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Karriere oder Familie?
September 1965: Malou Graf kämpft darum, in ihrem Beruf als Reporterin weiter Erfolg zu haben. Sie schreibt mit viel Feingefühl und Empathie, entlockt ihren Gesprächspartnern private Informationen, ohne sie bloßzustellen. Bald wird sie als »Gräfin der Gesellschaftskolumnen« bekannt. Romy Schneider, die Rolling Stones, Roy Black: Sie alle reißen sich förmlich darum, von ihr interviewt zu werden. Als sie Mutter wird und versucht, die angeschlagene Beziehung zu ihren Eltern zu kitten, erfährt Malou auf schmerzhafte Weise, wie schwierig es als Frau ist, Karriere und privates Glück zu vereinen. Muss sie eine Entscheidung fällen? Kann sie das überhaupt?
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Seitenzahl: 501
Das Buch
September 1965: Malou Graf kämpft darum, in ihrem Beruf als Reporterin weiter Erfolg zu haben. Sie schreibt mit viel Feingefühl und Empathie, entlockt ihren Gesprächspartnern private Informationen, ohne sie bloßzustellen. Bald wird sie als »Gräfin der Gesellschaftskolumnen« bekannt. Romy Schneider, die Rolling Stones, Roy Black: Sie alle reißen sich förmlich darum, von ihr interviewt zu werden. Als sie Mutter wird und versucht, die angeschlagene Beziehung zu ihren Eltern zu kitten, erfährt Malou auf schmerzhafte Weise, wie schwierig es als Frau ist, Karriere und privates Glück zu vereinen. Muss sie eine Entscheidung fällen? Kann sie das überhaupt?
Die Autorin
Teresa Simon ist das Pseudonym der promovierten Historikerin und Autorin Brigitte Riebe. Sie ist neugierig auf ungewöhnliche Schicksale und lässt sich immer wieder von historischen Ereignissen und stimmungsvollen Schauplätzen inspirieren. Die SPIEGEL-Bestsellerautorin ist bekannt für ihre intensiv recherchierten und spannenden Romane, die tiefe Emotionen wecken. Ihre Romane »Die Frauen der Rosenvilla«, »Die Holunderschwestern«, »Die Oleanderfrauen« und »Glückskinder« wurden alle zu Bestsellern.
Lieferbare TitelDie Frauen der RosenvillaDie HolunderschwesternDie OleanderfrauenDie FliedertochterDie LilienbrautGlückskinderDie Reporterin – Zwischen den Zeilen
Teresa Simon
Roman
Band 2 der Reporterin-Reihe
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 08/2023
Copyright © 2023 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Katja Bendels
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Alamy Stock Foto (United Archives GmbH); Stadtarchiv München (Bildsignatur: FS-NL-GRO-428-09)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-28807-5V001
www.heyne.de
Für Margaretha
Füße, wofür brauche ich euch, wenn ich Flügel zum Fliegen habe?
Frida Kahlo (1907–1954)
Die Andern sind das weite Meer.Du aber bist der Hafen.So glaube mir: kannst ruhig schlafen,Ich steure immer wieder her.
Mascha Kaléko (1907–1975)
Frank Sinatra, Fly Me To The Moon
The Rolling Stones, Everybody Needs Somebody To Love
The Rolling Stones, Pain In My Heart
The Rolling Stones, The Last Time
The Rolling Stones, As Tears Go By
Margot Eskens, Die Zeiger der Uhr
Udo Jürgens, Merci Chérie
The Mamas & the Papas, Monday, Monday
Ella Fitzgerald, Summertime
Roy Black, Ganz in Weiß
Roy Orbison, Pretty Woman
Ray Charles, Crying Time
Zarah Leander, Yes, Sir!
Drafi Deutscher, Marmor, Stein und Eisen bricht
Heinz Rühmann, Ich brech die Herzen der stolzesten Frau’n
Zarah Leander, Kann denn Liebe Sünde sein?
Zarah Leander, Davon geht die Welt nicht unter
Zarah Leander, Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n
Heidi Brühl, Wir wollen niemals auseinander geh’n
Peter Beil, Und ein Zug fährt durch die Nacht
The Beatles, Yellow Submarine
Jimi Hendrix, Hey Joe
Jimi Hendrix, The Wind Cries Mary
Jimi Hendrix, Foxy Lady
Jimi Hendrix, Wild Thing
Esther und Abi Ofarim, Noch einen Tanz
Esther und Abi Ofarim, Morning Of My Life
Zarah Leander, Bei mir bistu shein
Peter Seeger, We Shall Overcome
Max Colpet, Sag mir, wo dieBlumen sind
The Beatles, All You Need Is Love
Scott McKenzie, San Francisco
Arthur Brown, Fire
Bee Gees, Massachusetts
Heintje, Mama
Beniamino Gigli, Mamma
Otis Redding, Sittin’ On The Dock Of The Bay
Simon and Garfunkel, The Sound Of Silence
Alexandra, Zigeunerjunge
Alexandra, Illusionen
Alexander, Mein Freund, der Baum
The Doors, Light My Fire
The Beatles, Hello, Goodbye
Procol Harum, A Whiter Shade Of Pale
Percy Sledge, When A Man Loves A Woman
Das konnte doch nicht wahr sein!
Das durfte einfach nicht wahr sein!
Die Stimmen um sie herum verschmolzen zu einem summenden Klangteppich, und über der übermütigen Schar spätsommerlicher Partygäste schien plötzlich eine Art Schleier zu liegen, so undeutlich wurden die Konturen der einzelnen Menschen. Das Einzige, was Malou Graf wie in einem grellen Spotlight noch sah, war jene ungewöhnliche Auffälligkeit auf dem entblößten Rücken des Verlegers, die auch ihren eigenen Rücken zeichnete: ein Sternenschweif aus bräunlichen Muttermalen.
Malou wurde flau im Magen.
Sie vergaß zu atmen und begann, am ganzen Körper zu zittern.
Zahlreiche Erinnerungen rasten wild durch ihren Kopf: Verleger Winklers rätselhafte Protektion gleich von ihrem ersten Tag im Verlag an, seine Bemerkungen über den schlesischen Mädchennamen ihrer Mutter, deren harsche Ablehnung ihres Journalistenberufs und speziell des Zeitungsverlags, für den sie schließlich tätig wurde, und schließlich Mamas jäh auftretende Übelkeit bei ihrem gemeinsamen Opernbesuch. Winkler hätte an diesem Abend ebenfalls in der Oper sein sollen, war dann aber überraschend nicht aufgetaucht – hing das alles zusammen?
Um ein Haar wäre Malou hingefallen, so wacklig waren plötzlich ihre Knie, doch ihre Kollegin Ella Weiss war schneller und stützte sie liebevoll.
