Lichtjahre im Dunkel - Friedrich Ani - E-Book

Lichtjahre im Dunkel E-Book

Friedrich Ani

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Beschreibung

Ein verschwundener Ladenbesitzer, der noch große Pläne hatte. Seine Frau, die sich am Ende ihrer Träume wähnt. Ein ehemaliger Umzugsunternehmer mit Schuldkomplex. Ein geheimnisvoller Besucher aus der Berliner Halbwelt. Ihre Schicksalslinien treffen in München aufeinander, wodurch das Leben aller Beteiligten aus den Fugen gerät.

Leo Ahorn ist verschwunden. Dabei hatte er die letzten Wochen hauptsächlich damit zugebracht, Geld für den Umbau seines Schreibwarenladens aufzutreiben. Da seine Frau die Polizei scheut, heuert sie Privatdetektiv Tabor Süden an, um Leo zu finden. Allerdings weiß sie gar nicht so genau, ob sie ihn wirklich wiederhaben will. Im Blauen Eck, Leos Stammkneipe, stößt Süden auf eine illustre Schar von Leos Bekannten und bekommt beklemmende Einblicke in dessen Leben. Dann wird in der Nähe ein Toter aufgefunden, und die Ereignisse erscheinen plötzlich in einem völlig neuen Licht. Oberkommissarin Fariza Nasri nimmt mit ihrem Team die Ermittlungen auf, während Tabor Süden auf magische Weise im Hintergrund die Fäden zieht …

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Cover

Titel

Friedrich Ani

Lichtjahre im Dunkel

Roman

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Aus Gründen der künstlerischen Freiheit und um Verwechslungen mit in Wirklichkeit dort lebenden Personen zu vermeiden, wurden einige Straßennamen vom Autor geändert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagfoto: Oskar Ulvur/Trevillion Images

eISBN 978-3-518-77998-9

www.suhrkamp.de

Widmung

Einsamkeit ist immer noch Zeit,

die man mit der Welt verbringt. Hier ist

das Zimmer mit allem darin.

Deinen toten Freunden, die dich

durchziehen wie Wind

ein Windspiel. Hier ist ein Tisch

mit dem Hinkebein & einem Ziegel

als Stütze. Ja, hier ist ein Zimmer,

so warm & blutnah,

dass du aufwachen

& diese Wände, ich schwöre,

für Haut halten wirst.

Ocean Vuong, »Eines Tages werde ich Ocean Vuong lieben«

Nicht alle werden geboren, welche doch sterben.

Friedrich Nietzsche »Der Wanderer und sein Schatten«

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG

Erster Teil. Zu Urzeiten spielten sie Federball, und heute?

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Zweiter Teil. Neue Wünsche, noch mehr Zukunft

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Dritter Teil. Der gute Herbert, zwei fürchterliche Geschenke

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Vierter Teil. Meine wahre oder zumindest unwiderlegbare Geschichte

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Informationen zum Buch

Lichtjahre im Dunkel

PROLOG

Eines frühen Morgens im Juli wankte ich ins Bad, sah in den Spiegel und bemerkte, dass ich alt geworden war. Das erschien mir kurios. Noch gestern hatte ich mit meinem Schulfreund Martin die erste Zigarette geraucht, eine Camel, wir beide dieselbe. Unmengen alkoholischer Getränke hatten im Lauf der Jahrzehnte meinen Körper beansprucht, ebenso das Leid so vieler, denen ein Angehöriger gestorben oder anderweitig abhandengekommen war.

Tausende Fremde hatten meine Nähe durchquert, dachte ich (verstört von der Art und Ausweglosigkeit meiner ungebetenen Reflexionen). In ungezählten Nächten war ich durch die Stadt geirrt, ohne Ziel und Begleitung, Knecht meiner Schritte, auf vertrauten Wegen, die andere für Abwege gehalten hätten.

Ich hatte einen Beruf erlernt, ausgeübt und aufgegeben. Ich hatte mich in einem Job auf dem freien Markt ausprobiert und festgestellt, dass dieser sich in beinah nichts von dem unterschied, für den ich früher vom Staat bezahlt worden war – abgesehen von der Summe. Das Geld reichte trotzdem.

Ich lehnte die Stirn an den Spiegel. Sekunden später begann ich zu schnarchen, ohne wieder eingeschlafen zu sein. Das war mir bewusst, und es kümmerte mich nicht. Wann, dachte ich in einem Anfall schrägen Übermuts, hatte ich mich zuletzt selbst schnarchen hören? Ich lauschte. Dann vollzog ich ruckartig eine Drehung. Mir schwindelte. Ich streckte die Hand nach dem Türrahmen aus und griff daneben. Mein Oberkörper kippte nach vorn, doch ich fiel nicht. Mit ungeahntem Schwung trippelten meine Füße aus dem Badezimmer zielsicher durch den Flur. Gekrümmt und mit schlenkernden Armen erreichte ich das Schlafzimmer, meine Unterschenkel schlugen hart gegen das hölzerne Bettgestell, ich landete, Gesicht voran, im weichen Bettzeug, augenblicklich erleichtert und absolut desinteressiert am jähen Schmerz, den meine Haxen durch den Körper schickten.

Meinen Entschluss, den kommenden Tag ausschließlich in der Gegenwart zu verbringen, nahm ich mit in einen Traum, der von einem rasenden Zug handelte, auf dessen Dach ich mich festklammerte. Was danach passierte, wusste ich am Morgen nicht mehr. Gegen sieben Uhr fünfundvierzig setzte ich mich an den quadratischen Holztisch im Wohnzimmer (Balkontür geschlossen) und kehrte in die Welt meiner Leute zurück und in die von einem, der so hieß wie ich.

Erster Teil

Zu Urzeiten spielten sie Federball, und heute?

1

Der Gedanke an ihre Ehe war da gewesen, als sie aufwachte, und er war immer noch da, als sie in der Küche saß, Kaffee trank, aus dem Fenster sah und versuchte, ihren Mann zu verfluchen.

Nicht einmal das gelang ihr heute: Leo zum Teufel zu jagen und ihn anschließend für den Rest des Tages mehr oder weniger zu vergessen. Kam ein Kunde in den Laden und fragte nach ihm, erklärte sie in geschäftsmäßigem Ton, Leo sei nach wie vor zu Besuch in Dinslaken, bei einem ehemaligen Schulfreund, der todkrank sei. Wo genau der Ort lag, wusste sie nicht (irgendwo im Ruhrgebiet). Es war ihr egal, was die Leute von ihrem Mann dachten, oder von ihr. Vertraulichkeiten, privates Geplänkel, nettes Gedöns wie in der besseren Zeit – in alldem sah sie schon lange keinen Sinn mehr.

Pure Heuchelei, die keinen Kunden zu einem zusätzlichen Kauf verführte.

Guter Witz.

Megawitz.

Was denn kaufen, Frau Ahorn?

Selbstgespräche waren eine Art grimmiges Hobby von ihr geworden, seit Leo in Dinslaken weilte (Grinsen hinter vorgehaltenen Lippen) und in der Wohnung abends und nachts eine Stille herrschte, die sie um den Verstand brächte, wenn sie nichts dagegensetzte.

Heute wieder ein Umsatz zum Totlachen, Frau Ahorn.

Sie sagen es.

Er ist immer noch in Dinslaken, Herr Wagner, ja, immer noch.

Immer noch, Frau Schultheis, er kümmert sich sehr.

In Dinslaken! Das ist ein weiter Weg.

Um einem Freund beizustehen, darf kein Weg zu weit sein.

Das ist so wahr, Frau Ahorn.

Heuchelei in Reinkultur.

Noch einen Wunsch, Frau Schultheis, eine Zeitschrift?

Nein, danke, ich wollt bloß das Päckchen abholen.

Wir sind jetzt ein Postamt im Kleinformat, sagte Viola Ahorn nach Ladenschluss häufig zu ihrer Mitbewohnerin (unsichtbar).

Die Krise hat uns ruiniert.

Die Leute kaufen ihre Schreibwaren lieber im Supermarkt, das geht in einem Aufwasch mit den Lebensmitteln. Die Bequemlichkeit triumphiert. Und wer sogar zu träge ist, zum Discounter zu laufen, bestellt sein Zeug vom Sofa aus im Internet. Das ist die Zeit, in der wir leben.

Genauso ist's.

So ist's, so bleibt's.

Möchten Sie noch ein Glas Riesling, Frau Ahorn?

Hat noch niemandem geschadet. Seien Sie so nett und schenken mir noch ein Glaserl ein.

Sie siezte sich. Keinesfalls aus Höflichkeit, vielmehr aus Verachtung, die gelegentlich in Selbstmitleid umschlug, die schlimmste Form der Verzweiflung; selbstmitleidige Menschen altern pro Tag mindestens um einen Monat, davon war sie überzeugt.

Im vergangenen Jahr war sie um ungefähr dreißig Jahre gealtert.

Heute dachte sie an nichts anderes. Nicht einmal an Leo. Dabei wollte sie wegen ihm doch etwas unternehmen, offiziell, Dinslaken hin oder her … Die Sache war möglicherweise ernst, und bevor die Polizei vor der Tür stand …

Die Polizei.

Unter keinen Umständen.

Polizei!

Sie schob den Gedanken beiseite. Der andere Gedanke war ohnehin stärker. Alt, dachte sie, ich bin uralt und aus dem Rennen.

Welchem Rennen?

Sagt man halt so. Sie sind raus, reicht das nicht?

