiter unter Verdacht stehen. Stündlich rechnen sie damit, dass die Polizei auftaucht.Aber das ist nicht ihr größtes Problem, denn Louis' verschollenen geglaubter Onkel taucht auf und nimmt den Jungen mit in die Staaten... Ob Justin für die Tat in Holland doch noch zur Rechenschaft gezogen wird, ob sie getrennt bleiben oder es eine gemeinsame Zukunft für die beiden geben kann, enthüllt der Roman.Andy Claus gelingt mit diesem Buch wieder eine hoch emotionale und spannende Geschichte über das Schicksal zweier Jugendlicher. Sie kehrt damit nach ihren mehr kriminalistisch orientierten Büchern (z.B. Tödliche Verführung) zurück zum gefühlvollen und trotzdem auch spannenden Drama, das in einer Linie mit ihrem Erfolgsroman 'Sascha' zu sehen ist.

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Seitenzahl: 501

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Andy Claus

Louis und Justin

Versprechen in der Dämmerung

Infos zu Andy Claus sind zu finden unter:

www.andy-claus.de

Weitere Romane:

Masken aus Glas ISBN 3934825141

Herbstgewitter ISBN 3934825206

Sascha - Das Ende der Unschuld ISBN 3934825265

Ulrich von Eichendorf ISBN 3934825346

Tödliche Verführung ISBN 3934825486

Die Qual der Bestie ISBN 3938607041

Ben – der Fremdenlegionär ISBN 934825901

Eric – aus dem Leben eines Miststücks ISBN 934825826

Kristallseele ISBN 934825635

Kurzgeschichten:

Gay Universum 1 und 2, Himmelstürmer Verlag

Himmelstürmer Verlag, Part of Production House GmbH, 

Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

E-mail: [email protected]

Photo by Mark-Andreas Schwieder, www.statua.de

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer, AGD, Hamburg

www.olafwelling.de

Originalausgabe, März 2006

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

ISBN print  3-934825-56-7

ISBN e-pub:978-3-86361-302-0

Kapitel I

1.

Der Weg war schwer, aber man erwartete Haltung von ihm. Er war schließlich kein Kind mehr und bei einem Sechzehnjährigen durfte man bereits eine gewisse Kraft und innere Stärke voraussetzen. Louis Roßberg schaute vor sich auf die Erde. Er war bereits hochgewachsen, aber sehr schmal und jetzt ging er vornüber gebeugt wie ein Greis direkt hinter dem Pfarrer her. Manchmal schien er die Stimme seiner Mutter zu hören, die ihn rief.Louis...

Aber sie war nicht hier.

Die Schneeflocken fielen still vom Himmel und lösten sich dort in Wasser auf, wo sie auf Substanz trafen. Und so mischten sich Louis’ Tränen, die er lautlos weinte, mit der Schmelze und liefen über seine Wangen, tropften in den dicken, schwarzen Schal, den er trug. Seine halblangen, braunen Haare klebten an Stirn und Schläfen, er hatte sich geweigert, eine Mütze zu tragen, obwohl der Wind jetzt im Januar kalt war.

Der Pfarrer war wohlgenährt, in seinem Talar verdeckte er die Sicht auf den zweiten, den hinteren der beiden Särge. Es war der Sarg, in dem seine Mutter lag. Eigentlich enthielt er nur das, was man nach diesem Flugzeugabsturz von ihr finden konnte. Bei seinem Vater, dessen Sarg den Trauerzug anführte, war das nicht anders.

Die Behörden sagten ihm, es seien ganz sicher seine Eltern, DNA-Tests bestätigten das. Trotzdem hatte es lange gedauert, bis er glauben konnte, dass er sie niemals wiedersehen würde. Erst, als man ihm den teilweise verkohlten Inhalt der Handtasche seiner Mutter aushändigte, hatte er begriffen, dass er jetzt ganz allein war.

Der Trauerzug bog um eine Ecke auf einen kleineren Weg. Beinahe hätte Louis das nicht bemerkt und wäre geradeaus gelaufen, aber eine helfende Hand zog ihn mit sich.

War das alles wirklich erst drei Wochen her? Direkt nach demAbsturz das bange Warten, fünf Tage lang diese grausame Ungewissheit und kaum Schlaf. Waren seine Eltern tatsächlich an Bord gewesen? Konnte es nicht sein, dass sie zufällig einen anderen Flug genommen hatten, als sie ursprünglich vorhatten? Sicher, er hörte nichts von ihnen, aber dafür konnte es eine Million anderer Gründe geben. Er wollte mit jeder Faser seines Herzens lieber an die erstaunlichste Geschichte glauben als den Tod seiner Eltern zu akzeptieren.

Louis’ Tante Angela, die Schwester seines Vaters, war in die Wohnung gekommen und hatte ihn versorgt, bangte und hoffte augenscheinlich mit ihm. Dann kam die Nachricht, die ihn bis ins Innerste erschütterte. Seine Eltern Ralf und Sabine Roßberg hatten tatsächlich in diesem Flugzeug gesessen, das über den Anden zwischen Argentinien und Chile am Aconcagua zerschellt war. Es war wie so oft vorher eine Geschäftsreise, aber diesmal hatte sein Vater die Mutter mitgenommen, sie wollten die Reise nach Südamerika mit einem Urlaub verbinden.

Der Trauerzug wurde langsamer, Louis hörte leises Raunen hinter sich. Aber er schaute sich nicht um, denn der Pfarrer hatte die Sicht auf die Särge freigegeben. Louis war wie erstarrt und beobachtete, wie der Sarg seines Vaters vom Wagen gehoben und über das Grab getragen wurde. Langsam wurde er hinuntergelassen, dann folgte direkt daneben der Sarg seiner Mutter. Als auch der in diesem grün ausgeschlagenen Loch versank, begann Louis zu zittern. Er bemühte sich, die Bilder seiner Eltern vor seinem geistigen Auge erstehen zu lassen, lebendige Bilder von lebendigen Menschen. Aber seine Vorstellungen zerfaserten vor diesem Hintergrund schon im Ansatz.

Der Pfarrer redete und es war wie vorhin in der kleinen Kapelle. Die Worte flossen an Louis vorbei, er verstand weder ihren Sinn noch konnte er nachvollziehen, wieso so viel geredet wurde. Waren Worte nicht vollkommen überflüssig? Er zog die Schultern noch mehr nach vorne, seine großen, rehbraunen Augen mit den langen Wimpern waren jetzt frei von Tränen, in ihnen stand nur eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Unglauben und Trauer.

Jemand gab ihm eine kleine Schaufel in die Hand, er bemerkte es kaum. Seine Tante war es, die ihn zum Grab schob, die Schaufel nahm und ihm vormachte, was nun von ihm erwartet wurde. Sie warf als Erste etwas feuchte Erde in das Loch und der dumpfe Ton, als diese auf einen der Eichensärge traf, ließ Louis aufschrecken. Als seine Tante ihm die Schaufel reichen wollte, schüttelte er nur entsetzt den Kopf und trat einige Schritte zurück.

Als die übrigen Trauergäste begannen, an ihm vorbei zu ziehen und ihm nacheinander ihr Beileid ausdrückten, war Louis mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders.

Was hatte sein Vater vor dem Abflug gesagt? Er würde sich auf ihn verlassen. Es war das erste Mal, dass Louis ganz allein zu Hause zurück blieb und er war stolz auf das Vertrauen. Na sicher, es hatte diese berühmte Party gegeben, die in diesen Fällen einfach nicht zu umgehen war. Er hatte Freunde aus seinem Gymnasium zu Gast, es wurde viel getrunken und gelacht. Aber obwohl er allein war, fühlte er sich nicht als Hausherr und war eigentlich froh, als alles vorbei und die anderen Kids wieder gegangen waren. Dennoch hatte er es gewagt, damit seinen Ruf bei den Freunden aufgebessert und fühlte sich schon sehr erwachsen.

Das Haus seiner Eltern lag auf dem Land vor den Toren Kölns, aber dort waren sie nur in den Ferien. Die meiste Zeit hatten sie in der Stadtwohnung über Kölns Dächern gewohnt. Louis sah seinen Vater mit der Financial Times auf der Dachterrasse sitzen, die Beine übergeschlagen und auch noch in der Freizeit sehr geschäftsmäßig aussehend. Er erinnerte sich noch genau, wie er immer die Hornbrille auf die Stirn geschoben hatte, wenn sein Sohn ihn störte. Ein kleines Lächeln stahl sich auf Louis’ Gesicht, dann verscheuchte die Realität brutal die Erinnerungen. Seine Tante sprach ihn leise an, fasste ihn sanft am Arm und sagte, sie müssten nun gehen.

Gehen? Wohin?

2.

