9,99 €
Nachtigall & Co.: Vorhang auf für zwei smarte Detektivinnen! Berlin, 1961. Seit dem Tod ihres geliebten Vaters führt die 21-jährige Carla die Detektivagentur Nachtigall & Co. allein weiter. Die Auftragslage für die weibliche Detektivin ist alles andere als rosig. Als am Abend des 13. August plötzlich die lebenslustige und chaotische Wally vor der Tür steht und behauptet, sie sei Carlas Halbschwester, gerät ihre Welt aus den Fugen. Wally braucht dringend Hilfe, weil sie wegen des Mauerbaus nicht mehr in ihre Wohnung im Osten zurückkann. Carla will sie jedoch unbedingt wieder loswerden. Als eine Klientin aufgrund ihres gewalttätigen Ehemanns, einem angesehenen Architekten, Hilfe bei der Agentur sucht und bald darauf des Mordes verdächtigt wird, müssen die ungleichen Schwestern zusammenhalten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 531
Charlotte Printz
Die rätselhafte Klientin
Die Detektivinnen von Nachtigall & Co.
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für meinen Sohn Janosch
In der Brutwärme der Familie ersticken nicht nur Genies, auch der Mensch geht drauf.
Kurt Tucholsky
Du bist wo? Am Brandenburger Tor?« Carla schaffte es kaum, in den Redeschwall am anderen Ende einzuhaken. »Bei den Dreharbeiten, schon wieder? Du hast was? Ein Luftgewehr? Das darf doch nicht wahr sein!« Sie unterdrückte den Wunsch, den Hörer einfach auf die Gabel zu werfen, und blickte von ihrem Terminkalender auf die Uhr an der Wand gegenüber vom Schreibtisch. Konnte sie Lulu aus der Bredouille retten und rechtzeitig zu der Verabredung mit ihrer neuen Klientin zurück in der Agentur sein? Eher nicht!
»Bitte!«
Ihre Tante klang ungewohnt ängstlich und zerknirscht.
»Du musst sie davon überzeugen, die wollen mich sonst mit aufs Revier nehmen!«
Lulu war auch eine gute Schauspielerin.
»Ich flehe dich an!«, sie flüsterte nur noch. Im Hintergrund waren tatsächlich harsche Männerstimmen zu hören und dann sogar eine Polizeisirene.
»Ich komme so schnell ich kann!«, versprach Carla. Von all den abenteuerlichen Geschichten, die Tante Lulu ihr seit Vaters Tod ständig auftischte, war das mit Abstand die unglaublichste.
S-Bahn oder Taxi? Noch unschlüssig griff Carla nach den sommerlichen Spitzenhandschuhen. Das letzte Geschenk ihres Vaters. Es würde schon alles gutgehen – sie musste lachen, denn genau das war auch sein Credo gewesen. Sie vermisste ihn, nicht nur wegen all der Geschenke, die er ständig für jeden aus dem Hut gezaubert hatte. Ihre Mutter hatte ihn deshalb mit einem zynischen Unterton »den Herrn Rosinenbomber von Charlottenburg« genannt. Doch seit dem tödlichen Unfall gab es für niemanden mehr Rosinen, sie mussten sparen. Dann also S-Bahn.
Carla kontrollierte, ob sie genug Münzen in ihrer Handtasche hatte, schloss die Eingangstür zur Agentur Nachtigall ab, rannte nach oben in den zweiten Stock und rief »Bin gleich zurück!« zu ihrer Mutter in die Wohnung hinein und stürmte die Treppen hinunter.
Während sie durch die schwüle Sommerluft die Grolmanstraße vor zur S-Bahn am Savignyplatz eilte, beglückwünschte sie sich, dass sie heute nicht nur ihre »vernünftigen« Schuhe, sondern auch das neue Bouclé-Kostüm im Chanel-Stil angezogen hatte. Es war sicher von Vorteil, älter und seriöser auszusehen, falls ihre verrückte Tante sich wirklich mit der Polizei angelegt hatte.
Völlig außer Atem erreichte Carla den Bahnsteig und wie zur Belohnung für ihren Einsatz fuhren tatsächlich gerade drei ratternde Waggons ein und verbreiteten ihren leicht öligen Teergeruch.
Geschafft!
Im Inneren des Wagens schlug ihr eine betäubende Mischung aus Schweiß, Rauch und Kölnisch Wasser wie eine unsichtbare Wand entgegen. Sie versuchte, flach zu atmen. Prompt fing alles vor ihren Augen an zu flimmern und ihr wurde schwindelig. Sie beeilte sich, eine Haltestange zu finden, bevor die Bahn losfuhr.
Dieser elende Schwindel hatte vor einem Jahr angefangen, gleich nach dem Unfall, den ihr Vater, anders als sie, nicht überlebt hatte. Carla hasste dieses formlose Verschwimmen, das sich anfühlte, als würde sie die Kontrolle über alles verlieren. Die Ärzte behaupteten, es gäbe keinen Grund zur Sorge, sie könne vielmehr froh sein, dass sie ein schweres Schädel-Hirn-Trauma so gut überstanden hätte. Aber gut fühlte sich das gerade kein bisschen an.
Sie hielt sich an einer Stange fest, bis der Schwindel etwas nachließ, dann quetschte sie sich an einigen Männern vorbei, die nicht einmal von ihren Tageszeitungen aufsahen, als sie leise Entschuldigung murmelnd Platz nahm.
Erleichtert schloss sie für einen Moment die Augen und berührte den Würfel ihrer Glückskette, um sich zu sammeln. Keine gute Idee, so wurde es nur schlimmer. Besser ein Ziel anvisieren. Sie öffnete die Augen und sah aus dem Fenster, aber da bewegte sich zu viel.
Ihr Blick landete auf der Zeitung gegenüber, wo er von einem großen Foto von Kennedy geradezu magisch angezogen wurde. Und ihr Puls, der sich eben erst beruhigt hatte, begann wieder schneller zu hämmern, nicht wegen Kennedy selbst, sondern vielmehr, weil er sie an Richard erinnerte. Er und Kennedy hätten Brüder sein können, beide hatten diese etwas schlaksige Größe, das volle Haar mit der Tolle und dazu dieses ganz einzigartige, irgendwie elektrisierende Leuchten. Jeder noch so flüchtige Blick von Richard hatte ihr Inneres in flüssige Butter verwandelt, golden, warm und schwer hatte sie davon geträumt, sich an ihn zu schmiegen und seine Nähe zu atmen. Und schon nach vier Semestern hatte sie den Mut gefunden, auf ihn zuzugehen. War nach einem seiner Blicke zu ihm gegangen … doch dann hatte sie nur dagestanden und es nicht gewagt, das Wort an ihn zu richten. Carla betrachtete ihre Spitzenhandschuhe, sie hätte einen davon fallen lassen, dann hätte er ihn aufgehoben und dann …. Wie es sich wohl angefühlt hätte, seine elegante Tolle zu verwuscheln? Ihre Fingerspitzen fingen an zu kribbeln. Seidig waren seine Haare, da war sie sicher, mit einem starken Duft von Brillantine, Moos und frisch geschlagenem Holz.
Sie seufzte. Ihr Studium war Geschichte. Nach Vaters Tod hatten Mutter und sie ohne einen Pfennig dagestanden, weshalb sie die Agentur Nachtigall weiterführen musste, um Geld für sich und vor allem für ihre versehrte Mutter zu verdienen.
Um sich von all dem abzulenken, las sie den Text unter dem Foto von Kennedy in der Berliner Morgenpost. Es ging um eine Pressekonferenz, die er am 10. August, also vorgestern, zum Berlinproblem abgehalten hatte.
Kennedy wurde wörtlich zitiert: »Es hat eine gewaltige Bewegung von Ost nach West stattgefunden, die – das weiß ich natürlich – für die Kommunisten eine besorgniserregende Angelegenheit ist …« Also das wusste ja nun jeder in Berlin. Carla kniff die Augen etwas zusammen, um auch noch die nächsten Sätze entziffern zu können: »… weil dieses gewaltige Anschwellen des Stromes der Flüchtlinge, die das kommunistische System verlassen, um nach dem Westen und in die Freiheit zu gelangen, selbstverständlich ein eindeutiges Zeugnis für die Werte des Lebens in Freiheit und der offenen Gesellschaft gegenüber denen in einer geschlossenen Gesellschaft unter dem kommunistischen System ist.«
Warum redete Kennedy so um den heißen Brei, wieso sagte er nicht einfach, dass die Alliierten alles tun würden, um die Freiheit im Westen zu schützen?
Vater hatte Kennedy für einen eitlen Schwätzer gehalten. »Ein Politiker, der wegen seiner Haartolle keinen Hut trägt, hat keinen Respekt vor niemandem«, war seine Meinung, die er vor allem nach ein, zwei Gläschen Berliner Luft gern jedem mitteilte. Wahrscheinlich – und der Gedanke entlockte Carla ein trauriges Lächeln –, hatte er sich im Grab umgedreht, als der hutlose Kennedy im Januar als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden war.
Die S-Bahn hielt quietschend an. Durch die aufgehende Tür drang nur etwas stickige Sommerluft herein, aber immerhin wurde ein Platz gegenüber frei. Noch immer drei Stationen, bevor sie an der Friedrichstraße umsteigen musste. Du liebe Güte, das wird alles doch sehr knapp, überlegte Carla, nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. Was hatte Lulu sich nur dabei gedacht, mit einem Luftgewehr an der Grenze zum Ostsektor rumzuspazieren?
