Die Rache der Polly McClusky - Jordan Harper - E-Book

Die Rache der Polly McClusky E-Book

Jordan Harper

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vater und Tochter auf der Flucht: "Jordan Harpers Sätze treffen mit der Wucht einer Shotgun" Los Angeles Magazine Polly McClusky ist elf und eigentlich zu alt für den Teddybär, den sie überallhin mitnimmt, als überraschend ihr Vater vor ihr steht. Nate ist aus dem Gefängnis ausgebrochen, um Polly das Leben zu retten. Denn auf Polly ist ein Kopfgeld ausgesetzt. Nate hat sich im Knast einen mächtigen Feind gemacht: die Gang Aryan Steel hat ihn und seine Familie zu Freiwild erklärt. Nates Exfrau wurde bereits getötet, Polly ist die nächste auf der Liste. Auf der Flucht durch Kalifornien werden Vater und Tochter zu einem starken Team. Nates Kampftraining macht aus dem schüchternen Mädchen einen selbstbewussten Fighter. Und durch Pollys Scharfsinn halten sie den Vorsprung vor ihren Verfolgern. Bald ist Nate jedes Mittel recht, damit Polly wieder ein normales Leben führen kann.  "Ergreifendes Porträt einer Vater-Tochter-Beziehung, umzäunt von Stacheldraht." Booklist "Ein junger Autor, der nur noch kurze Zeit unter dem Radar bleiben wird. Jordan Harper schlägt ein wie das sanfte Brennen eines Schluck Whiskeys." Huffington Post Ausgezeichnet mit dem Edgar Award in der Kategorie Best First Novel 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Polly McClusky ist eigentlich zu alt für den Teddybär, den sie überallhin mitnimmt. Die Elfjährige ist schüchtern, verträumt und eine Einzelgängerin. Ihren Vater kennt sie kaum, er ist seit Jahren im Gefängnis. Doch unvermittelt steht er vor ihr. Nate McClusky ist Anfang 30 und hat im Gefängnis ein Mitglied der Gang Aryan Steel umgebracht. Nate will nicht für die White Supremacists arbeiten. Der Anführer spricht ein Todesurteil über ihn und seine Familie aus, und die Aryan Steel sind ein mächtiger Feind. Für Nates Exfrau kommt jede Hilfe zu spät, aber er ist rechtzeitig an der Schule seiner Tochter. Polly ist weit klüger als ihr Vater, eine Außenseiterin, die ihre Furchtsamkeit durch das Kampftraining mit Nate und die gemeinsame Flucht überwindet. Und Nate weiß, irgendwie muss er das Todesurteil gegen sich und seine Tochter aufheben lassen. Er muss die Gang zum Verhandeln zwingen.

Der Autor

Jordan Harper wurde 1976 in Missouri geboren. Er war Musikjournalist, Filmkritiker und Fernsehautor. Als Drehbuchautor war er u.a. Lead Writer bei den Fernsehserien »The Mentalist« und »Gotham«. Zurzeit lebt er in Los Angeles und arbeitet am Drehbuch zu der Verfilmung von »Die Rache der Polly McClusky«. Er wird außerdem das Script zur TV-Serie »L.A. Confidential« schreiben.

Jordan Harper

Die Rache der Polly McClusky

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweise zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1710-6

© 2017 by Jordan Harper © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Covergestaltung: zero-media.net, München unter Verwendung einer Vorlage von Allison Saltzman Covermotiv: Nancy Newberry Typo: Joel Holland

E-Book: L42 AG, Berlin

In Erinnerung an Kenneth Crosswhite

The Road was so dimly lighted;

There were no highway signs to guide;

But they made up their minds

If all roads were blind

They wouldn’t give up till they died.

Die Straße war so schlecht beleuchtet;

Keine Schilder wiesen den Weg;

Aber sie hatten sich entschieden

Auch wenn alle Straßen Sackgassen waren

Sie würden nicht aufgeben, bis zum Tod.

Bonnie Parker, auf der Flucht geschrieben

0

CRAZY CRAIG

Pelican Bay

Die Tattoos und Narben auf seiner Haut erzählten seine Geschichte. Er lebte in einem Raum ohne Nacht. Und hielt sich selbst für einen Gott.

Crazy Craig Hollington, ein zu lebenslänglich Verurteilter in Pelican Bay, Präsident einer Gang namens Aryan Steel, und damit Präsident aller kriminellen Whiteboys von Kalifornien, lebte in einer Zelle des Hochsicherheitstrakts, in der vierundzwanzig Stunden täglich das Licht brannte. Ein Wattestäbchen war das Härteste, was er legal besitzen durfte. Zweimal die Woche wurde eine Duschkabine vor seine Zellentür geschoben, man hielt ihn von den anderen Gefangenen fern. Aber er war ein Gott, erschaffen aus anderen Menschen.

Menschen ersetzten seinen Mund. So verließen Todesurteile den Hochsicherheitstrakt. Ein bestochener Wärter auf der Gehaltsliste der Aryan Steel leitete sie von Crazy Craig an eingeweihte Weiße draußen weiter.