„Du kannst mich mal am Arsch lecken, lass mich doch einfach in Ruhe, du Idiot!“

Justin Schaefer warf die Zimmertür hinter sich ins Schloss. Er legte die CD des Spiels Resident Evil Nemesis ein, nahm das Paddel des Gamecubes und warf sich damit auf die Couch. Er wählte den Söldnermodus und sah sich gleich von Anfang an einer Menge Gegnern gegenüber, die er besiegen musste. Während er systematisch einen virtuellen Gang nach dem anderen von Monstern befreite und die Zombies aus Zeitgründen links liegen ließ, wurde seine Wut mit jedem grün aufleuchtenden Zeitbonus etwas weniger. Er reagierte sich ab und dass er das konnte, tat gut. Schließlich zündete er sich eine Zigarette an, die im Anschluss achtlos im Aschenbecher verqualmte, weil er nicht dazu kam, sie zu rauchen.

Wieso konnte sein Vater ihn nicht zufrieden lassen? Die Zeiten, wo er sich alles gefallen ließ, waren vorbei, das sollte selbst sein alter Herr inzwischen bemerkt haben. Er war sechzehn, was erwartete man von ihm? Dass er gehorchte wie ein kleiner Dackel?

Die Tür öffnete sich, sein Vater kam ins Wohnzimmer. Justin drückte auf Pause, starrte aber weiter auf den Bildschirm. Was kam jetzt wieder?

„So redest du nicht mit mir!“

Es war erst zwölf Uhr am Mittag, aber sein Vater schien bereits betrunken zu sein. Sein Blick war unstet und als er sich zwischen Justin und dem Fernseher aufbaute, konnte dieser das Bier riechen. Er schaute immer noch nicht zu ihm hoch, sondern wartete, was nun folgen würde. Oder wusste er es bereits? Schließlich waren es immer die gleichen Szenen. Er spürte sein Herz, das wild gegen seine Rippen hämmerte, sein Körper spannte sich.

„Es wird Zeit, dass dir jemand Disziplin beibringt. Ich weiß, dass du doof wie ’ne Hupe bist und die Schule sowieso nichts bringt, aber deswegen kannst du sie nicht einfach schwänzen. Du weißt genau, dass uns das die Bullen in die Bude bringt. Nimm dich zusammen und richte dich nach den Regeln, verdammt! Das Leben besteht nicht nur aus Vergnügen, es gibt auch Pflichten.“

Justin verzog geringschätzig das Gesicht. Sein Vater hatte noch nie gearbeitet, er kannte ihn eigentlich nur im schmutzigen Unterhemd und Jogginghose mit einer Flasche Bier in der Hand zu Hause in seinem Sessel sitzend. Und ausgerechnet er sprach von Pflichterfüllung? Ihr Umgang hatte sich stetig verschlechtert, seit Justin langsam erwachsen wurde. Er war zum Prügelknaben geworden und stand ständig unter Spannung, fühlte sich zu Hause niemals sicher. Das allerdings hieß nicht, dass er seine Angst jemals sichtbar werden ließ. Er zeigte seinem Vater zu keiner Zeit, dass der die Macht hatte, ihm wirklich weh zu tun – weder physisch noch psychisch. Er tat, als stecke er dessen Jähzorn problemlos weg, sein Stolz ließ keine offensichtliche Schwäche zu. Seinem Vater gegenüber war er unverschämt und sarkastisch. Die einzige Voraussetzung dafür war seine Schnelligkeit, mit der er den Fäusten immer wieder entkommen konnte.

„Du stehst im Weg!“

Zum ersten Mal sah Justin zu seinem Vater auf und ihm direkt in die Augen. Dabei wusste er, dass das einem Angriff gleichkam. Die Quittung dafür bekam er schon im nächsten Moment in Form einer Ohrfeige. Er flog nach hinten, hielt jedoch immer noch das Paddel fest. Er hatte seine hellblonden Haare noch nicht wie sonst mit Haarlack frisiert und so lagen die jetzt wild über seinem halben Gesicht, anstatt wie die Stacheln eines Igels hochzustehen. Die getroffene Wange schwoll sofort rot an, während er sich wieder gerade hinsetzte. Seine ausdrucksstarken, smaragdgrünen Augen waren schmal wie Schießscharten.

„Geht es dir jetzt besser? Du stehst immer noch im Weg.“

Sein Vater riss ihm das Paddel aus der Hand und holte ein zweites Mal aus, aber Justin tauchte unter dem Schlag weg und sprang auf. Mit ein paar großen Schritten war er an der Tür.

„Wann merkst du dir endlich, dass du jeden Tag ein bisschen mehr zu besoffen bist, um mich zweimal hintereinander zu schlagen?“

Er verließ das Zimmer und griff sich seine Jacke. Dabei warf er einen kurzen Blick in die Küche. Seine Mutter saß vor einem Wasserglas am Küchentisch, daneben stand eine halbvolle Flasche Weizenkorn. Sie saugte an einer Zigarette, während ihr leerer Blick den Sohn scheinbar fixierte. Sie hatte schon vor langer Zeit aufgegeben und sich ihrem Mann angepasst, ziemlich weggetreten schaute sie Justin hinterher, als dieser die Wohnung verließ.

Aber er war sich eigentlich sicher, dass sie nichts davon mitbekommen hatte.

3.

Bisher hatte Louis nicht wirklich darüber nachgedacht, wie es weitergehen würde. Heute, während der Testamentseröffnung, wurde er deshalb schonungslos mit einer Realität konfrontiert, welche ihn in seinen Augen zu einer Marionette werden ließ, die von mehreren Puppenspielern hin und her bewegt wurde.

Sein Vater hatte für den vorzeitigen Tod beider Elternteile verfügt, dass Louis erst einmal in einem Internat untergebracht werden sollte, um eine gute Ausbildung zu sichern. Seine Schwester Angela sollte treuhändlerisch das Vermögen und die Ladenkette verwalten, bis Louis volljährig wurde. In dieser Zeit erhielt sie eine mehr als großzügige, monatliche Vergütung. Die Einnahmen aus den sieben Juweliergeschäften in verschiedenen Großstädten der Bundesrepublik und Holland wurden wieder investiert, trotzdem mehrte sich das Vermögen auf den Konten. Nach der kaufmännischen Ausbildung sollte Louis die Läden übernehmen und sich im besten Fall noch zum Juwelier ausbilden lassen.

In der Zwischenzeit musste Angela alles tun, um den Verbleib ihres gemeinsamen Bruders Joachim zu recherchieren, der vor Jahren wegen Querelen mit Louis’ Großvater nach Amerika ausgewandert war und der sich seither nicht mehr gemeldet hatte. Er sollte das Elternhaus erben, während die Stadtwohnung in Angelas Besitz überging. Sobald er gefunden wurde, sollte auch die Geschäftsleitung in seine Hände gelegt werden. Wie es schien, hatte Louis’ Vater kein Interesse daran gehabt, Angela länger als nötig als Treuhänder einzusetzen.

„Wieso kann ich nicht bei dir und Angela bleiben? Ich will nicht ins Internat.“

Louis saß inzwischen dem Mann seiner Tante gegenüber auf einem Sessel im Wohnzimmer der Stadtwohnung und kaute an seinen Fingernägeln. Staubpartikelchen tanzten in den intensiven, aber nicht wärmenden Lichtstrahlen der Februarsonne, die durch die Panoramafenster fielen, aber der Junge hatte keinen Blick dafür.

„Wir müssen uns daran halten, was dein Vater gewollt hat.“

Thomas wirkte seltsam desinteressiert an einem weiteren Gespräch über dieses Thema. Immer wieder sah er sich in dem großen, mit geschmackvollen Möbeln aus hellem Holz eingerichteten Raum um. Angela hatte Kaffee gemacht und kam nun mit dem Tablett aus der Küche. Sie hatte den letzten Satz ihres Mannes gehört und sagte:

„Dein Vater war um deine Ausbildung besorgt, deshalb hat er das verfügt. Es sind noch zwei Jahre bis zu deiner Volljährigkeit, die gehen schnell um.“

Sie stellte das Tablett ab und setzte sich.

„Aber ich könnte doch weiter aufs Gymnasium gehen und hier bei euch wohnen.“

„Du weißt, dass deine Tante und ich keine Kinder haben. Und das ist nicht zufällig so, sondern weil wir keine wollen“, antwortete Thomas nachdrücklich. Angela sah sich gezwungen, etwas zu sagen, um die Aussage dieses Satzes zu entschärfen.

„Weißt du, Louis, es ist eine riesige Verantwortung, sich um ein Kind zu kümmern. Erst recht in der heutigen Zeit. Wir haben uns das nie zugetraut.“

„Ich bin kein Kind mehr. Ich bin sechzehn und du sagst selbst, dass die Zeit schnell vergehen wird.“

„Aber diese Zeit wird für dich nicht hier vergehen. Du gehst in ein Internat, wie es dein Vater gewollt hat und basta“, erwiderte Thomas ungehalten.

Louis sah seine Tante hilfesuchend an.

„Ihr könntet das Geld für ein teures Internat doch sparen, ich gebe euch auch die Erlaubnis, es für euch zu verbrauchen.“

Thomas grinste auf eine unerfreuliche Weise.