Ich bin steinalt.

Dann rufen Sie endlich an!

Das tat sie dann auch, Viertel nach sieben. Um fünf nach halb acht würde Herr Wagner in den Laden rauschen und sich nach Leos Befinden erkundigen. Antwort: Unverändert, er verbringe täglich mehrere Stunden in einem Hospiz, bei seinem kranken Freund in Dinslaken.

Zwischen ein und zwei Uhr mittags sperrte sie zu; den Protesten der Leute, die dringend und genau zu dieser Zeit ein an sie geschicktes Paket abholen wollten, begegnete sie mit archivierter Nettigkeit; klappte nicht bei allen.

»Und Sie sind sicher, Ihr Mann ist nicht verreist?«, fragte die Frau am Telefon.

»Er ist seit zwei Tagen weg, das ist mir unheimlich, ich mach mir Sorgen.«

»Sie waren nicht bei der Polizei.«

»Nein.«

»Ist Ihr Mann krank? Nimmt er Medikamente?«

»Nein.«

»Sie haben ihn am Mittwoch zum letzten Mal gesehen.«

»Mittwochnachmittag.«

»Da hat er Ihre gemeinsame Wohnung verlassen. Wo wollte er hin?«

»Wahrscheinlich ins Blaue Eck.«

»War er dort?«

»Ich hab nachgefragt, an dem Tag war er nicht da. Können Sie ihn suchen?«

»Wir verlangen fünfundsechzig Euro in der Stunde und einen Euro Kilometerpauschale.«

»Das ist happig.«

»Die meisten Detekteien sind teurer.«

Viola Ahorn sah auf die Uhr und dann zum Fenster. Ein sonniger Tag voller Amseln im strauchigen Konzertsaal. Ein Haufen Geld, dachte sie.

»Gut«, sagte Edith Liebergesell, die Chefin der Detektei. »In einer Stunde kommt mein Kollege zu Ihnen, ihm erzählen Sie alles haarklein, damit er sich ein Bild von Ihrem Mann machen kann.«

Natürlich, überlegte Viola Ahorn, würde sie ihm alles erzählen. Bis auf die Kleinigkeit, dass der Idiot von Leo nicht seit zwei Tagen, sondern bereits seit fünf weg war und keinen Laut mehr von sich gegeben hatte.

Die ganze Woche hatte sie abgewartet, anfangs wie gelähmt vor Sorge. Können Sie sich so was vorstellen, ich mach mir in die Hose wegen dem Versager?

Seit der Nacht zum Dienstag, nachdem Leo nicht aus dem Blauen Eck zurückgekehrt war, stellte Viola Ahorn sich so einiges vor.

Aber was genau, kriegte sie ums Verrecken nicht zu fassen.

2

Ihr kam es vor, als würde der Mann, der angeblich Süden hieß, die Stille verbreitern. Auf die Frage, ob er sich in der Küche auf den Stuhl nah beim Fenster setzen dürfe (den Stuhl hatte sie ihm zuvor als Leos Lieblingsplatz beschrieben), zuckte sie mit der Schulter – irritiert, dass er die Küche dem gut gelüfteten Wohnzimmer vorzog, auf dessen Tisch sie extra zwei Gläser, eine Wasserflasche und einen Teller mit Schokokeksen gestellt hatte.

Allerdings fehlte ihr jede Idee, wie ein Detektiv tickte.

Dennoch weckte der Mann ein gewisses Misstrauen in ihr. An der Tür hatte er ihr eine Karte vor die Nase gehalten, Name samt Foto – ihrer Meinung nach hätte er ein besseres verdient gehabt, derart ausgelaugt sah er in Wirklichkeit nicht aus – mit dem Zusatz »Ermittler«. Nachdem sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wartete er wortlos im Flur; sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und deutete auf die offene Wohnzimmertür. Er nickte, warf einen Blick hinein, wandte sich zu ihr um, wieder wortlos. Stehen da wie bestellt und nicht abgeholt, hatte sie gedacht und sich eigenartig bedrängt gefühlt.

Wohin jetzt?, hatte sie ihn gefragt, möglicherweise etwas zu schroff, schließlich war er ein Gast, der sich nicht auskannte. Andererseits tickte die Uhr, die ersten Euros waren vertändelt, wenn der Mann weiterhin nur rumstand und keine einzige Frage stellte. Aus purer Höflichkeit hatte sie ihn in die Küche dirigiert, was sie, als er endlich den Mund aufmachte, bereute: In der Spüle zwei ungewaschene Teller und Tassen, auf der Ablage ein angeschnittenes Brot und massenhaft Krümel, dazu die angebrochene Flasche Bier, aus der sie vorher zur Beruhigung getrunken hatte …

Eine gärende Unruhe hatte nämlich wieder von ihr Besitz ergriffen, fast Angst, die sie nicht haben wollte … Wovor denn? Um wen denn? Wieso denn?

Beim Anblick der Flasche, des Geschirrs und der Zigarettenschachtel neben dem Aschenbecher auf dem Tisch (das auch noch, was sollte der Mann von ihr denken, wie sie hier hauste?) empfand sie eine Scham wie ewig nicht mehr. Sie setzte zu einer Entschuldigung an. Er kam ihr zuvor.

»Hier verbringen Sie also Zeit miteinander, Ihr Mann und Sie.«

Und sie, wie aus einem Reflex heraus: »Er am liebsten dort.«

Und da hockte der Mann seitdem, vor sich einen kleinen karierten Block und einen blauen Kugelschreiber; leicht gekrümmt, die Hände im Schoß, mit einem Ausdruck von Gleichmut in den grünen Augen, irgendwie provozierend, fand sie, unerhört, wenn sie an sein Honorar dachte.

Die Art, wie er sich auf den Stuhl gefläzt hatte, grenzte an eine Mischung aus Phlegma und Erschöpfung: Als müsste er erst einmal Luft holen, bevor er eine Art von Arbeit in Erwägung zog. Fast sah es aus, als wäre er hier zu Hause und nicht einer, der dafür bezahlt wurde, denjenigen aufzuspüren, der in Wahrheit hierhergehörte.

Stimmte doch: Leo gehörte hierher, zu ihr, in diese Wohnung.

Der Gedanke entfachte eine vorübergehend erloschene Traurigkeit in ihr, begleitet von einer Wehmut, die aus ihrer Ehe längst verschwunden schien.

Und der, der sie lindern sollte, saß in ihrer Küche und beulte mit seinem Schweigen die blecherne Stille auch noch aus.

»Eine Vermissung.«

Die beiden Worte kamen so plötzlich, dass sie vor Schreck einen Schrei ausstieß. »Ent-ent-entschuldigung. O Gott. Was haben Sie gesagt?«

Er sah sie an, anders als vorher; in seinem grünen Blick, bildete sie sich ein, ein Anflug von Verständnis und Mitgefühl.

Wer war der Kerl?

Sie schätzte ihn auf um die sechzig, vielleicht ein verschlissener Fünfziger. Nicht der sportliche Typ, übergewichtig, ohne dick zu wirken. Schwarze Lederjacke (viel zu warm für den Juli), weißes Leinenhemd, schwarze Jeans, Haare, die ihm fast bis auf die Schultern fielen. Und diese Augen. Je länger sie ihn ansah, desto mulmiger wurde ihr.

So einer, dachte sie, schaut nicht bloß, der sieht was, im schlimmsten Fall das, was man auf jeden Fall verbergen möchte, aus guten oder sonstigen Gründen.

Im selben Moment fiel ihr das Mineralwasser im Wohnzimmer ein, die Gläser und Kekse, die sie bereitgestellt hatte, für ihn, den ersten Gast in diesen Räumen seit …

Seit sehr langer Zeit. Leo ging ins Gasthaus, sie blieb lieber allein daheim, nach zwölf Stunden im Laden. Früher ein lohnendes Geschäft, keine Abholstation, kein Durchgangslager für Pakete. Die Leute, fauler als Faultiere, bestellten ihren Alltagsschrott bei Robotern, weil sie glaubten, das wäre billiger, anstatt sich fachmännisch beraten zu lassen. Bequemlichkeit und sonst nichts; dann stürzten sie in den Laden, ungeduldig und frech; war ausnahmsweise geschlossen, drehten sie durch.

»Nehmen Sie Platz«, sagte er.

»Was?«

Sekundenlange Erstarrung, bevor sie ein Lächeln zustande brachte. »Möchten Sie was trinken? Entschuldigen Sie, dass ich so … Ich weiß auch nicht …«

Er schwieg, statt zu antworten.

Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch mit dem Aschenbecher, in dem drei Kippen lagen. »Entschuldigung.« Sie stand wieder auf, leerte den Aschenbecher in den Mülleimer unter der Spüle und stellte ihn zum Geschirr im Ausguss. Kurz vorm erneuten Hinsetzen zögerte sie. »Wirklich nichts trinken, Herr … O Gott, Entschul ‌…«

»Süden.«

»Richtig. Süden, wie Süden.«

»Unbedingt.«

»Bitte? Was?«

Er wartete, bis sie mit dem Zurechtrücken des Stuhls fertig war; das Geräusch wurde ihr erst durch sein Schweigen bewusst.