Gegenüber setzte sich eine kleine dralle Frau mit einem pompös überladenen Blumenhut. Sie zog eine Rolle saurer Drops aus ihrer Handtasche und steckte sich einen in den Mund. Carla konnte den Blick kaum von ihr wenden, denn die Frau und vor allem der Hut erinnerte sie an ihre Tante. Ein seltsamer Tag, ständig erinnerte jemand sie an jemanden anderen. Ob das mit dem Schwindel zusammenhing?
Als die Frau bemerkte, dass Carla sie anstarrte, bot sie ihr mit einem Zwinkern von den Bonbons an. Genau das hätte Lulu auch getan, allerdings hätte sie das mit einer dramatischen Zugabe garniert, etwa: »Die habe ich immer dabei, um frischen Atem für meine Kussszenen im Film zu haben. Wussten Sie schon, dass Walter Giller der beste Küsser überhaupt ist?«
Carla schüttelte den Kopf. »Vielen Dank trotzdem«, sagte sie und lächelte besonders freundlich. Es war nicht sehr nett, jemanden so anzustarren und dann Nein zu einem Bonbon zu sagen! Daran war einzig und allein der Film ›Emil und die Detektive‹ schuld. Monatelang hatte sie danach Albträume gehabt und seither nie wieder etwas von Fremden angenommen.
»Na denn nich!«, die Frau zuckte gelassen mit den Schultern, verstaute die Drops und nahm eine ›Constanze‹ aus ihrer großen Einkaufstasche. Dann zog sie einen ihrer Handschuhe aus, leckte genüsslich Zeige- und Mittelfinger an und blätterte durch die Zeitschrift, als wäre sie daheim im Wohnzimmer. Fasziniert beobachtete Carla, wie hingebungsvoll die Frau einen reich bebilderten Artikel über Farah Diba und den Schah von Persien verschlang.
Genau das hätte ihre Mutter auch zuerst gelesen, sie liebte königliche Schönheiten.
Oh Gott! Ihre Wangen wurden heiß. Sie hatte vergessen, Mutters Lieblingsmagazin zu besorgen. Dieses Versäumnis hatte Mutter natürlich mit keiner Silbe erwähnt und das würde sie auch unter keinen Umständen tun. Sie war stolz darauf, dass sie niemals klagte. Nie. Sie litt lieber stumm.
Als Carla eine gefühlte Ewigkeit später am Brandenburger Tor ankam, hörte sie schon das Kreischen der Autogrammjägerinnen – »Horst, Horst, Horst!« –, lange bevor Carla sie sehen konnte. Gut, dachte sie, dann kann es nicht mehr weit zum Set sein! Schnell lief sie zu den Absperrungen, die den Drehort vor Schaulustigen schützten.
Scharen von jungen Frauen warteten dort mit ihren Autogrammbüchern auf die Stars, die in ›Eins, Zwei, Drei‹ mitspielten. Carla verstand sehr gut, warum Lulu so gern eine Rolle in der Billy-Wilder-Komödie gehabt hätte: Die Hauptdarsteller waren James Cagney, Liselotte Pulver und natürlich der, nach dem sich hier die meisten verzehrten: Horst Buchholz.
Es hatte Lulu das Herz gebrochen, als man sich nach zwei erfolgreichen Castingterminen dann doch für ihre österreichische Kollegin Rose Renée Roth entschieden hatte, die damit zu Lulus Erzfeindin geworden war. Seit gedreht wurde, lungerte ihre Tante in der Nähe vom Drehort herum und versuchte, es allen Widrigkeiten zum Trotz doch noch in die Komödie zu schaffen.
Was hatte sie nur mit dem Luftgewehr vorgehabt? Die Erzrivalin ermorden? Ging das überhaupt mit einem Luftgewehr? Eher nicht. Aber was dann? Einem Grenzer die Kappe runterschießen, um in die Schlagzeilen zu kommen – ja, das passte schon eher zu ihr.
Immerhin verlief ganz dicht am Filmset der gut bewachte Übergang zur Sowjetzone, wo heute deutlich mehr Grenzer patrouillierten als sonst. Vermutlich, und der Gedanke entlockte Carla ein breites Lächeln, hatte Ulbricht Angst, dass noch mehr Volksgenossen zur Flucht in den Westen gelockt werden könnten. Schließlich ging es bei den Dreharbeiten auch um die verführerischste Droge, die der amerikanische Kapitalismus zu bieten hatte: Coca-Cola.
Je näher Carla dem Set kam, desto öfter fielen ihr auf der Straße merkwürdig verschrumpelte Luftballonhäufchen auf, die sie unwillkürlich an einen komplizierten, aber sehr gut bezahlten Fall erinnerten, bei dem sie gebrauchte Kondome als Beweismittel hatten sicherstellen müssen. Vater und sie konnten den Fall zwar erfolgreich abschließen, aber allein bei dem Gedanken daran, wie sie an die Kondome gekommen war, stellten sich ihr alle Haare auf. Sie schüttelte die Bilder daran ab und konzentrierte sich darauf, nach Lulu Ausschau zu halten. Darin war sie außergewöhnlich gut, ihr entging kein Detail sowohl auf den Straßen als auch in Innenräumen. Sie konnte auch Stunden später alles aus dem Gedächtnis detailgetreu aufzeichnen. Und nicht nur das, manchmal malte sie etwas, das sie gar nicht gesehen haben konnte, was aber tatsächlich zu diesem Ort gehörte, oder dort geschehen war. Während Carla das ziemlich beunruhigend fand, hatte ihr Vater das ganz pragmatisch mit dem kollektiven Unterbewusstsein erklärt. Das wäre weder magisch noch seltsam, sondern eine sehr nützliche Fähigkeit, und er ermutigte sie, diese Begabung noch weiter zu vertiefen, vor allem, nachdem Carla damit einige Male die Ermittlungen entscheidend vorangebracht hatte.
Weit und breit war weder Lulu noch Polizei zu entdecken. Unter den jungen Autogrammjägerinnen in Caprihosen und Petticoats wäre Lulu mit ihren exaltierten Hüten sofort aufgefallen.
Alle fünfzig Meter stand ein uniformierter Wachmann. An dem Tor, wo die Autogrammjägerinnen auf die Stars warteten, hielten sogar drei Uniformierte die Stellung.
Hinter der Absperrung aus Bauzäunen konnte man nicht viel sehen, außer dem Brandenburger Tor natürlich. Etwas versetzt zum Durchgang waren Gleise verlegt worden, auf denen ein Kamerawagen langsam von zwei jungen Kerlen hin und her geschoben wurde, weiter rechts brüllte jemand »Stoooppp!« in ein gewaltiges Megafon, woraufhin ein paar Statisten und der Kamerawagen zum Stillstand kamen.
Nirgends eine Spur von Lulu. Als sie sich umdrehte, um noch mal in die andere Richtung zu schauen, stieg ihr ein geradezu himmlischer Kaffeeduft in die Nase. Ein Kaffee würde ihr jetzt guttun. Aber nirgends war zu sehen, wo der Duft herkam und auch Lulu war nirgends zu entdecken. War sie irgendwie hinter die Absperrung gelangt? Am Telefon hatte sie gesagt, die Polizei würde sie festhalten. Polizisten waren aber nirgendwo zu entdecken – nur das private Wachpersonal und am Brandenburger Tor die Grenzer am Übergang zum sowjetischen Zonensektor. Grau und eingefroren wie Thüringer Zinnfiguren standen sie da.
»Horst, da ist er, der Horst!«, schrie eine Autogrammjägerin, zeigte auf einen Punkt hinter der Absperrung, rannte ein Stück weiter und versuchte, den Bauzaun zu verschieben. Die anderen folgten ihr kreischend.
Carla schirmte ihre Augen mit der flachen Hand ab und sah ihnen nach.
Tatsächlich lief Horst Buchholz gerade auf eine von zwei Buden zu, die ihr bisher noch gar nicht aufgefallen waren. Am Tresen der einen Bude stand Liselotte Pulver und nahm von einer Frau im weißen Kittel eine Tasse entgegen. Neben dem Kaffeebüdchen befand sich ein größerer Imbisswagen, von dem jetzt auch noch ein verlockender Duft von gegrillten Würstchen und Pommes zu ihr herüberwehte. Carlas Magen fing an, sehnsüchtig zu knurren. Ihre Käsestulle lag im Büro, und nachher war sicher keine Zeit mehr, sie zu essen. Ein Fehler, denn hungrig war sie nicht besonders gut darin, logisch zu denken.
Wo also steckte sie?
Ihre Tante hatte behauptet, die Polizei würde sie mitnehmen, wenn Carla nicht käme und diese abstruse Geschichte, die Lulu zu ihrer Entlastung aufgetischt hatte, bestätigen würde. Aber weit und breit war keine Polizei zu entdecken. Oder hatte sie doch einen der Grenzer gemeint? Das würde viel mehr Sinn ergeben, denn so nah am Ostsektor mit einem Luftgewehr herumzuspazieren war sicher ein Fehler. Was, wenn Lulu schon längst nach Hohenschönhausen abtransportiert worden war, weil sie zu frech gewesen war?
Du meine Güte, wie diese Würstchen dufteten!
Unwillkürlich sah sie zu den Buden hinüber, wo Liselotte Pulver gerade von einem Mann abgeholt wurde. Die Pulver nickte und lachte ihr unverkennbar herzhaftes Lachen, bei dem Carla sich daran erinnerte, wie sie letzten Juni stundenlang für Karten zur Filmpremiere von ›Ein Glas Wasser‹ im Zoo Palast angestanden hatte. Ein Geschenk für ihren Vater, er bewunderte Gustav Gründgens, sie liebte Lilo Pulver. Aber dann war der Unfall geschehen, und als sie Monate später die Karten in ihrem Schreibtisch wiederentdeckt hatte, war sie in Tränen ausgebrochen. Sie würden nie wieder etwas zusammen unternehmen. Stattdessen hatte sie sich um Mutter zu kümmern, und jetzt musste sie seine verrückte Schwester möglichst schnell finden und danach sofort zurückfahren. Sie konnte es nicht riskieren, dass die neue Klientin vor verschlossener Tür stand. Es gab schließlich jede Menge Privatdetekteien in Berlin.