„Du erlaubst uns? Hast du vergessen, dass deine Tante Angela die Verfügungsgewalt über dein Vermögen hat, bis du achtzehn bist? Es liegt in unserem Ermessen, wie teuer das Internat wird und wie viel monatliches Taschengeld du einstecken kannst. Dein Vater hat nichts von allem genauer beziffert.“

„Außerdem tut man nichts gegen den letzten Willen eines Menschen, das gehört sich nicht“, beendete Angela den Monolog ihres Mannes.

Louis schaute von einem zum anderen, dann stand er auf und rannte fast zur Tür.

„Wo willst du hin? Bleib hier!“, hörte er noch, dann warf er die Tür hinter sich zu. Er ging in sein Zimmer und warf sich bäuchlings auf sein Bett. Genau in diesem Moment hörte er Thomas’ Stimme. Er schrie quer über den Flur, dass Louis sich nicht einbilden solle, mit einem solch unverschämten Verhalten durchzukommen. Dann klirrte etwas und er konnte nur vermuten, dass sein Onkel die Glastür so heftig zugeworfen hatte, dass sie kaputt ging.

Was stand ihm in Zukunft alles bevor? Er hätte gerne gefragt, wohin er gehen musste. Aber da er noch nicht wirklich akzeptieren wollte, wegschickt zu werden, konnte er das nicht. Er umfing sein Kissen mit beiden Armen, zog die Beine an und weinte, bis ein großer, nasser Fleck auf dem Kissen entstanden war. Über seine trüben Gedanken schlief er irgendwann ein.

4.

Justin verlor keine Zeit und lief zu Fuß die vier Kilometer zu seinem Freund Arne. Dessen Elternhaus war ganz okay, auch wenn seine Mutter ein Kontrollfreak war. Mit Arne konnte Justin über seine Probleme sprechen, aber er war auch der Einzige.

„Willst du zum Abendessen bleiben?“

Arnes Mutter steckte den Kopf ins Zimmer, ohne vorher geklopft zu haben und ihr Blick suchte in Sekundenschnelle den ganzen Raum ab. Die beiden Jungs hatten gar nicht gemerkt, dass der Nachmittag inzwischen vergangen war. Arne antwortete an Justins Stelle.

„Ja, will er. Und er würde auch gerne hier schlafen. Du weißt ja, dass seine Eltern nichts dagegen haben.“

„Aber nur, wenn er zu Hause anruft, damit ich weiß, es geht auch wirklich in Ordnung!“

„Natürlich wird er das.“

Diese Prozedur kannten die beiden Freunde bereits. Arnes Mutter war gastfreundlich, aber nur, wenn sie zu wissen glaubte, dass Justins Eltern sich auch einverstanden zeigten. Sie wusste nichts von den Verhältnissen, unter denen der Junge lebte und sie sollte es auch nicht erfahren. Und so tat Justin stets in ihrem Beisein so, als rufe er seine Eltern an. Er sagte in den Hörer, dass er bei Arne bleiben würde und dessen Mutter damit einverstanden sei. Dann wünschte er noch eine gute Nacht und legte auf. Dass er die letzte Ziffer der Telefonnummer nicht gewählt hatte und somit gar nicht verbunden war, merkte noch nie jemand.

So war das auch heute gelaufen und im Anschluss ans Essen ging Justin mit Arne zurück auf dessen Zimmer.

„Am liebsten würde ich abhauen. Es kann eigentlich überall nur besser sein als bei meinen Alten“, begann Justin.

„Ich wünschte, du könntest hier bleiben.“

„Das wäre überhaupt die allerbeste Lösung. Aber das geht nun mal nicht. Legst du ’ne DVD ein? Ich hätte Lust auf ein Video.“

„Kann ich machen.“

Arne machte es sich auf seinem Bett gemütlich, Justin auf einer Luftmatratze direkt davor. Sie schauten sichResident Evil Apokalypsean, den Arne eigentlich heute in die Videothek hätte zurückbringen müssen. Zwischendurch schaute Justin zu seinem Freund hoch, den er nur von der Seite her sah. Sein Blick zeichnete Arnes Profil nach und er wurde sich wieder bewusst, dass er so ziemlich allein auf der Welt wäre, wenn er ihn verlieren würde. Und wieder spürte er dieses eigenartige Gefühl, das ihn immer überkam, wenn er in der Nähe seines Freundes war. Er wollte ihn auch heute wieder berühren, ihm näher sein, als das bei besten Freunden üblich war. Aber das konnte nur ein Irrtum sein. Justin unterdrückte dieses Verlangen und wartete darauf, dass es vorüber ging.

Er drehte sich zur Seite, weil sein Rücken zu schmerzen begann. Arne bemerkte es und forderte ihn auf, doch zu ihm auf das bequemere Bett zu kommen, so lange der Film lief. Justin zögerte nur kurz, dann kletterte er umständlich hoch. Sie lagen nebeneinander, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Ihre Oberschenkel und Ellbogen berührten sich und Justin merkte, dass sein Herz schneller zu schlagen begann. Schon bald konnte er sich nicht mehr auf den Film konzentrieren und hatte nur noch damit zu tun, seinen Körperunter Kontrolle zu halten. Es regte sich etwas bei ihm, das eigentlich in einer solchen Situation außen vor bleiben sollte. Wie zufällig richtete er sich etwas mehr auf und legte ein Kissen auf seinen Schoß, was jedoch nicht seine innere Spannung reduzierte.

Was wäre eigentlich, wenn er sich Arne offenbarte? Er vertraute ihm doch. Mehr als sagen, dass er nicht so empfand, konnte dieser doch nicht. Er glaubte, seinen Freund gut genug zu kennen. Er würde ihm sicher keinen Strick daraus drehen oder ihn vor den anderen Jungs ihrer Clique hinhängen. Aber Justin befürchtete trotzdem, es könne ihrer Freundschaft schaden, genau deshalb hatte er bis heute immer geschwiegen.

Der Film steuerte auf das aktiongeladene Finale zu und Justin spürte, dass der Drang, sich Arne zu offenbaren, heute sehr viel stärker war als sonst. Warum? Verstohlen schaute er zur Seite, sein Freund merkte es, sah ihn seinerseits an und grinste.

„Soll ich versuchen, uns zwei Flaschen Bier aus dem Kasten meines Vaters zu organisieren? Ma und Dad sitzen vor dem Fernseher, vielleicht schaffe ich es.“

„Du denkst, du kannst etwas vor ihr verbergen? Sie hat zusätzliche Augen im Hinterkopf und wahrscheinlich sogar zwei weitere unter jedem Fuß.“

„Ja klar!“

Arne robbte über Justin weg, um aufzustehen und diesen durchfloss bei den unvermeidlichen Berührungen ein warmes Gefühl. Er hörte wie Arne seinen Eltern zurief, er würde eine Flasche Cola aus dem Keller holen und sah ihn kurze Zeit später auch mit einer solchen zurück ins Zimmer kommen. Unter dem Pullover hatte er zwei Flaschen Kölsch in den Bund seiner Hose gesteckt.

„Geschafft! Machst du sie auf?“

Justin wusste, dass Arne es zu einer Art Sport gemacht hatte, Heimlichkeiten vor seiner Mutter zu haben und vor allem zu behalten. Es gelang selten genug, denn Arnes Ma hatte einen sechsten Sinn für Geheimniskrämereien.

Justin nahm sein Feuerzeug und die Kronkorken flogen durchs Zimmer. Arne hob sie auf und steckte sie in seine Hosentaschen, ehe er wieder zurück aufs Bett kam. Eine Weile schwiegen sie, Justins Gedanken drehten sich immer noch um dieses Thema, das ihn heute einfach nicht loslassen wollte. Wie konnte er das Gespräch unauffällig in diese Richtung lenken, um wenigstens schon einmal zu erfahren, was Arne von Gays hielt? Sie hatten eigentlich schon alle Themen besprochen, einer wusste vom anderen, was er dachte undfühlte. Nur diese eine Sache war nie Gegenstand einer Erörterung gewesen. Das konnte an Justins Angst liegen, aber auch daran, dass Arne es umgehen wollte.

„Sollen wirOomph!hören?“, fragte Arne nach Ende des Films.

„Dann sollten wir aber zuerst das Bier austrinken, denn deine Mutter tanzt sicher hier an, sobald sie Musik hört.“

Justin nahm einen großen Zug aus der Flasche.

„Wahrheit oder Pflicht?“

„Klar!“

Justin nahm sich endgültig vor, das Thema, das ihn so sehr interessierte, auch heute lieber nicht anzusprechen. Irgendwann würde sich eine Möglichkeit ergeben, er musste es nicht erzwingen. So etwas wie Erleichterung über die eigene Entscheidung machte sich in Justin breit und er grinste, während er Arne beobachtete, der an der Anlage hantierte.

„Gehst du morgen mit zur Schule?“, fragte Arne später, als sie sich schon zum schlafen hingelegt hatten.

„Ich weiß noch nicht.“

5.