»Frau Ahorn«, begann er. Seine Stimme klang ein wenig heiser, brüchig, wie von jemandem, der zu lange und zu oft im Blauen Eck abhing und alle halbe Stunde zum Rauchen vor die Tür ging. Allerdings dünstete seine Kleidung nichts aus, im Gegenteil: Schon bei der Begrüßung hatte sie einen dezenten Geruch nach Rasierwasser wahrgenommen, der ihr gefiel.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Mann, Frau Ahorn.«

»Was gibt's da groß zu erzählen?«

Peinlicher Einstieg, sie wusste es. Dennoch meinte sie es ernst.

»Ein gewöhnlicher Mann, führte einen Schreibwarenladen, unten im Haus. Fachmann für Schreibutensilien aller Art, kennt sich aus wie kein Zweiter. Die Schüler liebten ihn, die Eltern auch, er konnte gut mit Kunden, wir machten Profit. Kann man so sagen. Unsere Miete ist nicht sehr hoch, das ist natürlich von Vorteil in dieser Stadt, in diesen Zeiten.

Dann die erste Wirtschaftskrise, dann eine Pandemie, der Einzelhandel praktisch am Boden, die Familien mussten das Geld zusammenhalten, wir alle. Folge: Die Leute besorgten ihre Sachen im Kaufhaus. Oder bestellten im Internet, spaßig für die Kinder, vom Computer aus alles organisieren. Was soll man sagen? Ja, Herr Süden, von einem Tag auf den anderen stellte sich die Existenzfrage, bei vielen von uns Einzelhändlern. Darauf muss man angemessen reagieren. Na ja, angemessen …

Ersparen wir uns solche Gedanken.

Wir modelten den Laden um; jetzt Abholstation für Pakete aller Art, daneben noch Zeitungen und Zeitschriften und Tabak. Schreibwaren haben wir fast vollständig abgeschafft, rentiert sich hinten und vorn nicht mehr. So geht die Zeit. Jammern bringt uns nicht weiter. Na ja …

Meinen Mann hat die Krise fast noch mehr gebeutelt als mich. Ich war in psychologischer Behandlung, hab Tabletten genommen gegen die Panikattacken, Tranquilizer, Antidepressiva, so Zeug. Bin los davon. Aber die Angst kommt trotzdem immer wieder, besonders nachts, wenn's noch stiller ist als am Tag. Mein Mann, der geht in die Kneipe, zu den anderen Männern, die auch so tun, als wär das eine Lösung; was trinken, quatschen, noch mehr trinken, noch mehr quatschen.

Ich darf nicht ungerecht sein, er steht eisern im Laden, muss er auch, allein ist das für mich nicht zu schaffen; er ist anwesend, das geb ich zu; hängen lässt er mich nicht, obwohl er oft erst spätnachts nach Hause kommt, blöd vom Bier, dusselig von Erinnerungen.

Verstehen Sie, Herr Süden? Seit mehr als einem Jahr betreiben wir den veränderten Laden, und Leo ist immer noch nicht in der Gegenwart angekommen. Er hängt in alten Zeiten fest, wie gefesselt auf einem Sklavenschiff. Er will raus und schafft's nicht, schafft's ums Verrecken nicht. Manchmal tut er mir leid, auch wenn ich gleichzeitig wünschte, er würd was gegen seinen Zustand tun und nicht nur im Blauen Eck rumhängen mit den anderen ausrangierten Gesellen. Ja … Manchmal wünscht ich, er käm gar nicht mehr nach Hause. So schlimm ist das. Ich will so was nicht denken und denk's trotzdem.«

»Sie sehen Ihren Mann als ausrangierten Gesellen.«

»Ich seh ihn überhaupt nicht mehr«, sagte sie laut. »Nicht mehr seit … seit … seit …«

»Seit Mittwoch.«

»Genau. Seit Mittwoch. Seit genau Mittwoch.«

»Sie sind sicher, dass es Mittwoch war, als Ihr Mann nicht mehr heimkam.«

»Sicher bin ich sicher. Wieso fragen Sie mich das?«

»Manchmal täuscht man sich in der Zeit.«

»Ich nicht, mein Herr. Ich bestimmt nicht. Wollen Sie ein Foto von ihm sehen?«

»Unbedingt.«

Mit holprigem Schwung – um ein Haar wäre sie mit dem Ärmel ihres luftigen Kleides an der Lehne hängengeblieben und hätte den Stuhl umgeworfen – eilte sie aus der Küche. Süden betrachtete die weißen Quadrate seines DIN-A7-Blocks: Mit dem Notieren würde er beginnen, sowie die Frau der Wahrheit um die Vermissung ihres Mannes näher käme.

3

Ovales Gesicht, rundes Kinn, dünne Lippen, müde Augen, hohe Stirn, zurückgekämmte Haare, kariertes Hemd, zugeknöpft bis zum Hals, in einer Wiese auf einem grasbewachsenen Hügel stehend.

Auch nach dem dritten Hinsehen fiel Süden kein weiteres Detail auf; ein unscheinbarer Mann in leerer Landschaft. Aus Gewohnheit drehte er das Bild um – eine Nummer und ein Datum von vor fünf Jahren. Das Einzige, was Süden verwunderte, je länger er das Foto betrachtete, betraf dessen Druck: Es war schwarzweiß.

Südens andauerndes Schweigen veranlasste die Frau, mit dem Zeigefinger der rechten Hand an ihrem Daumen zu knibbeln. Für Süden nahm die Ermittlung allmählich Konturen an.

»Ja?« Viola Ahorn biss sich auf die Unterlippe, bemerkte es und hörte damit auf; ihr Finger machte weiter. Ihre erneute Unruhe, das ahnte sie, rührte nicht bloß vom Verhalten ihres Besuchers her, den sie sich ganz anders vorgestellt hatte. Sie fürchtete, sie habe sich auf etwas eingelassen, das ihrer Kontrolle entglitt – etwas, bei dem sie sich von einem unangemessenen Gefühl hatte überwältigen lassen, einer Duselei wegen einer Person, deren Existenz ihr kaum noch Respekt abverlangte. So ehrlich muss man sein, dachte sie, während der Detektiv weiter das lächerliche Foto der Person anglotzte, die sie meinte.

Von einem Moment zum anderen geriet sie innerlich außer sich. Plötzlich verspürte sie das dringende Bedürfnis, auf den Tisch zu hauen und die von ihr selbst initiierte Farce zu beenden, ohne Rücksicht auf Versprechungen oder sonstige Abmachungen (die hielt sie sowieso für überzogen). Fünfzig Euro, keinen Cent mehr, würde sie blechen, der Mann konnte das Geld nehmen oder nicht, sich bei seiner Chefin beschweren oder nicht, die Polizei alarmieren oder nicht – sie war raus aus der Sache, raus aus allem, raus aus dem sentimentalen Getue, das ihr seit Tagen die Nachtruhe verhagelte.

Raus.

Die Arbeit war schuld, überlegte sie, der Stress; keine Ahnung, was die Leute dazu trieb, mitten im Sommer, noch dazu kurz vor den Ferien, tonnenweise Zeug im Internet zu bestellen, das dann in ihrem Laden landete und ihr die Luft raubte und den Rest von Einzelhandel, den sie verbissen aufrechterhielt, in eine überfüllte Müllhalde verwandelte.

Jeden Tag mindestens fünf Mal angeschnauzt zu werden, weil irgendein Trumm nicht geliefert oder falsch geliefert worden war, oder weil die Leute mittags vor verschlossener Tür standen und deswegen ein zweites Mal wiederkommen mussten, ausgerechnet im Feierabendverkehr … Kein Mensch, dachte sie und erschrak über den Blutstropfen an ihrem Daumen, ertrug eine derart stumpfsinnige Tätigkeit unbeschadet an Leib und Seele.

Für Viola Ahorn bestand das Leben nur noch aus untertänigem Gewusel.

Und da war niemand, der ihr beistand, geschweige denn sie aus ihrer unverschuldeten Zwangslage befreien wollte. Niemand – schon gar nicht ihr Ehemann, der nicht einmal das mehr war, sondern bloß noch ein Feigling, der sich in Luft aufgelöst hatte.

Ab wie vielen Jahren galt einer als verschollen und damit praktisch tot, und die Sache mit dem alten, gemeinsamen Leben als erledigt?

Antwort, Herr Detektiv!

Vielleicht brauchte sie einfach nur Geduld.

Zuerst jedoch musste sie die dämliche Vermisstensuche aus der Welt und den mundfaulen Kerl aus ihrer Wohnung schaffen. Vor ihr lag noch ein halber Tag Plackerei, dann war Wochenende, womöglich der Beginn einer neuen Zeitrechnung.

Woher ihre Euphorie so unvermutet rührte, begriff sie nicht, aber sie hätte am liebsten vor Freude gejuchzt.

Da war die Stille wieder. Viola Ahorn konnte sie hören.

Die Stille jagte ihr einen Schrecken ein wie noch nie. Hatte sie womöglich die ganze Zeit gesprochen, wie sonst allein mit ihrer Mitbewohnerin (ihr war schon klar, dass die nur in ihrem Kopf existierte)? Bildete sie sich ihre Gefühle etwa nur ein? Wie sollte so was funktionieren?

Verflucht, dachte sie. Was, wenn sie längst innerlich abgestorben war? Wenn ihre Vorstellungen von einer scheinbar immer noch erlaubten Zukunft aus reinen Hirngespinsten bestanden? Und sie?

Folgte sie womöglich einem irrsinnigen Trugschluss, nämlich der Hoffnung einer Toten auf Wiederauferstehung?