Menschen ersetzten sein Blut. Crazy Craigs Hinrichtungsbefehle wurden per Kassiber im Gefängnis verbreitet, an einer Schnur befestigt wurden sie von Zelle zu Zelle geschleudert. »An alle aufrechten Soldaten im Knast oder auf der Straße«, so fingen die Mitteilungen an. Unterschrieben waren sie mit dem Motto »Steel forever, forever Steel«. Dazwischen ein Rachefeldzug. Die Namen von drei Verurteilten wurden genannt: Ein Mann. Eine Frau. Ein Kind. Verlangt wurde eine besondere Art der Hinrichtung. Alttestamentarische Vergeltung.

Menschen ersetzten seine Füße. Die Gefangenen schickten die Urteile hinaus in die Welt. Bauten sie mit dem Freimaurer-Alphabet verschlüsselt in ihre Briefe nach Hause ein. Stanzten sie in Blindenschrift auf Gerichtsunterlagen. Schrieben sie mit Pisse auf die Rückseite von Umschlägen, getrocknet blieben die Buchstaben unsichtbar, bis man das Papier ans Feuer hielt. Sie gaben sie im Besuchsraum weiter, eine von den Frauen schob ihrem Mann mit einem Kuss einen Ballon voll Dope zu, er flüsterte ihr die Todesurteile zurück. Sie verbreiteten sich in ganz Kalifornien überall dort, wo weiße Gangster und weißer Abschaum sich niedergelassen hatten. Sie wurden in Slabtown, Sun Valley und Fontucky gelesen. Von Freunden und Anwärtern weitergeleitet. Verbreitet von den Aryan Steel untergeordneten Gangs, die ihnen zuarbeiteten. Der Peckerwood Nation. Den Nazi Dope Boys. Den Blood Skins. Odin’s Bastards.

Menschen ersetzten seine Augen. Ein paar Skinheads in Huntington Beach – die auf Crank waren und drei Tage nicht geschlafen hatten – entwarfen Flugzettel. Sie versahen die Urteile mit Bildern, machten sie offiziell. Sie gaben die Todesurteile mündlich weiter. Erfanden Gerüchte dazu. Zogen Bilder aus dem Internet. Ein Porträt von dem Mann. Die Frau und das Kind zusammen abgebildet. Die Flugzettel machten die Runde. Leute prägten sich die Fakten ein, den Text, die Gesichter.

Menschen ersetzten seine Hände. Es dauerte nur wenige Tage, bis die Flugzettel einen Mann erreichten mit tätowiertem Hals und dem Ehrgeiz, reich zu werden. Adressen wurden bereitgestellt. Pläne entworfen. Waffen gesichert. Blutschwüre geleistet.

Sein Wille geschehe.

TEIL I

DAS MÄDCHEN VON DER VENUS

Inland Empire

1

POLLY

Fontana

Sie ließ die Schultern hängen wie ein Loser, versteckte ihr Gesicht hinter den Haaren, aber sie hatte Augen wie ein Revolverheld.

Die Augen von ihrem Dad, sagte ihre Mom, meist nach ein paar Whiskey-Pops, wenn sie es hinbekam, über ihren Ex zu sprechen, ohne von Wut vergiftet zu werden. Dann zerkaute sie das Eis und erzählte Polly von seinen besonderen, strahlend blauen Augen. Und dass Wild Bill Hickok, Jesse James und Kampfpiloten die gleichen hätten. Dass Scharfschützenausbilder Rekruten mit genau solchen hellen, blauen Augen suchten. Polly sagte ihrer Mutter nicht, was sie wirklich dachte. Hätte sie’s getan, hätte sie gesagt, dass das mit den Revolverheldenaugen nach verkacktem Bockmist klang. Polly konnte gar keine Revolverheldenaugen haben, weil sie kein Revolverheld war. Polly war niemals gewalttätig, gegenüber nichts und niemandem, außer der Haut an ihren Fingernägeln und ihren Lippen, die sie wund kaute.

Polly hielt also nicht viel von Revolverheldenaugen. Jedenfalls nicht, bis sie eines Tages zur Tür der Fontana Middle School herausspazierte und in die Augen ihres Vaters starrte.

Revolverheldenaugen, ungelogen. Hellblau, genau wie ihre eigenen, aber da war noch was anderes, das Pollys Herz bis ins Genick schlagen ließ. Später erfuhr sie, dass Augen nicht nur spiegeln, was sie gerade sehen. Sie spiegeln auch das, was sie vorher gesehen haben.

Polly hatte ihren Dad über die Hälfte ihrer elf Jahre nicht gesehen, aber sie erkannte ihn ohne jeden Zweifel. Und als sie ihn dort entdeckte, wusste sie noch etwas. Er musste ausgebrochen sein. Ihr Dad war einer von den Bösen, ein Gangster, und eigentlich gehörte er ins Gefängnis. Ihre Mom hatte gesagt, er habe lieber einer von den Bösen sein wollen als ein Ehemann oder ein Vater. Polly wusste, dass er manchmal Briefe geschickt hatte, aber ihre Mom hatte ihr nie erlaubt, sie zu lesen, und vor ein paar Jahren hatte er aufgehört, welche zu schreiben. Sie wusste, wenn man einen Vater hatte, der einer von den Bösen war, war das praktisch so, als hätte man gar keinen. Besonders wenn er im Gefängnis saß. Sie hatte ihre Mom sagen hören, dass er noch mindestens vier Jahre vor sich hatte, vorher würden die nicht mal darüber nachdenken, ihn rauszulassen, und auch dann nur, wenn er sich gut benommen hatte. Ihre Mom hatte starke Zweifel, dass Nate McClusky dazu überhaupt in der Lage war.