Carla trat zu einem der Wachmänner an der Absperrung zum Filmgelände, in der Gewissheit, dass ihr seriöses Kostüm sie deutlich von den Autogrammjägerinnen abhob.
»Entschuldigen Sie, aber haben Sie hier irgendwo Polizei gesehen?«, fragte sie ihn. Er schüttelte den Kopf und verwies sie an einen Kollegen, der näher zum Brandenburger Tor stand. Sie lief zu ihm und fragte nach.
»Wat willste denn von denen?« Diesem Wachmann war offensichtlich langweilig und er genoss die Abwechslung. Grinsend warf er sich in seine beachtliche Brust, die in der dunkelblauen Uniform gut zur Geltung kam. »Bin ick dir nich jut genuch?«
»Nee, Ihnen kann keener!« Carla musste nicht mal lügen, denn der Mann war sehr attraktiv und in seinen Augen glitzerte der Schalk. »Aber die haben was, das Sie nicht haben!«
»Unmöglich!« Er musterte sie genauer, und hob anerkennend seine Augenbrauen.
»Doch, die haben meine Oma mitgehen lassen«, behauptete sie. Die meisten Menschen liebten ihre Oma, mit den Tanten hatte man es nicht so.
»So ne kleene uffjestumpte, mordsuffjetakelt mitn Hut un Jewehr?«
Verblüfft nickte Carla.
»Ne leider nicht.« Der Wachmann lachte freundlich.
Er wollte sie anscheinend auf den Arm nehmen.
»Ich kriege mächtigen Ärger, wenn ich die Oma nicht bald zurückbringe …« Carla wünschte, sie könnte sich ein paar Tränen abringen, aber die einzige Schauspielerin in der Familie war Lulu. Vielleicht würde ein Trinkgeld auch mehr bewirken.
»Na, denn will ick mal nich so sein. Allet juut.« Er zeigte auf die Imbissstände. »Die sind mit der …«, er zögerte, »Oma nach da drüben abjezischt und lassen sich’s jut gehn.«
Carla folgte seinem Blick, konnte aber nur Horst Buchholz erkennen, der gerade mit einer Flasche Bier James Cagney zuprostete.
Fragend sah sie den Wachmann an.
»Hinter der Bude sind die billijen Plätze für det Personal«, erklärte er.
»Und wie komm ich dahin?«
»Hamse vielleicht ne Zigarette?«
Na klar. Erste Lektion im Detektivgewerbe: immer Zigaretten am Mann. Carla klappte ihre Handtasche auf und zog ein Päckchen Lucky Strike raus.
»Gehört Ihnen!«
»Kiek an!« Er steckte das Päckchen ein, winkte seinem Kollegen und rief ihm zu: »Bin kurz Pause machen.« Dann schob er eine der Barrieren zur Seite und ließ Carla mit einer höflichen Geste den Vortritt. Sie war froh darüber, denn so prallten die mordlustigen Blicke der Autogrammjägerinnen an seinem Rücken ab, und niemand würde es wagen nachzufragen, was sie da zu suchen hatte.
Je näher sie dem Set kamen, desto verführerischer fand Carla den Duft nach Kaffee und Pommes. Überall wuselten Menschen zwischen Pappkulissen, Tischen voller Werkzeug und Garderobenwagen herum.
Links koppelte ein Arbeiter gerade einen Beiwagen an ein schwarzes schlammverkrustetes Motorrad. Der Wachmann seufzte. »Den hätt ich auch gern.«
»Ein dreckiges Motorrad?«
»Ne, dit hab ich schon, den Beiwagen hätt ich gern, um mit schönen Fräuleins oder ihren Omas durch Berlin zu gondeln.« Er warf ihr einen bewundernden Blick zu. Ob er mit jeder so viel Süßholz raspelte?
Einige Meter weiter füllten zwei Frauen mit kleinen Handpumpen Luft in Ballons. Als die Ballons größer wurden und Carla erkennen konnte, was auf den Ballons aufgedruckt war, fing sie an zu lachen: Auf den einen stand Russki go home, auf den anderen Ami go home.
»Das wär wirklich das Beste, wenn sich die alle aus Berlin rausverdünnisiern täten!«, kommentierte der Wachmann ebenfalls mit einem Grinsen. Sie liefen hinter einem Hochhausaufbau aus Sperrholz vorbei und erreichten die Rückseite der Imbissbude.
Und da war sie!
Fassungslos starrte Carla auf das Bild, dass sich ihr bot.
Tante Lulu saß kichernd mit zwei uniformierten Polizisten an einem langen Biertisch. Offensichtlich hatte einer der Ordnungshüter gerade einen wahnsinnig komischen Witz erzählt, denn die zwei konnten sich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen. Einer der beiden schlug mit der Hand auf den Tisch, dabei hüpften die wie abgeleckt glänzenden Currywurstschälchen hoch und das Gewehr, das neben Lulu am Tisch lehnte, wackelte hin und her.
Carla wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Ihre Tante hatte sich mal wieder selbst gerettet! Und dieses brutzelnde Fett, das aus der Bude lecker duftete, gab ihr vollends den Rest. Bis auf einen Kaffee mit etwas Kondensmilch am Morgen hatte sie noch nichts im Magen.
Es war spät.
Zu spät. Sie brauchte gar nicht auf ihre Uhr zu schauen, um zu wissen, dass sie jetzt ganz sicher ein Taxi nehmen musste, wenn sie pünktlich zurück sein wollte. Und selbst dann würde sie es nur schaffen, wenn jede Ampel auf Grün stand.
Bevor Carla etwas zu Lulu sagen konnte, trat der Wachmann näher und schnappte sich das Luftgewehr, was die beiden Polizisten sofort in Habacht-Stellung brachte, und Lulu riss die Augen auf, als sie dadurch endlich auch Carla bemerkte.
»Langsam!«, befahl der Tischeklopfer von vorhin.
»Ist nur ne Diana 25 …«, der Wachmann legte die Waffe an und richtete sie nach oben Richtung Himmel, »kenn ick, harmloses Spielzeug.«
»Kommt darauf an …«, sagte der andere Polizist, stand auf und nahm Haltung an, »… wo dich so ein Diabolo erwischt.«
Mitten ins Herz wäre gut, dachte Carla und funkelte ihre Tante so empört an, dass die immerhin ihre Hände beschwichtigend hob.
»Kindchen!«, sagte sie. »Schön, dass du auch endlich da bist.«
Carla atmete tief durch und zählte von 777 rückwärts, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Die Sieben war ihre Glückszahl und Glück konnte sie wirklich brauchen.
»Stell dir vor«, sagte Lulu nun etwas beflissener, »ich konnte in meiner sehr langen Wartezeit mit diesen reizenden Ordnungshütern schon alles klären. Setz dich, Kindchen, die Trudi wird dir gleich eine ordentliche Portion Pommes machen.«
Was redete sie denn da und woher kannte sie schon wieder diese Trudi? Tante Lulu ging immer davon aus, dass jeder wusste, von wem sie redete. Der Atze, die Lilo, der Billy und jetzt auch noch die Trudi.
»Dafür habe ich leider keine Zeit«, sagte Carla und versuchte das Knurren in ihrem Magen zu ignorieren. »Wie ich dir am Telefon gesagt habe, muss ichzu einem Termin!«
»Kindchen, also das würde deinem Vater nicht gefallen, du bist ja nur noch Haut und Knochen! Und die Trudi …«
»Dit ist also die arme, arme Oma?«, sagte der Wachmann mit einem Kopfschütteln.
»Wie ich sehe, hast du hier ja alles im Griff!« Carla drehte sich um und eilte zurück Richtung Absperrung. Schluss, aus, Ende.
»Warte doch!«, rief ihr Lulu hinterher. »Ich kann das erklären!«
Ich will’s aber nicht hören, dachte Carla und legte noch einen Zahn zu.
Jäh prallte sie gegen ein weiches Hindernis. Wie aus dem Nichts war ein Mann vor ihr aufgetaucht und sie in ihn hineingelaufen. Seine helle Schirmmütze flog im hohen Bogen auf die Erde.
»Pass doch auf!«, fuhr sie ihn an.
Dann erst sah sie ihm ins Gesicht. Oh nein, das durfte einfach nicht wahr sein! Das war Billy Wilder! Lulu hatte ihr gefühlt Hunderte von Bildern von ihm und seinen Filmen gezeigt. Seine Brille hing nur noch an einem Ohr, ganz allein durch ihre Schuld.
»I am so sorry«, sagte sie und wünschte sich vier Meter unter das Brandenburger Tor. Sie bückte sich nach der Schirmmütze, hob sie auf, während sie verzweifelt nach besseren englischen Entschuldigungen suchte. Doch ihr Kopf war total blank. Sie reichte ihm die Mütze. »Really so, so sorry!«
»Es heißt ja Eile mit Weile«, sagte Billy Wilder mit einer etwas schnarrenden Stimme, nahm die Mütze, klopfte sie ein paarmal an seinem Oberschenkel ab und setzte sie umstandslos wieder auf.
Natürlich, er hatte ja auch in Berlin und Wien gelebt. »Sie haben recht. Und ich hätte besser aufpassen müssen«, murmelte Carla.
