Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Doch nicht irgendeine Geschichte. Meine Geschichte. Eine Geschichte über Lügen und Intrigen, über Leid, Schmerz und Verzweiflung. Die Geschichte, wie ich zur Mörderin wurde. Sie glauben mir nicht? Dann begleiten Sie die junge Natalie Sanchez zu ihrer ersten Begegnung mit Raymond Keaton, dem Mann, der ihr Leben auf ewig verändern wird. Verfolgen Sie ihre Geschichte und Sie werden feststellen, dass das unscheinbare Mädchen aus New York ein gänzlich anderes Schicksal erwartet. Ein Schicksal, dem sie nicht entkommen kann...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 384
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ein Buch
ist die Seele eines Autors
und die Figuren
sind die Kinder seiner Fantasie
Für Icke und Heinz,
auf ewig vereint.
Es kann eintausend Gründe geben, weiterzumachen, doch wenn ein einziger Grund genügt, alles zu beenden, weiß man, dass es Liebe ist.
Emily Schuster
Die Rache der Natalie
Sanchez
© 2021 Emily Schuster
Lektorat, Korrektorat: Katharina Schuster
Druck und Distribution im Auftrag von Emily Schuster:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback978-3-384-21696-0
Hardcover978-3-384-21697-7
e-Book978-3-384-21698-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin Emily Schuster verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin Emily Schuster, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
Inhaltsverzeichnis:
Prolog
Kapitel 1
Donnerstag, 14. März 2013
Kapitel 2
Freitag, 17. November 2017
Kapitel 3
Montag, 18. März 2013
Kapitel 4
Donnerstag, 23. November 2017
Kapitel 5
Freitag, 14. Juni 2013
Kapitel 6
Freitag, 24. November 2017
Kapitel 7
Freitag, 9. August 2013
Kapitel 8
Freitag, 1. Dezember 2017
Kapitel 9
Samstag, 10. August 2013
Kapitel 10
Samstag, 2. Dezember 2017
Kapitel 11
Kapitel 12
Montag, 15. Januar 2018
Kapitel 13
Montag, 5. Mai 2014
Kapitel 14
Dienstag, 16. Januar 2018
Kapitel 15
Donnerstag, 18. September 2014
Kapitel 16
Mittwoch, 17. Januar 2018
Kapitel 17
Freitag, 19. September 2014
Kapitel 18
Donnerstag, 18. Januar 2018
Kapitel 19
Kapitel 20
Freitag, 23. Februar 2018
Kapitel 21
Kapitel 22
Freitag, 23. Februar 2018
Kapitel 23
Montag, 24. November 2014
Kapitel 24
Freitag, 23. Februar 2018
Kapitel 25
Samstag, 24. Februar 2018
Epilog
Danksagung
»Sie können sich nicht erklären, wie das passiert ist?«, fragt der Polizist in Zivilkleidung und mustert mich misstrauisch.
Er hat die Arme verschränkt und steht mir, den Rücken an die Wand des Verhörraums gelehnt, gegenüber. Es ist offensichtlich, welche Antwort er von mir erwartet.
Deshalb macht er sich nicht die Mühe, meine Erklärung abzuwarten, sondern unterstellt mir sofort: »Mrs. Keaton, wir wissen, dass Sie für den Tod Ihres Mannes verantwortlich sind. Das Einzige, das wir nicht verstehen, ist, wie es Ihnen gelungen ist, keinerlei Beweise zu hinterlassen.«
»Und wenn Sie recht haben?«, entgegne ich kühl.
»Wie meinen Sie das?«
»Was, wenn ich tatsächlich die Verantwortung für den Tod meines Mannes trage?«
»Dann haben Sie sich eines der schwersten Verbrechen schuldig gemacht. Eines Verbrechens, auf das in unserem Bundesstaat die Todesstrafe steht.«, erwidert der FBI-Agent.
»Und trotzdem werde ich dafür nicht belangt werden.«, stelle ich gelangweilt richtig.
»Wenn Sie jetzt gestehen, besteht eine, wenn auch geringe, Chance, dass Sie statt der Höchststrafe ein abgemildertes Strafmaß zugesprochen bekommen.«, räumt der Beamte ein, »Aber belangt werden Sie so oder so.«
»Wieso?«, frage ich dreist, »Sie haben gerade selbst gesagt, dass Sie keinerlei Beweise gegen mich in der Hand haben. Ein Geständnis kann zwar ein Indiz sein, aber, wenn ich meine Schuld vor einer Jury dennoch nicht eingestehe, wird es kein Urteil geben.«
»Das entscheidet die Staatsanwaltschaft.«, korrigiert der Mann, dessen Geduld mit jeder Minute weiter schwindet.
»Und Sie glauben wirklich, dass die Staatsanwaltschaft einen Gerichtsprozess gegen eine offensichtlich unzurechnungsfähige Verdächtige eröffnen würde, für deren Schuld keine Beweise, sondern nur ein unglaubwürdiges Geständnis sprechen?«, frage ich siegesgewiss.
»Verdammt, lassen Sie diese Spielchen!«, faucht mein Gegenüber und stößt sich schwungvoll von der Wand ab, »Sagen Sie mir einfach, ob Sie Ihren Mann getötet haben oder nicht!«
»Ja, ich habe ihn getötet.«, erwidere ich lächelnd, »Und darf ich Ihnen etwas verraten?«
»Was?«, knurrt der Agent gelassener, nun, da ich ihm sein dringend benötigtes Geständnis gegeben habe.
Ich senke meine Stimme, bis sie kaum lauter als ein Flüstern ist, und neige mich vertraulich zu dem Beamten vor. Sein Atem schlägt mir heiß ins Gesicht, während er sich mit den Handflächen auf die Tischplatte stützt.
Dann wispere ich schließlich: »Ich habe noch nie etwas mehr genossen, als ihn sterben zu sehen.«
Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Doch nicht irgendeine Geschichte. Meine Geschichte. Eine Geschichte über Lüge und Intrigen, über Leid, Schmerz und Verzweiflung. Die Geschichte, wie ich zur Mörderin wurde.
Alles begann an jenem Donnerstag, dem 14. März 2013, dem Tag, an dem ich Raymond Keaton traf. Es war ein kühler, grauer und verregneter Wintertag, wie sie in dieser Jahreszeit nicht selten sind. Eisige Schneeflocken und kleine, perlenförmige Regentropfen fielen gleichzeitig vom Himmel, sodass die Straßen mit einem weißen, breiartigen, eisigen Matsch bedeckt wurden. Meine Schritte schmatzten geräuschvoll, als ich aus meinem Auto stieg und den Bürgersteig betrat. Der Lärm des Verkehrs, der hier in Nashville, der Hauptstadt Tennessees, nie zum Stillstehen kam, dröhnte auf der Hauptstraße und schmerzte in meinen Ohren. Allerdings hatte ich kaum Zeit, mich darüber zu beklagen, denn mir blieben nur noch wenige Minuten, bis ich endgültig zu spät zu meinem Vorstellungsgespräch kommen würde. Ich hatte erst vor wenigen Monaten meinen Abschluss in Eventmanagement an der NYU absolviert und mein Herz schlug schon jetzt wie verrückt. Natürlich hatte ich mich schon oft auf zahlreiche, verschiedene Praktika beworben und Vorstellungsgespräche mit den Geschäftsführungen geführt, doch zwischen einem Praktikum und einer Festanstellung, die meine Zukunft nicht unerheblich beeinflussen würde, lagen Welten. Adrenalin pulste durch meinen Körper und ich warf hektisch einen Blick auf meine schlichte Armbanduhr, die unter meiner fliederfarbenen Bluse hervorlugte. 9:23 Uhr. Mir blieben also noch 7 Minuten, um den gesamten Bürokomplex zu durchqueren, zweiunddreißig Stockwerke zu überwinden und schließlich in dem Besprechungszimmer der Personalabteilung einzutreffen. Ich machte mir keine Gedanken darüber, wie gut meine Chancen standen, das zu schaffen, sondern eilte rennend auf die automatische Glastür zu, die den Eingang des Gebäudes markierte. Die erhöhten Absätze meiner High Heels klapperten auf dem feuchten Pflasterstein, während ich im Gehen auf meinen Autoschlüssel drückte und die Verriegelung aktivierte. In einer Großstadt wie dieser vertraute ich nicht blindlings auf die Gutherzigkeit der Menschen. Ich hatte den Eingang noch nicht erreicht, als die Schiebetüren quietschend auseinanderglitten und den Durchgang freigaben. Ein edler, weißgeäderter Marmorboden, hüfthohe Blumenvasen mit teuren Zierpflanzen und einem Mahagoni-Empfangstresen erwarteten mich, nachdem ich keuchend in die Eingangshalle gestolpert war. Die Decken waren eindeutig angehoben worden, denn ihre Höhe betrug mindestens drei Meter! Der Raum wirkte riesig! War ich hier wirklich richtig? Ohne weiter darüber nachzudenken, stürzte ich auf den Empfangstresen zu und lehnte mich unauffällig gegen das Holz der Theke, bis ich wieder zu Atem gekommen war.