Wenn er jetzt also hier stand und nicht in Susanville saß, dann musste er ausgebrochen sein. Polly fragte sich, ob sie weglaufen oder nach einem Erwachsenen schreien sollte, nach den anderen Eltern oder einem Lehrer. Aber sie tat nichts. Sie stand einfach nur da, erlaubte sich, vor Angst zu erstarren.

Vielleicht würde sie aber gar nicht schreien oder um Hilfe rufen müssen. Hätte ein Erwachsener hingesehen, hätte ein Blick genügt, um zu merken, dass hier was nicht stimmte. Ihr Dad sah nicht aus, als würde er zu den anderen Eltern gehören, die alle weiche Elternkörper hatten, weiche Elternaugen. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt und er war überall tätowiert. So was zeichneten die Jungs in ihrer Klasse hinten auf die Rückseiten ihrer Schulhefte, Drachen und Adler und Männer mit Äxten. Seine Muskeln waren so kräftig und klar definiert, dass es fast aussah, als hätte er gar keine Haut, als wären die Tattoos direkt auf die Muskeln gestochen. Die Haare, die auf den Bildern genauso strohblond waren wie ihre eigenen, hatte er abrasiert. Seinen Gesichtsausdruck kannte Polly weder von den Bildern, die sie im Laufe der Jahre von ihm gefunden hatte, noch aus ihrer verschwommenen Erinnerung. Sie kam nicht drauf, was sein Blick zu bedeuten hatte, aber wegen ihm fühlte sie sich noch schlechter.

Der Tag war heiß und der Himmel schmutzig, die Kinder gingen schnell zu den klimatisierten Autos ihrer Eltern. Sie ignorierten Polly, so wie Löwen mit Blut am Maul Gazellen ignorieren, weil sie gerade erst gefressen haben. Selbst in dieser verrückten Sekunde, in der sich ihr entflohener Sträflings-Dad wie in einem Horrorfilm über sie beugte, war Polly – so wie alle Loser – erleichtert, nicht beachtet zu werden.

Madison Cartwright, die damals in der vierten Klasse als Erste Pudding-Arsch zu Polly gesagt hatte, rempelte sie an, sie war zu sehr mit ihrem Handy beschäftigt, um zu schauen, wohin sie ging. Madison hatte immer neue Klamotten und sogar schon Titten und bewegte sich so geschmeidig durchs Leben wie auf dem Mond. Von ihrem bösen Blick wurde Polly heiß, als schössen Superman-Strahlen aus ihren Augen. Madison machte den Mund auf, um irgendwas messerscharf Schneidendes zu sagen. Dann sah sie Pollys Dad mit seinen Muskeln, den tätowierten Drachen und den Revolverheldenaugen. Sie drehte sich um und ging schnell weg, bekam dabei den Mund nicht mehr zu, was so bescheuert aussah, dass Polly gelacht hätte, wäre sie nicht kurz vorm Heulen gewesen.

Jetzt war nur noch verschmutzte Luft und Schweigen zwischen ihnen, als Polly und ihr Dad dort standen wie bei einem High-Noon-Duell in einem der Western, die ihr Stiefvater so gerne schaute.

»Polly«, sagte ihr Dad, seine Stimme kratzig wie Wolle. »Kennst du mich? Weißt du, wer ich bin?«

Ihre Zunge fühlte sich zum Reden zu dick an, also nickte sie, ja.

Sie dachte kaum nach, griff hinter sich an den Kopf ihres Teddybären, der aus dem Rucksack schaute, und fasste ihm ans Ohr. Das half, tat es immer. Sie verkniff es sich, den Bären rauszuziehen und an sich zu drücken.

»Hör gut zu«, sagte ihr Dad. »Du kommst mit. Jetzt sofort, keine Zeit für Theater.«

Er drehte sich um und ging auf die Straße. Ihr Gehirn riet ihr, ihm nicht zu folgen. Ihr Gehirn riet ihr, lauf wieder rein und suche Mr. Richardson. Es riet ihr zu schreien, Hilfe Hilfe Hilfe.

Aber sie tat nichts davon. Obwohl sie eigentlich unbedingt weglaufen wollte, folgte sie ihm. Schob das Bedürfnis abzuhauen, um Hilfe zu rufen, dorthin, wo sie immer alles hinschob. Was sollte sie sonst machen?

Er führte sie zu einem alten Opa von einem Auto, alle Scheiben waren heruntergekurbelt. Sie stieg ein, den Rucksack zwischen den Knien, so dass der Bär mit seinem einzigen verkratzten schwarzen Auge zu ihr aufsah.

Die silberne Abdeckung fehlte, da wo man sonst den Schlüssel ins Lenkradschloss steckt. Stattdessen ragten Kabel heraus. Ihr Dad griff unter den Sitz und zog einen langen, stumpfen Schraubenzieher hervor, rammte ihn in das Loch und drehte. Der Wagen hustete. Sprang aber nicht an.