»Was ist los?«, fragte die ältere Journalistin leise. »Du machst ja ein Gesicht, als hättest du gerade ein Gespenst gesehen! So verheerend sieht unser geschätzter Verleger ohne Hemd doch gar nicht aus …«
Ihr Scherz ging ins Leere. Ella spürte es sofort.
»So schlimm?«
Malou nickte stumm.
»Dann brauchst du jetzt eine Sitzgelegenheit und ein Glas Wasser.« Resolut schob Ella sie zu einem der kleinen Tische, die überall im Garten aufgestellt waren. Dort sank Malou auf den nächsten freien Stuhl. »Warte hier. Kühlung kommt!«
»Ich werde mich rasch umziehen, nachdem mein Töchterchen Nathalie mich soeben freundlicherweise in eine Art Poseidon verwandelt hat.« Winklers laute Stimme klang bemüht fröhlich von der Terrasse zu ihnen herüber. »Eigentlich bin ich ja ein Wasserfan – nur vielleicht nicht ausgerechnet heute, wenn meine gesamte Redaktion bei uns zu Gast ist.«
»Ich kann dir gern ein frisches Hemd holen, Hans«, bot seine Frau Camilla an.
»Lass gut sein, Liebling, bin ja gleich wieder zurück.« Er verschwand durch die Terrassentür ins Haus.
Inzwischen fiel Malou das Atmen wieder leichter, und auch ihr Blick klärte sich allmählich.
In ihrem Inneren jedoch herrschte blankes Chaos.
War Winkler womöglich ihr leiblicher Vater? Wie sonst konnte es sein, dass sie beide die gleiche markante Zeichnung aus Muttermalen auf ihrem Rücken trugen? Aber das würde bedeuten, dass sein Sohn Chris ihr Halbbruder war – jener Chris, mit dem sie vor vier Monaten einen zauberhaften Tag und ganz gegen ihre sonstigen Prinzipien eine leidenschaftliche Nacht verbracht hatte. Allerdings konnte sie sich an Letztere nur noch bruchstückhaft erinnern, weil sie beide aus Übermut zu viel Whiskey getrunken hatten. Am Morgen darauf hatte Malou einen Riesenkater gehabt, und Chris war verschwunden gewesen. Ein paar poetische Zeilen auf einem Zettel und sein Perlenarmband waren alles gewesen, was er zurückgelassen hatte.
Danach hatte Malou vergebens auf ihre Monatsblutung gewartet …
Und heute traf sie ihn wieder, im Haus seines Vaters, für dessen Boulevardzeitung Der Tag sie als Gesellschaftskolumnistin arbeitete.
Ihres gemeinsamen Vaters?
Die Übelkeit war schlagartig zurück.
»Dein Wasser.« Ella hatte gleich einen ganzen Krug mitgebracht, aus dem sie nun großzügig ein Glas füllte.
Malou leerte es in einem Zug. Und trank ein zweites gleich hinterher.
»Besser?«, fragte Ella.
Malou nickte matt.
»Grünlich um die Nase bist du allerdings noch immer. Jetzt werden sie bald den Grill anwerfen. Hühnerbeinchen, Steaks, Maiskolben, lauter leckeres Zeug. Magst du dich vielleicht zuvor noch ein wenig hinlegen? Ich könnte Winkler fra…«
»Bloß nicht!«, fiel Malou ihr ins Wort. »Ich möchte einfach nur weg von hier. So schnell wie möglich.«
»Ich kann dich fahren«, bot Fotograf Samy an, der plötzlich neben ihnen aufgetaucht war. Er und Malou arbeiteten häufig zusammen und waren mittlerweile zu guten Freunden geworden. »Sag mir einfach, wohin …«
Leicht schwankend stand er mit seinem halb leeren Bowleglas vor ihnen.
»Du, mein Lieber, setzt dich heute garantiert nicht mehr hinters Steuer«, gab Ella resolut zurück. »Schon gar nicht mit solch einer kostbaren Fracht!«
Malou sah sie alarmiert an.
Ahnte Ella etwas?
Bislang hatte sie noch niemanden in ihre Schwangerschaft eingeweiht. Allerdings hörte die kleine Frau mit dem scharfen Verstand und dem großen Herzen manchmal buchstäblich das Gras wachsen. Aber das mit Chris und ihr konnte selbst Ella nicht wissen …
»Wir brauchen unsere Gräfin doch noch«, setzte diese jetzt hinzu. »Und zwar heil und gesund. Wer sonst sollte jeden Morgen die letzte Tag-Seite mit köstlichem Promi-Klatsch füllen?«
»Hab’s ja nur gut gemeint.« Samy zog einen Flunsch.
»Weiß ich doch«, sagte Malou, der nicht verborgen geblieben war, welch sensibler Kern sich hinter der harten Schale ihres Kollegen verbarg. »Ein anderes Mal wieder, lieber Samy.«
»Na, dann lass ich euch beide jetzt besser in Ruhe …« Er zog davon.
»Ich fahr dich«, entschied Ella. »Mein Auto parkt vor der Tür, und stocknüchtern bin ich zudem. Alkohol macht das Leben nicht leichter, sondern vernebelt bloß alles. Das habe ich schon vor langer Zeit begriffen, und seitdem lasse ich lieber die Finger davon. Willst du dich noch von den Winklers verabschieden?«
Malous Blick geriet leicht panisch.
»Okay, also offenbar nicht«, sagte Ella rasch. »Dann erledige ich das für uns beide.« Sie grinste kurz. »Magen-Darm, werde ich sagen. Ganz plötzlich – leider. Da kommen in der Regel kaum Nachfragen.« Sie drückte ihr den Autoschlüssel in die Hand. »Der kleine rote Fiat. Setz dich rein, kurble die Scheibe runter – und atme!«
Die anderen Gäste schienen erneut ins Gespräch vertieft. Niemandem fiel auf, dass Malou langsam den Garten durchquerte.
Wo steckte nur Chris?
Kurz blieb sie stehen, sah sich um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Sie setzte ihren Weg fort. Für das, was sie mit ihm zu besprechen hatte, gab es im Hause seines Vaters ohnehin keinen Raum.
Ihres gemeinsamen Vaters?
Malous Magen krampfte sich erneut zusammen.
Es tut mir unendlich leid, entschuldigte sie sich bei dem winzigen Wesen, das in ihr wuchs. Feine Mama, die du dir da ausgesucht hast! Eigentlich solltest du es ja friedlich bei mir haben, beschützt und wohlbehütet bis zum Moment deiner Geburt, aber wie hätte ich das alles auch nur ahnen sollen …
Ihre Wangen waren nass, als sie einstieg, und sie konnte nichts dagegen tun.