»Natalie Sanchez.«, stieß ich angestrengt hervor und rang nach Luft, »Ich habe einen Termin bei Mrs. Rodriguez.«
»33. Etage. Fragen Sie an der Rezeption, dort wird man Ihnen weiterhelfen.«, erklärte mir eine Dame, deren kastanienbraunes Haar zu einem strengen Dutt aufgesteckt war und deren Augen von dunklen Schatten eingerahmt wurden.
Sie wirkte nicht im Mindesten sympathisch und weckte in mir sofort die Erinnerung an eine griesgrämige Bibliothekarin. Die große Brille, die ihre eigentlich schmale Nase zierte, verstärkte diesen Eindruck nur noch. Ich bedankte mich knapp und machte augenblicklich auf dem Absatz Kehrt. Noch 5 Minuten. Schon jetzt brannten meine Fersen angesichts der unbequemen, doch eleganten Schuhe, und sicherlich würde ich blaue Flecken an der Hüfte davon tragen, dort, wo der Gürtel an meiner Haut rieb, der meinen Rock taillierte. Dennoch setzte ich meinen Weg fort und passierte etliche Riesenorchideen und Monstera-Pflanzen. Die exotischen Gewächse reihten sich in regelmäßigen Abständen aneinander und wiesen mir die Richtung zum Fahrstuhl. Eine beigegestrichene, gut zehn Meter breite Wand schloss die prunkvolle Empfangshalle ab und beherbergte drei Fahrstühle. In der Hoffnung, auf diese Weise Zeit zu sparen, drückte ich wahllos auf die Knöpfe aller drei Lifts, bis endlich ein leises Klingeln ertönte. Die metallenen Türen öffneten sich und ich stieg in den mittleren Fahrstuhl, der überraschenderweise vollkommen verlassen war. Was würde mich wohl auf der 33. Etage erwarten? Was würde Mrs. Rodriguez von mir denken? Es war verwunderlich, dass ich überhaupt die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in einer dermaßen bekannten Firma erhalten hatte! Ich hatte keinerlei Berufserfahrung vorzuweisen und trotzdem würde ich gleich mit der Personalbeauftragten von Keaton & Son sprechen! Endlich war mir das Glück wohlgesonnen! In meine freudigen Gedanken vertieft, tippte ich unsicher auf den Knopf mit der leuchtenden Zahl 33 und wartete angespannt, bis sich der Stahlkäfig in Bewegung setzte. Unruhig verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere. Verdammt, warum hatte ich meinen zurechtgelegten Text nicht öfter geübt? Hatte ich mich ausreichend vorbereitet? Würde ich den Ansprüchen der Personalchefin entsprechen? Oder wäre ihre Enttäuschung über meine Unerfahrenheit ausschlaggebend und würde mich unvermittelt zurück nach New York verbannen? Dann ertönte der Signalton erneut und riss mich zurück in die Realität. Die Fahrstuhltüren schwangen auf und ehe ich mich versah, fand ich mich in einem freizügigen Foyer mit edlen Teppichböden wieder. An den Wänden hingen schwere Ölgemälde von berühmten Künstlern und vermutlich kosteten die Exponate mehr, als einige Amerikaner in einem Jahr verdienten.
»Miss Sanchez?«, fragte eine freundliche, melodische Stimme.
Irritiert drehte ich mich zu der älteren Frau um, die zu mir gesprochen hatte, und musterte sie. Sie war schlank, groß, vielleicht 40 Jahre alt und trug ihr brünettes Haar in einem kinnlangen Bob. Ihre zierliche Figur wurde von einem engen, schwarzen Designerkleid betont und jeder ihrer Schritte strotzte vor Ehrgeiz und Souveränität. Doch obwohl Mrs. Rodriguez einschüchternd wirken mochte, umgab sie zugleich eine Aura der Sympathie.
»Ja?«, erwiderte ich verunsichert und konnte mich noch immer nicht vom Erscheinungsbild der Personalbeauftragten lösen.
»Schön, dass Sie hier sind!«, begrüßte sie mich nun offiziell und ergriff meine Hand, »Ich bin Emilia Rodriguez, die Personalchefin von Keaton & Son. Folgen Sie mir! Mister Keaton erwartet Sie bereits.«
»Mister Keaton?«, fragte ich perplex.
»Ja. Unser letzter Eventmanager stand Mister Keaton, dem Geschäftsinhaber, wie Sie sicherlich bereits wissen, äußerst nahe und deswegen ist ihm sehr daran gelegen, bei der Auswahl seines Nachfolgers persönlich anwesend zu sein.«, erklärte Mrs. Rodriguez in einem pausenlosen Redeschwall.
Erst jetzt ließ sie meine Hand los und drehte sich um. Ihre Stilettoabsätze wackelten gefährlich auf dem hohen, weißen Teppich, doch Emilia schien dies gar nicht zu bemerken. Selbstsicher lief sie an dem langen, gebogenen Rezeptionstisch vorbei, der ebenfalls aus Mahagoni gefertigt war. Ich beeilte mich, zu ihr aufzuschließen, und umklammerte den Griff meiner Handtasche noch fester. Meine Aufregung wuchs ins Unermessliche. Ich sollte nicht nur Mrs. Rodriguez von meinen Fähigkeiten überzeugen, sondern auch noch Mister Keaton! Den Mister Keaton, der zwar das millionenschwere Unternehmen seines Vaters übernommen, es aber innerhalb kürzester Zeit in ein regelrechtes Imperium des Eventmanagements verwandelt hatte? Jenen Mister Keaton, dessen Veranstaltungen sogar die jährliche Met-Gala in den Schatten stellten, der Empfänge für Staatsoberhäupter organisierte und einen Großteil der Länder der Welt bereist hatte? Und das in einem Alter von bescheidenen 37 Jahren? Wie sollte mir das gelingen?
»Hier entlang.«, wies Emilia mir den Weg, als wir einen langen Korridor durchquerten und noch weitere Kunstgemälde passierten.
Schließlich erreichten wir eine milchgläserne Tür am Ende eines langen Flures, auf der in silbernen Lettern Titel und Name des Geschäftsinhabers eingraviert waren: Raymond Keaton, CEO.
»Ich kann nicht glauben, dass das gerade wirklich passiert.«, flüsterte ich, mehr zu mir selbst, als zu Emilia.