Polly brachte den nicht vorhandenen Schlüssel mit der Tatsache zusammen, dass ihr Dad einer von den Bösen war, und begriff, dass sie in einem gestohlenen Auto saß. Sie sah aus dem Fenster zurück zur Schule, als könnte sie dort vielleicht noch die echte Polly unter dem schmutzigen Himmel stehen sehen.

Polly öffnete ihren Rucksack weit genug, um den Bären herauszuziehen.

Er war dreißig Zentimeter groß und braun, nur an den Pfoten, Ohren und der Schnauze war er weiß, wobei die weißen Stellen eigentlich nicht mehr richtig weiß waren. Sie hatten eher die Farbe von dem Packpapier, das Polly im Kunstunterricht verwendete. Eines seiner schwarzen Glasaugen fehlte, zurückgeblieben war nur noch ein trockener Kleberrest, als hätte er den grünen Star. Sie nahm den Bären mit geübten Händen, so dass er auf ihrem Schoss stehen und sich umsehen konnte. Sie hatte Stunde um Stunde mit ihm geübt, bis er sich geschmeidig und elegant bewegte, wie ein echtes Lebewesen.

»Mensch, Mädchen«, hatte ihre Mom einmal gesagt. »Manchmal hab ich das Gefühl, ich weiß besser, was in dem ausgestopften Bären vorgeht als in dir.«

Als sie die Stimme ihrer Mom im Kopf hörte, fragte Polly sich, wo sie war. Wieso ließ sie zu, dass das hier mit Polly geschah?

»Bist du nicht ein bisschen zu alt für einen Teddybär?«, fragte ihr Dad.

Der Bär schüttelte den Kopf, nein. Ihr Dad musterte Polly so, wie die Leute das immer machten, wenn sie den Bären bewegte, als wäre er lebendig. In dem Blick steckte eine Frage: Tickst du nicht richtig?

Polly fand nicht, dass sie nicht richtig tickte. Sie wusste, dass sie zu alt war für einen Teddybären. Sie wusste, dass der Bär nicht lebendig war. Sie wusste, dass er nur aus Füllmaterial und Plüsch bestand. Aber es war ihr egal.

Wahrscheinlich tickte sie nicht richtig.

Sie sah den Bären in ihren Händen tanzen, bis sie ruhig war, sich lange genug konzentrieren konnte, um die Frage zu stellen, die sie gleich hatte stellen wollen, als sie ihren Dad gesehen hatte.

»Bist du ausgebrochen?«

Ihr Dad schnaubte durch die Nase, ein entfernt mit einem Lachen verwandtes Geräusch.

»Nein. Mein Scheiß-Anwalt hat mich rausgehaun.«

Polly wusste nicht, was das bedeutete, und das machte alles noch schlimmer. Ein Ausbruch war wenigstens ein Begriff, den ihr Gehirn kannte und den sie verstand. Mit raushaun konnte sie nichts anfangen.

Er brachte den Motor dazu, anzuspringen. Aber noch bevor er ausparkte, entdeckte er etwas im Rückspiegel und richtete sich kerzengerade auf. Polly drehte sich um, wollte sehen, was er sah. Ein Polizeiwagen fuhr vorschriftsmäßig langsam – wegen der Schule – an ihnen vorbei. Polly hatte ein Gefühl, das sie nie zuvor gehabt hatte, als wäre die ganze Welt und alles darin nur eine Glasscheibe, die jeden Augenblick zerbersten konnte.

Der Polizeiwagen rollte außer Sichtweite. Ihr Dad sagte etwas zu sich selbst. Für Polly klang es wie verfluchter wandelnder Zombie, aber warum sollte jemand so was sagen?

Der Polizist war verschwunden, aber das Gefühl, dass die ganze Welt, die ihr noch vor ein paar Minuten so stabil vorgekommen war, nur aus Glas bestand, verließ Polly nicht. Jetzt nicht und nie mehr wieder.

Ihr Dad fädelte sich in den Verkehr ein. Polly sah sich kurz im Seitenspiegel und wusste plötzlich, was der Gesichtsausdruck bedeutete, den sie nie zuvor an ihrem Dad gesehen hatte. Ein Ausdruck, der bei Polly so normal wirkte, und im Gesicht ihres Vaters so verkehrt.

Der Ausdruck in seinem Gesicht war Angst.

2

POLLY

Fontana/Rancho Cucamonga

Ihr Dad umklammerte das Lenkrad, als wollte es ihm aus den Händen springen. Er fuhr langsam, blinkte immer, wenn er die Fahrbahn wechselte oder abbog. Er sagte kein Wort. Parkte auf dem Platz vor so einem großen Sportgeschäft, wo man alles kaufen kann, vom Baseball bis zum Kanu.

»Bleib sitzen«, sagte er. »Wenn jemand was von dir will, drück auf die Hupe. Ich spitz die Ohren.«

Sie sah ihn in das Geschäft gehen. Und merkte, dass sie pinkeln musste, dringend. Vermutete, dass sie schon eine ganze Weile lang musste, sich aber zu große Sorgen gemacht hatte, um es zu merken. Kaute an ihrem Daumen, fand ein Stückchen Haut dicht am Nagel, biss drauf und zog daran, bis es weh tat. Trat mit den Füßen gegen das Armaturenbrett, dong dong dong. Kramte in ihrem Rucksack, fand die neuen Bücher aus der Bibliothek. Eins über UFOs. Polly las gerne über das Weltall, was ja logisch war, da sie von der Venus kam.

