Die Raben von Ninive - Friedrich Ani - E-Book

Die Raben von Ninive E-Book

Friedrich Ani

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Beschreibung

Auch als Lyriker genießt Friedrich Ani Anerkennung und Bewunderung. Jetzt hat er sich einer besonderen Gedichtform gewidmet, den Balladen – und es ist nicht zu weit hergeholt, sie in die Tradition von Brecht und Biermann zu rücken. Es gelingt ihm in diesem populären Genre, die aktuellen politischen Ängste, die Bedürfnisse des Populus anzusprechen, teils zu bestärken, teils zurückzuweisen, teils zu bekämpfen. Balladen sind für ihn also eine Kunstform, in der er politisch werden kann, ohne sich agitatorisch zu verhalten. Politisch kann er jedoch nur werden, wenn er die privatesten Umstände seiner Existenz beleuchtet und enthüllt. In ihrer Verschränktheit von Öffentlichkeit und Privatheit belegen diese Gedichte die Gegenwärtigkeit von Balladendichtung und zugleich Friedrich Anis poetische Kunst.

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Seitenzahl: 87

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Friedrich Ani

Die Raben von Ninive

Balladen, andere Gedichte und ein Zwiegespräch

Suhrkamp

Für Raimund Fellinger

Southern trees bear a strange fruit

Blood on the leaves und blood at the root

Black bodies swinging in the southern breeze

Strange fruit hanging from the poplar trees

Abel Meeropol, »Strange Fruit«

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Motto

Inhalt

Die Raben von Ninive

Der Alte am See

Fremdes Leben

Vom Geschriebensein

Das nächste Leben

Die Friseurin

Kumpane

Mauerfall

Der Croupier

Wehrhaftes Kind

Kaputter Sonntag

Ein waschechter Schneemann

Verhasstes Schweigen

Fernsehen

Einer muss da sein

Die Geflüchtete

Vor einem Jahr

Ruf der fallenden Frau

Letzte Fantasie

Der Leuchtturm

Krischan Christiansen

In Syrien gibt es keinen Gurkensalat

Wir, wer?

Taggedanken

Die Raben von Ninive

Die Verstoßenen

Sommerferien

Auswurf des Herrn

An die deutschen Nichtkinder

Erscheinung

Deutsche Geschichte

Hund und Herr

Die blaue Möwe

Nicht vergessen

Verbrechen

Aufzählung

Wie es ist

Der Strandkorb

Der letzte Engel

Luns, der Lauscher

Fauser

Die Tür, in der Carl Weissner stand

Bis hinter Thailand

Hoch über Rantum

Im November

Leere

Unerreichbar

Gelebt

Mein Name

Du

Das ist die Liebe

Späte Erkenntnis

Weißt du noch?

Nur ein einziges Mal

Totem

grüsse, grüsse

Der eiserne Himmel

Zwiegespräch des zweiundfünfzigjährigen Dichters Hölderlin mit sich selbst

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Die Raben von Ninive

Der Alte am See

Kennt wer den Stein am Grund

des Kalmbachs? Ich komm da

her, ich war da klein, ich werde

nie mehr dort sein und vom Spielen wund.

Da schrieb ich Verse, ich dachte nicht

groß, die Wörter erschienen

unter meinem Bleistift, ich

begrüßte sie wie den Morgen, den

Kieselstein in meiner Sandale

und mein verwackeltes Gesicht

im funkelnden See.

Ihr könnt das nicht wissen: In

meiner Kindheit war ein

Funkeln von tausend Sternen

einfach auf dem Wasser. Mitten

am Tag und den vollen

Nachmittag lang und bis in meinen

Schlaf hinein, so ein Funkeln, wie

von meinen Augen

extra erfunden.

Auf alles fiel ich rein: das

wispernde Wasser, die kitzligen

Kiesel, die ritzende Bleistiftspitze,

das zwei zu null zur Halbzeit,

das Klatschen der Hände am

Spielfeldrand und die schicken

Geschenke unterm Christbaum, die

raffiniert verschnürten Pakete,

die Karten voller Handschrift, die

gestochen scharfen Wünsche – als

gälte das alles

tatsächlich mir.

Wir verloren vier zu

zwei, und die Kiesel waren

Überbleibsel vom Streugut im

Winter und die Zuschauer

beklatschten den Ball oder

sich selber, und der bunte

Weihnachtsberg ein Haufen

Abfall unbenutzter Liebe.

Schon verstanden. Ließ mich

aber von Neuem immer wieder

lieber täuschen, als bloß da zu

sein wie ein Ufer, ein Bürgersteig

und ein Acker mit Linien.

