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Irgendwann sitzt ein Zeichner an seinem Schreibtisch und entwirft ein Wesen. Dieses Wesen lebt in einer Geschichte. Es spricht, es atmet und es handelt. Aber es ist bloß eine Fantasie. Ist es das? Prinz Ferdinand von Hagebutte ist ein junger, naiver und wohlbeleibter Thronprinz. Er lebt in einem Märchenbuch, das auf einem Regal in Hannas Zimmer steht. Auf diesem Wandregal lernt er den Magier Phrasius kennen, der gerade seinen besten Freund, den Waldgeist Argentarius verlor und in Ferdinand einen neuen Freund findet. Prinz Ferdinand sieht sich nach einer Prinzessin um, denn wenn er heiratet, darf es nur eine Prinzessin sein, weil die Tradition es so gebietet. Der Magier Phrasius und er werden rasch die besten Freunde. Phrasius ist ein lebenserfahrener, älter und sehr weiser Mann. Ferdinand muss mit ihm viele Abenteuer überstehen. Sie lernen einen Drachen kennen, besuchen die 5 Rabauken und Ferdinand sieht seine Jugendliebe Lisa wieder, die er allerdings nicht mehr erkennt, weil der Fluch einer Hexe sie entstellte. Auch der Schöpfer aller Fabelwesen findet Erwähnung, denn er kreierte anlässlich einer besonderen Feierlichkeit das Einhorn. Ferdinand und Phrasius sind keineswegs auf ein Leben in ihren Geschichten reduziert, denn sie bewegen sich durch alle Märchenbücher, die auf dem Regal in Hannas Zimmer stehen, denn Hanna liebt nichts mehr als Märchen. In ihren Büchern existiert eine andere Welt. Eine Welt mit kleinen Wesen von Königinnen und Königen, Prinzen und Prinzessinnen, Zauberern, Zwergen und Riesen. Beide sind zwar bloß Märchenwesen, sich ihres Daseins als auf Papier gezeichnete Wesen jedoch bewusst. Sie wissen aber auch, dass sie allein darum unsterblich sind.
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Seitenzahl: 377
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Ein Roman
von
Lutz Spilker
DIE RACHE DER MÄRCHENWESEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Softcover ISBN: 978-3-384-02785-6
Ebook ISBN: 978-3-384-02786-3
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
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Alle Rechte vorbehalten.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1 – Unbeschriebenes Papier
Kapitel 2 – Pfüati Ferdi
Kapitel 3 – Pasch mit einem Würfel
Kapitel 4 – Schon wieder Elefanten
Am nächsten Tag
Kapitel 5 – Der arme König
Kapitel 6 – Löcher in der Luft
Kapitel 7 – Ein Wald voller Bäume
Kapitel 8 – Kerkerbekanntschaften
Eines Nachts im Wald der Riesenelfen
Im Kerker des Schlosses
Kapitel 9 – Der Kopf des Adlers
Kapitel 10 – Kartoffelmäuse
Kapitel 11 – Zirkusluft
Kapitel 12 – Kauf einer Prinzessin
Am nächsten Morgen
Währenddessen
Kapitel 13 – Erdbeben und Terpentin
Währenddessen
Kapitel 14 – Hörnchen
Kapitel 15 – Schlossbesichtigung
Kapitel 16 – Zu zweit vereint
Kapitel 17 – Die schwarze Armee
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Über den Autor
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Urheberrechte
Kapitel 1 – Unbeschriebenes Papier
Über den Autor
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Die wahren Abenteuer sind im Kopf, in meinem Kopf, und sind sie nicht in meinem Kopf, dann sind sie nirgendwo.
André Heller
(* 22. März 1947 in Wien; geboren als Francis Charles Georges Jean André Heller-Hueart) - Chansonnier, Aktionskünstler, Kulturmanager, Autor, Dichter und Schauspieler.
Kapitel 1 – Unbeschriebenes Papier
Nichts liebte Hanna mehr als Märchen. Wenn sie in ihrem Zimmer auf dem Bett lag und sich in die Geschichten ihrer Märchenbücher vertiefte, versank sie in einer Welt, die nur in diesen Büchern zu existieren schien. Dort befand sich ihr eigentliches Zuhause. Dorthin zog es sie immer wieder und dort erlebte sie die Abenteuer, die ihr nicht mehr aus dem Sinn gingen. Von Königinnen und Königen, von Prinzessinnen und Prinzen, und von Drachen und Zauberern war die Rede. Sie wohnten mitunter in prunkvollen Schlössern, sprachen vornehm, aßen erlesene Speisen, tranken edle Weine, und kleideten sich in kostbare Roben.
Schon aus weiter Entfernung baute sich ein solches Schloss im Blick des Herannahenden auf und forderte seinen Tribut in Form von Ehrfurcht und Bewunderung, denn es war der Sitz des Königs.
Hanna fuhr nach dem Schulunterricht meistens sofort nach Hause. Sie hatte es immer eilig. Mitten in der Auffahrt zur Garage stellte sie ihr Fahrrad ab, rannte ins Haus, hastete die Treppe hoch, drückte die Klinke zu ihrem Zimmer herunter und stürzte hinein. Anstatt sich mit ihren Hausaufgaben zu beschäftigen, wollte sie umgehend in der Geschichte weiterlesen, deren weiteres Geschehen sie mit Spannung erwartete. Alles geschah wie automatisiert, denn so geschah es fast täglich. Direkt links an der Wand, neben der Türe in ihrem Zimmer, stand ein Schreibtisch, gegen dessen Flanke sie ihre Schultasche lehnte. Eigentlich ließ sie lediglich aus der Hand rutschen und hoffte, dass sie genau dort landen würde. Dann warf sie sich geradeaus auf ihr Bett, schnappte nach dem Buch, das auf ihrem Nachtschrank lag, und kugelte sich in gehabter Manier nach hinten. Während sie sich auf ihr Kopfkissen drehte, schlug sie bereits die richtige Seite zum sofortigen Weiterlesen auf, welche sie am Abend zuvor bereits mit einem Eselsohr kennzeichnete. Irgendwann bat sie ihre Mutter um ein Lesezeichen, denn sie selbst hatte keines zur Hand. Ihre Mutter gab ihr den Rat, eine Seite einfach einzufalten. Seither knickte Hanna die entsprechende Buchseite einfach um. Und so schlug sie die Geschichte des Märchenbuchs erneut auf und befand sich schon nach wenigen Sekunden wieder mitten im Geschehen. Direkt gegenüber des Fußendes ihres Bettes überspannte die gesamte Breite der Wand ein Regal, auf dem sich all ihre anderen Märchenbücher befanden. Es waren Dutzende. Rechts von ihr war das Fenster, von wo aus sie in den kleinen Garten des Hauses schauen konnte. Doch Hanna lag auf ihrem Bett und las …
Der Thronfolger Prinz Ferdinand von Hagebutte lief wie ein Kleinkind vor dem Weihnachtsfest nervös in seinen Gemächern auf und ab, weil die Feierlichkeiten anlässlich seines zwanzigsten Geburtstages das gesamte Schlosspersonal in Atem hielten. Alles und jeder war mit dem Ausschmücken der großen Schlosshalle beschäftigt. Ferdinand hielt es vor Neugier kaum noch aus, stopfte sich mit Süßigkeiten voll, was er eigentlich immer tat, und beabsichtigte sich dadurch zu beruhigen.