Sie war neun gewesen – drei Jahre, nachdem ihr Dad weggegangen war, das Jahr, in dem er aufgehört hatte, ihr zu schreiben –, als sie zu dem Schluss kam, dass sie auf der Venus geboren worden sein musste. Sie dachte nicht wirklich, dass sie von einem anderen Planeten stammte – Polly wusste genau, wo sie herkam, und sie glaubte nicht an Außerirdische. Aber sie war trotzdem von der Venus.

Darauf war sie ungefähr zur selben Zeit gekommen, als sie auch aufgehört hatte, ihre Hausaufgaben zu machen. Beim ersten Mal hatte sie sie einfach vergessen. Ms. Phillips, ihre Lehrerin in der fünften Klasse, hatte sie zur Strafe in der Pause drin behalten, aber natürlich war das gar keine Strafe gewesen. Polly, die auf dem Pausenhof meist sowieso nur Beute für andere Kinder war, saß zufrieden mit ihren Büchern an ihrem Schreibtisch, während draußen der Pausenlärm tobte. Aber sie las nicht ihre Schulbücher, die so langweilig und blöd waren, dass sie sich am liebsten büschelweise die eigenen Haare ausgerupft hätte. Sie las, was sie lesen wollte. In der Pause lernte sie mehr als im Unterricht. Und schwor sich, niemals wieder Hausaufgaben zu machen.

An einem Tag der darauffolgenden Woche kam der Schuldirektor zu Ms. Phillips in die Klasse und holte Polly raus. Sie erinnerte sich, dass ihre Schritte unglaublich laut im Gang hallten und sie das Gefühl hatte, etwas Verbotenes zu tun, weil sie während des Unterrichts durchs Schulgebäude lief. Er ging mit ihr in einen Raum, in dem eine Frau in einem weißen Pullover an einem Tisch saß und sie bat, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Polly erinnerte sich, dass die Frau Lippenstift auf den Zähnen hatte und damit aussah wie ein Vampir nach dem Essen.

Der Vampir ließ Polly ein paar Labyrinthrätsel lösen und stoppte die Zeit. Er zeigte Polly eine Liste mit Wörtern und fragte sie, was sie miteinander zu tun hatten. Dann ließ er Polly einzelne Bausteine zusammensetzen.

»Sie hat mir so eine Grafik gezeigt«, hatte Mom später im Wagen gesagt, »so«, und mit einem verkratzten blauen Fingernagel einen Buckel in die Luft gemalt, »und hat gesagt, das ist eine Kurve, die zeigt, wie schlau jemand ist. Die meisten sind in der Mitte, hat sie gesagt. Mir kommt’s eher so vor, als wären die meisten eher dumm, aber egal. Sie meinte, die Bescheuerten – sie hat nicht bescheuert gesagt, aber das hat sie gemeint – sind alle ganz links von der Kurve. Und du bist ganz weit rechts, hat sie gesagt.«

Sie warf Polly einen Blick von der Seite zu, als wäre das ein Geheimnis, das Polly ihr vorenthalten hatte. Polly verrenkte sich innerlich, nahm aber den Blick nicht vom Buch, betrachtete ein Bild von der Venus. Eine weiße Perle im All. So ruhig sah sie aus. Friedlich war das Wort, das im Buch verwendet wurde, und das war doch was Gutes, oder?

Polly las weiter, und in dem Buch stand, dass die Venus zwar ganz ruhig wirkt, aber dass das nur von außen so aussieht. In Wirklichkeit bestand die scheinbar ruhige Oberfläche aus Säurewolken, und unter der ruhigen Himmelsdecke gab es nichts außer zerklüfteten Felsen und tosenden Stürmen. Polly las über diesen Perlenplaneten, auf dem es stürmte, und plötzlich rülpste ihr der Gedanke vollständig ausgebildet aus dem Gehirn: Ich bin von der Venus. So kam sich Polly vor, äußerlich still und ruhig, aber in ihrem Inneren tobten ätzende Wirbelstürme. Sie hatte nie gewusst, warum sie so war, so still nach außen und innerlich so kreischend laut, aber jetzt wusste sie’s.

Ich bin von der Venus.

Vielleicht war das der Grund, weshalb ihr Gehirn nicht so zu funktionieren schien wie die Gehirne anderer. Warum es niemals still hielt. Warum sie nicht so frei und locker mit den Menschen reden konnte wie andere. Warum die anderen Kinder sie von sich stießen. Sie rochen, dass sie von der Venus war, auch wenn’s eigentlich gar nicht stimmte. Das spielte keine Rolle. Entscheidend war nur, dass es wahr war.

Jetzt auf dem Parkplatz des Sportgeschäfts schrie Pollys Venuskindergehirn immer wieder dieselben Fragen.

Wieso hatte ihr Dad sie abgeholt? Wieso fuhr er einen gestohlenen Wagen? Wieso schaute er sich ständig um? Wo war Mom?