»Dem von mir sehr verehrten Lubitsch zufolge macht sich selbst der würdevollste Mensch mindestens zweimal am Tag lächerlich.« Mit einem Lächeln rückte der Hollywood-Regisseur nun auch seine Brille einige Male hin und her, bis er mit dem Sitz zufrieden war und ihr zunickte. »Das war heute erst die Nummer eins.«
»Ich bedaure das wirklich sehr!«
Billy Wilder zwinkerte ihr mit einem amüsierten Funkeln zu. »Nehmen Sie’s leicht, Sie wissen ja, nobody is perfect!« Dann lief er Richtung Kaffeebüdchen davon.
Eine große Hand legte sich schwer auf ihre Schulter.
Carla war auf alles gefasst. Man würde sie verhaften, rauswerfen, verklagen. Abergläubisch griff sie an den Glückswürfel an ihrer Halskette und berührte ihn.
»Ich bring Sie hinten raus, da gibt es ’n Taxistand.«
Erleichtert erkannte sie den Wachmann, der ihr offensichtlich gefolgt war. »Sieht ja so aus, als hätten Sie es mächtich eilig.«
»Danke, sehr freundlich!«, sagte sie, während sich in ihrem Kopf alles drehte.
Er reichte ihr das Gewehr. »Hab ick ma konfisziert, nur für alle Fälle.«
Carla starrte das Gewehr an, dann den Wachmann und sah über dessen Schulter, wie Billy Wilder sich gerade einen Kaffee geben ließ.
War das alles gerade wirklich passiert? Sie musste jetzt also auch noch hungrig und verschwitzt quer durch die Stadt hetzen, mit einem Gewehr als Accessoire zu ihrem ach so seriösen mauvefarbenen Chanelkostüm-Imitat und würde, selbst wenn sie sich den Weg freischoss, zu spät zu ihrer neuen Kundin kommen!
Ihr wurde schwindelig. Genau, schieß dir doch einfach den Weg frei, wiederholte sie innerlich und diese absurde Vorstellung brachte sie dann zum Lachen, das nur haarscharf an einem Schluchzen vorbeiging.
Der Wachmann schien zu spüren, dass sie auf der Kippe stand, denn er lächelte sie voller Wärme an und das beruhigte sie ein bisschen.
»Bin übrigens der Bruno«, er überreichte ihr, auf einmal ganz schüchtern, einen zusammengefalteten Zettel. »Die Nummer, von wo ick zur Untermiete wohne, nur falls Sie mal Lust aufn Käffchen hätten …«
»Fürs Erste wäre ein Taxi wunderbar!«, sagte Carla, nahm den Zettel und stopfte ihn in ihre Tasche.
»Ein Taxi ist nicht nötig!«, mischte sich Tante Lulu außer Atem ein. In ihrem Schlepptau hatte sie immer noch die beiden Polizisten.
Auch das noch! Wie hatte sie das so schnell geschafft? Ihre stämmige Tante hasste jeglichen Sport, bis auf das Tanzen. Zum Glück hatte sie den Zusammenstoß mit Wilder nicht mitbekommen, daraus würde sie sonst gleich eine lebenslange Freundschaft mit dem Regisseur stricken.
Lulu überreichte Carla eine Portion Pommes frites mit einer so dramatischen Geste, als wäre das der goldene Oskar für den besten Film des Jahres und nicht nur eine fetttriefende Tüte aus Zeitungspapier. »Für dich!«, sagte sie.
»Ich hab alle Hände voll«, Carla wedelte mit dem Gewehr und ihrer Handtasche, »siehst du doch und ich hab keine Zeit!«
»Dieses Problem habe ich schon gelöst, diese reizenden Herren fahren uns nach Charlottenburg. Ich habe ihnen erklärt, wie wichtig es ist, dass du pünktlich zu deinem Termin mit dem Presseberater des Oberbürgermeisters kommst.«
Alle drei Männer sahen Carla voller Hochachtung an. Sie versuchte Haltung zu bewahren und räusperte sich. Was zum Teufel hatte Lulu denen sonst noch erzählt?
»Vielen Dank«, sagte sie schließlich und wich dem erstaunten Blick von Bruno aus. »Das ist wirklich sehr, ähh, bürgernah und der Oberbürgermeister wird das sehr zu schätzen wissen!« Wozu das auch klarstellen? Für einen Termin mit ihrer Klientin gäbe es sicher keine Polizeieskorte.
Kurz darauf saß Carla neben Lulu auf der Rückbank in dem schwarzen VW-Käfer der Berliner Polizei und verschlang die Pommes, während sie unter Sirenengeheul in die Grolmanstraße nach Charlottenburg gefahren wurden.
»Verrätst du mir endlich, was du mit dem Gewehr am Set vorhattest?«, flüsterte Carla mit Blick auf die beiden Polizisten. »Und was sollte der Anruf – offensichtlich wollte dich gar niemand verhaften?«
Tante Lulu reichte ihr ein besticktes Taschentuch. »Du versaust dir das Kostüm, obwohl, wär auch nicht schade drum, diese grauenhafte Farbe beleidigt sogar Blinde. Nicht mal als Hundedecke für meine Fritzi ging das bei mir durch.«
Carla sparte sich einen Kommentar und zog die letzten drei Pommes aus der Zeitungstüte. Durch das Fett war die Schrift nun besonders gut zu lesen. Und jetzt wusste sie auch, wie Lulu auf die Sache mit dem Berater gekommen war: Adenauer warnt in Lübeck vor Panikmachern wie Willy Brandt, las Carla, denn es sei für den Frieden schlecht, wenn der regierende Bürgermeister von Berlin behaupte, dass die Menschen sich fürchten, weil die Maschen des Eisernen Vorhangs zuzementiert werden könnten.
Carla zerknüllte die leere Tüte, lehnte den Kopf nach hinten und schloss die Augen.
Die weiche Hand ihrer Tante legte sich auf ihre und drückte sie liebevoll. »Kindchen, ist ja noch mal gut gegangen. Morgen tue ich Buße und erzähl dir alles, bei einem Mittagessen im Café Kranzler, natürlich auf meine Kosten.«
Und Carla schaffte es mal wieder nicht, Nein zu sagen.
Nur noch fünf Minuten!
Nachdem Carla sich in der Toilette flugs präsentabel gemacht hatte, riss sie alle Fenster weit auf und bereitete einen frischen Aktenordner für ihre neue Klientin vor. Sie beschriftete ihn nicht mit deren Namen, sondern mit der Aktennummer 120861/A. Das war das System der Agentur Nachtigall: Datum und wievielter Kunde des Tages. Ihr Vater hatte ihr eingeschärft, wie wichtig es war, die Unterlagen der Klienten nach Nummern aufzubewahren. Auf gar keinen Fall durfte man »Klarnamen« verwenden. Nur so waren die Geheimnisse der Kunden auch wirklich sicher.
Vor drei Jahren hatte ein wütender Ehemann versucht, die Fotos von sich und seinem Geliebten aus der Agentur zu stehlen. Er hatte die Akte nicht finden können, das war gut. Weniger gut war, dass er in seiner Wut die Inneneinrichtung der Agentur verwüstet hatte. Ihre Mutter war entsetzt – was, wenn der Mann nach oben in die Wohnung gekommen wäre? Wie hätte jemand wie sie sich wehren können? Um sie zu beruhigen, hatte Vater versprochen, dass er neue und bessere Schlösser einbauen würde. Leider war das nie passiert, worüber sich ihre Mutter nicht beklagt hatte, denn schließlich »hatte der Herr Rosinenbomber von Charlottenburg Wichtigeres zu tun«.
Hastig schüttelte Carla die bunten Blumenkissen in dem bequemen Rattanstuhl auf, den sie gegenüber vom Schreibtisch hingestellt hatte. Zu mehr Veränderungen hatte sie sich nach dem Tod ihres Vaters nicht durchringen können, es wäre ihr wie Leichenschändung vorgekommen. Außerdem liebte sie seinen schwarzen Drehstuhl, sie wusste, wie lange er dafür gespart hatte und wie stolz er auf dieses Monster aus gestepptem Leder gewesen war. Doch auf lange Sicht musste sie ihn austauschen, er war viel zu groß für sie, und sie befürchtete, es könnte aussehen, als würde sie den Chef nur spielen.
Vielleicht gefiele den Klientinnen ein Gummibaum am Fenster oder stimmungsvolle Gemälde an der Wand, die sie anschauen konnten, wenn es peinlich wurde. Einen Sonnenaufgang am Wannsee, einen Kupferstich vom Charlottenburger Schloss oder … Tante Lulu als Hexe. Sie musste lachen, aber dann fiel ihr Blick auf die dunkle Anrichte, auf der die beiden großen bauchigen Flaschen standen, und sie wurde wieder ernst. Die von ihrem Vater war halbvoll mit etwas angestaubten Pfennigstücken, ihre fast voll. Den Klienten hatte ihr Vater erzählt, sie würden die Pfennige für Carlas Brautschuhe sammeln. Diese Behauptung war natürlich auch als Wink mit dem Zaunpfahl von ihm gemeint gewesen, weil er sie gern unter der Haube gesehen hätte. Aber sie hatte reichlich Anschauungsmaterial zum Thema Ehe gehabt, deshalb hatte sie sich taub gestellt.
In Wahrheit zeigten die Pfennige den Stand eines Wettstreites zwischen ihnen.
Die Idee war ihrem Vater gekommen, nachdem er als Erster in der Grolmanstraße einen Telefonanschluss hatte. Denn nun riefen viele Klienten vorher an, um Termine zu vereinbaren. Er wollte, dass sie beide das nutzten, um ihre Sherlock Holmes-Fähigkeiten zu schärfen und installierte einen kleinen Lautsprecher am Telefon, damit Carla mithören konnte. Sie versuchten zu erraten, ob und was die Stimme über den jeweiligen Menschen verriet. Konnte man Rückschlüsse auf sein Äußeres, die Ausbildung, den Beruf oder Hobbys ziehen?