4

»Was?«, fragte sie. »Was schauen Sie? Und was soll ich mit dem Taschentuch?«

Sie folgte seinem Blick. An ihrem rechten Daumen prangte ein roter Fleck. Sie erinnerte sich, dass sie ihn vorhin gesehen und nichts unternommen hatte. Sie nahm das Papiertuch mit der linken Hand, ließ es gefaltet und drückte es auf die aufgeschabte Stelle. Dann riskierte sie einen Blick ins Gesicht ihres Gegenübers. Ihr fielen die Bartstoppeln, die Härchen an den Ohren auf. Für die Art, wie er sie ansah, schoss ihr sofort ein Ausdruck ins Hirn: lauern. Man merkt's nicht, dachte sie, er tut schläfrig, täuscht Abwesenheit, ja Desinteresse vor, gibt keinen Mucks von sich, rührt keinen Finger, ignoriert den Kugelschreiber, als wäre ihre Anwesenheit für eine Notiz zu belanglos … Das ist seine Masche, endlich hab ich sie durchschaut, auf Wiedersehen …

»Sie müssen jetzt gehen, Herr …«

»Sie haben gerade gelacht«, sagte er. Dann nichts weiter.

Den Mund noch halbgeöffnet vom abgebrochenen Sprechen, gab sie einen kehligen Laut von sich. In ihren Ohren hörte es sich wie ein Grunzen an. Sie wollte sich entschuldigen und fand ihre Stimme nicht. Wann, überlegte sie, hatte sie gelacht? Worüber? Sie war in ihre Welt abgetaucht, das stimmte, doch nichts brachte sie dort zum Lachen, schon ewig nicht mehr. Lachen? Wie ging das?

Der Detektiv log ihr schamlos ins Gesicht, das war die einzige Erklärung; sie wusste genau, wieso er das tat. Er wollte sie provozieren, zu einem Geständnis verleiten, damit sie zugab, wie brutal die Umstände sie ankotzten und dass es sie keinen Deut juckte, ob ihr Mann verschwunden war und ihm etwas zugestoßen sein könnte oder ob er jemals wieder auftauchte. Bedeutungslos von Grund auf. Schließlich gehörte sie selbst längst zu den Untoten, die durch einen verrotteten Alltag geisterten, im aberwitzigen Glauben, sie sicherten so ihr Überleben in einer Welt aus Geiz und Ungeduld, hinterhältiger Konkurrenz und Egoismus hoch tausend.

Grotesk, abgrundtief lachhaft.

Jetzt hatte sie es selbst gehört!

Ihr Mund hatte einen Laut ausgestoßen, der wie das Bruchstück eines Lachens klang.

Sie hob den Kopf (verstört hatte sie auf ihre gekreuzten Daumen mit dem Papiertaschentuch dazwischen gestarrt) und blickte in die verschwommenen Umrisse einer Gestalt. Dauernd passierte etwas mit ihr, womit sie nicht zurechtkam. Sie beugte sich über den Tisch, näher hin zu dem Unrasierten, der keine Reaktion zeigte. Oder doch? Er hielt ihr seine Hand hin, schon wieder. Und sie? Hatte keine Hand mehr frei, sie musste doch die Blutung stoppen! Dann hörte sie ein Schniefen. Jemand heulte, eindeutig.

»Nehmen Sie das zweite Taschentuch auch, Frau Ahorn«, sagte der Mann hinter dem Schleier ihrer Augen.

O Gott, dachte sie.

Hastig griff sie nach dem Tuch. Sie tupfte sich die Augen ab, rieb über ihre Nase, senkte die Hand und sah das andere, rotgefärbte Tuch. Aus ihrem Daumen quoll kein Blut mehr. Was hatte das zu bedeuten?

»Entschuldigung, Entschuldigung«, stieß sie hervor. »Ich komm gleich wieder.«

Ihre Hand klebte auf dem Tisch, mit der Hand des Mannes obenauf. »Sie bleiben«, sagte Süden. »Wir müssen uns jetzt über Ihre Vermissung unterhalten.«

»Meine Vermissung?« Sie blinzelte eine Weile, um besser sehen zu können.

»Ihr Mann ist verschwunden, und ich muss wissen, seit wann und welche Gründe es für seine Abwesenheit geben könnte. Wenn ich bis morgen früh nicht den kleinsten Hinweis auf seine veränderten Lebensumstände erhalten habe, brauchen Sie nichts zu bezahlen. Die ersten zwölf Stunden gehen auf mein Risiko. Sie müssen dann bei der Polizei eine Vermisstenanzeige erstatten, sonst haben Sie keine Chance, Ihren Mann zu finden.«

Noch einmal tupfte sie mit dem Papierdreieck ihre Nase ab; sie schniefte leise, spitzte die Lippen und zeigte ein Lächeln, ohne Heiterkeit.

»Polizei?«, sagte sie. »Ha! Polizei. Niemals Polizei!«

Sie erklärte ihm die Dinge.

»Hören Sie mir zu? Die Polizei … Die Polizei kümmert sich einen Dreck um unsereinen, das müsste Ihnen als wacher Mensch doch schon aufgefallen sein. Die Polizei schützt die Obrigkeit, nicht uns, das Volk. Die Polizei ist korrupt bis ins Mark, und die Regierung unterstützt so ein Verhalten, das hätt längst verhindert werden müssen. So, wie politische Parteien bestimmen, wer wo auf welchen Richterstuhl kommt oder zum Oberstaatsanwalt ernannt wird. Das muss aufhören.

Ich will Sie nicht belehren, Sie sind Detektiv und wahrscheinlich eng mit der Polizei verbandelt, das ist normal. Aber wenn ich bestimmen kann, wer mir helfen soll, zum Beispiel, jemand ist plötzlich verschwunden, dann entscheid ich mich mit Sicherheit nicht für ein Staatsorgan. Da hab ich meine Erfahrungen gemacht, das können Sie mir glauben, und daraus hab ich gelernt. Deswegen sind Sie hier und keiner dieser ferngesteuerten Beamten, denen geht ein Schicksal wie meines am Allerwertesten vorbei. Das ist die schlichte Wahrheit. Ja?«

Süden schwieg.

»Na ja, ich hoffe, Sie machen Ihre Arbeit gut und bringen etwas Licht ins Dunkel, das zurzeit mein Leben überschattet. Sagen Sie mir, was Sie brauchen, um meinen Mann aufzustöbern, ich unterstütze Sie so gut wie möglich. Entschuldigen Sie mein Benehmen vorhin, meine Nachlässigkeit und dass ich Sie so auf dem Trockenen sitzengelassen hab. Zurzeit bin ich nicht hundert Prozent standfest, wenn ich mich so ausdrücken darf, ich leide unter Schwächeanfällen, auch nervlich. Haben Sie Nachsicht, Herr Süden. Darf ich Ihnen ein Glas Wasser bringen, oder ein Bier? Ist doch schon nach zwanzig Uhr.«

»Kein Bier«, sagte Süden.

»Ein Glas Weißwein?«

»Dieses Foto von Ihrem Mann ist schwarzweiß, das ist ungewöhnlich.«

»Er war ein leidenschaftlicher Knipser, mein Leo.«

»Er lebt hoffentlich noch«, sagte Süden.

Er hatte eine Schwäche für verrutschende Gesichter, auch wenn er diesmal, wie er sich eingestand, besser nicht hingesehen hätte. Viola Ahorns Mimik nahm einen solch geisterhaft-verzerrten Ausdruck an, dass Süden unmöglich glauben mochte, ihre Reaktion beziehe sich ausschließlich auf seinen nicht belehrend gemeinten Hinweis.

Wie bei ihrer Kaskade gegen Polizei und politische Entscheidungsträger schien sie auch ohne Worte flugs dazu in der Lage zu sein, eine negative, aus einem privaten Anlass heraus entstandene Empfindung in fundamentale Abscheu gegen die Welt umschlagen zu lassen – vermutlich, weil sie es als ihr gutes Recht betrachtete, beleidigt zu sein.

Aus seiner Erinnerung tauchte ein gut abgehangener Spruch seiner Chefin auf: Viele unserer Auftraggeber, meinte Edith Liebergesell einmal, seien die größeren Arschgeigen (Männer wie Frauen), die Zielpersonen dagegen entpuppten sich häufig als äußerst liebenswürdig.

Aber er war nicht hier, um zu urteilen.

Immerhin brachte sie ein »Hoffentlich« heraus. Sie zuppelte an ihrem enggeschnittenen Kleid mit den schwarzweißen Querstreifen und der aufgenähten roten Rose auf Herzhöhe und ruckte wieder mit dem Stuhl. Süden mutmaßte, dass sie es war, die einen Drink nötig hätte.

»Ein leidenschaftlicher Knipser«, wiederholte er. »In Schwarzweiß.«

Sie hörte auf zu fummeln und nickte eine Zeitlang vor sich hin. Er beobachtete sie, ihre scheinbare Selbstvergessenheit, ihre Angewohnheit, sich das möglicherweise gefärbte schwarze Haar aus der Stirn zu streichen, ohne dass eine Strähne je ihre Brauen berührt hätte.