Selbst wenn er nicht ausgebrochen wäre, selbst wenn der Wagen nicht gestohlen gewesen wäre, wusste Polly gut genug, was ihre Mom von ihrem Dad hielt, und sie hätte ihn bestimmt nicht geschickt, Polly abzuholen. Sie hätte ihre Nachbarin Ruth geschickt, oder in der Schule angerufen, oder vielleicht sogar Pollys Stiefvater Tom geweckt, der nachts arbeitete und tagsüber schlief.

Lauf weg, sagte ihr Gehirn. Steig aus dem Wagen und renn. Mom will nicht, dass du hier bist.

Polly steckte die Bücher und den Bären in ihren Rucksack. Sie legte die Hand auf den Türgriff. Ein langer Augenblick verstrich. Irgendwas in ihr verhinderte, dass sie sich bewegte, etwas von den ätzenden Wirbelstürmen Gepeitschtes. Ihr Dad kam mit einer Plastiktüte aus dem Geschäft. Polly nahm die Hand vom Griff. Innerlich hatte sie ihren Vorstellungen freien Lauf gelassen, äußerlich aber nichts getan. Sie war von der Venus.

Beim Fahren blinzelte sie in die untergehende Sonne. Er checkte in einem Motel in Rancho Cucamonga ein, auf der anderen Seite vom Speedway. Unterwegs hatten sie Halt gemacht und Fast Food gekauft.

Im Motel roch es nach verbranntem Gummi. Die Sonne stand tief am Himmel. Sie leuchtete orange durch die Fenster, verwandelte ihren Dad, als er die Tür hinter ihnen schloss, in einen großen schwarzen Umriss, eingerahmt von Licht. Polly rannte ganz schnell aufs Klo und pinkelte, hatte Angst, er würde es plätschern hören.

Als sie zurückkam, sah sie, dass ihr Dad die Tüte aus dem Sportgeschäft auf den Tisch neben der Tür geleert hatte. Polly fischte sich Chicken Nuggets aus der Fast-Food-Tüte und setzte sich aufs Bett. Sie hielt dem Bären den Strohhalm ihrer Orangenlimo an die Schnauze. Der Bär rieb sich mit einer Pfote über den Bauch, machte mmh, lecker.

Ihr Dad packte eine Sache nach der anderen aus der Tüte aus. Ein Baseballschläger aus Metall für Kinder. Einen schwarzen Kapuzenpulli und eine schwarze Jogginghose. Eine schwarze Skimaske. Ein langes, gefährliches Jagdmesser, das Polly wie eine Schlange anzischte.

Er nahm den Kinderschläger, drehte ihn um und fasste ihn am dicken Ende. Das dünne hielt er Polly hin.

»Komm, nimm«, sagte er. Sie zwang einen Bissen Chicken Nugget runter, der auf einmal riesengroß in ihrem Rachen wurde, als sie ihn zu schlucken versuchte. Sie nahm den Schläger. Er war kalt in ihren Händen. Und sie merkte, dass sie glühte. Er zog das Kissen vom Sessel in der Ecke und hielt es hoch.

»Ich will, dass du ausholst und draufhaust«, sagte er. Sie sah zu dem Bären, als könnte der sie retten, aber natürlich konnte er das nicht.

»Vergiss den Bären«, sagte ihr Dad, ein Blick wie mach bloß keinen Scheiß. »Zeig mir, was du kannst.«

Sie holte aus. Es kam ihr wacklig und falsch vor. Der Schläger glitt mit einem dumpfen Schnaufen vom Kissen ab. Turnhallenalpträume spulten sich in ihrem Kopf ab. Erinnerungen an Kinder, die sie mit gelangweilten, grausamen Blicken beobachteten, während sie sich mit Rumpfbeugen abmühte und keinen Radschlag hinbekam.

»Ach, komm«, sagte ihr Dad. »Das reicht nicht.«

Er kniete sich neben sie, so dass sie das Salz und den Gestank an ihm riechen konnte. Ihr Gehirn spuckte eine Handvoll halbfertiger Erinnerungen aus, die sich alle in diesem Geruch verhedderten. Er nahm ihre Ellbogen in seine rauen Hände. Packte ein Fußgelenk, zog dran, stellte sie breitbeiniger hin. Sie verlor das Gleichgewicht, fing sich an seiner Schulter ab, zog schnell die Hand zurück.

»Komm schon«, sagte er. »Du musst die Basis stabilisieren. Die Bewegung muss aus dem Körper kommen, nicht nur aus den Armen.«

Wieder holte sie aus. Dasselbe Gefühl von Unbeholfenheit. Dasselbe Kissenschnaufen. Er stellte sich anders hin. Schnaubte. Die Erinnerungen an den Sportunterricht verdichteten sich. Sie holte erneut aus. Wieder entwich Luft. Er warf das Kissen weg. Sie sah, dass er wütend war und es sich nicht anmerken lassen wollte. In ihr tobten ätzende Wirbelstürme.

»Das reicht«, sagte er. »Wenn ich gehe, verrammelst du die Tür. Schieb einen Stuhl unter den Griff. Lass keinen rein außer mir.«

Er klopfte zweimal, machte eine Pause, klopfte noch drei Mal.