Auch warf er unentwegt einen kontrollierenden Blick aus dem Fenster, zumal er eine Kutsche zu erblicken erhoffte, die seine künftige Frau zum bevorstehenden Fest bringen würde. Nicht nur sein Geburtstag wurde also gefeiert, sondern gleichsam seine Verlobung. Es war eine Tradition, dass der Thronfolger mit Erreichen seines zwanzigsten Lebensjahres einer Frau das Eheversprechen gab, die er allerdings noch nie zuvor sah. Vielleicht hatte das Ganze auch historisch, kulturelle Hintergründe – Ferdinand hielt es jedenfalls für ein unzeitgemäß.
Da ihn keine 50 Pferde mehr in seinen vier Wänden hielten, beschloss er auf Erkundungstour zu gehen. Ein flinker Blick nach links und ein ebensolcher nach rechts signalisierten ihm freie Fahrt. Zwei Dinge hätte Ferdinand besser unterlassen sollen. Zum einen sollten diese Massen von Lakritz und Schokolade in dem Zusammenhang erwähnt werden und zum anderen wäre da dieser Säbel, der an einer offensichtlich viel zu langen Schnur am Gürtel befestigt war, und irgendwie bloß störte. Wenn Ferdi tief einatmete, schwand sein Umfang, ließ aber den schwarzen Ledergürtel seiner Uniform ein kleines Stück herunterrutschen, wodurch der Säbel erneut vor den Stiefeln baumelte, und beim Gehen den Weg in jede Richtung versperrte. Als Ferdinand das letzte Loch des Gürtels benutzte und es irgendwann auch nicht zu erreichen war, setzte man in der Mitte seines Gürtels den Teil eines anderen Leibriemens ein, um ein komplettes Koppel präsentieren zu können. Ferdinand war es von Kindesbeinen an gewöhnt in Uniform mit Säbel und Stiefeln zu erscheinen, sobald er seine Gemächer verließ. Niemand würde ihm den nötigen Respekt zollen, würde er im Schloss mit Morgenrock und einer Schlafmütze erscheinen, hieß es. Mit den Jahren wuchs er jedoch mehr in die Breite, statt in die Höhe. Darauf war seine Uniform nicht vorbereitet und reagierte entsprechend störrisch. Auch sein Pferd Salsa täuschte gerne einen verstauchten Huf vor, wenn sich Ferdi den Stallungen näherte.
Ferdinand pirschte sich langsam an sein Ziel. Es war die große Halle, also der Thronsaal, in der die Feierlichkeiten stattfinden sollten. Mehr und mehr fühlte er sich wie ein Einbrecher, der sich um keinen Preis erwischen lassen wollte. Vor dem steinernen Rundbogen, der das schwere Holzportal mit den schmiedeeisernen Verzierungen zur großen Halle einrahmte, patrouillierten mit Lanzen bewaffnete, königliche Gefolgsleute auf beiden Seiten des Eingangs. Prinz Ferdinand glitt rasant, jedoch fast geräuschlos die Stufen der breiten Treppe hinab, hielt seinen Säbel im Zaum, und näherte sich beinahe unbemerkt dem gut bewachten Eingang des Thronsaales.
»Er steht auf meinem Fuß!«, knurrte der lanzenhaltende Portalwächter hinweisgebend, ohne jedoch seinen Blick zu verändern.
»Wer er?«, fragte Ferdinand verwundert.
»Na er doch!«, zischte der Gardist zwischen seinen Zähnen.
»Jener etwa?«, fragte der Prinz und deutete mit beiden Händen auf sich selbst, und sah seinen Gegenüber zustimmend nicken.
»Er nun wieder«, amüsierte sich der Prinz, und machte einen Schritt nach vorn. Umgehend wurde die Erleichterung im Gesicht des Dieners sichtbar, zumal Prinz Ferdi kein Leichtgewicht darstellte. Sein Bauchumfang maß immerhin so viel, dass sich die Mamsell und die Zofe an den Händen festhalten, und dann um ihn herumfassen konnten. Ferdinand genoss es immer, wenn sie es taten. Es besaß für ihn so etwas wie eine Liebkosung und er fühlte sich geschmeichelt. Nur für sein Pferd Salsa geriet seine Behäbigkeit immer wieder zur Pein. Auf das Überspringen irgendwelcher Hindernisse, wie auch auf das Erreichen möglicher Höchstgeschwindigkeiten, wurde schon seit jeher verzichtet. Ferdi hatte es nie eilig. Er war ein gemütlicher Zeitgenosse, der sich irgendwann die Worte gemach, gemach auf seine Fahne schreiben lassen wollte – doch dazu müsste er zunächst König werden.
Als Thronfolger standen seine Aussichten gar nicht so düster. Zunächst galt es allerdings einen Blick auf seine Zukünftige werfen zu können. Vielleicht wurde sie durch einen Geheimgang ins Schloss gebracht. Zuzutrauen wäre es der Tradition schließlich. Ferdi verfolgte so gut es irgend ging ein Geräusch, das durchaus zu einer Frau passen könnte, die sich gerade in ein Hochzeitskleid zwängte.
»Vorsicht bei meiner Frisur und Tritt bloß keiner mehr auf die Schleppe«, klang es aus einem der angrenzenden Räume. Ferdinand fiel es sehr schwer, sich in diese Stimme zu verlieben. Auch begann er schlagartig sich dagegen zu wehren, das dazu passende Gesicht sehen zu wollen. Nichts davon war plötzlich mehr sein Wunsch.
Seine Oma sagte ihm immer, dass sich Gegensätze anziehen, und er war jahrelang der Ansicht der Gegensatz zu sein. Hatte sich Ferdis Oma etwa geirrt? Glücklicherweise waren sämtliche Leute derart mit der zeitigen Fertigstellung ihres Auftrags beschäftigt, dass er selbst dann nicht aufgefallen wäre, wenn er sich des Tafelsilbers und etlicher, massiver Leuchter bemächtigt hätte.