Kurz darauf kam auch Ella. Sie warf Malou einen prüfenden Blick zu, enthielt sich aber eines Kommentars, was Malou ihr hoch anrechnete.
»Nach Hause?«, fragte sie stattdessen. »Du wohnst immer noch in Schwabing, richtig?«
Malou nickte zuerst automatisch, dann jedoch schüttelte sie den Kopf. »Nein, Richtung Neuhausen bitte«, sagte sie schniefend. »Genauer gesagt zum Rotkreuzplatz. Ich muss dringend zu meiner Mutter.«
Ella startete den Wagen und fuhr los.
»Geht es wieder?«, fragte sie nach einer Weile.
»Einigermaßen«, murmelte Malou. »Ich sollte versuchen, ruhig zu werden. Darauf kommt es jetzt an.«
Ella blinkte schweigend und bog links ab.
»Mein Sohn wäre jetzt ungefähr so alt wie du«, sagte sie nach einer Weile. »Leo, so habe ich ihn genannt. In der Regel rede ich nicht über ihn. Heute aber mache ich eine Ausnahme, sozusagen von Mutter zu Mutter.«
»Woher weißt du …?«, fragte Malou verblüfft. »Sieht man es denn schon?«
»Nur wenn man dich sehr gut kennt. Du hast so ein Leuchten in den Augen. Und manchmal, wenn du dich unbeobachtet fühlst, streichelst du verstohlen über deinen Bauch. Was sagt denn dein Freund dazu? Philipp, richtig? Freut er sich? Wird sich ja schließlich eine Menge für euch ändern …«
Allerdings. Nur dass es kein »Euch« mehr gab. Malou würde ihr neues Leben mit allem, was dazugehörte, allein zu stemmen haben, so viel war ihr klar. Auf Philipp konnte sie nicht zählen – aus den verschiedensten Gründen …
»Philipp weiß nichts davon«, erwiderte Malou belegt. »Wir haben nämlich Sendepause, und das schon seit Monaten. Gegen seine Faszination für die Fliegerei bin ich auf Dauer nicht angekommen. Wir haben nur noch gestritten. Leider einmal zu viel.«
Und außerdem weiß ich ja selbst noch nicht einmal, ob er der Vater ist, hätte sie beinahe hinzugefügt. Es könnte ebenso gut Chris sein, Winklers Sohn. Was dann?
Dann hätten wir eines der grundlegendsten menschlichen Tabus verletzt …
Erneut schnürte die aufsteigende Panik ihr die Kehle zu.
Ella ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.
»Unterschiedliche Ansichten sind doch eigentlich dazu da, dass man an ihnen wächst«, sagte sie schließlich. »Und nicht, um gleich die Flinte ins Korn zu werfen. Ihr beide seid so ein gutes Paar. Ihr werdet sicherlich auch prima Eltern sein. Mit einem Partner an der Seite ist alles leichter. Überleg dir das noch einmal in aller Ruhe, Malou.«
Malou hätte Ella dazu so einiges zu erzählen gehabt. Von Philipps regelmäßigen Fluchten in seine karge Einsiedlerwohnung über seine unselige Kindheit, überschattet vom Dauerstreit der Eltern, bis hin zu seiner Sucht nach Geschwindigkeit, die auf Malou wirkte, als renne er ständig vor etwas davon.
Doch wozu Ella mit alldem belasten? Hatte sie nicht selbst schon genug zu tragen? Ihre Kollegin hatte eben etwas erwähnt, das sich in Malous Gedächtnis eingebrannt hatte.
»Dein Sohn wäre jetzt ungefähr in meinem Alter, hast du vorhin gesagt. Bedeutet das, dass er nicht mehr lebt?«
»Die Vierzigerjahre waren keine gute Zeit, um ein Kind zu bekommen – jedenfalls nicht für mich.«
»Was ist damals passiert?«, flüsterte Malou. »Bist du …«
»Jüdin?« Ella klang plötzlich bitter. »Nach jüdisch-religiösem Gesetz bin ich das, denn meine Mutter war Jüdin. Für die Nazis galt ich mit meinem arischen Vater als Mischling 1. Grades – als Halbjüdin also, evangelische Taufe und Konfirmation hin oder her. Aber sag selbst: Kann es halbe Menschen geben? Daran habe ich niemals geglaubt. Und die Nazis offenbar auch nicht. Denn als mein Vater sich scheiden ließ, wurden Mama und ich zu Freiwild. Was schließlich auch mein Ungeborenes zu spüren bekam. Die Wehen setzten zwei Monate zu früh ein. Mein Löwenkind hat gekämpft, aber diesen Kampf leider verloren. Leo hätte einen Brutkasten gebraucht, dazu liebevolle, erfahrene Kinderärzte, dann hätte er es vielleicht geschafft. Mit einer Mutter wie mir aber, die sich in Kellern, Baustellen und ungeheizten Lauben verstecken musste, standen seine Chancen schlecht. Er durfte nur einen einzigen Tag leben.« Ihre Stimme drohte zu kippen. »So winzig war er, und dabei so wunderschön …«
»Das tut mir unendlich leid«, sagte Malou bewegt.
»Eine Wunde, die sich niemals schließen wird. Aber sie gehört zu mir wie meine krausen Haare und die schiefen Zehen. Ich musste lernen, mit ihr zu leben – was man eben so leben nennt. Ohne das Werk von Viktor Frankl hätte ich es vermutlich niemals geschafft.«
»Viktor Frankl – wer ist das?«, fragte Malou.
»Ein jüdischer Wiener Psychiater, der vier KZs überlebt und die Logotherapie begründet hat. ›Ihr könnt mir alles antun, aber ihr habt nicht in der Hand, wie ich darauf reagiere‹, hat er den Nazis entgegengehalten – und das habe auch ich mir zu eigen gemacht.« Ella sandte Malou einen prüfenden Seitenblick. »Du behältst doch für dich, was ich dir soeben erzählt habe? Ich möchte nicht, dass es unter den Kollegen die Runde macht.«
»Selbstverständlich. Von mir erfährt niemand ein Wort«, versprach Malou.
Ella legte ihre Hand auf Malous Arm.