Louis ging vorläufig weiter zur Schule. Er sprach das Thema, das ihm auf den Nägeln brannte, nicht mehr an. Vielleicht konnte er Angela und Thomas erweichen, wenn er sich besonders pflegeleicht gab? Er war außerordentlich freundlich und aufmerksam, seine momentanen Pflegeeltern sahen ihn niemals weinen. Er sorgte dafür, dass er immer allein war, wenn die Trauer ihn übermannte.

Trotz all seiner Bemühungen kam jedoch schon bald der Tag, an dem er zu einem Arzt sollte und absolut nicht blickte, weshalb. Das Rätsel wurde noch größer, als er vor dem Ärztehaus erkannte, dass es sich um einen Kinder- und Jugendpsychiater handelte. Wieder hatte er das Gefühl, nur eine Gliederpuppe zu sein, die von anderen bewegt wurde.

Angela und Thomas hatten ihn bis in die Praxis begleitet, ins Sprechzimmer allerdings gingen sie nicht mit. Dort saß er eine Weile allein vor einem großen Schreibtisch aus hellem Metall und wartete, bis der Arzt hereinkam. Dieser wirkte ein wenig zerstreut, als er ihm die Hand reichte, ohne ihm in die Augen zu schauen, um sich dann hinter den Schreibtisch zurückzuziehen.

„So, mein Junge. Dann erzähl mir von deinen Problemen.“

Louis schaute den Arzt ratlos an und schwieg.

„Du kannst mit mir sprechen, ich kann dir helfen.“

„Wobei?“

„Sag du es mir! Bisher weiß ich nur, dass du mit dem Tod deiner Eltern nicht fertig wirst, was völlig normal ist. Du brauchst jemanden, bei dem du dich aussprechen kannst.“

„Brauch ich das?“

„Schau, es hat keinen Sinn, wenn du dich verschließt. So entstehen immer weitere Aggressionen, bis es schließlich soweit ist, dass du sie nicht mehr kontrollieren kannst und sie zu einem Bestandteil deines Lebens geworden sind. Das müssen wir verhindern. Und das können wir nur, wenn wir drüber reden.“

„Was ist los? Welche Aggressionen?“

„Deine Pflegeeltern sagten mir, wenn du deine Wutanfälle bekommst, bist du kaum zu beruhigen und zerstörst Dinge.“

Louis schaute den Arzt verwundert an. Was sollte dies alles?

„Ich mache nichts kaputt und ich hab auch keine Wutanfälle. Was soll der Blödsinn?“

„Es ist klar, dass du das jetzt sagst. Leugnen ist die erste Reaktion, wenn man auf eigene, psychische Probleme aufmerksam gemacht wird.“

„Aber ich habe wirklich keine psychischen Probleme!“

Louis’ Stimme war lauter geworden. Er hatte sich in seinem Stuhl aufgerichtet und starrte sein Gegenüber aus seinen braunen Augen böse an. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Wie konnte er diesem Psychiater begreiflich machen, dass ihm nichts fehlte? Dass er ganz normal war und durchaus in der Lage, die Trauer selbst und allein zu bewältigen?

„Bitte Louis, bleib ganz ruhig. Zuerst musst du erkennen, dass ich dir nur helfen will und nicht dein Feind bin. Ich weiß, es macht dich wütend, dass deine Eltern dich allein gelassen haben. Aber, sie haben dich nicht absichtlich allein gelassen. Sie sind nicht fort, weil sie dich nicht genügend geliebt haben!“

Louis verzog das Gesicht.

„Nein, sie sind nicht mehr da, weil ihr Flieger abgestürzt ist.“

„Siehst du, eine Tatsache also, auf die sie keinen Einfluss hatten. Du musst aufhören, es ihnen vorzuwerfen, dann bekommst du deine Wut in den Griff.Du musst loslassen.“

Louis wurde langsam tatsächlich sauer. Aber er sagte sich, dass er ruhig bleiben musste, denn er wurde das Gefühl nicht los, dass der Arzt geradezu auf einen Ausbruch wartete.

„Ich werfe meinen Eltern nicht vor, dass sie gestorben sind. Was soll der Quatsch? Und ich bin auch nicht wütend auf sie. Natürlich geht es mir nicht gut, ich vermisse sie. Aber Angela und Thomas haben mich seit ihrem Tod nicht ein einziges Mal wütend gesehen. Ich heule manchmal, aber das wird doch wohl erlaubt sein. Und das tu ich auch meist nicht in ihrer Gegenwart.“

„Du siehst, du gehst mit deiner Trauer nicht frei um, du willst sie kontrollieren. Das ist es, was dir zu schaffen macht. Gefühle müssen zugelassen werden, sonst verwandeln sie sich und machen dich zu einem deprimierten oder sehr wütenden Menschen.“

Louis biss sich auf die Unterlippe. Er musste unbedingt Ruhe bewahren, obwohl er spürte, dass er diesen Arzt da vor sich am liebsten angebrüllt hätte. Als er schwieg, fuhr der Psychiater fort:

„Erzähl mir von dem Tag, als du die Glastür zerschlagen und deinen Onkel angegriffen hast.“

„Was? Das hab ich doch gar nicht!“

„Ehe du wieder beginnst, alles zu leugnen, ich habe die Fotos der kaputten Tür gesehen und auch die Verletzungen deines Onkels. Du kannst froh sein, dass sie den Weg zu mir gewählt haben, um dir zu helfen und nicht zur Polizei gegangen sind.“

Jetzt konnte Louis sich nicht mehr zurückhalten. Er sprang auf und stieß dabei mit den Kniekehlen an den Stuhl, so dass dieser umkippte.

„Aber ich war das mit der Tür nicht, es war Thomas. Da war ich schon längst in meinem Zimmer. Das ist doch alles Bullshit, was soll das?“, rief er aus.

Auch der Arzt war aufgestanden, kam um den Schreibtisch herum und stellte den Stuhl wortlos auf.

„Setz dich bitte wieder. Wir können uns doch ruhig und sachlich unterhalten.“

Louis kam der Aufforderung widerwillig nach.

„Ich war das wirklich nicht und Thomas habe ich auch nicht angegriffen.“

„Projektion und Verleugnung ist normal, ich habe bereits gesagt, dass ...!“

„Mensch, verstehen Sie nicht, dass das alles nicht wahr ist? Ich verstehe nicht, warum die so einen Mist erzählen. Was haben sie davon?“, unterbrach Louis ihn mit noch immer erhobener Stimme.

„Bitte Louis, du musst mitarbeiten. Vielleicht hilft es dir, wenn ich dir sage, was für dich auf dem Spiel steht. Wenn du weiterhin unberechenbar und aggressiv bleibst, wird dir der Aufenthalt in einem heilpädagogischen Heim mit psychologischer Betreuung nicht erspart bleiben.“

In diesem Moment verflog die Rätselhaftigkeit dieses Vorganges wie Raureif unter der aufgehenden Sonne. Das war es also! Louis begriff schlagartig, um was es ging.

„Lassen Sie mich raten, dieses Heim wird von der Krankenkasse bezahlt, oder?“

„Natürlich, aber dabei kommt es natürlich auf die Diagnose an. Und bitte versteh mich nicht falsch, es muss ja nicht dazu kommen.“

„Es wird aber dazu kommen. Sie wollen das Geld für ein Internat sparen, mich aber trotzdem loswerden. Verstehen Sie das nicht?“

„Wenn ich ehrlich bin, nein, ich verstehe nicht, was du meinst.“

„Oh Mann, meine Tante ist vorübergehend Treuhänder über mein  Erbe. Und scheinbar will sie, dass es so bleibt, wenn’s geht länger als bis zu meiner Volljährigkeit. Wenn ich bis dahin in der Psychiatrie lande, ist das ein guter Grund, oder etwa nicht?!“

„Für mich sieht das eher so aus, als würdest du dir ein Feindbild schaffen, das du bekämpfen kannst, um dich deiner Trauer nicht stellen zu müssen.“

„Sie haben ja einen Knall!“

Louis sprang wieder auf und rannte zum Fenster. Von dort schrie er weiter: „Ich bin nicht aggressiv und auch nicht unberechenbar. Die wollen mich ausschalten und mit Ihrer Hilfe werden sie das auch schaffen. Verdammt, das sieht doch jeder.“

„Wie wäre es, wenn du dich erst einmal wieder beruhigst? Komm, setz dich bitte hin. Wir können darüber reden, vielleicht finden wir einen Weg.“

Der Blick des Arztes war inzwischen sehr wachsam geworden und Louis versuchte verzweifelt, seine Wut über die gerade gemachte Erkenntnis zu unterdrücken.

6.

Justin entschied während des Frühstücks, dass er auch heute keinen Bock auf Schule hatte. Er würde nach Hause gehen, sich in die Wohnung schleichen und noch etwas schlafen. Da seine Eltern wahrscheinlich wie immer noch bis nachmittags in einer Art alkoholgetränktem Koma lagen, würden sie es nicht merken.