Wer von ihnen beiden einen Treffer landete, bekam einen Pfennig in seine Flasche. Anfangs hatte er sie immer besiegt, aber kurz vor dem Unfall war ihre Flasche zum ersten Mal deutlich voller gewesen als seine, und das, obwohl sie wegen ihres Jurastudiums viel weniger Zeit in der Agentur verbracht hatte.
Ingrid Niemöller, die Klientin von heute, hatte kurzatmig geklungen, womöglich war sie etwas drall oder unsportlich, Asthmatikerin, oder einfach nur aufgeregt? Zu Letzterem würde es auch passen, dass sie so schnell gesprochen hatte, als ob sie Angst hätte, dass sie es sich doch noch anders überlegen könnte. Allerdings hatte sie sich in dem Gespräch weder verhaspelt noch in Äh-äh-Pausen geflüchtet. Offensichtlich wusste sie nicht nur, was sie wollte, sondern war es gewohnt auch mit fremden Menschen zu sprechen. Carla hatte kein einziges Lieblingsfüllwort entdecken können, die waren sonst sehr verräterisch, kein eigentlich, kein sozusagen, wirklich oder quasi und kein einziges könnte, wäre, würde. Nur ein: ich will. Ich suche. Womöglich arbeitete Frau Niemöller im Einzelhandel, oder sie war Chefsekretärin?
Noch drei Minuten.
Genug Frischluft! Carla beeilte sich dermaßen, die Fenster wieder zu schließen, dass ihr beinahe die winkende Katrin vom Haus gegenüber entgangen wäre. Sie winkte ihr freundlich zurück, signalisierte mit der geschlossenen Faust dann aber das A aus dem Fingeralphabet. So wusste Katrin, dass Carla jetzt arbeiten musste. Ein Y, kleiner Finger und Daumen weit abgespreizt, Zeige-, Mittel- und Ringfinger gekrümmt, würde Katrin ein »Yes, komm rüber« anzeigen. Die beiden Buchstaben konnte man auch gut noch von gegenüber erkennen und Katrin liebte diese Codes. Sie hatte voller Begeisterung das ganze Fingeralphabet gelernt. Seit Carla vor einem halben Jahr Katrins geliebte Schildkröt-Puppe aus den Klauen von Fritzi, Tante Lulus schwarzem Riesenpudel, gerettet hatte, wollte Katrin dringend auch ein Fräulein Sherlock Holmes werden. Vom Puppenspielen hatte sie sich verabschiedet, weil das nicht zu ihrer neuen Karriere passte, und Carla bezweifelte nicht, dass sie es schaffen würde. Katrin war nicht nur klug, sondern hatte mit zehn Jahren auch schon mehr Chuzpe als Carla heute. Ein Naturtalent.
Carla wandte sich vom Fenster ab und brühte in der kleinen Teeküche noch schnell einen Kaffee auf. Frischer Kaffeeduft entspannte alle, und ganz besonders die weiblichen Klienten. Viele waren froh, wenn sie sich an einer Tasse festhalten konnten. Komischerweise war es Frauen oft viel peinlicher über ihr Problem mit einer Detektivagentur zu sprechen, als das Problem zu haben. Männer hingegen fanden ihr Problem peinlich und konnten nicht schnell genug darüber sprechen, um es hinter sich zu bringen.
Das Telefon klingelte. Hoffentlich hatte es sich Frau Niemöller nicht anders überlegt, das kam gerade bei Scheidungsangelegenheiten oft vor. Ein mitgebrachter Blumenstrauß und schon war die Welt wieder in Ordnung. Dann hätte Carla sich ganz umsonst so abgehetzt. Sie griff nach dem Hörer und war erleichtert, Alma Hochbrücks Stimme zu vernehmen und nicht die der neuen Klientin.
Sie beide kannten sich von der gemeinsamen Arbeit im Vorstand des Waisenhauses Berliner Küken. Allerdings klang Alma verschnupft und sie flüsterte, als hätte sie Angst, jemand könnte sie hören. Hatte sie geweint? Alma fragte, ob sie auch morgen, also am Sonntag zu Nachtigall & Co. kommen könnte, das wäre der einzige Tag, an dem das bei ihr ginge und es sei geradezu lebenswichtig und sie wollte wissen, ob Carla ihr als Klientin 100Prozent Verschwiegenheit zusichern könne. Carla versprach, alles zu tun, und natürlich wäre Diskretion in ihrer Agentur unabdingbar. Sie mochte Alma sehr und es tat ihr leid, dass sie sie unterbrechen musste, aber gleich würde Frau Niemöller da sein.
»Natürlich«, sagte Carla voller Mitgefühl. »Kommen Sie, wann immer es passt, ich freue mich, wenn ich Ihnen behilflich sein kann.« Nach dem Auflegen notierte sie den Termin für morgen um 17 Uhr im Kalender. Obwohl Alma so unglücklich geklungen hatte, war sie erleichtert, denn auch wenn es dank der letzten Klientin noch ein paar Geldreserven gab, würden sie nur ein paar Wochen reichen und bis jetzt war dieser August finanziell ein Trauerspiel.
Warum Alma wohl kommen wollte? Die Hochbrücks wirkten wie das perfekte, glückliche Paar. Beide so schön und klug und er lachte viel und oft. Hatte der Professor eine Geliebte? Oder ging er ins Bordell und hatte sich Krankheiten eingefangen? Das passierte viel öfter, als sie das je für möglich gehalten hätte.
Das Klingeln riss sie aus ihren Gedanken. Punkt 16 Uhr! Wunderbar, ein Pluspunkt für Frau Niemöller. Sie liebte pünktliche Klientinnen.
Carla reichte ihr die Hand zur Begrüßung und musste zu der schlanken Frau aufschauen. Keinen Pfennig dafür also. Selbstsicher wie ein Mannequin bewegte sich Frau Niemöller in ihrem schwarz-weißen an Chanel erinnernden Kostüm durch Claras Büro. Und sie war eindeutig daran gewöhnt, dass man ihr zuhörte. Ihre Klientin nahm geradezu Besitz von dem Rattanstuhl, schob die Kissen mit einem spöttisch anmutenden Lächeln zurecht, strich ihren Rock glatt und setzte sich. Suchend sah sie sich auf Carlas Schreibtisch um.
Aschenbecher, erkannte Carla und holte das Monster aus orangebraunem Muranoglas aus der mittleren Schublade. Der Anblick war ihr verhasst, weil er sie immer an den schrecklichen Tag erinnerte, an dem das mit Mutter passiert war, aber das hatte sie ihrem Vater nie sagen können. Nächste Woche werde ich ihn durch einen modernen Druckaschenbecher aus Edelstahl ersetzen, schwor sie sich.
Als ihre Klientin sich vorbeugte und ihre Zigaretten aus ihrer Handtasche zog, schwebte der Duft von Shalimar durch den Raum, eine Mischung aus Vanille, Zitrusfrüchten und Rosen, die Carla sehr gern mochte. Der Duft verlieh dem klassischen Kostüm eine unerwartete Note und lenkte den Blick auf die feminineren Aspekte ihrer Kleidung. Nun bemerkte Carla auch die doppelreihige Perlenkette, den seidenen Glanz der Schluppenbluse. War das Kostüm womöglich wirklich von Chanel?
»Kleider sind wie Fenster zu dem Menschen dahinter«, war das Credo ihres Vaters. Manche dieser Fenster waren eine Einladung und offen, andere benutzten ihre Kleider, um sich abzuriegeln. Frau Niemöllers Kleidung saß zwar wie maßgeschneidert, aber dieser schwarz-weiß melierte Bouclé-Stoff passte trotzdem nicht wirklich zu ihr. Carla unterdrückte ein Lächeln, denn ihr kam gerade der Verdacht, dass auch Frau Niemöller versuchte, seriöser und älter auszusehen, als sie womöglich war. Ihre Haut war glatt und eben, höchstens Mitte bis Ende zwanzig, schätzte Carla. Ihre Frisuren jedenfalls waren fast identisch, sie beide hatten ihre dunklen Haare zu einem strengen, tief im Nacken liegenden perfekten Chignon frisiert. Was hatte diese Frau wohl hergeführt? Für eine Scheidungsangelegenheit oder eine betrogene Ehefrau wirkte sie nicht verzweifelt oder enttäuscht genug. Außerdem konnte Carla keinen Ehering entdecken, sondern nur einen Plastikring aus weißen und rosafarbenen Blüten am Ringfinger. Genauso einen, wie sich ihn Katrin von gegenüber neulich auf einem Kindergeburtstag gebastelt hatte. Dieser Ring passte so gar nicht zum Rest. War Frau Niemöller Unternehmerin? Anwältin? Ging es vielleicht um Betriebsspionage?
Carla bot ihr einen Kaffee an und fragte dann, was sie für sie tun könne. Frau Niemöller wiegelte mit einer ungeduldigen Handbewegung ab, zündete ihre Zigarette mit einem goldenen Feuerzeug an und hielt dann inne. Marlboro, nicht gerade Damenzigaretten, registrierte Carla.
»Arbeiten Sie ganz allein?«, fragte Frau Niemöller statt zu antworten und inhalierte dann tief.
»Ich habe ausgezeichnete Mitarbeiter, die ich bei Bedarf hinzuziehen kann. Aber falls Sie Diskretion wünschen, kümmere ich mich persönlich um alles. Um was geht es denn?«
Frau Niemöller nickte. »Ich suche einen Mann«, sagte sie ernst.
»Ah, ja.« Carla überlegte verwundert, wohin das führen würde. Ihre Neugier wuchs.