»Das ist das Zeichen. Wenn ich nicht so klopfe, lässt du auch mich nicht rein. Wenn jemand die Tür eintritt, schlägst du mit dem Schläger nach ihm, direkt aufs Knie. Hol weit aus. Gib’s dem Dreckschwein. Bis er zu Boden geht. Dann ziehst du ihm den Schläger, so fest du kannst, über den Kopf.«

Genauso gut hätte er sagen können, sie solle fliegen.

»Ich kann nicht …«

»Ich hab gesagt, so fest du kannst. Versteck dich nicht unter dem Bett oder sonst so ein blöder Scheiß. Die wissen schon, dass sie unters Bett schauen müssen. Hau einfach drauf und dann rennst du, so schnell du kannst. Wenn du jemanden siehst – und ich meine ganz egal wen – mit einem tätowierten blauen Blitz auf dem Arm, haust du drauf, immer und immer wieder. Du hörst erst auf, wenn er sich nicht mehr rührt.«

Nie war ihr so sehr bewusst gewesen, dass ihr Körper aus Blut bestand. Sie war randvoll davon. Sie spürte ihren Puls überall, ein Pochen in den Fingerspitzen, ihr Herz war wie ein Stiefel in ihrer Brust, es rauschte in ihren Ohren. In ihr war so viel Blut, da war kein Platz mehr für Luft.

»Ein blauer Blitz. Auf dem Arm«, sagte er. »Das heißt, das sind die Bösen, deshalb ist es auch keine Sünde, wenn du ihnen den Schädel einschlägst. Und jetzt tu, was ich dir gesagt habe.«

Er nahm die Tüte und ging ins Bad. Draußen war es Nacht geworden. Die Badezimmertür war nur vier Schritte von Polly entfernt. Sie ging nicht darauf zu. Er kam in der schwarzen Jogginghose und dem Kapuzenpulli raus. Die Skimaske steckte in einer Tasche. Das Messer in der anderen.

»Und du bleibst hier in diesem Raum«, sagte er. »Ich mein’s ernst. Es geht um Leben und Tod, hast du gehört?«

Angst überkam Polly, als würde sie darin ertrinken.

»Geh nicht«, sagte sie. Mit den Worten entwich auch alles, was in ihr tobte. Das Heruntergeschluckte bildete einen harten Klumpen in ihrer Kehle.

»Scheiße«, sagte er, »ich weiß, dass du Angst hast. Ich will dich nicht anlügen und dir sagen, dass du keine Angst haben musst. Es ist was passiert, krasse Sachen. Ich hab meine Gründe, warum ich mache, was ich mache. Aber ich sorge dafür, dass alles gut wird. Ich werde …«

Und dann stand er da, als wollte er noch was sagen, oder vielleicht auf sie zugehen, sie festhalten und umarmen, so wie er es seit Jahren nicht getan hatte, aber er tat es nicht. Er blieb einfach nur dort stehen und starrte zu Boden.

»Bitte.« Sie wollte schreien, aber es kam nur als heiseres Krächzen heraus.

»Hör nicht auf, draufzuhauen«, sagte er und ging.

Polly stand im Dunkeln. Jedes Geräusch der Nacht prallte von ihr ab, als hätte sie Fledermaussinne. Sie ging zur Tür und legte ihre Hand auf den Griff. Schloss die Augen. Im Kopf sah sie gesichtslose Männer mit tätowierten blauen Blitzen und Zähnen wie gelbe Sägeblätter.

Ich kann nicht wegrennen. Ich kann nicht.

Sie wandte sich von der Tür ab. Nahm den Baseballschläger und legte ihn neben sich ins Bett. Drehte sich zur Seite um. Hielt den Bären in den Armen. Der Bär streichelte sie mit einer schmutzigen Pfote, ei ei, ei ei. Davon ging es ihr besser. Es spielte keine Rolle, dass der Bär nicht echt war. Dafür war er wahr.

3

NATE

Fontana

Avis, seine Ex, so zu finden, erstochen im dunklen Schlafzimmer auf dem Boden neben ihrem neuen Mann, verriet Nate nicht alles, was er wissen musste. Das tat die Zigarettenasche oben auf der Bierdose auf dem Wohnzimmertisch, sie gab Nate die Antwort, die er gesucht hatte. Die Antwort auf die Frage, die ihm immer und immer wieder durch den Kopf gehallt war, eingegeben vom Geist seines Bruders Nick.

Machen die Jagd auf sie?

Als er Polly im Motel zurückgelassen hatte und bei Avis eingestiegen war, hatte er noch nicht gewusst, dass er die vollgeaschte Bierdose finden würde. Er hatte gedacht, er würde Avis’ Leiche finden, und so war es auch gewesen, aber das war nur ein Teil der Antwort, die er brauchte. Sie hatte ihm verraten, dass er verdammt und Avis und ihrem neuen Mann zum Verhängnis geworden war, weil er so lange überlebt hatte. Aber nicht, was er jetzt machen sollte.