Vor dem Haus gingen sie noch ein paar Meter nebeneinander her, damit Arnes Mutter keinen Verdacht schöpfte. Dann bog Justin ab und sein Freund ging weiter zur Bahnstation. Auf dem Weg heim beschäftigten Justins Gedanken sich wieder mit seinen eigenartigen Empfindungen. Er wurde sich klar darüber, dass er am vergangenen Abend haarscharf davor gestanden hatte, sich Arne zu offenbaren. Jetzt, bei hellem Tag und aus der Vertraulichkeit des gemeinsamen Abends gerissen, war er froh, dass er es dann doch nicht gemacht hatte. Und er nahm sich vor, auch weiterhin zu schweigen.

Als er in die Straße einbog, in welcher das Fünffamilienhaus stand, sah er schon von weitem Löschzüge und Polizeiwagen. Sie standen genau vor dem Haus, in dem er mit seinen Eltern im Dachgeschoss lebte. Als nächstes fiel sein Blick auf das Haus selbst und er erkannte, dass es das Dach nicht mehr gab. Die noch vorhandenen Mauern waren schwarz verkohlt und ragten wie verfaulte Zähne in den grauen Himmel. Justin blieb stehen und war kurz wie erstarrt. Dann begann er zu laufen. Er kam an, als man gerade einen Zinksarg aus der Haustür schleppte und wusste ohne weitere Erklärungen, dass dort entweder sein Vater oder seine Mutter herausgetragen wurde.

„Was ist passiert?“, fragte er einen Feuerwehrmann, der gerade dabei war, ein paar Dinge zusammenzuräumen.

„Nach was sieht es denn aus? Soweit wir das jetzt schon sagen können, ist jemand mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen. Die vier unteren Wohnungen hat es nicht erwischt ... na ja, bis auf den Wasserschaden. Wohnst du hier in der Nähe?“

„Nein, ich komme zufällig vorbei. Hat mich halt nur interessiert.“

Er zog sich ein paar Schritte zurück, sein Inneres war im Aufruhr. Er hatte rein intuitiv mit einer Lüge reagiert, es war immer besser, wenn man sich ein Fluchttürchen offen ließ. Atemlos und durcheinander verfolgte er die Aktivitäten, bis Helfer schließlich einen zweiten Sarg herausbrachten. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er bald herausfinden würde, ob es wirklich überall besser sein würde als bei seinen Eltern.

7.

Louis nahm sich vor, zu schweigen. Er würde den Teufel tun und seiner Tante nebst Mann nun wirklich Munition zu liefern, die sie gegen ihn verwenden konnten. So hielt er sich bereits auf dem Nachhauseweg an sein selbst verordnetes Redeverbot, obwohl besonders Angela ihn ausfragen wollte.

Er hatte vorhin in der Praxis weiter versucht, den Arzt von seiner Sichtweise zu überzeugen, aber es war offensichtlich gewesen, dass dieser ihm zwar zuhörte, aber nicht glaubte. Sogar als Louis seine Wut unter Kontrolle gebracht hatte, ruhig wurde und auf die Fragen nicht mehr antwortete, war das für den Psychiater nur ein weiterer Beweis für seine Labilität. Er wurde schließlich mit der Information entlassen, dass er jetzt jeden zweiten Tag zu einer Sitzung erwartet werden würde.

Zuhause zog er sich sofort in sein Zimmer zurück und verschloss die Tür hinter sich ab. An wen konnte er sich wenden? Er war schon immer eher ein Einzelgänger und hatte keinen besonderen Freund, dem er sich anvertrauen konnte. Die Kontakte, die er von der Schule her hatte, waren eher lockerer Natur. Er war gut gelitten, fand jedoch trotzdem keinen Zugang zu den anderen und seine Begegnungen gingen über die Oberflächlichkeit des täglichen Treffens in der Schule kaum hinaus.

Er schaute sich das Bild seiner Eltern an, das auf seinem Nachttisch stand und griff danach. Er presste es an seine Brust und begann zu weinen. Er fühlte sich verlassen und hilflos, wusste nicht wohin mit seiner hoffnungslosen Angst. Er wollte aus diesem Albtraum erwachen, aber es blieb seine Realität.

In diesem Moment drückte jemand die Klinke und polterte gegen die verschlossene Tür. Es folgten ein lautes Klopfen und der gebrüllte Befehl seines Onkels, aufzuschließen. Louis fuhr zusammen und sein Herz begann wie wild zu klopfen, aber er kam der Aufforderung nicht nach. Auch später, als seine Tante ihm Abendessen anbot, reagierte er nicht.

Er überlegte die ganze Zeit, wie er den Psychiater davon überzeugen konnte, dass man ein Spiel mit ihm trieb. Für diesen Arzt war jede normale, menschliche Reaktion ein Zeichen für psychische Fehlleistungen und jeder Erklärungsversuch lediglich eine Ausrede.

8.

Justin sah, dass die Nachbarn in einer Gruppe zusammen standen und aufgeregt miteinander sprachen. Er zog sich noch etwasweiter zurück, aber es war zu spät. Genau in diesem Moment rief jemand seinen Namen. Er erschrak und was folgte, war eine Kurzschlussreaktion. Er begann zu laufen, rannte die Straße wieder zurück und an der Kreuzung weiter, blieb erst stehen, als er Seitenstiche bekam und jeder Atemzug in seinem Hals brannte. Keuchend stützte er sich auf seinen Knien ab und ließ den Kopf hängen.

Er hatte ganz automatisch den Weg zur Schule eingeschlagen und auch wenn dieser ziemlich weit war, ging er zu Fuß weiter, jetzt jedoch in normaler Geschwindigkeit. Er hatte nur einen Wunsch. Er musste Arne von dieser Sache erzählen und das so schnell wie möglich.

Als er vor der Gesamtschule ankam, war die große Pause gerade beendet. Sein Blick suchte trotzdem den leeren Schulhof ab. Was sollte er in der Wartezeit bis zur nächsten Pause tun? Wie konnte er mit seinen widersprüchlichen Gefühlen der Bestürzung und des schlechten Gewissens umgehen? Er fühlte sich schuldig an dem, was geschehen war und wusste nicht, weshalb das so war. Mehr denn je sehnte er sich nach Arne, dem es sehr oft gelang, die richtigen Worte zu finden, um seinen Freund zu beruhigen.

Er setzte sich auf die niedrige Umgrenzungsmauer des Wohnhauses gegenüber der Schule. Wie würde es jetzt weitergehen? Eines war ihm ganz klar – er würde sich nicht in ein Heim bringen lassen. Aber welche anderen Möglichkeiten gab es?

9.

Louis absolvierte die nächsten drei Termine beim Psychiater mit einer nach außen hin stoischen Ruhe. Er gab sich so ausgeglichen wie möglich und sprach auch nicht mehr von seinem Verdacht. Er hatte sich dazu durchgerungen, dem Arzt zu sagen, was dieser hören wollte, um ihn davon abzubringen, in ihm einen angehenden Neurotiker mit psychopathischer Neigung zur Gewalt zu sehen.

Außerdem hatte er für den heutigen Nachmittag einen Termin bei Rechtsanwalt Paul Sydor, dem Familienanwalt und langjährigen Freund seiner Eltern. Er war zu dem Schluss gekommen, dass nur dieser ihm helfen konnte. Natürlich war es eine heimliche Aktion, denn er befürchtete, wenn seine Pflegeeltern davon erfuhren, würden sie es verhindern. Es blieb ihm einfach nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen.

Da er heute allein im Ärztehaus war, gab es kein Problem, hinterher mit der Bahn in die Innenstadt zu fahren. Er erzählte Sydor von den Vorgängen und war froh, dass dieser ihn nicht wie der Psychiater auf diese eigentümlich mitleidige Art anschaute. Der Mann stellte sachliche Fragen und schließlich konnte Louis sogar noch anbringen, dass er befürchtete, seine Tante würde nicht, wie es im Testament stand, nach dem Bruder in Amerika suchen, weil sie hoffte, mit ihrem Mann auf Dauer die monatliche Vergütung einstreichen zu können und vielleicht sogar an das Grundvermögen heran zu kommen.

Der Anwalt versprach, sich zu informieren. Er lächelte nur, als der Junge ihm sein monatliches Taschengeld von 100 Euro als Honorar anbot und bot statt dessen an, auf sein Geld zu warten, bis Louis über das Vermögen verfügen konnte. Dieser wusste, dass er eine solche Möglichkeit nur aufgrund der Freundschaft zwischen dem Anwalt und seinem Vater bekam. Es gab ihm ein gutes Gefühl, ernst genommen zu werden und er fühlte sich nicht mehr ganz so allein und schutzlos.

Als er später nach Hause kam und sich sofort wieder in sein Zimmer zurückziehen wollte, fand er es abgeschlossen. Sein Onkel tauchte hinter ihm im Flur auf.

„Heute wirst du dich nicht einschließen. Komm hier rein, wir haben mit dir zu reden.“

Louis zögerte und sah Thomas nicht an.

„Jetzt sofort!“

Vor sich auf den Boden schauend kam der Junge dieser Aufforderung nach und ging an seinem Onkel vorbei. Er setzte sich auf die vorderste Kante der Couch und wartete ab.