Knapp eine Stunde hielt er sich bereits in der Wohnung auf. Er hatte den Eindruck, er wusste schon zu viel von ihr, nach mehr verlangte es ihn nicht. Von ihrem Mann wusste er noch nahezu nichts, außer dass Leo Ahorn gern Fotos machte. Und – Süden fehlte der Beweis, eine Unterstellung genügte ihm – mit hoher Wahrscheinlichkeit schenkte Leo Ahorn seiner Frau zu keinem noch so geringen Anlass ein billiges Viskosekleid mit einer kitschigen Blume über der Brust. Vielleicht ein Präsent von ihr an sich selbst …

Mehr und mehr fand Süden Halt auf dem Lieblingsplatz des verschwundenen Schreibwarenhändlers, beim Anblick der in einer Wiese abgeknipsten Gestalt und in Anwesenheit einer mit gebunkerter Verachtung in eine neue gnadenlose Nacht strauchelnden Frau. Die langen Tage des Sommers, hatte Süden gelernt, demaskierten manche Menschen bis auf die Knochen und erlösten sie auch nachts nicht von der Scham.

5

Nach der Mittleren Reife begann Leo Ahorn eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann, die er nach einem Jahr gegen seinen Willen abbrach. Sein Vater war an einem Prostatakarzinom erkrankt, das bereits Metastasen gebildet hatte. Seine Mutter bat Leo, im florierenden Geschäft mitzuhelfen. Eine Zeitlang glaubte er, sein Vater würde sich wieder erholen, zumal er die Operation, bei der sowohl das Organ als auch befallene Lymphknoten entfernt worden waren, und die anschließende Strahlentherapie gut verkraftet zu haben schien. Für zwei oder drei Stunden am Tag unterstützte Uwe Ahorn seine Frau sogar im Laden, führte launige Gespräche mit den Stammkunden und ermahnte seinen Sohn eindringlich, die Ausbildung fortzusetzen.

Leo wohnte nach wie vor in seinem ehemaligen Kinderzimmer; aus der elterlichen Genossenschaftswohnung auszuziehen hatte er nicht vor; bei einem Mietpreis von rund sieben Euro pro Quadratmeter würde er, das war ihm schon damals klar, in der gesamten Stadt kein günstigeres Angebot finden. Heute bezahlte er für die neunzig Quadratmeter am Zweierweg Ecke Koptenstraße etwas mehr als siebenhundert Euro im Monat – angesichts der in der gentrifizierten Gegend rund um den Ostfriedhof üblichen Preise eine »paradiesische Summe« (Viola Ahorn gegenüber Süden).

Viola war eingezogen, nachdem …

Sie druckste herum. Süden ließ sie gewähren. In der Zwischenzeit hatte sie auf seinen Wunsch hin eine Flasche Bier auf zwei Gläser verteilt; sie hatten beide einen kräftigen Schluck genommen, mit der Folge, dass die Frau sofort aufstehen und eine neue Flasche aus dem Kühlschrank holen wollte; er bat sie, sitzen zu bleiben.

Offensichtlich löste die Familiengeschichte eine Regung bei ihr aus, die sie schwer zu kontrollieren wusste; sie verhedderte sich beim Sprechen, verlor den Faden, sah Süden fast flehentlich an, als könnte er ihr auf die Sprünge helfen.

Er hatte begonnen, sich Notizen zu machen.

Nachdem Uwe Ahorn mit einer schweren Gallenkolik erneut ins Krankenhaus gebracht worden war, erlitt er einen tödlichen Herzinfarkt; sämtliche Reanimationsversuche scheiterten. Ahorn war fünfundfünfzig Jahre alt und voller Zuversicht gewesen, genau wie sein Sohn.

Leo war achtzehn, und drei Jahre später …

Es geschah praktisch vor ihrer Haustür, keine hundert Meter vom Schreibwarenladen entfernt. Auf Einladung einer Bekannten, die in kleinem Kreis Geburtstag feiern wollte, hatte Christel Ahorn sich um fünf Uhr nachmittags von ihrem Sohn verabschiedet; er sollte bis Geschäftsschluss um achtzehn Uhr die Stellung halten. Die Feier dauerte länger als erwartet.

Gegen zweiundzwanzig Uhr stieg Christel Ahorn auf ihr Fahrrad und machte sich entlang der Grünwalder Straße auf den Heimweg. Ein feuchtkalter Abend im November. Sie kannte die Strecke, brauchte etwa zehn Minuten bis zur Abzweigung der Koptenstraße unmittelbar hinter der Eisenbahnbrücke. Gegenüber dem Areal einer Brauerei mit Gasthaus und Biergarten. Mehr als ein halbes Leben hatte die Sechsundvierzigjährige in diesem Viertel im Osten der Stadt verbracht, niemand, wie sie oft betonte, würde sie von hier vertreiben.

Aus der Entfernung sah sie in der grieseligen Dunkelheit das grüne Leuchten der Ampel; sie fuhr auf dem Bürgersteig, trat kräftig in die Pedale; den Lastwagen neben ihr auf der Straße könne sie locker überholen, dachte sie vielleicht. Der Lastwagen …

»Sie hätt einfach rechts abbiegen können«, sagte Viola Ahorn zu Süden. »Wieso hat sie's nicht getan? Wieso ist die … Die hätt doch sehen müssen … Und der andere hätt doch auch sehen müssen, dass da … Dass da … Gradeaus wollt sie, über die Kreuzung drüber, auf die andere Seite! Weil? Ja, weil? Weil das schneller geht bis zum Haus? Ja? Der Laster ist abgebogen, ohne …«

Ohne auf die Radfahrerin auf dem Gehweg zu achten. Ohne den Blinker zu setzen, wie hinterher ein Autofahrer behauptete, der in der Nähe eingeparkt hatte (der Lkw-Fahrer leugnete das entschieden), bog der Laster nach rechts ab. »Der muss doch erst schauen«, sagte Viola Ahorn. »Der schaut gar nicht … Der ist weitergefahren …«

Der zufällig anwesende Zeuge klingelte Sturm an einer der Türen des Wohnblocks, an dessen östlichem Ende die Wohnung der Ahorns lag. (Die Zeit der Mobiltelefone in der Stadt brach gerade erst an.)

Acht Minuten brauchte der erste Streifenwagen bis zum Unfallort, vierzehn die Sanitäter und der Notarzt. In seinem Zimmer hörte der einundzwanzigjährige Leo die Sirenen von Polizei und Rettungsdiensten, nichts Ungewöhnliches nachts in der Stadt. Er schob eine Kassette in den Videorekorder und freute sich auf die neue Krimiserie, von der er eine aktuelle Folge aufgenommen hatte; zwei Kommissarinnen spielten die Hauptrollen; gewöhnlich liefen die Folgen um Viertel nach acht, aber zu der Zeit saß er meist mit seiner Mutter noch beim Abendessen, sie besprachen geschäftliche Dinge oder spielten eine Runde Karten um Pfennigeinsätze – so, wie sie es schon in seiner Kindheit getan hatten.

Der Nachbar (ein Architekt namens Sigburg), der das abrupte Rumpeln der Ladung auf dem Anhänger und das Quietschen der Bremsen gehört, den genauen Ablauf jedoch nicht gesehen hatte, wartete in der Nähe; er beobachtete, wie die Sanitäter das Unfallopfer unter dem schweren Fahrzeug Zentimeter für Zentimeter bewegten, bis der Körper neben den Reifen im Scheinwerferlicht der Polizei auftauchte. Das grüne Cape erkannte Sigburg sofort.

Er teilte einem der Polizisten seine Vermutung mit, woraufhin zwei Beamte ihn zur Haustür begleiteten; Sigburg klingelte; nach dem vierten Mal meldete sich eine junge männliche Stimme. Einer der Polizisten stellte sich mit Namen vor und bat Leo, auf die Straße zu kommen. Einige Minuten später identifizierte Leo das Unfallopfer als seine Mutter. Eine Sanitäterin legte ihm eine Wolldecke um die Schultern; Leo schlotterte am ganzen Körper.

»Jetzt hatte er auch noch die Mutter verloren, und jetzt, und jetzt …«

Wie bei seinem Vater fand die Beisetzung seiner Mutter auf dem nahen Ostfriedhof statt. Niemand, dachte Süden mehrmals im Lauf der Nacht, hatte Christel Ahorn aus ihrem Viertel vertreiben können, nicht einmal der Tod.

Und nachdem …

»Und nachdem alles erledigt war, Herr … Nachdem die Dinge getan waren, die getan werden mussten, beschloss Leo, das Geschäft allein weiterzuführen. Mit grad mal einundzwanzig. Das Leben auf den Kopf gestellt. Ein Glück war, dass die Genossenschaft ihm erlaubte, vorerst in der großen Wohnung zu bleiben, man wolle sich aber nach einem Ersatz mit weniger Quadratmetern umschauen, hieß es. Vielleicht haben sie das getan. War aber nicht mehr nötig. Ich bin nämlich … So bin ich … Ich bin … Wir haben uns im Fasching auf dem Viktualienmarkt kennengelernt; da war er, am Faschingsdienstag, im Trubel bei der lauten Musik; nicht verkleidet, müssen Sie wissen, genau wie ich. Und nachdem …

Nachdem wir uns gemocht und wiedergetroffen haben, nahm er mich in seine Wohnung mit. Ich war … Möchten Sie wissen, wie alt ich damals war?«

»Ja«, sagte Süden.

»Neunzehn. O Gott. Wie lang ist das her? Das sag ich Ihnen besser nicht.«

Er schätzte die Frau auf Anfang vierzig, eventuell Ende dreißig; das schwindende Licht in der Küche schummelte mit den Fältchen in ihrem Gesicht.

»Er war fünfundzwanzig«, fuhr sie fort. Südens Blick irritierte sie, auch, dass er den Kugelschreiber wieder hingelegt hatte und nur noch zuhörte.