Nate hatte seinen Vater nie richtig kennengelernt – er war bei einem Unfall auf der Baustelle umgekommen, als Nate vier war –, sein Bruder Nick hatte ihm alles beigebracht. Nicht was man in der Schule lernt, was natürlich Mist war, sondern was man über die Welt wissen musste, um ein Mann zu sein. Nick hatte Nate beigebracht, wie man redet und wie man kämpft, wann Lügen okay ist und wann nicht. Er hatte ihm beigebracht, dass man am stärksten ist, wenn man die größten Schmerzen aushält. Mit elf hatte er ihn ins Fitnessstudio mitgenommen und ihm beigebracht, wie man Schläge einsteckt, das Brennen runterschluckt. Als Nate sechzehn war, war er mit ihm zu einem Getränkeladen gefahren, hatte ihm eine Pistole und eine Maske in die Hand gedrückt und ihm beigebracht, wie man einen Überfall macht, wie gut sich das anfühlt und dass ein fester Job ehrenrührig und es besser ist, wenn man sich einfach nimmt, was man braucht. Er hatte Nate so sehr beeinflusst, dass er, als er ins Gefängnis kam und von seinem Bruder getrennt wurde, ständig Nick im Kopf hörte, wie er ihm sagte, was er tun solle, und auch später, als Nick schon tot war, hatte Nate seine Stimme noch genauso laut und deutlich in den Ohren wie eh und je, so dass Nate gar nicht gewusst hätte, wer er ohne sie eigentlich war.

Machen die Jagd auf sie?

Avis’ Ehemann hatten sie den Schädel eingeschlagen, er lag in seiner Unterhose mit dem Gesicht nach unten im Bett, anscheinend hatten sie ihn schlafend überrascht. Die Fenster in dem Zimmer, in dem Nate die beiden gefunden hatte, waren mit Klebeband abgedichtet, außerdem stand da so eine Schlafhilfe, die beruhigend rauschte, was alles auf einen Tagschläfer hindeutete. Nate erinnerte sich, dass er in einer Batterienfabrik arbeitete und Nachtschichten übernahm.

Sie mussten ihn zuerst erledigt haben. Avis war hier auf dem Boden gestorben, sie hatte sich gewehrt, das Küchenmesser noch in der Hand. So verdreht, wie ihr Körper war, wie sie das Gesicht von ihm abwandte, so dass er den tätowierten Stern in ihrem Nacken sehen konnte, das würde Nate nie mehr vergessen, das wusste er.

An dem Tag, an dem sie sich den Stern hatte stechen lassen, waren sie betrunken gewesen, tagsüber im Sommer, die beste Art überhaupt, betrunken zu sein. Sie waren frisch verliebt, standen wie unter Hochspannung, die beste Art von Verliebtsein, die es gibt. Sie war Kellnerin im Laden einer Restaurantkette. Er vertickte Gras und machte hin und wieder mit seinem Bruder Nick ein paar Überfälle. Sie behauptete, sie würde drauf stehen, dass er ein Gangster war, aber manchmal sagte ihr Blick etwas anderes.

Sie waren mit dem alten Dodge Cabrio zu einem Getränkeladen gefahren – Nate und Nick hatten genau denselben erst einen Monat vorher überfallen, was natürlich den Nervenkitzel steigerte – und hatten Plastikbecher voll Eis, Cola und einen halben Liter Whiskey geholt. Die Hälfte von der Cola tranken sie so schnell, dass sie Kältekopfweh bekamen, dann gossen sie den Rest mit Whiskey auf. Unterwegs zum Tattoostudio fragte er sie, warum sie einen Stern wolle und wieso im Nacken. Sie hatte gegrinst und gesagt, für sie sei das was Besonderes und eines Tages würde sie’s ihm sagen, und er hatte sie nicht weiter gedrängt, weil sie noch genug Zeit hatten und niemals sterben würden.

Er hielt ihre Hand, während der Tätowierer ihr den Stern stach, knapp unter der Stelle, wo die Wirbelsäule an den Schädel anschließt. Er ließ sie lügen, dass es nicht weh tat. Danach fuhren sie von der Sonne verschwitzt mit offenem Verdeck Richtung Fontana, sie befingerte den frischen Verbandsmull in ihrem Nacken und lächelte ihr Raketenlächeln und sagte, sie müssten rechts ranfahren. Er fuhr hoch in die Berge. Sie fielen schon übereinander her, da war der Wagen noch nicht richtig zum Stehen gekommen. Als Nate in sie stieß, hob er den Kopf hoch in die Luft, als würde er einen Triumphschrei ausstoßen. Er blickte nach oben und sah einen Kondor kreisen, der nachsah, ob sie tot waren. Jetzt erinnerte er sich, wie er ihre feuchte Haut auf seiner gespürt, das Tier in ihren Augen gesehen und gedacht hatte, sie würden niemals sterben. Heute nicht und niemals.

Heute nicht und niemals, dachte er, als er über ihrer Leiche stand. Seine Finger griffen sinnlos ins Leere. Er wollte die Welt erwürgen, wenn er sie nur an ihrer verfluchten Kehle zu fassen bekommen hätte.

Aber die Wut in ihm. Die war überhaupt an all dem schuld. Seine Wut auf jeden, der ihn zu irgendwas zwingen oder ihm sagen wollte, was er zu tun hatte.

Ich hätte mich von Chuck abstechen lassen sollen. In Susanville hätte ich für meine Sünden sterben können.

Ich sollte nach oben gehen, die Waffen von ihrem neuen Mann suchen und rausfinden, wie ein Pistolenlauf schmeckt.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.