»Atmen Sie tief durch.«, riet diese mir und schenkte mir ein beruhigendes Lächeln, »Sie schaffen das.«
Meine Lippen formten stumm das Wort ‚Dankeschön‘, doch Mrs. Rodriguez enthielt mir ihre Antwort vor. Stattdessen legte sie eine ihrer bleichen Hände, an deren Ringfinger ein silberner Ehering glänzte, auf die Klinke der Bürotür. Lautlos glitt das gläserne Türblatt in seinen Angeln und schwang nach innen, wobei sich mein Puls noch weiter beschleunigte. War es wirklich eine gute Idee gewesen, mich auf dieses Vorstellungsgespräch einzulassen? Was, wenn ich versagte? Wenn ich Mister Keaton und Mrs. Rodriguez enttäuschte? Ich war erst vierundzwanzig Jahre alt und meinen Lebenslauf galt es nur bedingt als makellos zu beschreiben. Wie real waren meine Chancen denn wirklich, diesen Job zu bekommen? Gewiss hatten sich schon Dutzende, sich gegenseitig mit ihren Erfahrungen übertrumpfende, Bewerber auf die freie Stelle gemeldet. Warum sollte also ausgerechnet ich eine solch unvergleichliche Möglichkeit erhalten? Diese Fragen hatte ich mir seit eben jenem Zeitpunkt oft gestellt. Erst Jahre später sollte ich eine Antwort auf all diese Ungewissheiten finden.
»Mister Keaton? Die Bewerberin, die Sie gerne selbst empfangen wollten, ist hier.«, kündigte Emilia soeben an und betrat das Büro.
Mit einem aufmunternden Nicken bedeutete sie mir, ihr zu folgen, wobei ihre braunen Haare um ihren Nacken wogten.
»Guten Tag, Mister Keaton.«, begrüßte ich den CEO, noch bevor ich meinen Fuß über die Türschwelle gesetzt hatte.
Bisher hatte eine Wand meine Sicht auf den gutaussehenden, muskulösen Geschäftsmann verstellt, doch jetzt erkannte ich Raymond Keaton. Sicherlich stellen Sie sich nun einen klassischen, schleimigen Millionär vor, dessen Haar vor Gel glänzt und dessen Lippen von einem immer gleichen Lächeln verzogen werden. Einen Mann, der einen maßgeschneiderten Anzug trägt und sich selbst mit dem charmanten Spitznamen ‚Boss‘ betitelt. Doch Raymond entsprach keinem dieser Klischees. Statt einem zeitlosen blauen Jackett und einer braunen Weste, trug er ausgeblichene Jeanshosen, ein weißes Hemd und darüber ein unauffälliges, gestreiftes Sakko. Sein volles, dunkelbraunes, krauses Haar wies nicht eine einzige graue Strähne auf und selbst die winzigen Lachfalten um seine Augen waren nicht überschminkt worden, wie es heutzutage einige Geschäftsmänner zu tun pflegen. Tatsächlich wirkte Raymond Keaton fast menschlich. Nahbar. Hätte ich ihn in diesem Aufzug auf der Straße getroffen, hätte ich niemals vermutet, dass er der Leiter eines weltbekannten Eventunternehmens und Anwärter auf einen Senatorensitz des Bundesstaates Tennessees war.
»Hallo, Sie müssen Mrs. Sanchez sein. Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.«, erwiderte Raymond und wandte sich von der Fensterfront ab, die ihm einen umfassenden Blick über das Zentrum der Stadt gewährte.
»Miss.«, korrigierte ich ihn lächelnd und ergriff bereitwillig die Hand, die er mir entgegenstreckte.
Sein Griff war fest und beherzt, seine Finger fühlten sich warm auf meiner Haut an und hinterließen auf meiner Handfläche ein prickelndes Gefühl, das meine Nervosität noch weiter steigerte.
»Miss Sanchez.«, verbesserte sich Mister Keaton und fing meinen schüchternen Blick mit seinen tiefgründigen Augen auf.
Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet war, hatten Raymonds Iriden nicht eine gewöhnlich braune, blaue, graue oder grüne Färbung. Die schmalen Ringe um seine Pupillen strahlten in einem außergewöhnlichen Silberton. Ein Poet würde sagen, seine Augen wirkten ganz so, als würde reines Sternenlicht in ihnen fließen. Nie zuvor hatte ich eine derart schöne Farbe gesehen. Eine Farbe, die mir irgendwann zum Verhängnis werden würde.
»Bitte, setzen Sie sich doch.«, sagte Raymond jetzt und deutete auf zwei gepolsterte Stühle, die vor seinem sichelmondförmigen Schreibtisch aufgestellt worden waren.
»Danke.«, entgegnete ich, weiterhin in seinen eindringlichen Blick vertieft.
Doch dann löste Raymond den Blickkontakt abrupt. Fast überrumpelt trat ich einen Schritt zurück und ließ zugleich seine Hand los, die, wie ich erst jetzt bemerkte, mehrere Minuten lang gehalten haben musste.
»Wofür?«, erkundigte sich Raymond etwas irritiert und schmunzelte leicht.
Dann umrundete er die hölzerne Tischplatte, die das Gewicht mehrerer Ordner, Laptops und Aktenmappen zu trug. Entgegen dieses Anblicks herrschte auf dem Arbeitsplatz eine beneidenswerte Ordnung.
Emilia und ich nahmen gerade auf den Stühlen Platz, die Mister Keaton uns angeboten hatte, als dieser bereits fragte: »Miss Sanchez, woher, sagten Sie, kommen Sie?«
»Aus Queens, New York.«, erzählte ich unumwunden.
Beunruhigt beobachtete ich, wie Raymond eine braune Mappe vor sich zog und diese gelassen aufschlug. Der Schreck übermannte mich, als ich meine Bewerbung auf der Innenseite erkannte. Was hatte das zu bedeuten? War das ein gutes Zeichen? Drückte es sein Interesse aus? Oder war er mit meiner Antwort unzufrieden und hätte sich noch weitere Informationen erhofft?
Unentschlossen, was ich tun sollte, begann ich überfordert zu stottern: »Ich… ich habe vor sechs Jahren ein Stipendium an der NYU erhalten und daraufhin Eventmanagement in New York studiert. Sie haben sicher bereits gesehen, dass ich keine bemerkenswerten, beruflichen Referenzen vorzuweisen habe, aber ich habe stets…«
»Miss Sanchez…«, unterbrach mich Raymond zwinkernd und fügte dann hinzu, »Natalie… bitte. Sie müssen mich nicht beeindrucken. Das bin ich bereits. Wie ich sehe, haben Sie ausnahmslos jedes Semester als Jahrgangsbeste bestanden und haben überragend gute Leistungen auf allen Prüfungsebenen erbracht. Das verdient Anerkennung.«
»Dankschön, Mister Keaton.«, erwiderte ich perplex.
Sein Lob machte mich sprachlos.
»Natalie, warum erzählen Sie uns nicht von den Praktika, die Sie im letzten Jahr hier in den USA und in Ihrem Austauschsemester 2010 in Prag absolviert haben?«, mischte sich Emilia ein.
Wie sie verlangt hatte, erzählte ich von den Monaten, die ich damit verbracht hatte, großen Firmenchefs zu assistieren und schmückte meine wirklichen Tätigkeiten, welche zu großen Teilen aus Kaffeeholen und Aktenordnen bestanden hatten, aus.
Scheinbar beeindruckt lehnte sich Raymond in seinem Bürostuhl zurück und musterte mich streng: »Sie verfügen also über Fremdsprachenkenntnisse?«
»Ja, ich spreche fließend Französisch, Tschechisch und Mandarin.«, berichtete ich knapp.
»Das ist beneidenswert.«, stellte Mrs. Rodriguez fest, während sich der hartnäckige Blick ihres Vorgesetzten bohrend in meine Brust grub.