So unauffällig wie er gekommen war, stahl er sich auch wieder davon, und ließ die Feier, Feier sein und die Verlobung ebenso. Mit nichts und niemandem wollte er im Augenblick etwas zu tun haben. Ferdinand bewegte sich noch langsamer als sonst in Richtung seiner Gemächer, setzte sich auf seinen Lieblingsschemel, ließ den Kopf hängen, und trat mit voller Wucht gegen seinen Säbel, als ob genau der an allem schuld gewesen wäre.
Kannte er eigentlich sämtliche Seiten in dem Buch, in dem er sich selbst befand? Er wollte es auf der Stelle herausfinden, denn mit einem Frauenzimmer, deren Stimme den Geräuschen eines knarrenden Truhendeckels nahekam, wollte er nicht einen einzigen Tag verbringen. Vielleicht schlüge sie nachts um sich, würde ihn noch treffen und verletzen. Womöglich trüge er einen dauerhaften Schaden davon. Dieses Risiko einzugehen war Ferdinand keineswegs willens. Er zog die Jacke seiner Paradeuniform aus, warf sie im hohen Bogen auf sein Bett, und griff sich ein weniger auffälliges Exemplar aus seiner Garderobe. Eigentlich wechselte er bloß von einem knalligem Rot zu einem knalligem Blau. Seine schwarze Hose behielt er ebenso an wie auch die Reitstiefel. Und den Säbel behielt er bei sich, »denn schließlich muss man auf alles vorbereitet sein«, dachte er.
Ferdinand wollte sich ganz vorsichtig einige Seiten im Buch nach vorne bewegen, um zumindest einen winzigen Eindruck von dem Weibsbild zu erheischen, vor dem er letztendlich davongelaufen war. Auch das Donnerwetter seines Vaters wollte er sich keinesfalls entgehen lassen, denn schließlich saß eine ganze Gesellschaft bloß wegen ihm jetzt herum. Aus allen Gegenden waren sie eingetroffen, um dabei zu sein, wenn Prinz Ferdinand von Hagebutte seinen Geburtstag feiert, und zu seiner Verlobung bittet. Vielleicht feierte man jetzt ohne ihn. Was würde es für eine Rolle spielen, wenn er nicht anwesend wäre?
Sein Vater König Leberecht von Hagebutte geleitete Ferdinands Mutter Königin Merle von Hagebutte in den überaus geschmackvoll hergerichteten Saal. Links und rechts bildeten die geladenen Gäste eine Art Spalier und verneigten sich merklich, als das gekrönte Paar durch den Mittelgang schritt, und sich mit erhabenen Neigungen des Hauptes ob der Referenzen bedankte. Anschließend nahmen sie an der königlichen Tafel Platz und mussten feststellen, dass Ferdinands Stuhl leer blieb. Ohne den Thronerben als Geburtstagskind und gleichsam baldigen Verlobten, machte es für die Prinzessin und ebenso künftige Braut keinen Sinn zu erscheinen. Schmollend und trotzig harrte sie im Nebenzimmer aus, konstatierte die Situation nach einer Weile als unglaublichen Affront, begab sich wieder in ihre Kutsche und ward nie mehr gesehen.
Der anwesenden Gesellschaft dämmerte die Situation angesichts der leer gebliebenen Plätze an der königlichen Tafel ebenso, was sie jedoch nicht davon abhielt das zu tun, wozu sie schließlich anwesend war: um zu feiern. Also wurde die Zusammenkunft selbst in Abwesenheit der beiden Hauptpersonen zu einem rauschenden Fest. Allein für den Hofnarren war das Fernbleiben des Verlobungspaares ein gefundenes Fressen und geriet seinerseits zu einer Art Übungsstunde mit Publikum.
Genauso gut hätte Ferdi auch mit einer üblen Magenverstimmung und hohem Fieber oder sogar mit einem gebrochenen Bein im Bett liegen können. Man hätte ihm die besten Genesungswünsche zukommen lassen und würde sich auch in diesen Fall anschließend wieder dem Vergnügen der ausgelassenen Feierlichkeiten hingegeben, was schließlich auch den Zweck der Einladung erfüllt hätte. Ferdinand würde nicht der Erste gewesen sein, der seinen eigenen Geburtstag im Bett verbrächte, und die Verlobung wäre einfach auf ein unbestimmtes Datum verschoben worden.
Tagelang herrschte in der Schlossküche Hochspannung und hektisches Treiben fast rund um die Uhr. Unzählige Schüsseln mit den feinsten Gemüsen wurden nebst knackigen und pflückfrischen Salaten zubereitet. Scheiben dicken Bratenfleischs wie auch anderes Wildbret sollten auf riesigen Naturholzplatten serviert werden. Und Süßspeisen standen natürlich in allen erdenklichen Farben und Geschmäckern parat. Alle und jeder war da – bloß Ferdi nicht.
Irgendwann in den nächsten Augenblicken – das ahnte er – würde man an seine Türe klopfen, sich nach seinem Wohlergehen erkundigen und gleichsam fragen, wann er zur großen Feier erscheinen wolle. Doch dazu sollte es auf gar keinen Fall kommen. Bis dahin musste er verschwunden sein. Zur Türe hinauskonnte er jetzt nicht mehr. Es stand bereits jemand davor und klopfte unablässig. Vielleicht liefe er dieser Person auch noch in die Arme. Wahrscheinlich sogar seinen Eltern. Das wollte Ferdinand unbedingt vermeiden. Sie sollen sein leeres Zimmer vorfinden. Ferdinands einzige Möglichkeit sich jetzt noch unbemerkt aus seinen Gemächern zu stehlen, war der Weg aus dem Fenster. Seine Zimmer befanden sich zwar nur im ersten Stock des Schlosses, aber unter ihnen verlief der Burggraben, und in dieser Brühe wollte er nicht unbedingt landen. Er wäre nass bis auf die Haut geworden und hätte übler als ein alter Stalleimer gerochen.