»Wenn ich etwas aus diesen ganzen furchtbaren Erlebnissen gelernt habe, dann das: Leben ist etwas sehr Kostbares. Also pass bitte gut auf euch beide auf. Wann ist es denn so weit?«
»Im Februar«, sagte Malou leise. »Wenn das Licht zurückkehrt. Dann kann sie im Frühling und Sommer nach und nach die Welt entdecken, ein Gedanke, der mich glücklich macht.«
»Sie?«
»Sie«, bekräftigte Malou. »Ein Mädchen. Hab ich vom ersten Moment an gewusst.«
Ella lächelte. »Falls ihr beide Hilfe braucht, wobei auch immer – scheu dich bitte nicht, mich zu fragen.«
»Danke dir«, erwiderte Malou gerührt. »Für dein Vertrauen und für das liebe Angebot, das ich gerne annehme. Du kannst mich hier rauslassen, Ella. Die letzten Meter gehe ich zu Fuß. Die frische Luft macht den Kopf klar. Und einen klaren Kopf werde ich jetzt brauchen.«
»Alles Gute für das Gespräch mit deiner Mutter«, sagte Ella. »Ich geb dir noch ein paar Zeilen von Mascha Kaléko mit auf den Weg: Jage die Ängste fort. Und die Angst vor den Ängsten … Sei klug und halte dich an Wunder. Hat mir schon so manches Mal geholfen.«
Das Gesagte klang noch in Malou nach, als sie nach ein paar Minuten Fußweg vor dem mehrstöckigen Wohnhaus stand, in dem ihre Eltern lebten. Langsam sank die Dämmerung herab, es wurde ein wenig kühler, und an den ersten gelben Blättern der alten Bäume am Straßenrand war zu erkennen, dass der Herbst nicht mehr fern war.
Plötzlich zögerte sie.
Erst im letzten Winter hatte Theo Grafs schwerer Unfall ans Licht gebracht, dass er, den Malou ein Leben lang »Papa« genannt hatte, aufgrund seiner Blutgruppe unmöglich ihr Vater sein konnte.
Wer war es dann?
Im Krieg gefallen, wie so viele seines Jahrgangs, hatte Malous Mutter ihr schließlich nach stundenlangem Nachbohren gesagt. Mehr war ihr beim besten Willen nicht zu entlocken gewesen, egal wie hartnäckig Malou sie auch bedrängt hatte.
Hatte Mama womöglich gelogen?
Wie würde sie nun reagieren, wenn Malou sie mit den Erkenntnissen der Sommerparty konfrontierte – würde sie ihr erneut ausweichen, oder würde sie endlich die Wahrheit sagen?
Malou musste sie dazu bringen. Zu viel stand jetzt für alle auf dem Spiel.
Sie drückte auf den Klingelknopf.
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Summer ertönte und die Haustür sich öffnete.
Ihre Mutter zog erstaunt die Brauen hoch, als sie Malou die Treppen heraufkommen sah. Karin Grafs Haare wirkten verwuschelt, die helle Bluse war schief zugeknöpft, und auch der Rock saß nicht so perfekt wie gewöhnlich.
Hatte sie bereits geschlafen?
»Überraschungsbesuch«, sagte Malou. »Guten Abend, Mama! Ist Papa auch da?«
»Spielt Karten mit den Fischers vom Nebenhaus. Seit dem langen Krankenhausaufenthalt ist seine alte Skatleidenschaft neu erwacht. Ich kann, wie du ja weißt, dieser Art von lärmender Geselligkeit so gar nichts abgewinnen …«
Malou folgte ihr ins Wohnzimmer, und mit jedem Schritt wuchs ihre Befangenheit. Auf dem niedrigen Teakholztischchen stand eine Flasche mit bernsteinfarbenem Inhalt und einem handgemalten Etikett – der selbst gebrannte Nusslikör, den die Grafs seit Jahren von einem treuen Kunden geschenkt bekamen.
Die Flasche war nur noch zur Hälfte gefüllt.
In Gesellschaft trank ihre Mutter maximal ein Glas Wein oder Sekt, weil sie angeblich so wenig vertrug.
Pichelte sie heimlich Hochprozentiges, sobald sie allein war?
Karin Graf schien das Ganze ein wenig peinlich zu sein, denn sie schob Flasche und Glas resolut zur Seite.
»Und von einem neuen Motorroller träumt Theo auch schon wieder, stell dir das vor, und das nach diesem Unfall, der ihn fast das Leben gekostet hätte! Aber nicht mit mir, hab ich ihm gesagt. Ich werde nicht tatenlos dabei zusehen, wie er sich zum zweiten Mal alle Knochen bricht …«
»Mama«, unterbrach sie Malou. »Darüber reden wir ein anderes Mal, einverstanden?«
»Ganz wie du meinst. Du siehst so aufgewühlt aus, Marie. Ist etwas passiert?«, fragte ihre Mutter, die Malou nach wie vor nach ihrem Geburtsnamen Marie-Louise Marie nannte. »Setz dich doch erst einmal! Es muss etwas passiert sein! Du kommst doch sonst nicht zu uns, ohne dich vorher telefonisch anzukündigen.«
Malou atmete tief aus.
»Allerdings«, sagte sie. »Du weißt doch, wie sehr mich seit jeher dieser Muttermalschweif auf meinem Rücken gestört hat?«
»Ja, leider. Du hast ihn stets gehasst, obwohl ich dir ja immer gesagt habe, dass ich ihn ganz charmant finde …«
»Weil der Mann, den du geliebt hast, die gleiche Anordnung von Muttermalen am Rücken trägt?«, fragte Malou. »War das der Grund?«
»Woher weißt du …« Ihre Mutter brach ab und starrte auf die Teppichfransen.
»Ich hab es vorhin gesehen. Bei der Gartenparty hat Winklers Teenagertochter ihn aus Spaß mit dem Wasserschlauch attackiert, bis er klatschnass war und sein Hemd ausgezogen hat. Da hatte ich mein verhasstes Mal eins zu eins vor Augen. Das kann doch kein Zufall sein!« Malous Stimme wurde lauter. »Ist er mein angeblich im Krieg gefallener Vater, Mama? Hat mich mein Chef, der Verleger Hans Wolfgang Winkler, gezeugt?«
Ihre Mutter sprang auf und rannte aus dem Zimmer. Malou folgte ihr, war aber nicht schnell genug.
Die Tür zum Schlafzimmer war bereits von innen zugesperrt.
Mit einem tiefen Seufzer ließ Malou sich davor auf den Boden sinken.
»So einfach kommst du mir heute nicht davon, hörst du?«, sagte sie. »Ich habe deine Ausweichmanöver gründlich satt und werde nicht eher von hier weichen, bis ich nicht endlich die Wahrheit aus deinem Mund erfahren habe! Also noch einmal: Ist Winkler mein Vater?«
Von der anderen Seite kam nur Unverständliches.
»Mach auf, Mama!« Malous Tonfall hatte sich weiter verschärft. »Rede endlich. Schluss mit all diesen Lügen! Das bist du mir schuldig.«
Alles blieb still.
»Nun gut, ganz wie du willst. Dann werde ich eben so lange hier campieren, bis Papa zurück ist«, sagte Malou. »Besonders bequem ist es auf dem harten Boden für eine Schwangere allerdings nicht, das muss ich schon sagen …«
Sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Die Tür ging auf.