Sie sollte aufhören zu quatschen, dachte sie. »Das reicht jetzt, mehr müssen Sie nicht wissen. Natürlich bin ich bei ihm eingezogen, er wollt's so, ausdrücklich, hab mich nicht aufgedrängt, darauf können Sie wetten. Er meinte, nachdem die Zimmer alle leer seien … alle leer … Die Genossenschaft hat ihn nicht rausgeschmissen …

War das richtig, was ich getan hab? Gleich das volle Programm, zusammenziehen, heiraten … Wir haben uns in der Mandlstraße trauen lassen und sind anschließend im Seehaus essen gewesen. Das ist lauschig da. Und nicht gerade preiswert. Na ja. So geht die Zeit. Damals lief das Geschäft gut. Wahrscheinlich haben Sie sich schon gefragt, wieso ich keinen eigenen Beruf ergriffen hab, wieso ich in dem Laden hängengeblieben bin. Raten Sie mal.«

Süden schwieg.

»Hotelfachfrau wollt ich werden. Hab's mir anders überlegt. Bin ins Schreibwarenbusiness eingestiegen. Ist so was zu glauben? Es hätten auch noch Kinder kommen können. Sind keine gekommen. Er wollt's nicht. Wollt's einfach nicht, fand die Welt nicht gut genug für seine Kinder. Und ich? Ich wollt eine richtige Mutter sein, eine Mutter, wie es sich gehört. Na ja, hab's akzeptiert. Wieso? Frage abgelehnt. Die Zeit ist um. Kriegen könnt ich noch ein Kind, grad so noch, in meinem Alter. Mit welchem Mann? Von heut aus betrachtet, hat der liebe Gott das schon klug eingefädelt: In diese Ehe besser kein Nachwuchs … Haben Sie nun genügend Anhaltspunkte, um den Mann zu finden?«

»Und dann?«, fragte Süden.

»Was? Bitte?«

»Sollte ich Ihren Mann finden, was passiert dann?«

»Was soll da passieren? Er wird mir erklären, wo er gesteckt hat, und wir werden eine Lösung suchen, wie das alles weitergehen soll, dieses blutleere Leben, das wir führen.«

»Ich muss Ihren Mann nicht zu Ihnen zurückbringen, wenn er das nicht wünscht.«

Sie äffte ihn in schriller Tonlage nach. »Wenn er das nicht wünscht? Wenn er das nicht wünscht? Er? Der? Was hat der zu wünschen, in seiner Position? Was? Der hat nichts zu wünschen, der Wunschzug ist abgefahren und kommt nicht wieder. Wenn er das nicht wünscht! Sie finden ihn, bringen ihn her, und den Rest machen wir unter uns aus, da haben Sie kein Sterbenswörtchen mitzureden, wer sind Sie denn?«

»Ich habe Sie noch nicht gefragt, wer das Foto von Ihrem Mann auf der Wiese gemacht hat.«

»Weiß ich nicht, er wahrscheinlich, mit Selbstauslöser.«

»Die Wiese liegt irgendwo in der Stadt.«

»Die liegt da bei der Autobahn nach Salzburg. In den Park ging er zum Knipsen. War nie dabei, zumindest nicht in den letzten Jahren. Alles kaputt. Sonst noch Fragen?«

»Wo sind die vielen Fotos, die Ihr Mann gemacht hat?«

»Weg.«

»Weg.«

»Er macht Fotos, lässt sie entwickeln und schmeißt sie weg. Das ist das einzige, das übriggeblieben ist.«

»Sie haben es aufbewahrt«, sagte Süden. »Es bedeutet Ihnen etwas.«

Sie zuckte mit der Schulter; kein Bedürfnis nach Traurigkeit …

»Und Sie erfinden Geschichten, wenn Ihre Kunden Sie fragen, wo Ihr Mann steckt.«

»Zu manchen sag ich, er ist bei einem kranken Freund in Dinslaken, zu anderen, er ist zu seiner kranken Mutter gefahren. Sie glauben's, so einfach ist das.«

Die Aussage würzte sein Schweigen mit Sprachlosigkeit.

»Was ist?«, sagte sie. »Sie schauen so ungläubig.«

»Seine Mutter liegt auf dem Ostfriedhof begraben. Das müssen die Leute doch wissen.«

»Die meisten sind zu jung, um sich an den Unfall zu erinnern, oder zu vergesslich, oder sie hören sowieso nie zu.«

»Und er ist seit Mittwoch verschwunden.«

»Wie oft muss ich das noch sagen?«

Süden brauchte Luft, Abstand, etwas zu trinken und eine andere Stimme in Hörweite. Er steckte Block und Kugelschreiber ein, wandte sich zum Fenster, vor dem die Dämmerung einsetzte, und stand auf.

»Bleibt's bei den ersten zwölf Stunden, die kostenlos sind?«, fragte Viola Ahorn im Flur.

»Selbstverständlich.«

»Ziemlich nett eigentlich.«

»Ich melde mich spätestens morgen früh bei Ihnen.«

Sie zog die Tür auf. »Sie wollt ich noch was fragen: Sie waren doch garantiert nicht Ihr ganzes Leben lang Detektiv, kann ich mir nicht vorstellen. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber das ist doch ein eher schlichter Beruf. Entschuldigen Sie, ich hoff, ich hab Sie nicht gekränkt.«

»Nein«, sagte Süden. »Ich war bei der Kripo, davon zwölf Jahre auf der Vermisstenstelle.«

»Ein Polizist!«

Sie gab ihm ihr Lächeln, das er schon kannte und beim zweiten Mal noch abschreckender fand, mit auf den Weg ins Dunkel einer Biografie.

6

Im Wesentlichen bestätigte die Bedienung im Blauen Eck die Lebensumstände des Verschwundenen, die Süden bereits aus den mit Furor aufgeladenen Aussagen der Ehefrau herausgelesen hatte. Trotz einiger Schulen im Umkreis (Maria-Theresia-Gymnasium, Don-Bosco-Kinderhort, in dem auch schulpflichtige Grundschüler betreut wurden) sowie unzähliger neu errichteter Wohnanlagen habe Leo Ahorn über ständig sinkenden Umsatz geklagt.

»Von Tradition können Sie nicht abbeißen«, sagte Britta Seidel, die Kellnerin. »Zu Zeiten von Leos Eltern gab's weit und breit keine Konkurrenz, keinen Supermarkt, der mehr Schreibsachen verkauft als Tütensuppen, so wie heut. Den alten Ahorn und seine Frau kannte im Viertel jeder, auf deren Seite vom Ostfriedhof genauso wie hier bei uns und bis rüber nach Haidhausen. Wer spezielle Schreib- oder Notenhefte für seine Kinder brauchte, ordentliche Füller oder Buntstifte oder hübsche Postkarten und wertvolles Briefpapier zum Verschenken, der ging zum alten Ahorn. Obwohl: Alt darf man eigentlich nicht sagen, so alt wurde er nicht. Kennen Sie die Geschichte?«

»Er starb an Krebs«, sagte Süden.

»Und ein paar Jahre darauf ist seine Frau verunglückt, mit dem Radl, nachts, ein Lastwagen hat sie totgefahren. Und der arme Leo war plötzlich Waise. Was hätte er machen sollen? Von dem Tag an war für ihn ein selbstbestimmtes Leben nicht mehr möglich. Schon tragisch in gewisser Weise. Wer weiß, kann sein, er hat sich nie ganz davon erholt, von dem Schock, von der Tragödie.«

Fast zärtlich strich sie mit dem Daumen über das Foto, das vor ihr auf dem Tresen lag. »Der liebe Leo. In letzter Zeit allerdings ging er nicht nur mir manchmal arg auf den Zeiger. Seine Jammerei war kaum mehr zu ertragen. Er fing sogar an zu betteln …«

Unvermittelt hielt sie inne, schüttelte den Kopf, nahm das Foto in die Hand und runzelte die Stirn – als käme ihr das Schwarzweißgesicht auf einmal fremd vor. »Verschwunden ist er? Seit zwei Tagen? Wirklich?«

»Ja«, sagte Süden.

»Hier war er seit Montag nicht mehr. Oder?«

Sie meinte nicht Süden. Ihre Aufmerksamkeit galt einem etwa sechzigjährigen Mann an einem Stehtisch in der Mitte der Kneipe, dessen gebeugte Gestalt und starrer Blick Süden schon beim Hereinkommen aufgefallen waren. Der Mann fixierte den an die gegenüberliegende Wand montierten Fernseher, auf dem tonlos ein Fußballspiel lief, offensichtlich aus einem afrikanischen Land; auf dem Spielfeld wie auf den Rängen ausschließlich dunkelhäutige Menschen, teilweise vielfarbig gekleidet. Zufällig sah Süden hin, als ein Tor fiel; er las die Einblendung: Africa Cup. Kamerun führte gegen Gambia mit eins zu null. In regelmäßigen Abständen zog der Mann (graue Strickjacke über einem T-Shirt, braune Cordhose, schwarze Sandalen, unrasiert, die dunkelblonden Haare ungekämmt) die linke Schulter hoch und blinzelte heftig mit dem rechten Auge; entweder ein Tick, vermutete Süden, oder Ausdruck eines wiederkehrenden Schmerzes.