Als Ferdinand noch ein Kind war, spielte er mit der Dienerschaft gerne Versteck, und glühte fast jedes Mal vor Ärger, wenn er verlor, was meistens der Fall war. Seine Mitspieler kannten demnach ein Versteck oder einen Geheimgang, der es ihnen ermöglichte unerkannt zu bleiben, und ein solcher Gang käme ihm jetzt gut zu pass. Ferdi klopfte mit seinem Handballen die infrage kommenden Wände ab. Nichts. Dann betrat er seine Garderobe, sein Umkleidezimmer also. Er schob sämtliche Kleidungsstücke zur Seite und musste gar nicht lange gegen die Wände pochen, da wurde er auch schon fündig. Irgendwie klang es dort anders. Ferdinand drückte an der Stelle gegen die Wand, die seiner Ansicht nach die meisten Druckspuren aufwies, und konnte mit eigenen Augen sehen, wie sich die Wand – wie von Geisterhand geführt – an dieser Position öffnete. Einige Stufen führten nach unten und dort gabelte sich der Weg. Ferdi stieg die kurze Treppe hinab und stand vor der Entscheidung nach links oder nach rechts zu gehen. Beide Wege glichen sich und keiner machte dem anderen gegenüber einen bevorzugten Eindruck. Er musste sich entscheiden, denn jeden Augenblick könnte es erneut an die Türe seiner Gemächer klopfen. Er entschied sich für den Weg nach rechts, zumal er selbst Rechtshänder war, und sein Herz zwar links, doch auf dem rechten Fleck schlug. Nach weniges Schritten entzweite sich der Weg erneut und wieder stand er vor der Entscheidung, in welche Richtung er nun gehen solle. Auch jetzt schienen beide Wege wieder gleich zu sein. Dem Anschein nach wurden diese Wege noch nicht oft benutzt. Ferdi entschied sich erneut für den rechten Weg. Nun führte ihn der Weg in einem großen Bogen zu einem leichten Gefälle. Das behagte Ferdinand so ganz und gar nicht und er beschloss auf der Stelle komplett umzukehren, um eine andere Richtung zu wählen. Er drehte sich, um Kehrt zu machen. Plötzlich stand er wieder vor einer Weggabelung, an die er sich allerdings nicht erinnern konnte. Er hätte sie aber vor Kurzem erst passieren müssen. Schließlich war er vor wenigen Augenblicken dort hergekommen. Nun war er verwirrt. Also drehte er sich erneut um, um seinen ursprünglich gewählten Plan zu verfolgen. Ferdinand würde es nicht glauben, hätte er es nicht mit seinen eigenen Augen gesehen, denn jetzt befanden sich drei Wege vor ihm. Seine Orientierung versagte total und an der Entscheidung seinen Säbel mitzunehmen zweifelte er nun auch. Ferdi fühlte sich hoffnungslos überfordert und trottete mit hängendem Kopf nach vorn auf dem mittleren Weg. Irgendwo würde er bestimmt ankommen, doch wo das wäre, war ihm mittlerweile egal. Er wollte einfach aus seinem Schlafgemach fliehen, einen Blick auf das weitere Geschehen – insbesondere auf seine Zukünftige werfen, doch dieser Geheimgang war voller Tücken, und entpuppte sich noch immer nicht als wahre Hilfe. Vielleicht hätte er damals schon seine Diener nach Einzelheiten fragen sollen, aber seinerzeit wusste er noch nichts von dieser Möglichkeit. Also schlurfte er ohne erkennbaren Antrieb weiter diesen Weg entlang und machte sich einen Spaß daraus mit seinen Stiefelspitzen ab und zu gegen den Säbel zu kicken.
Entsprach es bloß seinem Wunschdenken oder seiner Einbildung oder erschien ihm die Ferne tatsächlich heller? Eigentlich müsste es hinten dunkler werden, aber es war heller. Woher sollte plötzlich ein Licht kommen? Woher sollte ein Licht wissen, dass er in diesem Augenblick ein Motiv benötigt, welches ihn antreibt? Vielleicht ist diese Helligkeit immer da und hat mit Ferdi gar nichts zu tun? Ferdinand marschierte nun erheblich entschlossener vorwärts. Er schwitzte ein wenig und hatte Durst. Die Luft in diesen Gängen war staubig und roch abgestanden. Jetzt musste er noch um einen ungewohnt scharfen Winkel gehen und stand vor einer Wand. Die an dieser Mauer befestigte Leiter machte einen stabilen Eindruck und ließ in Ferdinand keinen Zweifel ob ihrer Tragfähigkeit, bezüglich seiner Leibesfülle aufkommen. Er kletterte die Sprossen hoch und fluchte fürchterlich in sich hinein, weil sich die Mitnahme seines Säbels noch immer nicht als kluge Entscheidung bewahrheitete. Einige Meter musste er noch überwinden. Am Ende der Leiter schien das Licht am hellsten zu sein – dort musste er hin. Ferdi schnaubte und prustete vor Anstrengung wie sein Pferd Salsa. Leitern hinaufzusteigen gehörte jedenfalls nicht zu seinen täglichen Körperertüchtigungen.
Eigentlich betrieb er gar keine Turnübungen. Seine engagierteste Bewegung erschöpfte sich im Treppensteigen.
Noch drei Stufen, dann hatte er es geschafft. Ferdi zog sich mit aller Kraft an den Seitenstangen hoch, die ihm als Geländer dienten. Jetzt bloß nicht nach unten oder nach hinten gucken. Ferdi hatte Höhenangst. Sein Ziel war das Licht und das befand sich oben. Endlich hatte er es geschafft. Er lugte vorsichtig über die oberste Kante und schaute Hanna fast direkt in die Augen. Sie las gerade in dem Buch, aus dem er schaute. »Aber das Licht …«, grummelte Ferdinand vor sich hin. Das Licht war die Lampe auf Hannas Nachttisch. Ferdinand knickte sofort in den Knien ein, um wieder in der Versenkung zu verschwinden. Er zitterte am ganzen Körper, atmete in einer ihm völlig unbekannten Geschwindigkeit und schwitze plötzlich aus allen Poren, denn er hatte Angst davor entdeckt zu werden. Hanna schien ihm so groß wie ein Gebirge zu sein und besaß einen riesigen Mund mit Zähnen in der Größe einer Hellebarde. Jedes Mal, wenn sie eine Seite umblätterte, fegte es ihn fast von der Leiter. In seiner Geschichte kam es nie zu derartigen Stürmen. Es wehte vielleicht mal ein kräftiger Wind, aber der blies beileibe nicht derart heftig. Zum Glück war Ferdinand kein Leichtgewicht. Hannas Aufmerksamkeit galt ausnahmslos dem Inhalt des Buches. Es schien wirklich sehr spannend zu sein.
Ferdi wollte umgehend wissen, was ihm als nächstes passiert, und warf mit äußerster Vorsicht einen Blick auf die nächsten Seiten des Buches, in dem er sich schließlich selbst befand. Die Seiten waren leer. Unbeschriebene wie auch unbedruckte Papierblätter blickten ihm entgegen. Seine Zukunft war für ihn selbst noch gar nicht passiert. Nur Hanna schien etwas sehen zu können. Ihre Augen bewegten sich so, als läse sie jedes Wort und jede Zeile. Über ihn konnte Hanna momentan nichts lesen, denn er war gar nicht dort, wo er eigentlich sein sollte. Oder sollte er gar nicht in seiner üblichen Geschichte sein, sondern als Ausreißer dort, wo er sich im Augenblick befand? Ferdinand war sich nicht mehr sicher und für Hanna wäre es egal gewesen.