»Und was ist mit der Lücke in Ihrem Lebenslauf?«, forschte er jetzt.
Mein Atem geriet ins Stocken. Ich hätte diese Frage erwarten müssen! Warum hatte ich mich nicht besser darauf vorbereitet?
»Nun ja.«, zögerte ich verunsichert und versuchte, mein zurechtgelegtes Konzept wiederzuerlangen.
Meine Handflächen waren schweißnass. Unruhig verschränkte ich meine Finger ineinander, um so das Zittern meiner Hände zu verbergen.
»Sie müssen wissen, dass ich vor ein paar Jahren auf tragische Weise meinen Lebensgefährten verloren habe.«
»Ach so?«, meinte Raymond nur, dessen Neugierde nun geweckt war.
Emilia äugte ihn mahnend. Offenbar war sie der Meinung, dass es Raymond nicht zustand, eine weitere Aussage von mir zu verlangen. Doch was hätte ich tun sollen? Eine Antwort verweigern? Welchen Eindruck hätte das bei ihm hinterlassen? Sicherlich keinen guten!
»Wir fuhren auf der Interstate 90, als ein Wagen von der Spur neben uns abkam und uns seitlich rammte. Das Auto wurde gegen die Leitplanke geschoben und mit solcher Wucht gegen das Metall gedrückt, dass mein Freund eingequetscht wurde.«, ich hielt kurz inne, um meine Fassung zurückzugewinnen.
Ich schloss meine Augen, verbannte die Bilder jener schicksalshaften Nacht, in der Paul sein Leben gelassen hatte.
»Ich versuchte auszusteigen, war aber ebenfalls eingeklemmt und bin erst wieder im Krankenhaus zu mir gekommen. Dort sagte man mir, dass Paul noch am Unfallort verstorben ist.«, fuhr ich schließlich fort und beendete meinen Satz, ehe meine Stimme brach.
»Mein Beileid.«, flüsterte Emilia ergriffen.
Ihre kühlen Finger ergriffen meine Hand und drückten sie tröstend.
Doch Raymond starrte mich weiterhin fasziniert an: »Wieso ist das andere Auto von der Fahrbahn abgekommen?«
Überrascht von seiner Frage, fuhren Emilia und ich zu ihm herum. Hatte er denn nicht gehört, was ich gerade gesagt hatte? Mein Freund war bei dem Unfall ums Leben gekommen und dennoch bohrte er beständig weiter nach Fakten, die ihn eigentlich nicht zu interessieren brauchten! Das war nicht nur unangemessen, sondern fast beleidigend! Respektlos! Aber dennoch beeindruckte mich seine unverblümte, forsche Art auf eine seltsame, groteske Weise. Reaktionen wie die von Emilia hatte ich oft erlebt, wenn ich von der Unfallnacht gesprochen hatte. Doch Raymonds Rauheit war mir neu. Er behielt, der unleugbaren Emotionalität dieser Erzählung zum Trotz, das große Ganze im Blick und erfasste jedes noch so kleine Detail der Geschichte. Er war kein engstirniger Denker und zum ersten Mal seit diesem tragischen Vorfall musste ich nicht befürchten, mit geheucheltem Mitleid überschüttet zu werden.
Als ich seinen wartenden Gesichtsausdruck nicht länger ertrug, stammelte ich unbeholfen: »Der zweite Fahrer war herzkrank und erlitt während der Fahrt einen Infarkt. Er verstarb ebenfalls.«
»Dann sind Sie die einzige Überlebende dieses traumatischen Ereignisses?«, schlussfolgerte Mister Keaton.
Seine Miene verklärte sich und offenbarte eine völlig andere Gemütsregung. War es Bewunderung? Neugierde? Ich konnte seine Mimik nicht deuten.
»Mister Keaton!«, empörte sich Emilia, ehe ich eine Frage erübrigen konnte.
»Ja, ich habe als Einzige überlebt.«, schnitt ich ihr das Wort ab, wobei mir ihr scharfes Zischen nicht entging, »Ich war schwerverletzt und musste mich einem halben Dutzend Operationen unterziehen. Deswegen musste ich nach meinem Studium zwei Jahre im Krankenstand verbringen und konnte mich nicht gleich auf eine attraktive Stelle wie diese hier bewerben. Aber ich kann Ihnen mit bestem Gewissen versichern, dass dieser Vorfall heute keinen Einfluss mehr auf mich oder meine Arbeitsweise hat.«
Damit lenkte ich die Aufmerksamkeit geschickt wieder auf das eigentliche Gesprächsthema.
Sofort übernahm Mrs. Rodriguez die Rolle der Sprecherin: »Weshalb haben Sie sich ausgerechnet bei Keaton & Son beworben?«
»Nun ja, mein Vater hat seinerzeit oft mit Ihrer Firma zusammengearbeitet und deshalb hatte der Name Keaton für mich schon immer eine Bedeutung. Einen gewissen Reiz, wenn man so will. Nach meinem Studium habe ich eine Veränderung in meinem Leben gebraucht und die habe ich in Nashville gefunden. Deswegen bin ich in die Stadt gezogen und Ihr Unternehmen ist im gesamten Umkreis eines der Erfolgversprechendsten. Es stand für mich also außer Frage, mich irgendwo anders zu bewerben.«, erklärte ich.
»Sie haben demnach keinen Plan B, falls Sie die Stelle hier nicht bekommen?«, schlussfolgerte Raymond.
Ich zögerte. Schon wieder diese weitsichtige, vollkommen rationale Denkweise. Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn jedoch sofort wieder, als mir die Worte entglitten.
»Ähm…«, haderte ich, »Ja, das ist richtig.«
»Mutig.«, kommentierte Keaton und neigte seinen Kopf leicht zur Seite.
Er hatte seine Augen zu schmalen Schlitzen verengt und betrachtete mich wie ein Raubtier seine Beute. Bildete ich mir das nur ein oder zeichnete sich in seiner Miene eine Spur der Begierde ab? Was sollte das? Diese Fragen? Dieser undeutbare Ausdruck, der auf seinen Zügen lag? War es vielleicht ein Fehler gewesen, sich bei Mister Keaton zu bewerben? Zum ersten Mal zweifelte ich an dieser Entscheidung.
»Nun, Miss Sanchez.«, sagte Mrs. Rodriguez schließlich in die Stille, welche sich, einem Leichentuch gleich, über den Raum gelegt hatte, »Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben, sich uns vorzustellen. Wir werden uns bei Ihnen melden, sobald wir zu einer Entscheidung gelangt sind oder, wenn wir noch weitere Fragen an Sie haben sollten.«
»Natürlich.«, stimmte ich eilig zu, »Vielen Dank, dass Sie mich empfangen haben. Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen.«
»Die Freude ist ganz meinerseits.«, entgegnete Mister Keaton neutral und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, als er von seinem Stuhl aufstand.
Er streckte mir seine Hand über den Schreibtisch entgegen und sofort beeilte ich mich, ebenfalls aufzuspringen und mich lächelnd von ihm zu verabschieden.
»Ich bin mir sicher, wir werden uns schon bald wiedersehen.«, meinte Raymond zwinkernd und drückte meine Hand kräftig.
»Das hoffe ich.«, erwiderte ich begeistert.
Scheinbar hatte ich wohl doch eine reelle Chance, ein Stellenangebot zu erhalten. Konnte das denn wirklich wahr sein? Ich unterdrückte einen Freudenschrei und wandte Mister Keaton den Rücken zu, sodass ich auch Mrs. Rodriguez die Hand reichen konnte.