»Oder, Georg?«, wiederholte die Bedienung, und zu Süden: »Das ist Georg, auch ein Stammgast. Der könnte Ihnen Einiges zu unserem Leo erzählen. Oder, Georg?«

Der Mann drehte den Kopf zum Tresen. Sein Gesicht so grau wie sein Janker, der für die Jahreszeit und den warmen Juliabend an ihm ebenso kurios wirkte wie die schwere Lederjacke am Detektiv. »Montag. Stimmt.« Seine dünne Stimme schaffte es kaum vom Stehtisch zur Theke.

An einem der drei niedrigen Tische vor den Fenstern blätterte ein Mann um die fünfzig mit ergrauenden roten Haaren in einer Boulevardzeitung; als Georg der Bedienung antwortete, schaute er auf und wischte mit einem schnellen Blick auch über Süden, dann stützte er die Ellbogen auf, die Fäuste im hageren, von tiefen Furchen durchzogenen Gesicht, und setzte seine Lektüre eines offenbar maßlos spannenden Artikels fort. Süden war aufgefallen, dass, seitdem er hier war, der Mann noch kein einziges Mal umgeblättert hatte. Bei der niedrigen Lautstärke der Schlagermusik hätte Süden sogar mit dem Rücken zum Raum das Rascheln des Papiers wahrgenommen.

Vielleicht, dachte er, hatte das alles nichts zu bedeuten: Ob einer umblätterte oder nicht; ob einer wie gebannt ein tonloses afrikanisches Fußballspiel verfolgte; ob einer, wie der alte Herr mit der Baskenmütze am zweiten Stehtisch, unaufhörlich in einem Taschenkalender blätterte; ob einer, wie der weißbärtige Gast am anderen Ende des Tresens, in rasender Geschwindigkeit mit einem Bleistift Wörter in ein Kreuzworträtsel einfügte und ebenso hektisch wieder ausradierte …

Welchen Zusammenhang stellte das alles zu einer Vermissung in einer Welt ohne Nähe dar?

In einem Lokal wie dem Blauen Eck trafen tagein, nachtaus Männer und Frauen aufeinander, denen die Anwesenheit genügte, die eigene und die der übrigen Vornamenträger. Man nahm eine Rolle an; man hatte Text zu bieten; man hörte zu und entwickelte bei Bedarf einen Dialog oder unterwarf sich einer Suada aus unüberprüfbaren Erkenntnissen und einschüchternden Mutmaßungen, aus denen man schlau wurde oder auch nicht.

Je häufiger man zur immer gleichen Zeit erschien, desto selbstverständlicher gingen die handelnden, salbadernden, brummenden, Kreuzworträtsel lösenden oder vor sich hin fluchenden Personen miteinander um, ganz so, als wären sie Akteure auf einer von ihnen selbst gezimmerten Bühne. Doch waren sie Gleichgesinnte nur in einer Hinsicht: Jeder Mann, jede Frau, jedes Geschöpf in diesem Universum aus verbrauchter Luft und zerknüllten Träumen verbarg sein Alleinsein mit größtmöglicher Hingabe. Insgeheim schämten sie sich für ihre Einsamkeit mehr als für abgetretene Schuhe und ungeschnittene Fingernägel, Löcher im Pullover, das Zittern der Hand beim Heben des Glases.

Mindestens die Hälfte seines Lebens hatte Süden mit Menschen verbracht, die von einem bestimmten Moment ihrer Geschichte an um ein ihnen angemessenes Dasein betrogen worden waren. Danach fielen manche ins Elend, einige versuchten, sich mit Gewalt zu wehren, andere übten sich in Selbstbetrug – bis sie von ihrem Anblick im Spiegel die Schnauze voll hatten und sich ihren Rest Menschsein von einem Schnellzug in Stücke reißen ließen.

Der Weißbärtige am Tresen war immerhin noch da, auch der Stumme mit der Baskenmütze, der Fußballfan Georg. Und wer wusste schon, was an diesem Abend in der Zeitung stand, dass es sich nicht lohnte, umzublättern?

Nur ein gewisser Leo Ahorn, Schreibwarenhändler wie sein Vater, spielte seine Rolle nicht mehr, was – wenn Süden sich nicht täuschte – nicht gerade zu einem weltbewegenden Vermissen in den Gesichtern der Mitspieler geführt hatte.

»Der taucht schon wieder auf«, sagte die Bedienung. »Noch ein Helles?«

Süden hielt den kleinen karierten Block in der Hand und überflog seine Notizen. »Sie kennen Viola Ahorn ebenfalls«, sagte er.

»Ich bin die Britta.«

»Tabor.«

»Was?«

»Das ist mein Vorname. Tabor.«

»Du heißt Tabor Süden?«

Er nickte.

»Tabor Süden?«

Fünf Augenpaare waren unübersehbar auf ihn gerichtet. Er lehnte am Tresen und schwieg.

Nach der zweiten Strophe eines Songs von Howard Carpendale (der Sänger trieb Süden seit der Geburt in den Wahnsinn) meinte die Bedienung: »So heißt doch niemand.«

»Ich schon«, sagte Süden.

Damit war das Thema erledigt, die Sehorgane widmeten sich wieder den jeweiligen Bedürfnissen ihrer Besitzer.

Britta stellte ein frisches Bier vor ihn hin; er trank den Schaum ab, leckte sich die Lippen und nahm einen weiteren Schluck. »Leos Frau«, sagte Süden, »sie begleitet ihren Mann.«

»So kann man das nicht ausdrücken.« Aus einer Zweiliterflasche goss Britta Seidel Weißwein in ein Glas, füllte es mit Mineralwasser auf und brachte es dem radierenden Rätsellöser. Der Weißbärtige fügte ein neues Wort ein, grübelte, klopfte zufrieden mit dem Gummikopf des Bleistifts aufs Papier; eine Weile nickte er still vor sich hin, dann griff er nach dem frischen Glas mit der Schorle. »Dank dir, Britta«, murmelte er abwesend, schon wieder konzentriert auf die zu bewältigenden Aufgaben.

»Frau Ahorn kam also nicht gemeinsam mit ihrem Mann zu dir.«

»Nie«, sagte Britta. »Sie kam, um ihn abzuholen oder zu stänkern oder beides.«

»Sie mag die Kneipe nicht.«

»Was mag die denn überhaupt?« Sie trank Tee mit Rum aus einer roten bauchigen Tasse, die sie in beiden Händen hielt. »Was soll man machen? Die Frau fühlt sich halt bedroht, von geheimen Mächten. Ihrer Ansicht nach ist eine Verschwörung im Gange, und wir lassen uns alles gefallen, weil wir dumm und naiv sind. Sie glaubt allen Ernstes, wir sollen ausgetauscht werden, wir Leute, die Weltherrschaft übernehmen dann finstere Mächte, die Araber. Oder, Georg? Die Araber wandern bei uns ein und schaffen uns ab.«

Süden war sich nicht sicher; es konnte sein, dass Georg ein hauchdünnes Ja ausgestoßen hatte.

»Sie überwacht ihren Mann«, sagte Britta. »Das geht mich nichts an. Wenn du mich fragst, sind beide am Ende angelangt. Sie mussten ihren Laden total ummodeln, die alten Kunden bleiben weg, wie meine Gäste. Schau dich um: Heut ist Freitag und gähnende Leere. Meine Chefin hat noch Glück, sie zahlt relativ wenig Miete, so wie der Leo in seiner Genossenschaftswohnung, wir kommen grad so über die Runden.

Ist ein Kreuz. Man muss die Frau verstehen, sie ist nicht mehr die Jüngste, der Mann hängt fast jeden Abend hier am Tresen, was bleibt dir noch mit Anfang vierzig?

Sie spinnt, das ist die eine Seite, die andere ist die nackte Existenz. Und mit Leo kannst du nicht mehr reden, der labert dir ein Ohr ab, wie schlecht's ihm geht und dass niemand ihm Geld leiht. Stimmt's, Georg?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, fügte sie hinzu: »Georg hat seine Firma verkauft, auch die dazugehörige Wohnung, alles abgestoßen, hat sich eine schmucke Zweizimmerwohnung in dem Neubau an der Koptenstraße geleistet. Er ist jetzt frei, sagt er, keine Arbeit mehr, keine Umzüge, nur noch leben, wie es ihm beliebt.«

»Und Fußballspiele aus Afrika verfolgen«, sagte Süden.

»Weiß der Teufel, was er daran findet. Wir kriegen einen Haufen Sender rein, auch zwei Sportkanäle, das wollt meine Chefin so, die hat früher selber Fußball gespielt. Jeder darf zappen, wie er will, bloß der Ton muss ausbleiben. Der Georg war Chef eines bekannten Umzugsunternehmens, Kramer-Umzüge, hat sein Vater aufgebaut, absolute Profis. Georg hat Geld auf der Bank, das ist klar, und Leo hat ihn unermüdlich angeschnorrt.«

»An der Koptenstraße liegt auch das Geschäft der Ahorns.« Süden leerte sein Glas, Britta drehte den Zapfhahn auf.

»Ja, sicher. Die kennen sich inzwischen gut. Georgs Firma war in Milbertshofen, vor einem Jahr ist er hergezogen, neue Umgebung, neue Freiheit. Und Leo …« Sie stellte das gefüllte Glas auf den Tresen. »Wohlsein. Wo könnt er sein, der Leo? Was sagt seine Frau? Die muss doch was wissen.«

»Sie sagt, er sei seit Mittwoch nicht mehr nach Hause gekommen.«

»Aha.« Sie wandte sich an den weißbärtigen Rätselbezwinger. »Hör mal zu, Olaf. Du sollst zuhören.« Den gespitzten Bleistift zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, die Hand zur Faust geballt, biss er sich mit angespannter Miene auf die Unterlippe. »Mach mal kurz Pause, ist wichtig.« Er stieß einen Seufzer aus und hob den Arm, als wollte er zustechen.