Ferdi orientierte sich zu den vorherigen Buchseiten. In irgendeiner Geschichte müsste es doch eine einigermaßen passable Prinzessin geben. Er kletterte die Leiter wieder ein Stück abwärts und bemerkte eine Luke, die sich ohne Anstrengung öffnen ließ. Von dort aus konnte er in einen anderen Gang steigen und der bot ihm einen weiteren Zugang zu den übrigen Seiten im Buch, wie er feststellen konnte. Überall ließen sich die allgemeinen Vorgänge lesen und mühelos gelangte er in die jeweiligen Geschichten, als spazierte er in einer gewohnten Umgebung umher, und nirgendwo schien er Aufsehen zu erregen oder Unbill zu erzeugen. Ferdinand schien überall willkommen zu sein. Niemand hetzte seinen Hund auf ihn, und niemand warf ihm Beschimpfungen entgegen, oder beleidigte ihn wegen seiner Leibesfülle. Deswegen wurde er bereits oftmals mit den daraus möglichen Nachteilen konfrontiert und nicht selten gehänselt. Und nun passierte nichts. Er wurde kommentarlos akzeptiert. Eigentlich wurde er ignoriert. Niemand grüßte ihn und niemand schenkte ihm überhaupt Beachtung, als wäre er gar nicht da. Vielleicht konnte ihn nicht nur Hanna nicht sehen, sondern niemand. Tatsächlich! Er konnte anderen Leuten mitten auf dem Dorfplatz die Zunge herausstrecken, einen Vogel zeigen oder andere Faxen machen. Niemand reagierte. Ferdi war so gut wie unsichtbar.
Sein Säbel störte ihn schon wieder und er verspürte Hunger und Durst. All das machte ihn derart ärgerlich, dass er begann andere Leute zu piesacken. Markttische mit Feldfrüchten und Obst fielen scheinbar grundlos um, brachen aus heiterem Himmel zusammen, und den sich nach den umher kullernden Knollen bückenden Leuten, trat Ferdi mit Anlauf kräftig in den Hintern. Als ihm bewusst wurde, dass ihn niemand sehen konnte, aß und trank er nach Herzenslust, wo immer er gerade etwas Schmackhaftes entdeckte. Auch die Süßigkeiten entsprachen seiner Erwartung. Ferdi ging es plötzlich wieder blendend und seine Laune wendete sich zum Guten. Er bedankte sich bei seinen Gönnern mit einem Kratzfuß, dennoch sie ihn gar nicht sahen. Ferdi dreht sich um seine eigene Achse und hob den Blick.
Paläste, Schlösser und wehrhafte Burgen wurden meist auf Bergen oder zumindest auf Anhöhen errichtet. Doch wohin er auch schaute, er konnte nichts Derartiges erblicken. Und wo kein Schloss wart, existierte kein König, und wo es keinen König gab, wohnte auch keine Prinzessin. Ferdi war traurig. Vielleicht war er der einzige Prinz weit und breit, an dessen Seite noch immer keine passende Prinzessin weilte.
In seinem Buch gab es offensichtlich keine Prinzessin und diese Erkenntnis traf ihn sehr. Ferdi durchsuchte das ganze Buch nach einer holden Königstochter, doch der Platz an seiner Seite blieb leer.
Am späten Abend desselben Tages
»Sie hätte kein Einzelkind bleiben dürfen«, schimpfte Hannas Vater, als er am späten Abend von der Arbeit kam. Er betrat das Haus wie immer durch den Seiteneingang, gab Hannas Mutter zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange, und sah bei alledem nicht sonderlich glücklich aus. Noch bevor er sie in den Arm nehmen konnte, machte er sich weiter Luft.
»Und wo befand sich das Fahrrad unseres Frollein Tochter? Na? Mitten in der Einfahrt zur Garage, um den Weg komplett zu blockieren. Dann kann der olle Depp erst einmal seinen Allerwertesten aus seiner Karre hieven und den Drahtesel unserer Prinzessin zur Seite stellen, um anschließend das tun zu können, was von vornherein so geplant war, nämlich in die Garage zu fahren … ohne Hindernis!«, erregte er sich. »Und wäre sie kein Einzelkind geblieben, dann würden ihre anderen Geschwister vielleicht mit gutem Beispiel vorangehen, und sie könnte daraus lernen«, schob er noch nach.
»Wie du schon sagtest Herzallerliebster … vielleicht«, flötete Hannas Mutter. Sie kannte diese eigenartige Begrüßungsrede ihres Mannes und war damit keinesfalls mehr zu erstaunen. Dann nahm sie ihn in den Arm, gab ihm einen dicken Kuss und lächelte ihn frohen Mutes an.
»Ich hasse es, wenn du so guckst«, sagte Hannas Vater. »Jedes Mal komme ich mir so schuldig, unfähig und betroffen vor.«
»Ich weiß, ich weiß – du hast einen anstrengenden Job, bist müde, ausgelaugt und völlig schlapp, wenn du von der Arbeit nach Hause kommst. Aber das bist du auch, wenn du gar nicht von der Arbeit kommst, sondern deine Zeit mit deinen sogenannten Freunden vertrödelst, stundenlang am Stammtisch verbringst, oder dich sonst wo herumgetrieben hast«, klang es vorwurfsvoll aus ihrem Mund.
Kapitel 2 – Pfüati Ferdi
Ferdi hätte sich nicht so einfach davonstehlen dürfen, ohne sich gebührlich von seinem Hengst Salsa zu verabschieden. Es war zwar mitten in der Nacht und man sah die Hand vor den Augen kaum, aber sein Pferd und er erkannten sich am Geruch. Jahrelang waren sie ein Team. Früher, als Ferdi noch nicht so dick war, und wenn Salsa hätte sprechen können, wäre er Ferdis bester Kumpel geworden. Nun sind Salsas Tage als Reitpferd vorüber und er genießt sein Gnadenbrot, erfreut sich seiner Ausläufe und dem Herumtollen auf der Wiese.