»Vorher wüsste ich gern, was mich das kosten wird.«
»Dazu kann ich noch nicht viel sagen, ich weiß ja noch nichts Genaues. Unser Tagessatz … «, Carla zögerte einen Moment, es fiel ihr immer noch schwer, über Geld zu reden, andererseits: Shalimar war teuer, das Kostüm vielleicht Chanel.
»Unser Tagessatz«, wiederholte sie, »beträgt 40 Mark, dazu kommen Spesen. Die Mindestgage, für die wir tätig werden, sind drei Tagessätze, die im Voraus bezahlt werden muss.«
Frau Niemöller nickte. »In Ordnung.« Sie holte tief Luft und zerdrückte die nur halbgerauchte Zigarette. Ich hätte mehr verlangen sollen, durchzuckte es Carla angesichts einer solchen Verschwendung.
»Es war auf dem Deutsch-Amerikanischen Volksfest …«
Oh nein. Carla versuchte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Bloß nicht schon wieder so eine Geschichte! Schwanger von einem GI? Sie hatten so viele angehende oder vermisste Väter suchen müssen, und die Army war dabei nicht gerade hilfreich, trotz all der Kontakte, die ihr Vater aufgebaut hatte.
Das Deutsch-Amerikanische Volksfest? Carla stutzte und rechnete kurz nach. Es hatte in diesem Jahr zum ersten Mal stattgefunden. Das wusste sie nur so genau, weil Tante Lulu es sich in den Kopf gesetzt hatte, dort ihren Geburtstag zu feiern, und der war am 29. Juli. Keine Frau konnte am 12. August schon sicher wissen, ob sie schwanger war. Was war es denn dann? Eine Vergewaltigung? Um das anzuzeigen, war es zu spät. Diebstahl?
»Also – es klingt ein bisschen …« Frau Niemöller griff sich an den Hals, tastete nach ihrer Kette und ließ dann Perle um Perle durch ihre Finger gleiten, als wäre sie ein Rosenkranz. »Ich glaube, ich möchte jetzt doch einen Kaffee.«
»Gern!« Carla wurde unruhig. Normalerweise wusste sie schneller, um was es hier eigentlich ging. Sie stand auf, schenkte Kaffee in die Zwiebelmustertasse und reichte sie ihrer Klientin. »Milch, Zucker?«
»Auf keinen Fall!« Sie rührte dann trotzdem mit dem Löffel konzentriert in ihrer Tasse, legte ihn klirrend ab und nahm einen Schluck.
»Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?«, fragte sie dann.
Carla hätte sich beinahe verschluckt, unwillkürlich dachte sie an Richard. Oh ja, natürlich! Aber am Ende war es dann doch nur eine backfischhafte Schwärmerei, die irgendwann wieder vorüberging wie ein Schnupfen.
»Wie meinen Sie das genau?« Vielleicht würde es Ingrid helfen, wenn sie von Richard erzählte, dessen Anblick sie ja auch zuerst wie ein Blitz getroffen hatte. Jeden Tag hatte sie ihm an der Uni entgegengefiebert und nun dachte sie mittlerweile wirklich nur noch selten an ihn.
»Ich meine es genauso wie ich es gesagt habe, Liebe auf den ersten Blick!« Frau Niemöller fing an zu lächeln und dieses Lächeln zauberte einen rosaroten Hauch auf ihre Wangen und ließ plötzlich ihren Teint schimmern, als wäre er mit Perlmuttpuder bestäubt. Ihre Klientin wirkte nun wie losgelöst, fast schwebend und keinen Tag älter als zwanzig.
»Bitte nennen Sie mich doch Niki, da ist mir wohler.«
»Niki?« Das war nicht gerade eine Abkürzung für Ingrid.
»Diesen Namen hätte ich mir ausgesucht, wenn das möglich wäre. Finden Sie es nicht auch sehr ungerecht, dass wir unser ganzes Leben einen Namen tragen müssen, den man uns aufgebürdet hat?«
Carla nickte. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, einen Namen für sie zu suchen, in ihrem Ausweis stand Karla, nach Karl von Karl-Otto. Niemand hatte über einen Mädchennamen nachgedacht. Niemand hatte ein Mädchen gewollt. Niemand hatte sie gewollt.
»Es gibt da so eine verrückte Aktionskünstlerin, Niki de Saint Phalle, die schießt mit Farbbeuteln auf Gipsfiguren.«
»Interessant!«, murmelte Carla, dann wurde ihr klar, dass Niki Niemöller sehr weite Bögen schlug – vom Deutsch-Amerikanischen Volksfest zu einer Aktionskünstlerin. Sie sollten zurück zum eigentlichen Thema kommen. »Ja, Niki, also was …?«
»Ich habe mich dort für die Wahl zur Volksfest-Queen aufstellen lassen, und sogar«, sie richtete sich gerader auf und lächelte breiter, »den dritten Platz gemacht.«
»Wunderbar!«, Carla hoffte, Frau Niemöller würde ihr nicht anmerken, dass sie diese Art von Wettbewerb eher für Zuchtbullen oder Rassekatzen passend fand. »Und?«
»Man kann nur teilnehmen, wenn man Namen und Adresse angibt, ich musste aber inkognito bleiben. Deshalb habe ich auf dem Fest nicht nur eine blonde Marilyn-Perücke à la ›Manche mögen’s heiß‹getragen, sondern aucheinen anderen Namen und eine falsche Adresse angegeben.«
»Ja?« Carla musterte Ingrid noch eingehender. Hatte sie womöglich ein Dr.-Jekyll-und-Mrs-Hyde-Problem?
Frau Niemöller rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum. »So ein Benehmen ist mit meinem Beruf nicht vereinbar.«
»Falsche Angaben?«
Ingrid schüttelte vehement den Kopf. »Nein, Spaß zu haben. Mein Verhalten muss jederzeit tadellos und über jeden moralischen Zweifel erhaben sein, das steht sogar in meinem Vertrag. Wenn die das rauskriegen, werde ich gefeuert. Und Jack, so heißt der Mann, den ich belogen habe, muss mich für ein Monster halten.«
»Jack – und sein Nachname?«
»Er hat ihn mir gesagt, aber ich habe ihn nicht verstanden und es war so unwichtig in diesem Moment!«
Immer wieder hatte Carla erlebt, dass GIs einen falschen Vornamen genannt und den Nachnamen absichtlich vernuschelt hatten. Es gefiel ihr, dass es hier wenigstens so etwas wie eine Pattsituation geben würde.
»Hat er gesagt, wo er herkommt?«
Ingrid lächelte. »Ja, das habe ich mir gemerkt, denn ich hatte zuerst Atlas verstanden. Ich muss wohl verwirrt gewirkt haben, deshalb hat er noch mal wiederholt, er wäre Jack aus Atlanta in Georgia.«
»Warum diese Maskerade? Warum diese Lügen? Arbeiten Sie für die Kirche?«
Ingrid gestattete sich ein maliziöses Lächeln. »Im Gegenteil, wenn die von meiner Arbeit wüssten, würde ich sofort exkommuniziert.«
»Klingt geheimnisvoll.«
»Ich bin Pharma-Vertreterin für weibliche Krankheiten.«
»Weibliche Krankheiten erfordern eine so hohe Moral?«
»Ich verkaufe Anovlar!« Ingrid warf sich in Pose, als würde sie mit Gold handeln.
Anovlar, was sollte das denn sein? Verzweifelt suchte Carla nach irgendwelchen Informationen zu diesem Namen, aber da war nichts.
»Das ist ein Medikament, eine Tablette, die verhindert, dass man schwanger werden kann. Eine wunderbare Sache, finden Sie nicht?« Die Frage war wohl eher rhetorisch, denn Ingrid redete gleich weiter. »Doch zugleich ist das auch sehr heikel. Viele Ärzte glauben, wenn sie so was verschreiben, dann unterstützen sie damit die angeborene Zügellosigkeit der Frau. Sie wollen, dass Verhütung Männersache bleibt, Sie wissen schon, Coitus interruptus …« Ingrid machte eine entsprechende Bewegung mit ihren Händen.
Carla schoss das Blut in die Wangen und weil sie wusste, dass die kreisrunden Flecken aussahen, als hätte man sie geohrfeigt, war es ihr gleich doppelt peinlich. Auch wenn Ingrid unmöglich wissen konnte, dass sie von Männern bisher nur geträumt hatte. Und daran war auch nichts Schlimmes, nur Lulu wollte darin eine Katastrophe vom Ausmaß der Titanic sehen.
»… und Kondome«, redete Ingrid gelassen weiter. »Frauen sollen keine Kontrolle über ihre Körper haben, denn das ist der Anfang von Sodom und Gomorra, diese Pille führt quasi dazu, dass Frauen zu enthemmten Sexhexen werden. Wenn ich also Umsatz machen will – und genau das erwarten meine Arbeitgeber von mir –, dann muss mein Ruf makellos sein und ich sollte in der Arztpraxis so seriös wirken wie eine Nonne mit Kopfschmerzen. Damit vollkommen klar ist, dass das Mittel nur für verheiratete Frauen gedacht ist, die aus gesundheitlichen Gründen kein Kind mehr bekommen sollen. Natürlich ist das eine Lüge, aber darüber reden wir nicht. Verstehen Sie mein Dilemma?«
»Nicht so ganz!«, sagte Carla. Wahrscheinlich wäre sie nicht auf der Welt, wenn ihre Mutter so ein Medikament gehabt hätte, denn dann hätte sie ihren Vater nicht heiraten müssen. Wenn er nicht bei den Nachtigalls eingeheiratet hätte, welchen Beruf hätte er wohl dann gewählt? Journalist hatte er eigentlich werden wollen, oder Koch oder Sänger. Oder alles zusammen, Karl-Otto Koslowsky, der singende Journalistenkoch.