Jetzt, vom Alter aus, schau

ich auf die Gegend, wo ich

lief, hin und her, gezähmt,

ernährt und angeschaut, wie

in einem Zoogehege, mit den

frischen Stimmchen der Vögel

ringsum, inmitten nach Früchten

gierender Obstbäume. Mit unreifen

Augäpfeln bestaunte ich den

Triumph des Frühjahrs über das

ewige Eis an den Polen

meines Kinderzimmers.

Darüber spricht man nicht, das

wisst ihr doch, nur eines noch: Ich

sah ihn da sitzen, den zausligen

Alten, den Ian besang, auf einer

Bank, mit schmierigem Bart und

Klamotten lausigster Art, er

fütterte abwesende Schwäne,

er kaute die Zeit mit den

Stumpen seiner Zähne, Aqualung

lautet sein Name, das glaubt

kein Mensch, ich aber schon,

ich glaubte allen und allem, meine

Haare wurden grau mit vierzehn,

ich erschrak so sehr und starb

zum ersten Mal, und der Onyx, den

ich hütete seit meinem siebten

Jahr, wie mein Wissen vom

Vergehn, glitt mir aus den

Fingern und versank, und

ich? Ich rannte weg und

schämte mich unendlich

mehr als unser See vorm

Ionischen Meer.

Kennt ihr den Stein am Grund

des Kalmbachs? Ich komm da

her, ich war da klein, ich werde

nie mehr dort sein und vom Spielen wund.

Fremdes Leben

Sie kamen sehr früh eines Morgens

im Mai, sie hatten nichts als ihr Leben

dabei, darin ihre Kindheit, verbeult,

eine Mutter, drei Töchter, verheult,

der Vater hat das Versprechen gegeben,

im Krieg nicht zu sterben und dass er sich beeilt.

Sie warten geduckt vor dem Bahnhof

zu dritt, sie halten mit all den Leuten

nicht Schritt, die, kaum in der Fremde, sich freun

über lauwarmen Kaffee im Frein.

Den unbehüteten Töchtern bedeuten

die Dinge zu wenig, sie wollen so nicht sein.

Die Mutter verirrt auf der Suche

im Ort, sie fragt nach einer Adresse,

denn dort, am Seeufer, bietet ein Haus

ungelernten Vertriebenen aus

der totgebombten Welt Obdach gegen Nässe

und Winter und Hunger und allen schwarzen Graus.

Familienbetrieb, ein Gasthaus,

Pension mit Apfelbäumen im Garten,

der Lohn gering, jede Hand packt mit an,

jeder leistet, was immer er kann,

die Kinder können den Saft kaum erwarten,

den, zaubrisch, die Wirtin aus den Äpfeln gewann.

Die Jüngste, Marie, half der Mutter

am Herd, sie glaubte, sonst wär ihr Frau-Sein

nichts wert, das hat ihr Marlene erzählt,

ihre Schwester, die sich für was hält,

das nie passierte, sie wollte bloß schlau sein

und starb fast vor Angst, dass der Vater doch noch fällt.

Johanna war zwölf und von wilder

Natur, Verbote und Regeln machten

sie stur, sie erfand sich jeden Tag neu,

dabei blieb sie sich einfach nur treu,

sie schwieg, wenn Andere über sie lachten,

und wünschte, sie wären im Herzen endlich frei.

Als Älteste durfte Marlene

oft weg. Den Jungen traf sie in einem

Versteck am Dorfrand, er hielt ihre Hand,

er war achtzehn und ziemlich bekannt,

ein Stürmer, Torschützenkönig in seinem

Verein, von Fans werde er schon Puskás genannt.

Am Heiligen Abend um achtzehn

Uhr vier – ein eisiger Sturm schlug gegen

die Tür –, da schaute ein fahles Gesicht

durch das Fenster, sie kannten es nicht.

Sie boten dem Fremden Schutz vor dem Regen,

er trat in die Stube wie vors Jüngste Gericht.

»Ich habe«, beginnt seine Rede,

»dem Tod gedient und zwischen den Welten

die Not gesät und viel Grausames mehr,

mir gehorcht ein Maschinengewehr,

ich musste Böses mit Bösem vergelten,

gezielt und geschossen, und es war gar nicht schwer.

Ich wollt euch beweisen, dass einer

wie ich, ein einfacher Kerl, es schaffen

kann, sich zu stellen und wehrhaft zu sein,

niemals feige und notfalls allein

im Kampf gegen unbesiegbare Waffen.

Ich mordete Tausende, in mir schlug ein Stein.