»Wir werden uns innerhalb von zwei Wochen bei Ihnen melden.«, versicherte Emilia und begleitete mich zur Tür des Büros, »Schön, dass Sie hier waren.«
Noch bevor ich etwas darauf hätte erwidern können, hatte sie die Tür geöffnet und gab mir mit einem aufgesetzten Schmunzeln zu verstehen, dass die Zeit zu Gehen nun gekommen war. Erleichtert, das Vorstellungsgespräch jetzt endlich hinter mich gebracht zu haben, schenkte ich der Personalchefin und ihrem Vorgesetzten ein letztes Lächeln und verließ dann das Büro.
»Hallo?«, frage ich und presse den Telefonhörer gegen mein Ohr, um die undeutliche Stimme, die am anderen Ende der Leitung spricht, besser hören zu können.
»Mrs. Keaton.«, begrüßt mich der bereits vertraute Tenor, der eines der wohl markantesten Merkmale des unscheinbaren Trevor Rowans darstellt, »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Hallo, Mister Rowan. Vielen Dank für Ihren Rückruf. Hat Ihnen Ihr Praktikant ausgerichtet, worum es geht?«, frage ich argwöhnisch.
»Nein, bedaure.«, verneint mein Gesprächspartner zu meiner Enttäuschung, »Er sagte nur, dass Sie diese Angelegenheit ausschließlich mit mir besprechen wollten, und, dass ich Sie unbedingt zurückrufen sollte.«
»Ein zuverlässiger Bursche.«, lobe ich anerkennend und zugleich erleichtert, dass der besagte Praktikant keine weiteren Fragen stellte, »Wie dem auch sei, ich möchte, dass Sie die Kameras unseres Anwesens warten.«
»Gibt es denn ein Problem mit dem Überwachungssystem?«, erkundigt sich Trevor jetzt besorgt.
»Nein, damit ist alles in Ordnung.«
»Das verstehe ich nicht.«, gesteht Mister Rowan und stutzt kurz, ehe er mich erinnert, »Die Kameras wurden vor kaum einem halben Jahr ersetzt und somit generalüberholt. Wenn keine Schwierigkeiten aufgetreten sind, warum möchten Sie die Kameras dann warten lassen?«
»Es geht um den Winkel.«, werfe ich ein und lasse Trevor damit weiterhin im Unklaren über den tatsächlichen Grund für meinen Anruf.
»Den Winkel?«, wiederholt dieser verblüfft.
Nur zu bildlich kann ich mir den mittelalten, kahlköpfigen Briten vorstellen, welcher in eben diesem Moment der völligen Verzweiflung erliegen muss. Soll ich ihn womöglich in mein Vorhaben einweihen? Ihm die intimen Details meines Plans offenbaren? Doch was, wenn er mich verrät? Wenn er mir zuvorkommt oder mir seine Hilfe gar verweigert? Was soll ich in diesem Fall tun? Ich habe keine Wahl! Ich musste Trevor davon überzeugen, die gewünschten Arbeiten auszuführen, ohne, dass er Verdacht schöpft.
»Ja, der Winkel ist so eingestellt, dass die gesamte Einfahrt gut überschaubar ist. Allerdings ist von der Haustür und den Seiteneingängen nur eine verschwommene, bruchstückhafte Aufnahme möglich. Inwieweit soll uns das nützen? Einbrecher versuchen ihr Glück stets an den Eingängen und nicht an der Garage!«, erläutere ich mit getäuschter Höflichkeit.
Unruhig fahren meine Finger über die raue Oberfläche der Küchentheke. Der kühle, weiße Marmor schmiegt sich angenehm an meine Fingerkuppen und ich glaube, zu spüren, wie die winzigen, schwarzen Adern des Steins unter meiner Berührung pulsieren. Mein Blick schweift aus dem Fenster. Winzige, schimmernde Schneekristalle haben sich auf den makellos gepflegten Rasen des Gartens gesetzt und bedecken auch die Hecke, die das Grundstück zu allen Seiten umgibt. Inmitten dieser weißen Pracht wirken die Pfotenabdrücke, die ein verirrter Hase oder Igel hinterlassen haben muss, deplatziert. Nun richte ich mein Augenmerk auf die geteerte Auffahrt, die nur durch ein hölzernes, weißlackiertes Gartentor von der dahinterliegenden Straße getrennt wird. Beinahe augenblicklich befällt mich Schwermut. Schon bald wird Rays Wagen in diese Auffahrt einbiegen. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit! Ich muss mich beeilen und das Gespräch beenden, ehe Ray nach Hause kommt!
»Das ist natürlich verständlich.«, katzbuckelt Trevor, doch sein gereizter Tonfall lässt vermuten, dass sein Verhalten lediglich dazu dient, seine Selbstbeherrschung zu wahren, »Wir könnten zwei weitere Kameras installieren, die dann sowohl den Haupteingang, als auch die Nebeneingänge gänzlich abdecken. Ich könnte Ihnen bereits nächste Woche einen verfügbaren Termin anbieten.«
»Nein, das dauert zu lange!«, protestiere ich.
Verdammt, wieso muss er mir auch eine Alternative vorschlagen? Warum hätte er nicht einfach meine Forderung abwarten können?
Um von meiner vagen Ausflucht abzulenken, sage ich deshalb schnell: »Mein Mann ist zurzeit geschäftlich unterwegs und ich möchte in seiner Abwesenheit keine größeren Veränderungen an unserem Haus vornehmen. Es genügt mir, wenn Sie ein paar Ihrer Angestellten schicken, die den Winkel der Kameras berichtigen.«
»Sind Sie sich sicher?«, vergewissert sich Mister Rowan, »Auch, wenn das eher selten vorkommt, können Einbrecher auch über ein Garagentor in Ihr Haus gelangen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich wäre an Ihrer Stelle vorsichtig.«
»Ja, ich bin mir sicher!«, kontere ich entschlossen und bete insgeheim, Trevor möge endlich aufgeben, »Alles andere ist nur eine unnötige Verschwendung von Geldern und Zeit. Wann können Ihre Leute bei mir sein?«
»Das kommt ganz darauf an.«
»Worauf?«, hake ich unwirsch nach.
Wie schwer kann es sein, einen Termin mit einer Sicherheitsfirma zu vereinbaren? Wofür engagiert man diese Unternehmen überhaupt, wenn Sie in Notfällen keine Ansprechpartner sind?
»Ob Sie einen Termin am Vor- oder Nachmittag wünschen.«, erklärt Trevor freundlich.
Allerdings scheint auch er allmählich das Interesse an unserer Unterhaltung zu verlieren und sehnt sich vermutlich danach, mit einem seiner Kollegen, der gerade Mittagspause hat, zu tauschen.
»Vormittag!«, erwidere ich sofort, bevor mir bewusst wird, dass meine Antwort vorschnell, einstudiert und somit verdächtig erscheinen könnte.
Deswegen ergänze ich hastig: »Ich bin zeitlich flexibel und richte mich ganz nach Ihnen.«
»Schön. Wie wäre es dann am kommenden Montag? Also in drei Tagen?«, schlägt der Firmenangestellte vor.
»Perfekt. Um wie viel Uhr kann ich mit Ihren Angestellten rechnen?«
»Um spätestens acht Uhr sollten sie bei Ihnen sein. Der Auftrag wird nur ein paar Minuten dauern. Sie brauchen sich also nicht den ganzen Tag frei zu nehmen.«, fügt Trevor zuvorkommend hinzu.
»Wunderbar. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mister Rowan.«, entgegne ich anstelle eines Abschiedsgrußes.