Britta, zu Süden: »Er steigert sich immer recht rein, alles muss ganz genau stimmen, ehemaliger Lehrer halt.« Zu Olaf, lauter: »Wann war die Viola da? Am Mittwoch oder am Dienstag? Hörst du zu?«

»Ich denk nach.« Er dachte nach.

Süden überbrückte die Zeit mit zwei Schlucken.

»Dienstag. Dienstag.«

»Sicher, Olaf?«

»Dienstag, da habe ich das neue Heft gekauft, das hat sie hier gesehen und mich gefragt, warum ich das nicht bei ihr gekauft hätte. Ich sagte, sie habe keine Rätselbücher im Sortiment, sie behauptete, das würde nicht stimmen. Mit ihr kann man nicht diskutieren.«

»Dienstag also. Danke, Olaf.«

»Und sie hat nicht erwähnt, dass sie fürchtet, ihr Mann sei verschwunden«, sagte Süden.

»Wissen wollt sie, wo er steckt. Ich hab zu ihr gesagt, dass ich ihn gestern, also am Montag, zum letzten Mal gesehen hab. Dann hat sie noch den Rachid von oben bis unten gemustert, das ist einer meiner Stammgäste, ursprünglich aus Algerien, ein top Zahntechniker, sag ich dir, sie hat ihn angegafft, obwohl sie ihm schon ein paarmal begegnet ist, hier bei mir. Er ist ein entspannter Typ, hat nicht im Geringsten auf ihr Gehabe reagiert. Wie gesagt, sie ist paranoid, und solang sie nur schaut … Dass Leo verschwunden ist, hat sie nicht gesagt. Oder, Georg?«

Kopfschüttelnd stieß Georg sich vom Stehtisch ab und trottete zu den Toiletten. Im Fernsehen lief Werbung.

»An dem Montagabend«, sagte die Bedienung, »hat Leo wie ein Bekloppter auf Georg eingeredet, ununterbrochen. Er brauche Geld, Georg hätte doch genug, er, Leo, möchte seinen Laden umbauen und in ein Café umwandeln, wo man Zeitungen lesen und verweilen kann … Abstrusitäten … Ich bitte dich. Die Leute glauben immer, dass Gastronomie ein Kinderspiel ist. Der Leo! Sie haben gestritten, die beiden Männer. Georg wollte seine Ruhe, der Stehtisch ist sein Stammplatz, er kann's nicht leiden, wenn da einer hinrumpelt und ihm den Kopf zuquatscht. Was soll ich sagen? Ich hab ihn rausgeschmissen, den Leo. Nicht zum ersten Mal. Er war betrunken, aggressiv, uneinsichtig. So einen Gast will ich nicht haben, auch wenn ich ihn kenn und Mitleid mit ihm hab, mit seiner Situation, mit seiner Not. Hab ich wirklich. Aber Gäste belästigen ist ein No-Go. Hab ihn vor die Tür bugsiert, und Ruhe war. Er ist auch nicht wieder aufgetaucht. Oder hast du ihn auf dem Heimweg noch mal getroffen?«

Georg steuerte gerade wieder seinen Platz an. »Da war kein Mensch … Ich geh ja … schneller kann ich ja nicht … Unterwegs kommt's nicht drauf an. War wieder spät, wie spät?«

»Kurz vor eins«, sagte Britta, und zu Süden: »Noch ein Helles?«

In der Schnelligkeit seiner Notate stand Süden dem Rätselrater in nichts nach. Er überlegte, Viola Ahorn anzurufen; dann erschien ihm sein Anliegen als zu dringend und wichtig, um es am Telefon abzuhandeln; zumal er auf diese Weise ihr Verhalten nicht beobachten konnte, ihre Mimik, das Geifern ihrer Blicke.

»Ich komme später wieder.« Er legte einen Geldschein auf den Tresen, steckte Block und Kugelschreiber ein und wandte sich im Gehen an den Mann in der Strickjacke. »Falls es Ihnen keine Umstände macht, warten Sie bitte hier auf mich, ich bezahle Ihre Rechnung.« Die Worte entlockten dem Mann keine Reaktion. Süden beließ es bei einem beiläufigen Nicken.

7

Von der Kneipe bis zur Koptenstraße brauchte er acht Minuten. An der Abzweigung hielt er inne, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er wusste nicht, wie Christel Ahorn ausgesehen hatte … Er stellte sich eine Frau in einem grünen Cape vor, ausgestreckt auf einem Bett voller Spielkarten, die alle einen tanzenden Joker zeigten, mit dem Gesicht ihres Sohnes Leo.

Dann überquerte er an der ausgeschalteten Ampel die Straße.

Auf dem Weg entlang der rotverputzten Fassade des vierstöckigen Wohnblocks (im Parterre waren sämtliche Rollläden geschlossen) erwog Süden, den Fall abzugeben, was bedeuten würde, die Sache wäre erledigt. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine Chefin sich der Sache annahm, hielt er für gering. Und außer ihm arbeitete niemand mehr für Edith Liebergesell.

Die Detektei rentierte sich kaum noch. Nachdem die letzte fest angestellte Mitarbeiterin (eine Frau Anfang vierzig namens Patrizia Roos) sich für einen Fulltime-Job in einer Bar entschieden hatte, überlegte die Chefin zum wiederholten Mal, ihre bescheidene Eigentumswohnung nahe dem Englischen Garten zu verkaufen und zu einer Freundin nach Berlin zu ziehen – ein Plan, den sie hegte, seit Süden sie kannte. Doch wie durch ein Wunder trudelten innerhalb eines Monats eine Reihe nicht sehr aufwändiger, aber lukrativer Aufträge ein, und sie vertagte die Entscheidung. Außerdem sorgte sie sich um Südens Zukunft, mehr noch: um seine Gegenwart, wenn er keinerlei Verpflichtungen mehr zu erfüllen hätte und womöglich aus seiner Lieblingsrolle als Gasthausbewohner nicht mehr herausfände.

Er wusste, was sie über ihn dachte – in all den Jahren seiner Tätigkeit als Detektiv hatten sie eine Menge Zeit miteinander verbracht, nicht nur dienstlich. Ab und zu begleitete sie ihn trinkfest auf seinen Touren durch diverse Lokale (er nannte sie Katerschmieden), in denen er kaum ein Wort mit jemandem wechselte. Er trank Bier, sah, falls eines vorhanden war, aus dem Fenster in die Nacht und hing seinen Gedanken nach, von denen er einige – meist zwischen dem zweiten und dritten Glas – mit ihr teilte. Auf diese Weise kam sie seiner Vergangenheit näher, und er schien damit einverstanden. Wenn sie von sich erzählte, hörte er zu, wie einer, der »alle Zeit der Welt gepachtet hat, und zwar für mich allein« (Liebergesell). Bei derartigen Bemerkungen lächelte er, seltsam verschmitzt, und hob sein Glas und prostete ihr mit den Worten »Möge es nützen« zu; sein bester Freund, der ebenfalls Polizist gewesen war und nicht mehr lebte, habe behauptet, dies sei die Übersetzung von Prosit.

Möge es nützen.

Der Geschmack des Bieres im Gaumen, der vertraute Anblick gestrandeter Gestalten im Blauen Eck, das Bild des schwarzweißen Mannes auf einer grauen Wiese …

Süden hatte nicht bemerkt, dass er stehengeblieben und außer Atem war. Eine wohlige Sommernacht; in der Luft Schlieren von Gerüchen der Grillfeuer am Fluss; aus offenen Fenstern quirlige Stimmen; Rockmusik. Er stemmte die Hände in die Hüften und sog die Luft tief ein.

Erinnerungen störten ihn gerade, lösten ein mürrisches Empfinden in ihm aus – angesichts der gemeinten Personen unangemessen und vor dem Hintergrund seiner Funktion eine unwillkommene Ablenkung. Welchen Umgang er pflegte, welche Leute ihm in den Kopf quasseln durften, welche Lügen er ertragen musste und welches Rätsel er ungelöst lassen wollte, entschied er allein, ohne Rücksicht auf Ansehen und Honorare.

Wie viele Sommer noch?, fragte er sich am Zweierweg (eine Spur zu dramatisch, wie er zugab).

An die aktuelle Vermissung würde er keine Stunde mehr verschwenden, falls …

»Falls Sie mir nicht die Wahrheit sagen, und zwar jetzt, hier im Treppenhaus, ganz gleich, wer hinter den anderen Türen mithört.«

Fünf Mal hatte er unten auf die Klingel drücken müssen, bevor ihre Stimme zu hören war, schrill und aggressiv. Wahrscheinlich hatte sie nach seinem Abschied weitergetrunken, oder er hatte sie beim Schlaumeiern im Internet gestört. Widerwillig hatte sie ihn an der halb geöffneten Wohnungstür im dritten Stock empfangen (grüner Bademantel, in den Haaren eine rosafarbene Lesebrille). »Ihr Mann«, sagte Süden, »ist nicht seit Mittwoch verschwunden, sondern seit Montag. Sie lügen mir ins Gesicht, und ich möchte verstehen, wieso.«