»Hören Sie mir zu?«, fragte Ingrid Niemöller und zog ihre rechte Augenbraue hoch.
»Natürlich. Ich verstehe«, log Carla. Wenn sie so einen offensichtlich gut bezahlten Job hätte, würde sie nicht bei solchen Misswahlen antreten. Man konnte eben nicht alles auf einmal haben. »Es war Ihnen also unmöglich – Jack? – Ihren echten Namen zu nennen und wir sollen ihn für Sie finden?«
»Ja. Ich war schon dort, wo das Fest stattgefunden hat, aber man wollte mich weder auf das Gelände lassen, noch war jemand bereit, mir eine Auskunft zu geben.«
Genau, denn die Army witterte bei jungen Frauen, die nach einem GI fragten, immer eine Schwangerschaft und Komplikationen. Eigentlich entbehrte das in diesem Fall nicht an Ironie. Carla unterdrückte ein Lächeln und fragte: »Gibt es ein Foto von dem Abend, von Ihnen beiden?«
Ingrid trank aus, lehnte sich zum ersten Mal, seit sie angekommen war, entspannt zurück, schloss die Augen und ließ wieder andächtig die Perlen durch ihre Finger gleiten.
»Leider habe ich kein Foto.«
»Können Sie ihn vielleicht beschreiben?«
Ihre Augen fingen an zu glänzen. »Ein großer Mann, also größer als ich, mit breiten Schultern und dunkelblonden Haaren, natürlich kurz geschoren. Dichte helle Augenbrauen über graublauen Augen und einen etwas zu großen Mund, die Oberlippe fast größer als die Unterlippe und natürlich herrlich gesunde amerikanische Zähne, so weiß.« Sie seufzte begeistert.
»Besondere Merkmale?«
»Er hatte eine kleine Brandwunde innen am Handgelenk.«
»Wie alt schätzen Sie ihn?«
»Er war etwas älter als ich, vielleicht Anfang dreißig.«
Jack aus Atlanta um die dreißig mit graublauen Augen – das reichte hinten und vorne nicht. »Wissen Sie sonst noch etwas über Jack, vielleicht etwas, das Ihnen zunächst gar nicht so wichtig erschien?«
»Er sagte, er hieße Jack … aber seine Kollegen haben ihn Bobbs gerufen, aber nicht alle, einige begrüßten ihn auch mit Jack-ov.«
»Sie meinen wie Jack-ob, mit B?«
Ingrid schüttelte den Kopf. »Nein, es war ganz sicher ein F, Jackof.«
Könnte das vielleicht auf eine Version von Jakob hindeuten oder womöglich ein Spiel mit seinen russischen Wurzeln? Jack-ov? Sie hatten einmal einen Fall gehabt, in dem Keith, ein britischer Captain, von seiner Kompanie nur Dussolini genannt worden war. Der war natürlich schnell gefunden gewesen.
»Aber andere haben Bobbs zu ihm gesagt. Alle schienen sich zu freuen, ihn zu sehen, das hat mir gefallen.«
»Bob wie Robert?« Ungewöhnlich, gleich zwei Spitznamen.
»Nein, das klang anders, wirklich wie Bobbs. Aber egal, wie seine Kameraden ihn angeredet haben, es klang immer sehr respektvoll.«
»Welchen Rang hatte er?«
»Das weiß ich nicht, aber ich glaube, sie waren nicht voller Hochachtung wegen seines Rangs, es wirkte trotzdem irgendwie nahbar.«
Nahbar, interessantes Wort. Das hatte Carla schon lange nicht mehr gehört. »Darf ich fragen, warum Sie glauben, dass es ihm genauso geht wie Ihnen?«
Ingrid lächelte. »Bis zu diesem Tag hätte ich alle für verrückt gehalten, die mir mit so einer Geschichte kommen. Nie hätte ich gedacht, dass es so etwas gibt. Man schaut durch einen Raum voller Menschen, und landet in den Augen dieser einen Person, und das ist wie ein glückliches Ertrinken in der Zukunft. Das Herz wird plötzlich ganz heiß, alles hier drin dehnt sich, explodiert!« Sie zeigte auf ihren Brustkorb. »Alles ist anders, die Organe wissen nicht mehr, was sie tun sollen, der Puls fängt an zu stolpern, man zittert, kann sich kaum noch aufrecht halten, schwitzt und friert gleichzeitig. Dann kommt der andere näher und man kann seine Aura förmlich riechen, die Zeit bleibt stehen, alles wird stumm, es gibt nichts anderes mehr …« Sie nickte eigentlich eher zu sich selbst hin als zu Carla, zog eine weitere Zigarette aus ihrer Handtasche und zündete sie sich an.
»Das sind ja körperliche Reaktionen«, rutschte es Carla heraus, weil sie an Richard dachte und den Wunsch spürte, Ingrid zu warnen. »Solche Sensationen erschöpfen sich irgendwann, man kann nicht auf sie bauen, oder sicher sein, dass das wirklich eine Zukunft hat.« Im Verbauen ihrer Zukunft war sie jedenfalls immer schon eine ganz traurige Expertin.
Ingrid musterte Carla prüfend. »Ich verstehe Sie sehr gut, denn genau das hätte ich auch zu jedem gesagt, bevor mir das passiert ist.« Sie deutete auf den weiß-rosa Plastikring. »Den hat Jack dann für mich organisiert, an einem Stand für Kinderspielzeug. Unser Verlobungsring: Wir seien füreinander bestimmt, es wäre göttliche Vorsehung, das waren seine Worte.«
Weit aus dem Fenster gelehnt, dachte Carla, aber das hatte sie leider schon oft erlebt, manche Soldaten erzählten den deutschen Fräuleins immer noch alles, was sie hören wollten, und unterschlugen ihre Familie in den Staaten.
»Was haben Sie denn noch gemacht? Hatte er Vorlieben? Weil Sie Freunde erwähnt haben, hatte jemand von denen auffallende körperliche Besonderheiten, oder hat Jack Namen verwendet, die Sie sich gemerkt haben?«
»Nein, ich war vollkommen von Jack absorbiert, als ob wir durch eine Art Glücksblase von allen anderen getrennt wären. Ich erinnere mich, dass wir am Schießstand waren. Aber er wollte nicht schießen, das fand er nicht fair, weil er das beruflich macht. Er hatte überhaupt so etwas Geradliniges, es schien ihm wichtig zu sein, immer das Richtige zu tun. Obwohl er mich mit seinen Blicken geradezu verschlungen hat, blieb er respektvoll auf Abstand und behandelte mich so ehrerbietig, als wäre ich die Queen.«
Nahbar und ehrerbietig, eine seltsame Beschreibung, das erinnerte Carla an einen Priester. Aber das hätte Ingrid natürlich bemerkt.
»Er war reizend und hat mir dann geholfen, das Gewehr anzulegen, und ich habe tatsächlich einen Berliner Bären für ihn geschossen.«
»Ein großes Plüschtier?« Der wäre auf Fotos gut sichtbar.
»Nein, nur einen Schlüsselanhänger. Danach waren wir noch …« Ingrid ließ ihre Augen durch den Raum wandern, dann erinnerte sie sich. »Ja, er wollte unbedingt noch Pommes essen, ich natürlich nicht!« Ihre Hände glitten über ihre schmale Taille. »Meine Figur ist mein Kapital, die meisten Gynäkologen sind schließlich Männer.« Sie nickte Carla zu. »Er bestand aber darauf, weil das die besten in ganz Berlin wären. Er hat mich quasi gefüttert und wir haben uns jede einzelne geteilt.« Sie seufzte. »Bitte finden Sie ihn! Ich muss ihm wenigstens erklären, warum ich ihn angelogen habe!«
»Wir finden ihn! Aber ich kann keine Prognosen abgeben, wie lange das dauert.«
»Gut. Danke.« Ingrid zog einen Geldbeutel aus ihrer Handtasche und warf 120 Mark auf den Tisch. »Können Sie heute noch anfangen?«
Überrascht starrte Carla auf das Geld. So umstandslos hatte noch nie jemand bezahlt. Dieses Medikament schien ein gutes Geschäft zu sein. Sie hätte 50 Mark verlangen sollen. »Spesenauslagen werden dann extra abgerechnet.«
Ingrid nickte, während sie die nächste halbgerauchte Zigarette in dem Monsteraschenbecher zerquetschte.
Gleich am Montag kommt das Ding weg, entschied Carla. Bobbs, Jack-ov oder Jack, sie würde das knacken, die Agentur Nachtigall hatte bisher noch jeden Fall geklärt. Nicht immer waren die Kunden über das Resultat erfreut, daher die Vorauszahlung. Sie holte die abschließbare graue Kassette aus der zweiten Schreibtischschublade und quittierte den Betrag. Ingrid nahm den Beleg, stopfte ihn in ihre Handtasche und stand auf.
»Bestimmt ist es für Sie nur ein kleiner Auftrag, aber für mich ist es lebenswichtig, Jack wiederzusehen.«
»Sie können sich auf uns verlassen.« Carla erhob sich, begleitete ihre Klientin zur Tür und verabschiedete sie.
»Am besten erreichen Sie mich telefonisch morgens bei mir zu Hause zwischen acht und neun, danach bin ich unterwegs. Finden Sie ihn, so schnell es geht!«, sagte sie und flog die Treppen geradezu nach unten.
Das ging allen so. Nachdem sie die Entscheidung getroffen hatten, eine Agentur zu beauftragen, wollten sie die Ergebnisse am liebsten sofort. Doch die Ergebnisse fielen nicht immer so aus, wie ihre Klienten sich das erhofft hatten.