„Was wolltest du beim Dr. Sydor?“, fragte Thomas.

Louis fuhr der Schreck in die Glieder. Fieberhaft suchte er nach einer unverfänglichen Antwort und musste feststellen, es gab keine. Woher wusste Thomas überhaupt davon? Stand er in Verbindung mit dem Anwalt Sydor?

„Rede endlich!“

„Ich ... ich ...“

„Du wolltest dich ausheulen und auch ihm wie dem Psychiater deine Lügen auftischen, richtig? Du wolltest uns schlecht machen.“

„Nein, ich wollte ...“

„Halt den Mund. Wir werden jetzt andere Seiten aufziehen, mein Lieber. Mag sein, dass deine Eltern dich verwöhnt haben und du denkst, das steht dir zu. Aber das wahre Leben ist anders. Dumusst nicht denken, dass du eine einzige Stunde am Tag unbeobachtet bist und wie wir jetzt gesehen haben, haben wir den richtigen Riecher gehabt, als wir dir nicht vertrauten.“

„Wer kann denn hier wem nicht vertrauen? Ihr wollt an das Geld meiner Eltern und dabei störe ich!“, brach es aus Louis heraus. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt und sah keinen Sinn mehr darin, zu schweigen.

„Du vergisst, dass alles, was passiert, der Wunsch deines Vaters ist. Finde dich damit ab oder lass es. Wenn du kämpfen willst, gibt es eben Kampf. Aber du kannst nicht gewinnen. Man wird dir deine Hirngespinste schon austreiben, dafür werde ich sorgen.“

Louis schaute seine Tante an, aber diese wich seinem Blick aus.

„Und noch eins, verlass dich nicht auf den Anwalt, ich werde mich morgen mit ihm in Verbindung setzen und einige Dinge klarstellen.“

„Das hat Papa sicher nicht gewollt. Er dachte, auf seine Schwester könnte er sich verlassen, er wusste ja nicht, was für Betrüger und Heuchler ihr seid!“

Louis sprang auf und rannte Richtung Flur. Er wollte nur raus hier, weg aus der Wohnung und fort von seinen Verwandten. Aber sein Onkel folgte ihm, erreichte ihn genau an der Haustür. Der Junge hatte sie bereits halb geöffnet, sie wurde ihm aus der Hand und wieder ins Schloss geschlagen.

„Oh nein, du wirst hier bleiben.“

Thomas nahm ihn am Oberarm und zog ihn mit sich. Louis war mit seinen ein Meter neunzig um einiges größer als sein Onkel, aber dieser hatte eine bullige Figur inklusive der dazugehörigen Kraft, gegen die der schlaksige Junge keine Chance hatte.

„Du wirst zukünftig keinen Schritt mehr allein machen. In der Schule werde ich dich krank melden. Und jeder wird das verstehen nach dem schweren Schicksalsschlag, den du verkraften musst.“

Thomas bereitete es keine Probleme, den sich heftig wehrenden Louis bis vor seine Zimmertür zu schleifen. Er schloss auf und ging vor, ohne ihn loszulassen. Er riss das Telefonkabel aus der Wand und schubste den Jungen auf sein Bett. Von dort aus erkannte er, dass sein Computer nicht mehr auf dem Schreibtisch stand.

„Rück dein Handy raus.“

Louis reagierte nicht.

„Los, wird’s bald?!“

Thomas griff nach dem Mobiltelefon am Gürtel des Jungen. Was folgte war ein Handgemenge, in dessen Verlauf Louis auf dem Rücken liegend nach Thomas trat. Der taumelte rückwärts gegen den leeren Schreibtisch, warf diesen um und landete unsanft auf dem Boden. Louis stockte einen Moment lang der Atem, erschrocken beobachtete er seinen Onkel, der bei seinen Bemühungen, wieder auf die Beine zu kommen, schmerzhaft das Gesicht verzog. Er kam zum Bett, streckte die Hand aus und bekam das Handy diesmal sofort. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer, hinter ihm drehte sich der Schlüssel.

Louis war immer noch erschrocken über das, was gerade passierte. Er hatte das nicht gewollt und wusste sofort, dass es gegen ihn verwendet werden würde. Dazu kam, dass er nun gar keine Möglichkeit mehr haben würde, mit irgendwem außer dem Psychiater in Kontakt zu treten.

10.

Die Zeit bis zur nächsten Pause verstrich sehr langsam. Justin war unruhig und fühlte sich gehetzt, obwohl sich niemand um ihn kümmerte. Wenn ihn jemand angesprochen hätte, wäre er ausgerastet, auch ohne wirklichen Grund. Wenigstens das hatte er zu Hause gelernt - sich verteidigen, ohne erst einstecken zu müssen. Dementsprechend war sein Ruf auf der Schule, aber der schmeichelte ihm. Außerdem half er ihm in Momenten wie diesem, wo er dumme Bemerkungen wirklich nicht brauchen konnte.

Es war wie eine Befreiung für ihn, als er Arne später in einem Pulk anderer Kids auf dem Schulhof auftauchen sah. Er hatte keine andere Möglichkeit, als auf den Schulhof zu gehen und hoffte, keiner seiner Lehrer sah ihn.

Er stürzte auf Arne zu und zog ihn am Ärmel hinter sich her.

„Hey, was issen los?”

„Komm mit, ich muss dir was sagen.“

Justin schlug den Weg zu den beiden großen Müllcontainern ein, die an das Schulgrundstück angrenzend standen. In ihrem Sichtschutz blieb er endlich stehen. Arne rümpfte die Nase und grinste.

„Mensch, was ist denn los? Puh, hier stinkt es gewaltig! Hat dir jemand den Geruchssinn geklaut?“

„Meine Eltern sind tot!“

Kurz wurde Arnes Gesicht ernst, dann begann er jedoch wieder breit zu grinsen.

„Warum? Hast du sie erschossen? Oder haben sie sich gemeinschaftlich in einer Pulle billigem Fusel ersäuft?“

„Das ist kein Witz, verdammt noch mal. Sie sind wirklich tot, letzte Nacht ist in unserer Wohnung ein Feuer ausgebrochen. Wahrscheinlich war das sogar meine Mutter schuld, weil sie im Suff immer einpennt und sich trotzdem dauernd eine Zigarette ins Gesicht steckt ... gesteckt hat. Couch, Sessel, Tische, das Bett und die Teppiche, alles hatte schon Brandlöcher, aber es hat jedes Mal nur kurz vor sich hin geschmort. Diesmal ist es nicht gut ausgegangen.“

Arne merkte, dass Justin keine Scherze machte und wurde blass.

„Du meinst, sie sind verbrannt?“

„Ich kam zu Hause an und da trugen sie gerade zwei Särge raus. Ich bin dann weg gelaufen. Ich habe Angst, dass sie mich in ein Heim bringen, denn das werden sie tun. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich brauche deine Hilfe!“

Justin drängte aufsteigende Tränen zurück und Arne griff nach seiner Hand.

„Uns wird schon was einfallen.“

Es läutete zur nächsten Stunde und er fügte an:

„Ich geh jetzt noch mal rein, dann hau ich aber ab. Ich werde sagen, mir ist übel oder so was. Warte einfach hier. Warte und mach keinen Unsinn solange.“

„Was für einen Unsinn denn? Natürlich werde ich warten!“

Justin schaute Arne nach, der über den Schulhof rannte und im Gebäude verschwand. Er wechselte wieder auf die andere Straßenseite und setzte sich auf die Mauer. Tatsächlich verging keine halbe Stunde, bis Arne zurückkam. Sein Freund schaute sich kurz um, sah ihn und kam herüber.

„Lass uns irgendwo eine Cola trinken. Ich kann jetzt noch nicht nach Hause. Ich glaub, ich hab auch schon eine Idee, was wir machen können. Jedenfalls wäre es eine vorübergehende Lösung, bis uns was Besseres einfällt.“

11.

Bis zum nächsten Tag blieb Louis ohne Essen allein in seinem Zimmer. Zu trinken hatte er nur Leitungswasser aus dem angrenzenden, kleinen Badezimmer, das seine Eltern extra für ihn hatten einbauen lassen. Er hatte noch mehr Zeit zum Nachdenken und reagierte übernervös beim kleinsten Geräusch, das er von draußen hörte.

Gegen Mittag des folgenden Tages schloss Angela die Tür auf. Sie brachte ein Marmeladenbrot und Kaffee, stellte das Tablett auf den Nachttisch und sagte:

„Iss das und dann geh duschen. Wir müssen zu Doktor Eich. Ich muss dir sicher nicht sagen, wieso dieser Termin außer der Reihe nötig geworden ist, oder?! Wir haben ihn bereits informiert.“

Angela schloss hinter sich wieder ab. Louis hatte Hunger, aber als er in das Brot biss, war seine Kehle wie zugeschnürt. Er konnte nicht schlucken, ging ins Bad und spuckte den Bissen in die Toilette. Er trank den Kaffee, duschte dann wie gefordert und zog sich an. Wartend saß er anschließend auf dem Bett und die Zeit kam ihm endlos vor, bevor sich die Tür erneut öffnete. Diesmal war es Thomas, der dort stand. Er trug den linken Arm eingegipst und in einer Schlinge und hatte Kratzer im Gesicht.