Also näherte sich Ferdinand den königlichen Stallungen in aller Vorsicht, denn Salsa war nicht der einzige, der Ferdis Witterung aufnehmen könnte und entsprechend reagieren würde. Salsas Box war selbst bei Dunkelheit nicht zu übersehen. Kaum hörte er Ferdis Schritte und das Schleifen des Säbels auf dem Boden, streckte er seinen Kopf heraus. Salsa spürte deutlich, dass Ferdi extra mitten in der Nacht gekommen war, um sich von ihm zu verabschieden. Er wollte es aber nicht und ging drei Schritte rückwärts. Salsas Kopf verschwand in der Dunkelheit der Box. Wenn er es fertiggebracht hätte sich unsichtbar zu machen, würde er es getan haben, allein um sich vor Ferdi zu verstecken. Salsa wusste nicht, was mit ihm passiert, wenn Ferdinand nicht mehr da wäre, um auf ihn aufzupassen, und sich um ihn zu kümmern. Ferdi wusste, dass Salsa sich davor fürchtete. Ferdinand öffnete die Türe zur Box und nahm behutsam Salsas Kopf. Langsam zog er ihn zu sich herunter.
Es waren andere Zeiten, als sie einen Sieg nach dem anderen holten, das Treppchen mit der 1 quasi für sich gepachtet hatten, und kaum noch Platz für die Siegerkränze fanden. Die meisten Pokale, die jemals in der Vitrine im Gerätehaus für die Stallungen standen, gewann Salsa. Staubig sind sie jetzt nur noch. Ja, glanzlos wurden sie – im wahrsten Sinne des Wortes. Ferdi legte seinen Kopf zwischen Salsas große Bernsteinaugen. Jeder der beiden wusste, was der andere gerade dachte. Salsa rann eine Träne aus dem Auge und Ferdinand gab seinen Gefühlen ebenso freien Lauf. Minutenlang standen sie so da. Dann stupste Salsa mit seinem Kopf gegen Ferdinands Bauch und schob ihn aus der Box. Ferdi verstand, drehte sich herum und ging.
Ferdi dachte einige Jahre zurück. Er erinnerte sich gerne an die Zeiten, in denen er noch nicht einmal die Hälfte seines aktuellen Gewichts besaß. Salsa konnte ihn leichter tragen, schneller mit ihm laufen und erheblich höher springen. Irgendwann begann Ferdi zuzunehmen und irgendwann schaffte er es nicht mehr ohne Hilfe in den Sattel. Dann nahm er nur noch Salsas Zügel, führte ihn den steilen Weg hinunter, und ließ ihn sich auf der Wiese hinter dem Schlossgraben austoben.
Ferdinand hatte nicht allzu viele Freunde. Als Sohn eines Königs wird ein gewisser Abstand in alle Richtungen eingehalten und als natürliche Barriere betrachtet. Ferdi wurde schon so erzogen und später kannte er es nicht anders. Er war zwar erst zwanzig Jahre alt, aber er kam sich sehr oft mehr als doppelt so alt vor. Salsa verstand ihn demnach als einziger, denn er klagte nicht über seinen Appetit, hörte ihm geduldig zu, ging brav an seiner Seite, und blieb ihm über all die Jahre treu.
Alles und jeder im Schloss schlief. Selbst die Wachposten am Tor legten ihre müden Gesichter in die Armbeuge, hielten sich an den übermannshohen Lanzen fest, und lehnten mit dem ganzen Körper gegen die meterdicken Mauern der Burg. Die Zugbrücke war hochgezogen und niemand könnte nun hinein. Und umgekehrt? Wie könnte Ferdinand also hinaus? Er musste eine andere Möglichkeit finden. Durch die kleinen Öffnungen, die bei einem Angriff als Schießscharte dienten, passte er nicht einmal im Traum. Die Zugbrücke würde man auf seinen Befehl hin ohne Weiteres herunterlassen. Aber das Spektakel zöge auch die Aufmerksamkeit des gesamten Bataillons auf sich. Im Nu stünde der Innenhof mit schlecht gelaunten, schlaftrunkenen und recht streitlustigen Wachen voll, die sich dann persönlich für den falschen Alarm bei ihm bedanken würden. Im Dunkel der Nacht könnte allerdings übersehen werden, dass der eigentliche Verursacher der Thronfolger wäre, und das traf so ganz und gar nicht Ferdinands Absicht. Er musste einen anderen Weg finden.
Niemand prahlte bisher von einem Aufenthalt außerhalb des Buches, also schien noch niemandem ein Ausbüxen gelungen zu sein. Vielleicht war es aber bloß noch niemandes Wunsch.
Die märchenhafte Erzählung war für fast alle Wesen genau die Welt, in der sie sich zu Hause fühlten. Die Gewohnheit, die Geborgenheit, der Freundes- und Bekanntenkreis und nicht zuletzt die eigene Familie stellten den Rahmen dar. Es war tatsächlich niemals irgendjemandes Wunsch, diesen Rahmen eigenmächtig zu verändern.
Ferdi wagte etwas Verrücktes – er weckte eine Wache auf. Die sparsame Bezahlung bei Hof war allgemein bekannt, und daher sah Ferdinand seine Chance in der Bestechlichkeit. Einige Goldmünzen hatte er stets dabei, denn man konnte nie wissen, wozu man sie benötigt. Nun war ein solcher Augenblick gekommen. Ferdinand konnte bloß hoffen, dass ihn der Posten sofort nach dem Wachrütteln erkennen würde, und keinen Alarm auslöst. Vorsichtig trat er an den Mann, der wie ein Fragezeichen an der Wand stand und sich mit aller Kraft gegen die eigene Müdigkeit stemmte. Mit einigen beharrlich anmutenden Griffen an der Schulter rüttelte der Prinz den Wachposten aus seinen Träumen.
»Melde gehorsamst: Keine besonderen Vorkommnisse …«, murmelte der Posten im Halbschlaf, täuschte aufmerksame Verlässlichkeit vor, und erblickte umgehend den Thronfolger Prinz Ferdinand, dem er unverzüglich einen allumfassenden Rapport erstatten wollte. Ferdi hielt ihm mit einer Hand den Mund zu und mit der anderen Hand einige Goldmünzen unter die Augen, damit der Wachmann sie im Dunklen auch ordentlich glänzen sah. Ferdi spürte sofort, dass der Posten nun nichts mehr berichten wollte. Stattdessen wollte er seinen Blick nicht mehr von den Dukaten wenden. Damit schnappte die Falle zu. Ferdinand musste keine großen Überredungskünste mehr anwenden und der Wachposten schloss die Türe neben der Zugbrücke bereitwillig auf. Ferdinand verließ zum ersten Mal in seinem wohlbehüteten Leben das Schloss. Mit dem Schließen der Türe hinter sich verließ ihn gleichsam das Gefühl der Sicherheit. Was wäre, wenn der Posten auf der Stelle wieder einnicken würde, und Ferdinand jedoch umgehend auf seine Hilfe angewiesen wäre? Stünde er dann für etliche Augenblicke ohne Unterstützung da? Ferdi ging den Weg hinunter, verschwand in der Nacht, wünschte sich selbst viel Glück, verließ sich auf seine Unbekümmertheit, und stahl sich im Schutz der Dunkelheit davon.