»Du bist schwanger?« Karins Augen waren gerötet. In der Hand hielt sie ein paar vergilbte Papierseiten.
»Ja, das bin ich, und ich hätte es dir lieber auf andere Weise mitgeteilt.«
Und weil du mich so lange konsequent belogen hast, ist womöglich ausgerechnet mein Bruder der Vater…
Da war sie wieder, jene grässliche Übelkeit.
»Ist Winkler mein Vater?«, fragte Malou erneut, während sie gegen den Brechreiz ankämpfte.
»Du – schwanger! Jetzt bin ich vollkommen konfus. Lass uns zurück ins Wohnzimmer gehen«, bat Karin.
»Aber keine neuerlichen Winkelzüge«, forderte Malou. »Heute brauche ich Antworten!«
Ihre Mutter seufzte resigniert. »Lies erst einmal das hier. Dann wirst du mich vielleicht besser verstehen.«
Malou stand auf und folgte ihr. Die Bögen, die ihr die Mutter in die Hand drückte, während sie auf dem Sofa Platz nahm, fühlten sich leicht brüchig an.
Sie begann zu lesen.
Brieg, März 1940
Hans,
denn »mein lieber Hans« kann und will ich nicht mehr schreiben!
Dein Rilke-Band liegt jetzt in der Tonne, denn du hast mir das Herz gebrochen. Wohin sind all deine Komplimente, die feurigen Liebesschwüre und Versprechen, mit denen du mich seit dem letzten Sommer überhäuft hast?
Geschmolzen wie Schnee in der ersten Frühlingssonne …
Auch die zarte Kette mit den Flussperlchen, die schon deine heiß geliebte Großmutter trug, habe ich mir zutiefst enttäuscht vom Hals gerissen. Denn schon morgen steckst du in St. Nikolas einer anderen den Ring an den Finger, jener arroganten blonden Verlegerstochter aus Breslau, die dich mir gestohlen hat.
Woher ich das weiß?
Die ganze Stadt spricht von nichts anderem mehr. Und so musste ich von fremden Menschen deinen Verrat erfahren, denn du selbst warst viel zu feig, um ihn mir zu gestehen. Hattest wohl gehofft, du würdest schon an der Front sein, bis ich dahinterkäme, und könntest somit jeder Auseinandersetzung aus dem Weg gehen?
Wie konnte ich mich nur so sehr in dir täuschen?
Mein monatelanges verliebtes Trunkensein in deiner Nähe ist jäh einer klirrenden Nüchternheit gewichen.
Ein Held warst du für mich, mein goldener Ritter, der Mann meines Lebens. Jedes Wort habe ich dir geglaubt, jeden Blick aus deinen blauen Augen aufgesogen, die mir so treu, so wahrhaftig erschienen sind. Du hast mich zur Frau erweckt, hast mir gezeigt, wie schön die Liebe sein kann.
»Die Zukunft gehört uns beiden, mein Herz«, so deine innigen Beschwörungen. »Der Krieg wird bald gewonnen sein, und danach werden wir beide zusammenleben. Für immer!«
Worte, Worte, nichts als verlogene Worte.
Jetzt wirst du niemals mein Geheimnis erfahren …
Du kannst in wenigen Tagen tot sein, und ich bin es bereits – so jedenfalls fühlt es sich gerade in mir an. Wozu überhaupt noch weiteratmen – ohne deine Liebe? Ohne dich? Ginge es nur um mich allein, ich würde keinen Augenblick zögern, Taten folgen zu lassen.
Doch ich kann es nicht.
Ich darf es nicht.
Deshalb muss auch ich fortgehen, fort von zu Hause, fort von den mitleidigen Blicken der Freunde und Nachbarn, die alsbald in Häme umschlagen könnten, fort von den elterlichen Fragen und Vorwürfen, die mich nur noch verzweifelter machen würden.
Fort von allem.
Zum Glück gibt es einen Menschen voller Güte, der mich aufnimmt. Zu diesem fliehe ich nun. Die Fahrkarte ist bereits gekauft, mein kleiner Koffer gepackt und unter dem Bett versteckt, damit Mama ihn nicht entdeckt.
Ich werde sie mit meiner überstürzten Flucht sehr unglücklich machen, was mir wehtut, aber es geht nicht anders. Vielleicht kann sie mir später einmal verzeihen, das ist die einzige Hoffnung, die mir bleibt.
Und Papa?
Seine Seele ist groß, das weiß ich. Er wird nichts dazu sagen, das ist so seine Art, besonders seitdem er so krank geworden ist, aber tief drinnen wird er wissen, dass ich keine andere Wahl hatte.
Er versteht sein Kind. Darauf muss ich bauen.
Bevor mich morgen früh der Zug zum Bahnsteig ruft, werde ich heute noch ein letztes Mal zu meinem Lebensfluss gehen. Hier haben wir beide gemeinsam geträumt, mein untreuer Liebster, hier uns eine goldene Zukunft zurechtgesponnen. Aber Träume können erfrieren, wenn man sie nicht weiterspinnt, wusstest du das?
Ich glaube an Nächte.
Diesen einzigen Satz von Rilke will ich noch gelten lassen, damit ich nicht vollständig den Verstand verliere. Ich bin nun ganz allein auf der Welt, und doch nicht allein genug.
Werde ich stark genug sein?
Zur nächtlichen Oder werde ich all mein Sehnen, all meinen Schmerz, all meine Ängste tragen.
All meine Scham.
Ich muss noch einmal hinunter zum dunklen Fluss, an dem einst unser Liebesnest war, sonst kann ich nicht fort. Aber ich fürchte auch gleichzeitig den lockenden Ruf des Wassers. Als Tochter der Oder weiß ich, wie eisig sie im März noch ist, absolut tödlich, wagt man nur einen einzigen falschen Schritt. Und dennoch werde ich heute noch ein letztes Mal an ihrem Ufer stehen, die Arme weit ausgebreitet.
Ich bin bereit.
Komme, was da auch kommen mag.
»Das hast du geschrieben?«, fragte Malou.
Ihre Mutter nickte. All das Strenge, das damenhaft Beherrschte, das sie sonst ausstrahlte, war aus ihrem Gesicht verschwunden. Jung sah sie plötzlich aus – und unendlich verletzlich.
»Damals war ich neunzehn. Ich habe diesen Brief niemals abgeschickt.« Karins Stimme war leise. »Wozu auch? Hans hatte seine Wahl ja längst getroffen. Und ich die meine.«
Sie legte ein altes Foto auf den Tisch – ein junger Mann in Wehrmachtsuniform, der seinen Arm zärtlich um eine sehr junge Karin gelegt hatte.