„Komm jetzt!“

Als Louis an ihm vorbei ging, fuhr er fort:

„Versuch nichts Unüberlegtes. Wir haben für alles vorgesorgt und du wirst den Kürzeren ziehen, egal, was du machst.“

Louis nickte nur und ging weiter auf die Haustür zu. Thomas hätte diese Warnung gar nicht aussprechen müssen, der Junge hatte sowieso keine Kraft, irgendetwas zu tun. Außerdem hatte er nicht mal die kleinste Idee, wie er sich am eigenen Schopf aus diesem Schlamassel herausziehen konnte. Einfach weglaufen würde nichts bringen, ihm blieb nur, den Arzt zu überzeugen. Und damit sah es ganz schlecht aus, das war ihm klar.

12.

Arnes Plan hörte sich gut an, er hatte vorgeschlagen, dass Justin erst einmal mit zu ihm kam. Deshalb machten sie sich gemeinsam auf den Weg zu ihm nach Hause. Justin blieb erst einmal vor dem Gebäude, während sein Freund herausfinden wollte, ob seine Mutter bereits Bescheid wusste. Vom Balkon aus wollte er dann ein Zeichen geben, ob sein Freund klingeln konnte oder nicht.

Nach einer kurzen Weile kam von oben der eindeutige Wink, dass er sich versteckt halten sollte, bis Arne ihn holen kam. Dessen Mutter wusste also tatsächlich bereits Bescheid, es wäre jedoch auch ein Wunder gewesen, wenn nicht. Sie hielt sich nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch über Regional TV und Tageszeitung auf dem Laufenden.

Es dauerte über zwei Stunden und es dämmerte bereits, als Arne runterkam. Von der Haustür aus winkte er Justin zu sich und legte gleichzeitig den Finger auf seine Lippen. Dann ging er vor bis ganz nach oben in das Sechsfamilienhaus. Justin wusste, der Speicher gehörte zu den beiden oberen Wohnungen, für die es keinen Keller gab. Er war unterteilt in zwei voneinander unabhängige und abschließbare Bereiche. Dort sollte er erst einmal unterkommen.

13.

Louis saß wie ein Häufchen Elend vor Doktor Eich. Sein Widerspruchsgeist war in der gefühllosen und schroffen Atmosphäre der letzten Zeit mit all seinen fruchtlosen Versuchen, sich aufzulehnen, geschmolzen wie Butter auf einer Herdplatte. Und es kam, wie er es erwartet hatte, Thomas’ Verletzungen wurden ihm und einem neuerlichen Wutausbruch angelastet und er konnte nichts tun oder sagen, dass dies widerlegte. Nach einem langen Einleitungsmonolog kam der Arzt dann endlich zum Punkt:

„Du musst einsehen, dass wir dich schützen müssen. Dich und auch die anderen. Es ist nur zu deinem Besten, wenn du einer intensiven Psychotherapie unterzogen wirst.“

„In einer Klinik?“

Louis’ Stimme klang leise und kraftlos.

„Nein, es wird keine stationäre Aufnahme. Die Normalität soll nicht weiter als nötig eingeschränkt werden. Wichtig ist, dass du aus der jetzigen Umgebung rauskommst und immer einen Ansprechpartner haben wirst, zu dem du Vertrauen aufbauen kannst. Du gehst dort zur Schule und lernst den sozialen Umgang mit anderen Menschen. Für dich als Einzelkind sicher eine sehr wichtige Erfahrung. Es gibt da viele Jungs in deinem Alter, auch sie haben Probleme und du wirst nie allein sein und vielleicht sogar Freunde finden.“

„Also ein Heim?“

„Es ist weder ein Heim noch eine Klinik, auch kein Waisenhaus. In einigen Bundesländern wurde im letzten Jahr ein Modellprojekt gestartet, erst einmal nur für Jungs mit psychischen Problemen. Sie kommen in diesen Einrichtungen aus unterschiedlichem Umfeld und verschiedenen Schichten zusammen. Damit werden Schranken eingerissen, Vorurteile und Feindschaften abgebaut. Die schulischeAusbildung ist sehr gut, verschiedene Abschlüsse sind möglich. Finanziert wird das Ganze von den Ländern und ...“

Der Psychiater redete und redete, aber Louis hörte nur halb zu. Alles was er realisierte war, dass seine Pflegeeltern es geschafft hatten. Er wurde abgeschoben und dabei war es egal, wohin die Reise letztendlich ging.

Bereits am Abend musste er seine Koffer packen, gleich am nächsten Morgen würden Angela und Thomas ihn wegbringen. Nebenbei hatte er erfahren, dass das „Alternative Jugendhaus“ in einem kleinen Ort in Bayern lag. Weit weg von Köln und allem, was er kannte. Aber das war ihm inzwischen auch nicht mehr wichtig. Er musste alles annehmen, wie es kam und konnte nur hoffen, dass es nicht so schlimm werden würde, wie er befürchtete.

14.

Auf dem irgendwann einmal zu einem Zimmer umgebauten Dachboden gab es kein Licht, dafür einige andere nützliche Dinge. Eine alte Matratze stand an der Wand, es gab drei Stühle, einen wackeligen Tisch und Kisten mit ausrangiertem Zeug, das genau wie die Möbel schon lange zum Sperrmüll sollte. Es roch muffig, Staub lag auf allem und die meisten Sachen waren durch Spinnweben miteinander verbunden.

„Leg dir die Matratze hin, aber sei vorsichtig. Unsere Wohnung ist genau hier drunter. Ich habe mir unten schon Sachen zusammengelegt. Sobald ich die Möglichkeit habe, bringe ich dir Decken und eine Lampe, später auch was zu essen. Meine Mutter ist im Moment total aus dem Häuschen, sie hat mich noch mehr ausgefragt als sonst. Sie haben in den Nachrichten über den Brand berichtet und auch, dass du noch nicht gefunden werden konntest. Sie weiß, du bist nicht ums Leben gekommen, denn du warst bei uns. Und sie hat auch schon angerufen und das irgendwem gesagt. Also, egal was du tust, mach es leise.“

Justin nickte und Arne ging zur Tür und drehte sich dort noch einmal um.

„Schließ hinter mir ab. Und wenn du hier oben rauchst, sei vorsichtig.“

„Sehr witzig, wirklich! Denkst du, Brandstiftung liegt in den Genen oder was?“

Arne dachte über seinen letzten Satz nach und schlug sich dann mit der flachen Hand vor die Stirn.

„Entschuldige, daran hatte ich im Moment gar nicht mehr gedacht. Bis gleich.“

Mit diesen Worten schlich er aus der Tür und Justin blieb allein in der Dämmerung zurück. Einen Augenblick lang stand er nur da, dann machte er sich daran, etwas Platz für die Matratze zu schaffen. Er achtete dabei auf jede seiner Bewegungen und konnte trotzdem nicht jedes Geräusch verhindern.

Arne ließ sich Zeit, aber Justin wusste, es würde für seinen Freund auch alles andere als einfach sein, gleich so viele, heimliche Dinge zu erledigen. Und so legte er sich auf die Matratze und ließ den vergangenen Tag Revue passieren.

Natürlich, er empfand so etwas wie Trauer, sie äußerte sich jedoch eher in dem Gefühl, in der Luft zu hängen und nicht zu wissen, wie es weiterging. Immerhin hatte er bei seinen Eltern ein Bett gehabt und etwas zu essen gab es auch fast jeden Tag. Größtenteils hatte er seine Selbstständigkeit, auch wenn sie fortwährend mit Prügel und Angst gewürzt wurde. Er fühlte sich durchaus bereit, allein zu leben, aber er wusste, die Behörden würden das anders sehen.

Über seinen Gedanken schlief er ein, es war ein oberflächlicher Schlaf und er schrak hoch, sobald er das kratzende Geräusch an der Türe hörte. Um ihn herum war es inzwischen vollkommen dunkel geworden, durch das Dachfenster sah er den Mond. Er lauschte. Wieder das leise Kratzen. Er rappelte sich hoch und setzte behutsam Fuß vor Fuß, bis er die Tür erreicht hatte. Er schloss auf und Arne drängte sich voll bepackt an ihm vorbei in den kleinen Speicherraum. Justin ließ sein Feuerzeug klicken, die kleine Flamme gab nur unzureichend Licht. Aber er konnte erkennen, dass Arne alle mitgebrachten Dinge in die Decke gelegt und diese so als Sack genutzt hatte. Zum Vorschein kamen eine Stablampe, ein Kissen, ein Laken, ein Discman, ein paar CDs, eine kleine Salami, zwei dicke Brotscheiben, eine Tafel Schokolade und eine Zweiliterflasche Cola.