Noch bevor ich meinerseits die Initiative hätte ergreifen können, legt mein Gesprächspartner grußlos auf und einzig das Piepen des Telefons durchbricht die Stille, die durch das Haus wallt wie zähflüssiger Nebel. Seufzend senke ich meine Hand, welche noch immer den Hörer hält, und stelle das Telefon zurück auf den Apparat der Ladestation. Erleichterung pulst durch meine Adern und gibt mir zum ersten Mal seit langem ein Gefühl der Zuversicht. Ich habe den ersten Schritt getan. Den ersten Schritt auf einer langen Reise. Zwar habe ich nur einen banalen Anruf getätigt, den Fachleute wie Mister Rowan wahrscheinlich jeden Tag erhalten, doch kann er die Tragweite seines scheinbar belanglosen Einsatzes nicht sehen. Er kann nicht verstehen, welch fundamentale Auswirkungen sein Handeln auf das Leben eines bestimmten Menschen haben wird. Er ist blind für das, was ich vorhabe. Ich habe ihn und seine Firma beauftragt, den Winkel der Überwachungskameras zu verstellen. Nichts an dieser Anfrage scheint ungewöhnlich. Doch Trevor kann nicht wissen, dass sein Eingreifen einen blinden Fleck erschaffen wird, ein Loch im Netz des Überwachungssystems. Und dieses Loch wird sich genau vorderhalb der Garage befinden. Ein zufriedenes Lächeln umspielt meine Lippen. Ein Anruf. Mehr ist nicht nötig gewesen, um den Stein ins Rollen zu bringen. Auf einmal wirkt mein Unterfangen so leicht. Es ist ein Kinderspiel.
»Ein Kinderspiel.«, flüstere ich leise.
Mein Grinsen verbreitert sich noch, als ich daran denke, dass all das hier schon in wenigen Monaten vorbei sein wird. Dann bin ich endlich frei. Doch noch bevor ich mich an diesen lieblichen Gedanken gewöhnen kann, werde ich abrupt in die Realität zurückgerissen. Denn auf einmal weicht die friedliche Stille des Anwesens dem lauten Lärm eines nahenden Motors. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus. Er ist zurück! Was habe ich anderes erwartet? Er lebt hier! Habe ich mir insgeheim erhofft, dass er auf dem Weg zur Arbeit Opfer eines tragischen Unfalls werden und an den Folgen seiner erlittenen Verletzungen sterben würde? Habe ich wirklich davon geträumt, dass sich Pauls Todesnacht wiederholt, doch diesmal mit einem anderen Mann am Steuer? Bin ich denn dermaßen naiv? Ich hätte schon längst aufhören sollen, irrelevante und trügerische Emotionen wie Hoffnungen oder Träume zu empfinden. Und trotzdem will es mir nicht gelingen, sie aus meinem Denken zu verbannen.
»Ich bin wieder da!«, ruft seine Stimme, noch während er das Haus betritt und ein eisiger Schauder durchläuft meinen Körper.
Gänsehaut breitet sich auf meiner Haut aus und mein Atem stockt. Er ist zurückgekommen. Zurück zu mir.
»Hallo, mein Liebling.«, schnarrt er zärtlich und betritt die Küche.
Wie lange bin ich hier gestanden? Angstvoll schließe ich meine Augen. Ich weiß, was jetzt geschehen wird. In dem Moment, da Rays Hände meine Haut berühren und seine Lippen meine Stirn küssen, steigt vor meinem inneren Auge das Bild eines demolierten Wagens auf. Es ist das gleiche Gefährt wie damals. Ich erkenne den dunkelblauen Lack und den Rostfleck an der Stoßstange. Ich erkenne die Einbuchtungen an beiden Seiten des Autos. Ich sehe das gesplitterte Glas und das Blut auf beiden Sitzen des Wagens. Der Beifahrersitz ist verwaist. Doch auf dem Fahrersitz kauert eine Gestalt. Es ist nicht Paul. Ich sehe genauer hin und erkenne den Mann. Es ist Ray. Und noch während mein Geist in die Gegenwart zurückkehrt und ich meine Augen öffne, um meinen Ehemann zu begrüßen, weiß ich, dass der Ray auf dem Fahrersitz des blauen Corsas tot ist.
Warmes Wasser umgab mich von allen Seiten, hüllte mich ein wie eine Decke der Geborgenheit und umspülte meinen Körper in sanften Wogen. Müdigkeit hatte meine Augenlider schwer werden lassen und ich musste mich beherrschen, um nicht endgültig in die Welt der Träume zu gleiten. Eine solche Entspannung hatte ich schon seit Monaten nicht mehr erlebt. Sicherlich kennen Sie dieses Gefühl. Die herrliche Wärme und die betörende Stille luden regelrecht dazu ein, mich meiner Müdigkeit zu ergeben. Doch dem entgegen stand meine endlose, innere Unruhe. Warum hatte sich Keaton & Son nicht schon vor Tagen gemeldet? Ich war mir bewusst, dass ich nicht die einzige Bewerberin war, dass es Zeit brauchte, eine derart schwerwiegende Unternehmensentscheidung zu treffen und, dass zunächst eine genaueste Abwägung zwischen den unterschiedlichen Kandidaten vorgenommen werden musste. All das konnte eine Antwort der Firma um Tage, wenn nicht sogar um Wochen verzögern. Aber trotzdem trieb mich die Ungewissheit in den Wahnsinn! Ich musste endlich wissen, ob ich ein Jobangebot erhalten würde oder, wie schon so viele unglückliche Bewerber vor mir, aussortiert worden war! Ich konnte nicht länger warten! Aber wie sich herausstellte, sollte ich das auch nicht müssen. Es war, als hätte Emilia meine Gedanken gehört, denn in eben diesen Augenblick ließ mich die laute Melodie meines Handyklingeltons erschrocken zusammenfahren.
»Oh mein Gott!«, kreischte ich, wobei mir vor Aufregung schwindelte, und legte überrascht eine Hand auf mein vor Schreck wild schlagendes Herz.
Sofort sprang ich auf und beachtete dabei nicht die winzigen Schaumflocken, die auf die Fliesen des Badezimmers rieselten. Fast wäre ich auf dem glitschigen Boden der Badewanne ausgerutscht und zurück in das knietiefe Wasser gefallen. Allerdings gelang es mir, mich rechtzeitig an dem Duschkopf festzuhalten und unelegant aus der Keramikwanne zu steigen. Vor Nervosität keuchend stürzte ich zu dem Waschbecken am anderen Ende des Raums, auf dessen Ablage ich mein Handy neben einer Tube Zahnpasta zurückgelassen hatte. Ich vertraute auf meinen Instinkt und sah nicht auf den Bildschirm, bevor ich mir das Telefon ans Ohr hielt.
Noch immer außer Atem, sagte ich überflüssigerweise: »Hier Natalie Sanchez.«
»Hallo, Miss Sanchez. Hier ist Emilia Rodriguez.«, begrüßte mich die Personalchefin freundlich, »Sie erinnern sich?«
»Ja, natürlich!«, bestätigte ich vorfreudig.
»Sie können sich bestimmt denken, weshalb ich anrufe.«, fuhr Emilia fort, während ich nach einem Handtuch griff und es mir behelfsmäßig um die Brust schlang.
»Mister Keaton und ich haben ausführlich beraten und sind uns darüber einig, dass Sie die beste Wahl für unsere verfügbare Stelle sind.«, erklärte Mrs. Rodriguez.
Überrascht schlug ich mir eine Hand vor den Mund, um meinen Jubelschrei zu unterdrücken und lauschte gespannt.
»Wir würden Ihnen gerne eine Anstellung in unserer Eventmanagementabteilung anbieten und würden uns sehr über eine Zusage von Ihnen freuen.«
Meine Handfläche schmerzte bereits, so fest drückte ich sie gegen meinen Mund.