Du bist schon wieder zu spät!« Wally richtete sich mit einem leisen Ächzen auf und reichte ihrem glatzköpfigen Kollegen die sexy Paillettencorsage, die jeder hinter der Bar vom Eden tragen musste. »Alles ist kaltgestellt, Eis aufgefüllt, zwei neue Fässer Bier angeschlossen. Ich hab’s satt, dass du mich mindestens dreimal die Woche in dieser Drecksbude alles allein vorbereiten lässt!« Sie bemühte sich, streng zu klingen, aber je länger sie Edgar ansah, desto schwerer fiel es ihr. Seine sonst so beherrschten grauen Augen funkelten geradezu silbern vor Begeisterung. Es musste einen anderen Grund für seine Verspätung geben als sonst.
»Was ist es diesmal? Lass mich raten, der Schah von Persien hat sich inkognito bei euch eingemietet und das Kempinski musste zwei Suiten für ihn zusammenlegen? Trotzdem könnte hier mal gewischt werden!« Sie zeigte auf die Bar aus dunklem Holz, auf deren Tresen sich die Ränder von Hunderten von Drinks hell in das Holz eingeätzt hatten. Von Weitem erinnerte der Anblick Wally immer noch an Seifenblasen. An ihrem ersten Tag als »Nelly vom Eden« hatte der Chef sie angewiesen, diese Ränder wegzuschrubben und erst als Edgar, Irina und Jutta sich ausschütten wollten vor Lachen, war ihr klar geworden, dass das unmöglich war.
»Nelly, du errätst niemals, wer heute Abend herkommen wird.« Edgar zog eine brandneue rote Lockenperücke à la Milva la rossa aus der knisternden Folienverpackung, schüttelte sie auf und hielt sie sich wie einen langen roten Weihnachtsbart unter sein Kinn und intonierte »Morgen Kinder, wird’s was geben …«
»Blödmann!« Wally unterdrückte ein Lachen, sie wollte ihm noch nicht verzeihen.
»Ich hab das ganze Filmteam hergeschickt, ich habe denen gesagt, sie verpassen das echte Berlin, wenn sie nicht im Eden waren und natürlich hab ich ihnen einen Platz direkt an der Bar versprochen. Das ist meine Chance! Dein Lucky Angel wird endlich ganz groß rauskommen!«
»Na klar! Hollywood ruft!« Wally verdrehte die Augen. Wenn es um seinen Auftritt als Angel ging, war Edgar geradezu bereit, an Wunder zu glauben. Dabei benahm er sich sonst so steif und korrekt wie ein Finanzbeamter aus Wanne-Eickel. Nur als Lucky Angel im Eden glaubte er alles und träumte von einer Karriere als Sängerin. Reichlich schizophren! Andererseits, war das nicht bei jedem so? In ihrer Brust wohnten schließlich auch zwei widerstreitende Seelen. Sie unterdrückte ein Seufzen, schließlich mochte sie den korrekten Edgar genauso gern wie den naiven Angel.
»Selbst wenn Gregory Peck heute Abend zusammen mit Audrey Hepburn hier aufkreuzt, wer mixt die Drinks, während du auftrittst?« Sie zeigte mit beiden Daumen auf sich und stöhnte dramatisch. »Noch dazu ist Samstag! Weiß denn der Chef davon?« Der sabberte geradezu nach Berühmtheiten, wahrscheinlich hatte er ihn überhaupt nur eingestellt, damit er die Prominenten vom Kempinski hierherschickte. Edgars Stimme konnte jedenfalls nicht der Grund gewesen sein.
»Nu sei doch nicht so – ich weiß genau, wie sehr du meine Auftritte liebst und vor allem natürlich – meine Beine. Schöner als die von Marlene, hast du selbst gesagt.« Er tänzelte um sie herum und endete in einer galanten Verbeugung. »Ich beschwöre dich, mir zu helfen. Aus sicherer Quelle weiß ich, dass der Chef sich heute Abend mit irgendeinem preisgekrönten Architekten und dem Chef vom Bauamt trifft. Wegen einer Lokalität für das New Eden.« Er richtete sich auf und sah plötzlich wieder aus wie der argwöhnische Edgar, der Chefconcierge, dem nicht das kleinste bisschen entging. »In der Stadt ist irgendwas im Busch, keine Ahnung was. Nelly, fühlst du nicht auch so eine nervöse Spannung?«
»Hast du deine Tage, oder was?«, spottete Wally und fing an, Zitronen in hauchdünne Scheibchen zu schneiden. »Det Einzige, was mich nervös macht, ist der Gedanke an die Kundschaft, die in fünf Minuten auf der Matte steht.«
»Glaub mir, es is was im Busch! Billy Wilder hat erzählt, dass heute jemand am Brandenburger Tor mit einem Luftgewehr auf die Ballons geschossen hat, die sie in einer Motorradszene steigen lassen.«
»Lausbubenstreiche.«
»Glaube ich nicht, auf den Ballons steht Ami go home und Russki go home.« Er grinste. »Außerdem war das ne Frau.«
»Vielleicht ne Spinnerin, die immer noch in Hitler verliebt ist.«
»Nee, nee, irgendwas ist los, ganz Berlin ist hochnervös, glaub’s mir.«
»Genau, ihr vom Kempinski toppt jeden Geheimdienst.«
»Das Kempinski weiß nichts, aber sein Chefconcierge weiß alles.« Edgar nickte ernst.
»Was würde passieren, wenn deine Kollegen dich bei deiner Chefin verpetzen?«
Er tippte sich an die Stirn »Dumme Frage, da passiert gar nichts, mein Chef weiß Bescheid.« Mit einem neckischen Grinsen zog er die Perücke über seine Glatze, hielt inne und schürzte die Lippen zu einem übertriebenen Kussmund. »Nur seine Frau wäre entsetzt, weil ihr Mann mich natürlich sofort für sie verlassen würde, wenn er mich so sehen könnte.«
»Angeber!« Wally warf ihm ein nasses Geschirrtuch an den Kopf. »Also, wer kommt denn nun so Wichtiges?«
»Vorsicht, die Perücke war teuer!« Er bückte sich nach dem Geschirrtuch und glättete es. »Billy Wilder und seine ganze ›Eins, Zwei, Drei‹-Truppe.«
»Von denen waren schon viele da. Denk nur an den verrückten Abend neulich mit dem Horst! Was soll dir das schon bringen?«
»Det waren doch bloß die Schauspieler, ich brauch die Strippenzieher. Und wer könnte besser für mich sein als der Produzent von ›Manche mögen’s heiß‹! Tony Curtis und Jack Lemmon als Musikerinnen, jede Wette der Wilder steht auf so was.«
»Der Film ist schon lange fertig. Außerdem ist der Wilder verheiratet!«
»Na und, sag ich da, und noch mal na und! Vielleicht inspirier ich den zu einem neuen Meisterwerk! Was ist denn los mit dir? Du bist sonst nicht so miesepetrig. Krach mit James? Freu dich doch. Vielleicht entdeckt der Wilder dich auch?«
»Wüsste nicht als was, Schauspielerei liegt mir nicht so.« Und das konnte sie sogar sagen, ohne mit der Wimper zu zucken. Nicht übel.
»Ach was, wer braucht schon Talent, du meine schöne Nelly, siehst jedenfalls besser aus als Marilyn Monroe …«
»Blödsinn, mach dich lieber fertig! Draußen ist schon mords was los.«
Edgar legte eine Hand an den Kopf, als würde er salutieren, schob dann die Locken der Perücke über seine Schulter und verschwand in dem winzigen Personalraum hinter der Bar.
Wally lief zum Eingang. Er hatte, ohne es zu merken, voll ins Schwarze getroffen. James würde heute nicht kommen, vielleicht auch nie mehr. Der eifersüchtige Idiot hatte sich nicht entblödet, hinter ihr her zu spionieren. Nur weil sie nicht jeden freien Abend mit ihm verbringen wollte, glaubte er, dass sie noch andere Liebhaber hätte. Dabei war er es, der sich ins Hemd machte, wenn sie sich mal an seiner Vermieterin vorbei in seine Wohnung schmuggelte. James war es, der immerzu für die BBC auf Achse war und nur im Eden auftauchte, wenn sie gerade in seinen Zeitplan passte. Aber dann den Eifersüchtigen spielen. Sie stöhnte leise, trotzdem, er fehlte ihr. Oder besser gesagt seine Küsse. Er war ein guter Küsser, fast so, als wüsste er, was Wally sich wünschte, noch bevor es ihr selbst klar war.
Seufzend spähte sie durch das Guckloch der Eingangstür und hielt Ausschau nach James. Klar, sie hatte ihm den Laufpass gegeben, aber sie hätte nie gedacht, dass ein angeblich echter Schotte so schnell aufgeben würde. Dafür entdeckte sie Wampen-Andie und Glatzen-Holger und dahinter jede Menge Studenten, die auch nicht gerade zu ihren liebsten Kunden zählten. Viele gaben kaum Trinkgeld, aber wenigstens hatten sie bessere Manieren als Glatzen-Holger. Sein Kumpel Wampen-Andie benahm sich nicht ganz so dreist. Immer wieder versuchten die zwei bei Angel zu landen, wollten wissen, ob sie untenrum auch rothaarig war. Wenn sie auch nur geahnt hätten, dass Angel keine Frau war, hätten sie Edgar draußen aufgelauert. Denn gleich nach den Witzen über Hängetitten kamen ihre Witze über Schwuchteln, die Feinde jeder echten Männerkameradschaft. Und von der Männerkameradschaft kamen sie dann auf die Ungerechtigkeit von Ausgleichszahlungen an Opfer des Zweiten Weltkriegs: »Und wer zahlt uns auch nur einen Pfennig für all das Elend, das wir an der Front erleben mussten?«
Manchmal war diese Arbeit hier sehr unerfreulich. Sie