Ich bin euer Vater, erkennt ihr

mich noch? Erschreckt bitte nicht, ich grabe

ein Loch, die Erde hört auf, sich zu drehn,

alle Stimmen von draußen verwehn.

Die Kinder schreien in mir. Denn ich habe

sie alle getötet und kein Mal aus Versehn.

Die Leute sahen einen Schwachkopf

in mir, der kann nichts außer schleppen

wie ’n Tier und Frauen misshandeln, der Hund,

wehrt sich eine, prügelt er sie wund.

Der Krieg hat mich, den verkommenen Deppen,

am Leben gelassen, wieso, aus welchem Grund?

Egal. Meine Lieben, ich gehe

jetzt weg, ich suche mir eine Ecke

im Dreck, es gibt keinen besseren Ort,

und ich bleibe höchstens sechs Tage dort,

so lang, wie’s halt dauert, bis ich verrecke.

Verzeiht, dass ich da war und vergesst jedes Wort.«

Sie standen im Zimmer und hörten

ihm zu, die vier vertriebnen Gestalten.

Im Nu verschwand dieser Geist aus dem Raum,

so, als wär er ein Schatten im Traum.

Der Vater hat sein Versprechen gehalten.

Am Neujahrstag standen sie Hand in Hand, am Saum

des Sees, nah einer tiefen Mulde

im Kies. Ein Mann grub sich ein zum Sterben

und ließ genügend Platz für sein Gewehr.

Kniend schießen fiel ihm gar nicht schwer.

Sein Leben lag von Beginn an in Scherben,

das wusste er doch. Wie noch nie weinte er sehr.

Er dachte an Johanna und an

Marie, Marlene und das wahre Wunder,

an sie: Elisa, die tanzende Frau,

er, der bullige Maurer vom Bau,

und sie, die Fee, sie nahm all seinen Plunder

und schenkte ihm Töchter und brachte Licht ins Grau.

Da konnte doch etwas nicht stimmen,

nicht wahr? Ein Nichtsnutz ohne Manieren

und klar: verhurt, versoffen und fies,

glaubt, er hätt ein Recht aufs Paradies.

So einer kann nur eins, das ist Marschieren.

Er wollte nicht sterben, als er das Haus verließ.

»Ach, Liebster, wie musstest du dort draußen frieren.

Ach, Liebster, du musstest dich niemals genieren.

Ich tanze barfuß im Kies für dich, meinen Mann.

Noch einmal tanze ich und dann. Und dann.

Und dann zurück, das fremde Leben führen.«

Vom Geschriebensein

Kann sein, dass irgendwo die Wörter lauern,

die wirklich großen, bloßen,

ohne Rankwerk, ohne Mauern,

gegen die wir beim Beschreiben stoßen.

Kann sein, sie sind ganz nah,

und ich bin’s, der sich unnahbar

benimmt und glaubt, dass er bestimmt,

was falsch ist und was wahr.

Das Wort, du Narr, führt dir die Hand, es leitet

dich aus der öden Wildnis

deiner Stube und es weitet

deinen Blick und macht aus dir ein Bildnis.

Kann sein, das Wort ist nah.

Doch du bist irgendwie nicht da.

Bestimmt, weil du schon wieder denkst

und dich im Hirn verrenkst.

Leg endlich deinen Griffel weg,

dichten hat so keinen Zweck.

Dreh dich um, sag keinen Ton.

Da steht das Wort und schreibt dich schon.

Das nächste Leben

In seinem Kopf Verwegenheit und Feuer,

sein Herz ein Klumpen Wut und Überdruss,

sein Schatten ist ihm nicht geheuer,

weshalb er nachts nach draußen muss

in eine Gegend unsichtbar von Schwärze,

hin und wieder schummrig eine Kerze.

Er bittet seinen Fahrer anzuhalten

an einem unbewohnten grauen Haus,

weitab der üblichen Gestalten,

die, wie die Katze auf die Maus,

von früh bis spät auf Sensationen lauern,

geil und gierig unter Büschen kauern.

Die eine Prise noch, ein schnelles Schniefen,

er braucht das, und der Fahrer übersieht’s,

dann folgt er denen, die ihn riefen,

den Rettern aus dem weißen Kiez:

»Steig über diese Mauer zu uns Engeln,

hier ist’s still, und keiner will dich gängeln!«

Das ist’s, was jeder ihm am Tag verweigert,

die eine Stunde ohne Ton und Wort,

kein Klingeln, das sich scheppernd steigert,

kein Neuling, der vor Eifer schmort,

kein noch so protziger Termin mit Leuten,

denen andre Leute nichts bedeuten.

Und überhaupt: Projekte, Beifall, Preise,

die Räume gut gefüllt mit Lob voll Staub,