Da stand er plötzlich auf einem Regal. Er schaute nach links und orientierte sich ebenso nach rechts. Wohin er auch schaute, blickte er auf Bücher. Ferdi schaute sich ein weiteres Mal um und spürte selbst, dass sein Blick erheblich mehr Sehnsucht beinhaltete, also zuvor. Das Schloss war nicht mehr da. Sein Blick stieß gegen den Berg, der plötzlich anstelle des Schlosses da stand. Im Nu drehte er sich wieder herum und stand erneut vor einer anderen Situation. Eine Weggabelung! Drei Möglichkeiten zeigten sich ihm und Ferdi entschied sich wieder für die mittlere. Doch wo war der steile Weg hinab ins Dorf geblieben, den er so oft schon ging? Und wo waren die grasbewachsenen Hügel, die sich vor dem Schloss sonst zeigten? Ein wenig bange war es Ferdi schon.
Es war dunkel und nicht alles ließ sich einwandfrei erkennen. Also schlich er äußerst vorsichtig auf dem Bücherregal entlang und trug größte Sorgfalt nirgendwo gegen zu rempeln. Bloß sein Säbel schien ihm unentwegt vor den Füßen herum zu baumeln und stellte sich als permanenter Störenfried dar. Außer Büchern schien das Regal noch weitere Gegenstände zu beherbergen. Ferdi war nicht in der Stimmung all diese Dinge inspizieren zu wollen. Sie schienen keinerlei Notiz von ihm zu nehmen und er fühlte sich nur im ersten Moment von ihnen bedroht. Vielleicht waren sie gefährlich, dann hätte er keine Chance gehabt, zumal sie deutlich in der Überzahl waren. Eigenartig war bloß, dass sie ausnahmslos in seine Richtung standen, und ihn unentwegt anzuvisieren schienen. Aber sie verharrten. Vielleicht warteten sie auf ein Kommando. Er kannte diese Exerzitien aus dem Zirkus. Ein Peitschenknall, ein eigenwilliges Geräusch oder eine versteckte Geste, und schon würden diese Bestien über ihn herfallen. Ferdinand war ein Angsthase. Eigentlich fürchtete er sich vor allem. Er zuckte sogar zusammen, wenn der Hahn auf dem Mist krähte.
»Nanu’chen!«, erschrak Ferdi. »Ganz schön was los hier«, sagte er noch, und wirbelte herum. Er erblickte eine ihm völlig unbekannte männliche Person. Ein großer, knochiger Mann mit tiefen Augenhöhlen und langem, grauem, schütterem Haar stand vor ihm, und lächelte freundlich. Er trug einen nachtblauen, mit fremdartig anmutenden Zeichen, knapp über dem Boden endenden Umhang, und vermittelte einen vertrauensvollen, als auch einen recht selbstbewussten Eindruck, so wie er dort vor diesem wundervoll gearbeiteten Buch stand, dessen lederne Rückenprägung dieselben Zeichen vorwiesen, wie sie Ferdi schon im Umhang des Mannes bemerkte.
»Ich bin Phrasius, der Magier, und wohne dort, in dem alten Baum«, sprach er mit tiefer und fester Stimme. Er deutete auf eine wirklich bejahrte, knorrige Eiche, die in dem Buch Der Zauberwald wurzelt, welches sich direkt hinter ihm befand. »Der alte Baum ist das ewige Gedächtnis allen Geschehens«, ergänzte er so, als müsse es jedes Märchenwesen auf der ganzen Welt wissen.
»Schau an, schau an«, entgegnete Ferdinand keck, und musterte den Magier von oben bis unten. »Gratulation zu diesem scharfen Kittel … ich komme übrigens von dem Buch da hinten und wohne in einem alten Schloss. Ich bin der Prinz Ferdinand von Hagebutte und suche eine Prinzessin, weil in meinem Buch keine Braut vorkommt, die zu mir passt.«
Ferdinand konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass das Schloss, welches noch vor wenigen Augenblicken verschwunden war, nun wieder dort stand, wo es für ihn schon immer stand. Manche Situationen veränderten sich für einen kurzen Augenblick, weil sich der persönliche Bezug zu einer Sache, einer Person oder zu ganz anderen Begebenheiten unangekündigt änderte. Sah eine Person gewisse Dinge nicht konkret, konnten sie sich ihr auch nicht konkret präsentieren.
Phrasius bemerkte Ferdis Zehenspitzengang: »Er muss sich keinesfalls verstecken, sich verkriechen oder einen Unterschlupf finden, sobald sich ihm Menschen nähern«, sprach der Magier. »Verhalte er sich bloß ruhig und vermeide er das Geräusch, denn sie vermögen ihn sehr wohl zu vernehmen, wenn auch nicht zu wahren«, setzte er mit flüsternder Stimme fort.
»Warum redet jener so verdreht?«, fragte Ferdinand erstaunt, und schaute den Magier verwirrt an.
»Wen meint Ihr?«, entgegnete der.
»Na – ihm sich seiner«, tippte Ferdi beim Magier mit jedem Wort deutlich auf die Brust. »Jener hier – mit dem steilen Gewande«, fuhr er scheinbar respektlos fort, und zupfte hinweisgebend an Phrasius’ bodenlangem Mantel. Der Magier zog Ferdinand behutsam zu sich, schaute ihm beschwörend in die Augen und sprach: »Er verhält sich eigenartig.«
»Er schon wieder«, sagte Ferdinand. Mit den Jahren hatte er sich von einigen höfischen Gepflogenheiten verabschiedet, doch er verstand sein Verhalten keineswegs als Anarchie. Er wollte damit lediglich seine Massigkeit kaschieren, denn er besaß außer seinem Hengst Salsa nichts, dessen man ihn noch beneiden könnte. Also sprach er in dieser, im ersten Augenblick flegelhaft erscheinenden Art. Bei Hofe hatte man sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, und empfand es bisweilen sogar erfrischend, wenn sich jemand eines verquer wirkenden Vokabulars bediente – auf Fremde wirkte es anfänglich nur unverschämt. Ferdinand musste sich auch daran gewöhnen, dass er nur in seiner Geschichte der Prinz war, und sonst nirgends.