Als Emilia verstummte, um meine Antwort abzuwarten, erwiderte ich sofort und ohne darüber nachzudenken: »Ist das ein Scherz? Ja! Ja, natürlich! Ich würde Ihr Angebot mit dem größten Vergnügen annehmen! Es gibt nichts, das ich lieber tun würde!«
»Schön, dann begrüßen wir Sie herzlich als neues Mitglied unseres Teams.«, entgegnete Emilia nüchtern, »Ist es möglich, dass Sie unserer Filiale in Nashville schon morgen einen Besuch abstatten, um alle nötigen Unterlagen einzureichen und den Vertrag zu unterzeichnen?«
»Selbstverständlich!«, versprach ich enthusiastisch, »Wann soll ich da sein?«
»Passt Ihnen 10:30 Uhr?«
»Perfekt!«, kommentierte ich, »Dann sehen wir uns morgen.«
»Wunderbar. Ich werde Sie in der Lobby erwarten.«, kündigte Emilia an und fügte noch im selben Atemzug hinzu, »Auf Wiedersehen, Miss Sanchez.«
»Auf Wiedersehen.«, verabschiedete ich mich ebenfalls und legte auf.
Erst, als ich mein Handy wieder auf dem Rand des Waschbeckens platziert hatte, wagte ich, den Atem, den ich angehalten hatte, auszustoßen. Ein überglückliches Kreischen löste sich aus meiner Kehle und hallte von den engstehenden Wänden des vielleicht fünf Quadratmeter großen Bads wider. Obwohl ich mir vorstellen konnte, wie albern mein Verhalten wirken musste, tanzte ich ausgelassen auf der Stelle. Konnte das denn wirklich wahr sein? Konnte ich tatsächlich ein Jobangebot von Keaton & Son erhalten haben? Übermütig vollführte ich eine amateurhafte Drehung und presste das Handtuch noch fester an meine Brust. Ich konnte es nicht glauben! Ich hatte es geschafft! Vielleicht fragen Sie sich jetzt, weshalb mich eine einfache Jobzusage dermaßen aufwühlte. Um das verstehen zu können, müssen Sie wissen, dass ich aus einer Familie stamme, in der alleinig Leistung und Erfolg zählen. Für meinen Vater galt Versagen nicht als Option. Seit der Scheidung meiner Eltern hatte sich sein Verhalten noch radikalisiert. Natürlich war ich ihm dankbar für meine kostspielige und hervorragende Ausbildung an der NYU, deren Stipendium er mir verschafft hatte. Allerdings hatte mein Vater, von den finanziellen Aspekten abgesehen, Elternschaft als überbewertet angesehen. Seine Zuwendung ist schon immer rar gewesen und in den seltenen Fällen, in denen ich sie erfahren durfte, hatte ich sie mir verdienen müssen. Ein High School Abschluss genügte ihm nicht. Eine Auszeichnung zur Jahrgangsbesten war noch die Geringste seiner viel zu hohen Erwartungen. Somit hatte ich mir nie die Frage gestellt, in welchen Unternehmen ich mich neben Keaton & Son hätte bewerben können. Wenn ich keine Anstellung bei der besten und angesehensten Firma des Landes erhielt, würde ich solange arbeitslos bleiben, bis ich es tat. Die zweite Wahl war nicht genug. Doch jetzt hatte ich es, entgegen all meiner Zweifel, endlich geschafft! Ich hatte meinen ersten, langzeitigen Job angenommen und würde schon morgen den Arbeitsvertrag unterschreiben! Das war unfassbar! Vielleicht würde sogar mein Vater einmal stolz auf mich sein können, auch, wenn ich dadurch niemals Janine, seiner zweiten Frau, das Wasser würde reichen können. Aber es war ein Anfang! Und schon morgen würde ich ein neues Leben beginnen. Ein Leben nach Paul, das mich glücklich machen würde.
Damals freute ich mich über diese einzigartige Chance, die sich mir bot. Doch heute erkenne ich meine Naivität. Denn Glück war das Letzte, das mir während meiner Zeit bei Keaton & Son widerfahren sollte.
Mittwoch, 5. Juni 2013
»Schon wieder Regen!«, stöhnte Kendall missmutig.
Das tagelange, schlechte Wetter hatte sich auf ihr Gemüt niedergeschlagen und verwandelte die sonst so fröhliche und heitere junge Frau in eine einzige reizbare, impulsive Stimmungsschwankung. Es war unmöglich, einzuschätzen, wann sie in der Laune war, ein Gespräch zu führen, und wann schon der Versuch dazu ausreichte, um ihr hitziges Temperament zu entfesseln.
»Besser als 40 Grad im Schatten wie gestern.«, lenkte ich ein, um sie ein wenig zu besänftigen und ihr nicht noch einen Grund für ihre Übellaunigkeit zu geben, »Bist du schon mit der Planung für die Spendengala der Dubois` fertig?«
»Nein. Ich habe noch nicht einmal damit angefangen! Wie denn auch? Mein Schreibtisch biegt sich unter den ganzen Aufträgen, mit denen Keaton uns überschüttet!«, rechtfertigte sich die Blondine abweisend.
»Schon gut. Das war nicht als Vorwurf gemeint.«, beschwichtigte ich sie und konzentrierte mich wieder auf den Bildschirm meines Computers.
»Es tut mir leid, Nat.«, entschuldigte sich Kendall plötzlich und vereinnahmte damit erneut meine vollständige Aufmerksamkeit, »Ich weiß nicht, was in letzter Zeit mit mir los ist. Der Stress und dann noch dieses elende Wetter! Das hat mir den Rest gegeben.«
»Vielleicht solltest du eine Pause einlegen?«, schlug ich besorgt vor.
Mein Augenmerk schweifte zögerlich über die tiefen, blutunterlaufenen Ringe, welche sich unterhalb ihrer azurblauen Augen gebildet hatten, und über die Sorgenfalten, die senkrecht auf ihrer Stirn standen. Womöglich wäre es wirklich das Beste für Kendall, wenn sie vorübergehend etwas Abstand zu ihrem alltäglichen Stress gewann.
»Und woher soll ich die Zeit dafür nehmen? Keaton erlaubt mir nie, jetzt spontan Urlaub zu nehmen! Das kannst du vergessen! Hast du eine Ahnung, wie viele Snob-Galas und schnöselige Dinner wir diesen Monat noch ausrichten müssen? Das grenzt an Wahnsinn!«
»Soll ich mit ihm sprechen?«, sprach ich den unvermuteten Einfall, der plötzlich in meinem Bewusstsein erschien, laut aus.
»Du?«, fragte Kendall perplex, »Habe ich etwas verpasst?«
»Nein, aber ich hatte bisher noch kein Problem mit Mister Keaton und ich bin mir sicher, dass ihm das Wohlergehen seiner Angestellten am Herzen liegt. Ich sehe keinen Grund zu der Annahme, er würde dir den Urlaub verweigern.«, erklärte ich ausweichend.
Tatsächlich hielt sich hinter meinem scheinbar selbstlosen Angebot ein viel egoistischeres Motiv verborgen. Denn in Wirklichkeit hegte ich eine heimliche Sympathie für Mister Keaton. Doch bitte verstehen Sie das nun nicht falsch! Zum damaligen Zeitpunkt war meine Zuneigung zu Raymond keineswegs romantischer Natur. Vielmehr genoss ich seine Gesellschaft, bewunderte seine entspannte und zugleich derart ambitionierte Philosophie. Ich mochte seine Art zu reden, mit Menschen umzugehen und beneidete ihn um seine Gelassenheit in den wohl nervenaufreibendsten Situationen. Er verlor nie die Kontrolle über seine Emotionen und wusste sich stets zu helfen. Niemand konnte ihn der Worte berauben. Meiner Meinung nach fand sich in Raymond die Personifikation eines geborenen Politikers. Und dafür respektierte ich ihn und würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass ich einst zu ihm aufgesehen habe. Aus diesem Grund nutzte ich jede Gelegenheit, um in Raymonds Nähe zu kommen und seinen faszinierenden Charakter zu erleben.