„Mehr konnte ich nicht auftreiben. Meine Alte dreht dermaßen am Rad, ich dachte, die geht nie wieder pennen. Sorry, aber es ging wirklich nicht früher.“

„Ist doch in Ordnung. Danke!“

Sie hockten sich nebeneinander auf die Matratze.

„Ich kann nicht lange bleiben, so wie die drauf ist, könnte es sein, dass sie noch mal aufsteht und die Wohnung inspiziert.“

„Ich weiß. Aber ein paar Minuten kannst du doch, oder?“

Es stellte sich heraus, dass Arne vergessen hatte, ein Messer mitzubringen. Sie fummelten beide an der Wurstpackung herum und es dauerte eine Weile, bis sie offen war. Erst als der Geruch des Inhaltes in Justins Nase stieg, spürte er, wie hungrig er war. Er biss abwechselnd in das trockene Brot und die Salami und spülte alles mit Cola hinunter.

Arne war die Nervosität in Person. Schon kurze Zeit später glaubte er zu hören, seine Mutter sei in der Wohnung unterwegs, sprang auf und machte sich ohne ein weiteres Wort hastig davon. Auch wenn Justin ihn verstand, hätte er ihn gerne noch bei sich gehabt. Er wollte über so vieles sprechen und saß nun auf der Matratze und starrte vor sich hin. Er hatte nicht einmal Lust, das Laken über die schmutzige Unterlage zu spannen. Er wünschte sich nichts mehr, als einfach mit Arne zusammen eine Wohnung zu mieten und da in Ruhe zu leben. Natürlich gab es keinen Weg dorthin, es war ein Traum und musste einer bleiben. Deshalb konnte er sich nur an der augenblicklichen Situation festhalten. Er war immerhin in Arnes Nähe und konnte ihn sehen, wenn auch nicht so oft und lange, wie er es sich gewünscht hätte.

Irgendwann erhob er sich schwerfällig, machte die Matratze zurecht und legte sich hin. Er schaltete die Lampe aus und schob sich die Ohrhörer in die Hörmuschel. So schlief er wenig später wieder ein, diesmal jedoch bescherte ihm seine körperliche und seelische Erschöpfung einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Das Klopfen am nächsten Morgen konnte er erst gar nicht einordnen. Verschlafen öffnete er die Augen und schloss sie gleich wieder, weil er von den durch die Dachluke genau in sein Gesicht fallenden kalten Sonnenstrahlen geblendet wurde. Erst allmählich kam die Erinnerung zurück, doch dann war er plötzlich schlagartig wach. Die Geschehnisse vom Vortag fielen über ihn her, er setzte sich ruckartig auf und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Dann hörte er das leise Klopfen wieder, das sich mit Kratzen am Holz der Tür abwechselte.

Er stand auf und bemerkte den heftigen Druck auf der Blase. So empfing er Arne dann auch mit dem Ausspruchich muss pinkeln!statt einemguten Morgen.

„Du musst noch ein paar Minuten warten, dann ist meine Ma einkaufen. Du kriegst unten sogar einen Kaffee.“

Arne stellte seine Schultasche ab.

„Oh Mann, hoffentlich bald!“

„Ich bleib heute morgen hier. Da sucht sie mich wenigstens nicht, wenn sie wiederkommt, denn für sie bin ich im Bildungsschuppen. Mein Vater wird mir eine Entschuldigung schreiben, ich hab ihm alles erzählt.“

„Du hast waaas?“

Justin wusste, dass Arne sich gegen die außerordentliche Dominanz der Mutter öfter mit seinem Vater verbündete. Trotzdem erschrak er.

„Na ja, was hätte ich tun sollen? In der Schule rumsitzen und dich hier allein lassen? Keine Sorge, mein Vater hält dicht. Er überlegt auch schon, was wir weiter machen könnten. Schließlich kannst du nicht hier bleiben, bis du achtzehn bist. Moment!“

Arne schlich zurück, öffnete die Brandschutztür zum Flur und lauschte. Dann erschien er wieder und winkte Justin heran.

„Komm, sie ist weg.“

Als erstes belegte Justin das Bad und bekam gleich danach eine Tasse Kaffee. Anschließend konnte Arne es nicht abwarten, wieder auf den Speicher zu gehen, auch wenn er noch nicht wirklich mit der Rückkehr seiner Mutter rechnete.

Sie setzten sich auf die Matratze und sprachen die abenteuerlichsten Möglichkeiten durch, wie es weitergehen könnte. Aber sie landeten immer wieder in dieser Sackgasse der Minderjährigkeit, durch die Justin auf jeden Fall in die Fänge des Jugendamtes geraten würde.

„Schade, dass wir nicht einfach zusammenziehen können“, meinte Arne irgendwann.

„Da habe ich auch schon drüber nachgedacht. Na ja, in zwei Jahren können wir, wenn wir es immer noch wollen.“

„Und wenn wir dann genug Kohle haben.“

Einen Moment schwiegen sie, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Justin stellte sich vor, wie es war, täglich neben Arne aufzuwachen, während dieser darüber nachdachte, wie es sein würde, nicht mehr unter der alles umfassenden Kontrolle seiner Mutter zu stehen.

„Ich würde wirklich gerne mit dir zusammen wohnen.  Dafür brauchen wir nicht so viel Geld, wenn wir zusammenlegen“, schob Justin noch mal nach.

„Stell dir mal vor, durchsumpfen, wann wir wollen und am Wochenende erst recht. Keiner, der irgendwas von einem will. Weiber nach Bedarf, das wird toll. Wenn ich zu Hause bleiben würde, wäre ich mit dreißig noch unschuldig.“

Das mit den Frauen versetzte Justin einen Stich, sie waren es nicht gerade, die er sich in einer gemeinsamen Wohnung vorstellte. Auch die Partys waren nicht unbedingt nötig. Eigentlich sah er sich in seinen Träumereien immer mit Arne allein in den eigenen vier Wänden. Dabei übersah er nur zu gerne, dass Arne hin und wieder deutliches Interesse am anderen Geschlecht zeigte. So wie jetzt zum Beispiel.

„Weiber? Willst du wieder kontrolliert werden?“

„Die sind doch nicht alle wie meine Ma! Willst du nicht auch endlich mal poppen?“

„Klar will ich das. Aber nicht mit irgendeinem und auch nicht nur, um es hinter mich zu bringen.“

„Du meinst doch sicher nicht mitirgendeiner! Oder bist du schwul?“

Arne grinste über den für ihn scheinbar offensichtlichen Witz. „Du willst also auf die große Liebe warten? Wenn sie dann kommt, bist du ohne Erfahrungen im Bett ’ne Niete und sie haut wieder ab.“  

Justin passte der Gesprächsverlauf ganz und gar nicht. Er spürte, dass er sauer wurde, versuchte aber, sich das so gut es ging nicht anmerken zu lassen. Ganz gelang ihm das nicht.

„Ich glaube, ich habe im Moment andere Probleme als irgendwelche blöden Weiber oder Partys. Meine Eltern sind gestern gestorben, vergessen?!“

„Tut mir leid. Das fiel mir nur zu einer gemeinsamen Wohnung ein.“

„Mir fällt dazu ein, dass wir zusammen all das tun könnten, was wir jetzt nicht machen und das hat nicht unbedingt was mit Frauen zu tun.“

Erst als Justin erkannte, dass Arne ihn eigentümlich anschaute, überdachte er seinen letzten Satz noch einmal und erschrak. Die Aussage war wirklich mehr als verfänglich gewesen.

„Ich meine in erster Linie die Unabhängigkeit“, versuchte er zu retten, was zu retten war.

„Bist du sicher? Ich meine, das hörte sich so an, als hättest du was Bestimmtes vor.“

„Und was sollte das sein?“

„Na, eben nichts mit Frauen.“

Justin fühlte sich ertappt und die alten Ängste nahmen wieder Besitz von ihm. Er wollte leugnen und lügen, alles tun, um nicht das Risiko einzugehen, seinen Freund mit der Wahrheit zu vertreiben. Dementsprechend reagierte er auch.

„Wie nichts mit Frauen? Du tust ja wirklich so, als wäre ich schwul. Du tickst ja wohl nicht ganz richtig.“

Arne schwieg einen Moment, sein Gesichtsausdruck blieb ernst und Justin fühlte sich immer unbehaglicher.

„Und wenn ich dir sage, dass ich auch schon mal darüber nachgedacht habe?“

Hatte Arne das jetzt wirklich gesagt? Justin wurde das Gefühl nicht los, dass sie von verschiedenen Dingen sprachen, denn das konnte einfach nicht sein. Oder doch?

„Hey, sag was. Was denkst du, wie ich mich jetzt fühle?“

„Was ... ehm, ich meine, worüber reden wir hier eigentlich?“

Jetzt zögerte auch Arne eine Antwort hinaus und haderte mit sich, ob er weiter auf diesem gefährlichen Thema herumreiten sollte. Er schaute hoch und direkt in Justins Augen. Beide Jungs spürten plötzlich die Schmetterlinge im Bauch und Justin fand doch den Mut, zu antworten.