»Menschen erschaffen uns, geben uns Namen, und berichten in sagenumwobenen und äußerst interessanten Geschichten über uns«, fuhr Phrasius fort, und vermittelte ein klein wenig das Gefühl froh darüber zu sein, wieder über einen Zuhörer zu verfügen. »Sie berichten nicht nur jetzt über uns, sondern auch noch später von uns. Aber die wirklich unglaublichste aller Geschichten ist, dass sie uns noch nicht einmal wahren können, sobald sie uns geschaffen haben, diese Menschen. Stelle er sich vor, er würde ein Eisen schmieden, welches er nicht sehen könnte.«
»Wer jetzt …?«, fragte Ferdinand.
»Na er doch«, beharrte Phrasius auf seine Worte und betonte das Wort »er« energisch.
»Jener etwa?«, fragte der Prinz, und deutete wieder mit seinen Händen auf sich.
»Sie machen uns reich und sie machen uns arm, sie formen uns dick, und sie formen uns dünn, sie kleiden uns in Seide, und sie lassen uns in Lumpen herumlaufen … doch sie können uns noch nicht einmal sehen. Sie können sich selbst noch nicht einmal daran erfreuen, ihr eigenes Werk zu bewundern, es zu korrigieren oder es sogar zu vernichten, wenn es ihnen begegnet. Denn sobald sie uns geschaffen haben, können wir nicht mehr weichen – wir bestehen ewig«, sagte Phrasius und reckte seine Arme hoch, als hätte er etwas besiegt. »Wahrscheinlich ist es der Geist, die Schöpferkraft und der Wille, der in uns steckt, und uns ewig leben lässt. Wir leben, doch wir atmen nicht. Wir feiern Geburtstage, doch wir werden nicht älter. Man reicht uns Medizin, dennoch wir nicht fiebern, und man trägt uns zu Grabe, dennoch wir nie sterben können. Und es begab sich einst, dass ich mich von meinem besten Freund verabschieden und ihn zu Grabe tragen musste. Doch jeder, der die Geschichte vom Zauberwald zu lesen beginnt, wird ihn wieder zum Leben erwecken, weil auch er nie sterben wird«, sprach Phrasius, und schaute mit steinernem Blick auf einen gedachten Punkt.
Vor vielen Jahren gingen der Magier zusammen mit seinem Freund, dem Waldgeist Argentarius durch den Zauberwald spazieren. Einige Sonnenstrahlen brachen durch die Baumkronen und es entstand die Frage, ob es sich bei dieser Sonne um einen speziellen, Wärme spendenden Märchenstern handeln würde, oder ob es genau dieselbe Sonne wäre, deren Strahlen täglich die gesamte Erde erhellte. Schließlich unterlagen die meisten Märchen denselben Zyklen, wie sie auch Menschen kannten. Sie unterhielten sich sehr angeregt und waren sich letztendlich in einem Punkt einig: Sie empfanden es als Unverschämtheit, sich in Bücher gesperrt zu wissen, und scheinbar nur dann zum Leben erweckt zu werden, wenn es einem Leser behagte. Irgendein Dichter, ein Autor oder ein sonstiger Schreiberling verfasste eine abenteuerliche Geschichte, in denen sie eine Rolle spielen mussten, sie vorher jedoch niemand danach fragte, ob dazu überhaupt Begehr bestünde, und von Gelegenheit erst gar nicht zu reden. Ungeachtet der persönlichen Neigung, der eigentlichen Interessen und der Verfügbarkeit, wurden die Wesen in ihre Rollen eingespannt und ohne jegliche Vereinbarung beziehungsweise einer angemessenen Vergütung zur Aktivität verpflichtet.
Sie gingen ohne Rast weiter. Stundenlang. Die Zeit rannte bloß so dahin, niemand achtete überhaupt noch auf die Umgebung. Unter ihren Füßen spürten sie noch immer den Weg, den sie schon unzählige Male miteinander gegangen waren, und wohin sollte er sie schon führen. Er führte sie natürlich zurück zum alten Baum, von wo aus sie losgegangen waren. Dieser feste Weg verlief wie ein Rundgang durch den ganzen Zauberwald und ließ die beiden zu einem Teil dieser herrlichen Atmosphäre werden. Es duftete intensiv nach Wald und dieser unbeschreiblich feine Hauch von Moos, Blättern und Tannennadeln, gepaart mit dem Duft der Kräuter, der Pilze, der Beeren, der Harze und der Gräser, die allesamt unter dieser Sonne blühten, animierte die Lungen zu tiefen Zügen. Die Tiere des Waldes liefen unbeirrt umher, schließlich waren sie dort zu Hause. Niemand bemerkte die langsam eintretende Dunkelheit, die sich wie ein fragiles Gespinst aus dunklen Fäden bedächtig niedersenkte.
Noch immer nahmen sie einen festen Boden unter ihren Pantinen wahr, aber der Geruch hatte sich plötzlich gewandelt. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und sie hatten sich offensichtlich verirrt. Sie hielten sich aneinander fest, um sich nicht zu verlieren, und standen unvermittelt auf dem Regal. Sie waren versehentlich aus dem Buch gelaufen. Da standen sie nun in der Welt der Menschen und erstarrten vor Furcht. Sie wussten nicht, dass sie von Menschen nicht gesehen werden konnten, und auch nicht, dass sie von Menschen bloß gehört werden konnten. Die gesamte Situation begegnete ihnen fremd und unwillkommen. Sie fühlten sich ihrer gewohnten Umgebung beraubt und völlig schutzlos einer Welt ausgeliefert, die sie nicht kannten, und im ersten Moment auch keinen Bedarf verspürten, sie näher kennenzulernen. Ihre Erstarrtheit wich. Sie schauten sich gegenseitig an, und umarmten sich vor Glück – schließlich wussten sie nicht was momentan passiert, und waren lediglich froh darüber noch zu leben, und nicht verletzt zu sein. Jeder machte den anderen darauf aufmerksam, möglichst keine hinweisgebenden Fußabdrücke zu erzeugen. Das Regal war eine mit einem dunklen Kunststoff bezogene und an der Wand befestigte Ablage für Bücher und andere Dinge, deren Nutzen und Eigenschaft den beiden nicht sofort erkennbar wurde. Sie trauten sich keinen Schritt zu machen, zumal sie erkannten, dass das Regalbrett sehr weit zu den Seiten reichte, jedoch nicht nach vorn. Augenblicklich kamen sie sich so vor, als schauten sie von einem hohen Berg in eine ihnen unbekannte Landschaft herab, und verharrten mit angehaltenem Atem. Bei den Lebewesen handelte es sich um Menschen. Phrasius konnte seinem Zeichner damals bei der Arbeit zusehen und war quasi selbst anwesend, als er geschaffen wurde, und man ihn dabei versehentlich zum Leben erweckte. Seither wusste er wie Menschen aussehen und dass sie immens werden konnten. Selbst die Riesen aus anderen Märchen erschienen gegen die Menschen wie Zwerge.