»Das einzige Foto, das ich noch von ihm habe. Ich wollte es immer wegwerfen …«
»Du hast mit dem Gedanken gespielt, dich umzubringen – und mich dazu?«, fragte Malou, die in Gedanken noch immer bei dem Brief war, dessen düstere Schwermut sie schockiert hatte.
»Ich habe in jenen Tagen tatsächlich ernsthaft mit diesem Gedanken gespielt, das muss ich zugeben. Mein kranker Vater, meine frömmelnde Mutter, diese Schande im Städtchen, wo jeder jeden kannte, dazu noch der Krieg, der uns allen im Nacken saß, ich wusste einfach nicht mehr weiter. Hans hatte nur mit meinen Gefühlen gespielt und mich zutiefst enttäuscht. Damit zu leben, erschien mir nahezu unmöglich.« Sie sah ihre Tochter lange an. »Aber, wie du siehst, habe ich mich anders entschieden, sonst säßen wir beide heute nicht hier. Anstatt als schwangere Wasserleiche in der Oder zu enden, bin ich zu Onkel Julius nach München geflohen, der mich wie eine Tochter aufgenommen hat. Hier bin ich auch Theo begegnet, durfte seine Frau werden, dich zur Welt bringen und in einer neuen Familie glücklich sein. Was hinter mir lag, wollte ich für immer vergessen – vor allem ihn, jenen berechnenden, treulosen Kerl, der immer nur an sich selbst gedacht hat …«
»Es muss schrecklich für dich gewesen sein, Mama«, sagte Malou bewegt. »Du warst noch so jung und total verzweifelt, und ich kann verstehen, dass du mir nichts davon erzählt hast, als ich klein war. Aber später, als ich denken konnte und vieles begreifen – warum dann weiterhin nichts als Lügen? Du hast behauptet, mein Erzeuger sei tot, dabei strotzt er vor Leben!«
»Für mich war er tot, viele Jahre lang. Wie hätte ich ahnen können, dass Hans eines Tages eine Zeitung verlegen würde – und das auch noch in der Stadt, in der wir leben? Und dass du dich ausgerechnet bei dieser Zeitung als Journalistin verdingen würdest? Ich bin fast durchgedreht, als ich es erfahren habe!«
Malou musste an den gemeinsamen Opernbesuch denken, und plötzlich verstand sie, was damals in ihrer Mutter vorgegangen sein musste.
»Spätestens da hättest du mit der Wahrheit herausrücken müssen, anstatt wortlos wegzulaufen«, sagte sie. »Wie stehe ich jetzt da, wenn es herauskommt?«
»Muss es doch nicht. Hans weiß nichts von deiner Existenz. Diesen Brief hat er ja niemals erhalten. Ehrlich gesagt, war dieser Brief auch eher ein Gespräch mit mir selbst, das ich führen musste, bevor ich handeln konnte.«
»Er ahnt, nein, ich glaube, er weiß, dass ich deine Tochter bin, Mama, so wie er auf deinem schlesischen Mädchennamen herumgeritten ist. Außerdem kennt er mein Geburtsdatum und kann eins und eins zusammenzählen.«
»Aber er hat dich nicht direkt auf mich angesprochen?«
»Nein, das hat er nicht.«
»Typisch für Hans! Alles immer schön unter den Teppich kehren, solange es bequemer für ihn ist. So hat er es damals auch mit seiner Beziehung zu Eva Mehwald gemacht, der reichen Verlegerstochter aus Breslau, die er geheiratet hat, obwohl er doch mir die Ehe versprochen hatte …«
»Diese Eva ist schon lange tot, Mama. Seine Frau heißt Camilla. Sie hat sich letztens übrigens angelegentlich nach meinem Perlencollier erkundigt. Ich dachte ja bis eben, es sei ein Erbstück deiner Mutter, und war ihr gegenüber ganz unbefangen, dabei stammt es von Winkler, nicht wahr? Womöglich gibt es eine alte Fotografie, und sie hat es wiedererkannt – und er doch sowieso.«
»Dann denkt sie vielleicht noch, ich hätte das Collier gestohlen«, sagte Karin bitter. »Dabei war es doch seine Liebesgabe. Geradezu aufgedrängt hat er es mir. Ach, hätte ich diese verdammte Kette doch bloß gleich weggeworfen …«
»Die Perlen sind gerade mein kleinstes Problem, Mama«, sagte Malou. »Hans Wolfgang Winkler ist also mein Erzeuger. Weiß Papa davon?«
»Ja. Ich habe Theo damals vor der Hochzeit alles erzählt. Und er wollte mich trotzdem zur Frau – stell dir vor.«
»Und Onkel Julius?«
»Ihm habe ich zwar die Tatsachen berichtet, aber keinen Namen genannt, und er hat mich auch nicht bedrängt. Du kennst doch seine feine, zurückhaltende Art. Wenn einer Geheimnisse zu hüten weiß, dann er. Er war so glücklich über Theo und mich. Allein das hat für ihn gezählt.«
Malou lehnte sich auf dem Sofa zurück und schloss die Augen.
Winkler war also definitiv ihr leiblicher Vater, und sie hatte die Nacht mit seinem Sohn Chris verbracht, ihrem Bruder, ohne es zu wissen, denn es gab ja, wie Ella es so klug gesagt hatte, keine halben Menschen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie getanzt und geflirtet und sich geküsst hatten, und dass sie dann viel zu viel Whiskey getrunken hatten.
Nie wieder würde sie auch nur einen Tropfen dieses Teufelsgesöffs anrühren!
Wie weit waren sie in jener Nacht in ihrem seligen Rausch gegangen? Konnte das Kind in ihrem Leib tatsächlich Christopher Winklers Kind sein? Das hässliche Wort INZEST, um das Malou sich bislang gedrückt hatte, flammte grell wie eine Neonschrift vor ihr auf.
Ihr wurde eiskalt und sterbensübel.
»Du siehst ja plötzlich ganz elend aus, Kind«, hörte sie ihre Mutter besorgt sagen. »Siehst du, Marie, nicht jede Wahrheit macht auch glücklich! Oder setzt dir gerade die Schwangerschaft zu? Wie weit bist du denn eigentlich? Und was sagt Philipp dazu?«
»Der weiß noch nichts davon, Mama. Wir hatten nämlich ordentlich Stress und haben uns lange nicht mehr gesehen. Vielleicht ist es ganz aus zwischen uns. Gut möglich sogar.« Staksig stand Malou auf. »Mir ist tatsächlich gerade ganz und gar nicht gut. Ich muss jetzt nach Hause und alles erst einmal verdauen.«
»Darum also kein Ton mehr über Philipp, und das schon seit Wochen! Deine Eltern sind aber nicht blöd, weißt du, und haben sich bereits so etwas in der Richtung gedacht. Natürlich wäre es schön, wenn ihr euch wieder versöhnen würdet, vor allem jetzt, wo ein Baby unterwegs ist.«
Malou zog die Schultern hoch und blieb stumm.