»Wenn du meinst, dass das eine gute Idee ist: Bitte, ich werde dich nicht aufhalten.«, kommentierte Kendall und wandte sich kopfschüttelnd von mir ab.
Ein wenig gekränkt von ihrer barschen Antwort, erhob ich mich von meinem Bürostuhl und hielt auf die Tür unseres gemeinsamen Büros zu.
Ich hatte meine Finger bereits um das kühle Metall der Klinke gelegt, als Kendall abermals und ohne von ihrem Laptop aufzusehen, zu sprechen begann: »Dankeschön.«
»Kein Problem.«, erwiderte ich mit einem sanften Lächeln, das meine Lippen umfing.
Dann öffnete ich die Tür, auf deren milchgläsernen Außenseite unserer beider Namen eingraviert worden waren, und verließ das Büro, dessen Wände ebenfalls aus Milchglas bestanden. Durch die dünne Scheibe konnte ich, selbst von meiner Position auf dem Korridor aus, Kendalls schemenhafte Umrisse erkennen, die sich gegen das helle Licht abzeichneten. Ohne noch mehr Zeit damit zu verschwenden, tatenlos auf dem Flur herumzustehen, setzte ich mich schließlich in Bewegung und lief über den grauen Teppich, bis ich das Ende des langen Ganges erreichte. Wertvolle Ölgemälde auf hohen Leinwänden säumten die Seiten des Korridors. Sie waren Raymond und seiner Firma vor nicht allzu langer Zeit von einem wohlhabenden Kunden als Zeichen der Wertschätzung überlassen worden. Ein Geschenk in Millionenhöhe. Das hatte mir Emilia erzählt, während ich ihr in ihr Büro gefolgt war, um meinen Arbeitsvertrag zu unterschreiben. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte ich bemerkt, dass sie großes Gefallen an Plaudereien fand. Bevor ich länger über die gemalten Abbilder von Früchten, Landschaften und bewegenden Szenen der Seefahrt nachdenken konnte, realisierte ich, dass ich mein Ziel bereits erreicht hatte. Unbewusst war ich vor der Bürotür des CEO von Keaton & Son stehen geblieben und war mir dessen nicht einmal bewusst gewesen. War es denn wirklich eine gute Idee, Raymond mit so einer irrelevanten Angelegenheit wie dem Urlaub einer seiner tausenden Angestellten zu belästigen? War dafür nicht Emilia zuständig? Aber jetzt war ich schon hier. Ich hatte die Distanz von gut einhundert Metern, die Raymond und mein Büro voneinander trennten, überwunden, und war hier, um mit ihm zu sprechen. Ein Versuch konnte nicht schaden!
Meine Faust hatte das glatte Glas erst ein einziges Mal berührt, als Raymond rief: »Kommen Sie herein!«
»Guten Morgen, Mister Keaton, ich…«, setzte ich sofort an, um nicht mehr seiner knapp bemessenen Zeit zu verschwenden, als unbedingt nötig.
Jedoch unterbrach mich der Geschäftsmann fast sofort: »Natalie, wie schön, Sie zu sehen. Ich hoffe, Sie haben sich gut eingelebt?«
»Ja, das habe ich in der Tat. Alle sind so freundlich und hilfsbereit. Ich bin Ihnen unendlich dankbar für diese Chance!«, antwortete ich.
»Keine Ursache.«, winkte Raymond mit einer wegwerfenden Geste ab.
Der 1,90 Meter große Mann stand, die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt und den Rücken gegen seinen Schreibtisch gelehnt, inmitten seines Arbeitszimmers. Wie immer war er ordentlich rasiert, trug ein vornehmes Hemd und Jeans und präsentierte insgesamt ein makelloses Erscheinungsbild. Seine silbernen Augen funkelten im Schein der Deckenlampe, die der Dunkelheit, die durch die dicken, grauen Regenwolken verursacht wurde, effektiv entgegenwirkte.
»Wie geht es Ihnen?«, forschte er nun, ohne hierfür einen Anlass zu haben.
»Gut.«, stotterte ich verunsichert, »Danke der Nachfrage. Und Ihnen?«
»Sie gefallen mir.«, meinte Raymond stattdessen und grinste gewinnend, »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»Oh, nein vielen Dank.«, ich schüttelte verneinend den Kopf und konnte meine Verwunderung nicht zurückhalten, als Raymond an die andere Seite seines Schreibtisches trat, eine der Schubladen öffnete und eine Flasche bernsteinfarbenen Whiskeys zutage förderte.
»Sind Sie sicher? Ich bin in meinem Leben viel gereist und habe einen Großteil der Welt bereits gesehen. Und trotzdem kann ich nicht umhin, darauf zu bestehen, dass kein Drink auf den gesamten sieben Kontinenten existiert, der mit echtem schottischem Whiskey auch nur annähernd konkurrieren könnte.«, berichtete Mister Keaton, wobei Stolz in seinen außergewöhnlich strahlenden Augen flammte, »Das sollten Sie sich nicht entgehen lassen.«
»Na schön, wenn Sie darauf bestehen…«, gab ich letztendlich nach und erwiderte das zufriedene Lächeln, welches in Raymonds ansehnliche Züge gemeißelt war.
»Großartig.«, erwiderte er und entkorkte die halbvolle Flasche, »Setzen Sie sich doch. Oder möchten Sie lieber stehen bleiben?«
»Nein, nicht unbedingt.«, entgegnete ich und näherte mich dem Schreibtisch, auf dessen Platte jetzt zwei edle Porzellangläser standen, von denen eines bereits gefüllt war.
Gerade, als ich mich setzte, stellte Raymond die Karaffe beiseite und reichte mir eines der beiden Whiskeygläser.
»Auf gute Zusammenarbeit.«, kündigte Mister Keaton an, nachdem ich den Becher bereitwillig genommen hatte, und stieß sein eigenes Glas gegen meines.
Ich nickte zustimmend und nippte dann vorsichtig an dem stechend riechenden Alkohol. Sofort brannte das hochprozentige Getränk in meiner Kehle und hinterließ einen dominanten torfigen Nachgeschmack auf meiner Zunge.
»Ich sehe, Sie müssen sich wohl erst noch für schottischen Whiskey erwärmen.«, lachte Raymond unbeschwert und nahm seinerseits noch einen Schluck, »Aber jetzt genug davon. Ich habe Sie überhaupt nicht gefragt, weshalb Sie mich aufgesucht haben.«
Obwohl er sein Interesse nicht explizit in einer Frage ausgedrückt hatte, erzählte ich: »Sie kennen Kendall, meine Kollegin in einer der Eventmanagementabteilungen?«
»Selbstverständlich.«, gab Raymond augenblicklich, doch beinahe zu schnell, zurück, »Was ist mit ihr? Gibt es ein Problem? Möchten Sie eine Versetzung?«
»Was?«, rief ich erschrocken aus, »Nein, nein! Kendall und ich verstehen uns prächtig und ich würde es sehr bedauern, nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten zu können.«
»Okay, das freut mich zu hören. Und wieso sind Sie dann zu mir gekommen?«
»Nun, das mag vielleicht ein wenig merkwürdig klingen.«, schickte ich meinem eigentlichen Gesuch vorweg und erntete einen irritierten Blick meines Vorgesetzten, »Aber ich möchte Sie gerne um Ihr Einverständnis bitten, einige von Kendalls Projekten übernehmen zu dürfen.«
»Ist Miss Prise denn damit einverstanden? Immerhin habe ich ihr einige, für das Unternehmen äußerst wichtige Projekte anvertraut, die ihre Aufstiegschancen innerhalb der Firma um Einiges steigern könnten.«, erinnerte Mister Keaton mich.
Der Siebenunddreißigjährige legte seinen schlanken Zeigefinger an sein Kinn und wirkte plötzlich nachdenklich. Hegte er Zweifel an meinem Vorschlag?