»Aber eines sollst du wissen, Marie«, fuhr ihre Mutter fort. »Unseretwegen musst du keine Ehe eingehen, nur weil du schwanger bist. Diese Zeiten sind vorbei. Wenn du heiratest, sollte es einzig und allein aus Liebe geschehen, das wünsche ich dir.«
Jetzt gelang Malou ein winziges Lächeln.
»Du bist wirklich immer wieder für Überraschungen gut, Mama, das muss man dir lassen!«, sagte sie.
»Willst du dich nicht lieber hier hinlegen? Ich könnte dir Kamillentee kochen …«
»Danke, aber ich muss mich jetzt erst einmal sortieren – allein. Bist du so lieb und rufst mir ein Taxi? Ich fürchte, Bus und Straßenbahn schaffe ich nicht mehr ganz …«
Zu Hause angekommen, riss Malou sich erst einmal das verschwitzte Kleid herunter und gönnte sich eine kühle Dusche, und zwar so ausgiebig, dass ihr Kater Monsieur Filou, der ihr einst über die Dächer Schwabings zugelaufen war, vor der Badezimmertür schon vorwurfsvoll zu maunzen begann.
Danach fühlte sie sich wieder etwas besser, war sogar in der Lage, ihre Leibesmitte kritisch zu beäugen.
War ihr Bauch dicker geworden?
Eigentlich unmöglich innerhalb eines Tages, denn gestern noch war sie davon überzeugt gewesen, dass man im vierten Monat noch nichts sehen könne. Doch genauso kam es Malou gerade vor, während sie sich abtrocknete, eincremte und anschließend in ein großes Baumwolltuch wickelte, das sie über dem Busen verknotete.
Sie musste ihre Schwangerschaft endlich offiziell bekannt machen – nicht zuletzt ihrem Chef, der nun plötzlich auch ihr leiblicher Vater war.
Malou hatte keine Ahnung, wie sie ihm ab jetzt begegnen sollte. Alles auf den Tisch bringen oder so tun, als sei nichts passiert? Wenn ihr Kind allerdings von seinem Sohn war, würde nicht nur ihre Welt krachend in sich zusammenstürzen …
Sie musste mit Chris reden. Dringend. Aber wie mit ihm in Kontakt treten? Wohnte er aktuell bei seinen Eltern?
Bei Winklers anzurufen, erschien ihr unmöglich.
Wo sonst konnte sie ihn antreffen?
Während tausend Gedanken durch ihren Kopf schossen, fiel Malou als rettende Lösung Samy ein. Der Fotograf schien Chris näher zu kennen, so positiv wie er sich dem Chef gegenüber über dessen Sohn geäußert hatte. Vielleicht wusste er ja auch, wo er aktuell wohnte.
Natürlich würde sie Samy keinen Ton über ihr inneres Gefühlschaos sagen. Bis morgen musste sie sich zudem gedulden, denn die Gartenparty war ja sicherlich noch in vollem Gang, und wenn Samy erst einmal am Feiern war, dann feierte er …
Malou öffnete den Kühlschrank.
Nichts als Salat, Gemüse, Wasser und Saft, wie man es als brave Schwangere eben einkaufte. Dabei überfiel sie gerade ein wahrer Bärenhunger auf etwas Deftiges. Eigentlich kein Wunder, denn sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen …
Ein paar Eier gab es zum Glück noch, und das ältliche Brot konnte sie im Toaster rösten. Dazu diese beiden nicht mehr ganz so ansehnlichen Tomaten … Alles in allem waren das leider keine sonderlich berauschenden Aussichten. Zu einer begnadeten Köchin würde sie es vermutlich niemals bringen. Philipp fehlte, der aus quasi nichts etwas Leckeres zaubern konnte. Philipp mit seiner Wärme, seiner beruhigenden Stimme und den Händen, die ihren Körper so gut kannten … Ach, Philipp, wie sehr vermisste sie ihn!
Malou sank auf den nächsten Stuhl und begann zu weinen.
Als es klingelte, schrak sie zuerst zusammen, dann aber breitete sich helle Freude in ihr aus.
Das konnte nur er sein!
Philipp war zurückgekommen, um ihr zu sagen, wie leid ihm dieser dumme Streit tat …
Sie wischte sich die Tränen ab, lief in den Gang und öffnete die Tür.
»Du?« Fassungslos starrte sie Chris an, der grinsend vor ihr stand.
Er tippte auf den Korb in seiner Hand.
»Bin so etwas wie dein Rotkäpperich, der die arme Kranke laben kommt. Du hast weder vom Büfett noch vom Grill einen Bissen abbekommen, das konnte ich doch nicht so stehen lassen. Hab nur ganz feine, zarte Sachen mitgebracht. Die verträgst du garantiert!«
Malou stand reglos da und starrte ihn mit offenem Mund an.
»Willst du mich nicht hereinbitten?«, fragte Chris. »Ich weiß, es ist nicht gerade die allerüblichste Zeit, aber du kennst ja den Spruch vom späten Abend und den schöneren Gästen …«
»So?«, entfuhr es ihr, und sie schaute an sich hinunter.
»Och, von mir aus kannst du gern so bleiben. Außerdem hab ich dich mit noch deutlich weniger Kleidung in bester Erinnerung. Also?«
Malou trat ein Stück zur Seite und hielt das Tuch über der Brust zusammen.
»Ich zieh mir rasch was über«, sagte sie, doch da hatte er schon seinen Korb abgestellt und sie in die Arme genommen.
»Du als Papas Klatschtante – verrückte Zufälle gibt es vielleicht!«, flüsterte er an ihrem Hals. »Ich konnte es zuerst gar nicht glauben, als ich dich im Wohnzimmer zwischen seinen Journalisten erblickt habe. Aber dann habe ich mich tierisch gefreut, Malou, denn ich habe dich natürlich vermisst. Bin ich dir denn auch abgegangen, meine kleine Sommerelfe, zumindest ein ganz klein wenig?«
Für einen Moment war sie schier überwältigt. Er roch genauso gut wie damals im Englischen Garten, nach Gras, Zimt und Sonne, und fühlte sich zart und muskulös zugleich an, ihr spielerischer Faun, mit dem sie so viel Vergnügen erlebt hatte. Zielsicher hatten seine weichen Lippen jene Stelle an ihrem Hals gefunden, die ganz besonders sensibel reagierte. Und wie sie Chris kannte, würden sie da sicherlich nicht lange verharren, sondern kühn weiterwandern.
Malou wusste ja, wie gut er küssen konnte …
Dann aber setzte ihr Verstand ein.
Chris ist dein Bruder, sagte ihre innere Stimme in strengem Tonfall. Lass ihn sofort los!
Jäh löste sie sich aus der Umarmung. Dabei verrutschte das lose gebundene Tuch und entblößte ihren nackten Bauch.
»He«, sagte Chris und starrte darauf. »Den hab ich aber nicht ganz so rund in Erinnerung!«
Malou bedeckte sich eilig wieder.
»Und bei der Party war dir ganz plötzlich so übel … Sag mal, kann es sein, dass alles eigentlich ganz anders ist?«
Was hätte Leugnen jetzt noch gebracht?
Malou nickte klamm.
»Es war gar kein Magen-Darm-Infekt«, gestand sie. »Das hat Ella nur gesagt, damit ich abhauen konnte. Ich bin schwanger, Chris.«
Ängstlich wartete sie auf seine Reaktion.
»Schwanger?«, wiederholte er. »Wirklich? Das ist ja eine Überraschung. Ich gratuliere!«
Malou zog die Schultern hoch.
Chris ahnte ja nicht, was das unter Umständen bedeutete …
»Du wirst sicherlich eine hinreißende Mama«, fuhr er fort. »Wer ist denn der Glückliche?«
Malou nahm all ihren Mut zusammen.
»Du?«, flüsterte sie.
»Ich?« Chris schüttelte den Kopf. »Das ist leider vollkommen ausgeschlossen! Ich hätte dich in jener verzauberten Nacht so gern mit allen Sinnen geliebt, aber nach all dem Whiskey …«
Sagte er die Wahrheit? Oder behauptete er das nur, um sich vor den Konsequenzen zu drücken?
»Wir haben also nicht miteinander geschlafen?« Malous Stimme klang zittrig.
»Definitiv nicht. Bei mir ging rein gar nichts mehr. Tote Hose im Endstadium sozusagen.«
»Und da bist du dir ganz sicher?«
Sie musste unbedingt weiter nachfragen. Schließlich hing nicht nur ihr Leben davon ab.
»Tausendprozentig«, versicherte Chris. »Hat mir im Nachhinein unendlich leidgetan, dass ich bei dir so wenig meinen Mann stehen konnte, wie man so schön sagt. Denn ich Trottel hatte uns beide ja überhaupt erst zum Whiskeytrinken angestiftet …« Er fuhr sich durch die Haare. »Du warst übrigens auch ganz schön jenseits, meine Liebe. Ich bin damals nachts aufgewacht, um dich vielleicht doch noch zu verführen, aber du hast geschlafen wie ein Stein, und mir wurde schon beim Versuch eines Versuchs klar, dass ich noch immer außer Gefecht gesetzt war. Nicht ein Auge hast du aufgemacht, nur etwas gemurmelt – Philipp oder so ähnlich. Schien dich schwer zu beschäftigen.«
Die Erleichterung war so übermächtig, dass Malou an der Wand nach Halt suchte.
Nicht Chris war also der Vater ihres Kindes, sondern Philipp. Philipp!
»He, he, he«, sagte Chris und hielt sie zusätzlich fest. »Jetzt aber bloß nicht aus dem Stand umkippen, kleine Mama in spe! Du brauchst dringend eine Stärkung. Wie gut, dass ich mit meinen Köstlichkeiten spontan bei dir vorbeigeschaut habe!«
Sie schob ihn sanft zur Seite.
»Geh schon mal voraus in die Küche. Bin gleich wieder da.«
Malou lief ins Schlafzimmer, holte Unterwäsche und ein bequem geschnittenes Trägerkleid aus dem Schrank und zog sich mit fliegenden Händen an. Noch hatte er die verräterischen Muttermale nicht gesehen.
Sollte sie Chris jetzt und hier offenbaren, dass sie einen gemeinsamen Vater hatten?
Wie würde er darauf reagieren?
Lässig?
Bestürzt?
Oder sogar geschockt?
Spontan, wie Chris war, würde er mit dieser Nachricht womöglich zurück in die Villa fahren und sie vor allen Kollegen heraustrompeten! Nein, er sollte und musste natürlich erfahren, dass sie so eng verwandt waren, aber erst wenn sie selbst gelernt hatte, mit diesem neuen Wissen einigermaßen umzugehen.
Es fiel Malou schwer, das schützende Schlafzimmer zu verlassen, aber schließlich raffte sie sich dazu auf. Chris hatte inzwischen den Küchentisch gedeckt und gegrillte Hähnchenschenkel, Nudel-, Waldorf- und Tomatensalat, Baguette, Camembert und Weintrauben auf Teller und Schüsselchen verteilt. Monsieur Filou, der rote Kater, hatte sich auf einem freien Stuhl bereits in Position gebracht und fixierte gebannt das späte Mahl.
»Geht doch so, oder?«, vergewisserte sich Chris. »Servietten hab ich leider nirgendwo gefunden.«
»Sieht alles sehr appetitlich aus«, erwiderte Malou. »Ich spüre gerade, wie hungrig ich bin.«
»Nachtisch ist leider nicht, denn der Rest der Eisbombe hätte den Transport quer durch die Stadt garantiert nicht überlebt«, sagte Chris. »Darum hab ich lieber die Finger davon gelassen.«
Malou nickte.
»Dieser Philipp, den du damals nachts gerufen hast, ist dein Freund, oder?«, fragte Chris unvermittelt.
»Ja und nein. Wir hatten uns ausgebremst. Große Sendepause.«
»Ach, dann war ich also nur eine Art Lückenbüßer?« Chris wirkte verletzt.
Ihr Lächeln war warm. Ihre ganze Zuneigung zu ihm lag darin. »So jemandem wie dir bin ich noch nie zuvor begegnet«, erwiderte sie. »Die Zeit mit dir hat sich fast wie im Märchen angefühlt, alles ganz schwerelos und irgendwie selbstverständlich zugleich. An so etwas wie Alltag hab ich in jenen zauberhaften Stunden gar nicht mehr gedacht.«
Sein Gesicht wurde wieder entspannter.
»Darauf sollten wir trinken, findest du nicht auch? Allerdings hab ich Schussel den Wein, den ich eigentlich mitbringen wollte, in der Eile auch stehen lassen, wieder einmal typisch für mich. Aber das ist nicht weiter tragisch, oder? In deinem Zustand darfst du ja ohnehin nichts Alkoholisches trinken, und mir schadet es auch nicht, wenn ich mal nüchtern bleibe.«
»Alles gut«, sagte Malou.
»Dann werden wir zwei jetzt eben ganz brav mit Wasser anstoßen.« Er hielt noch einmal inne. »Philipp und du – seid ihr eigentlich wieder zusammen?«
»Fast. Er weiß es nur noch nicht«, erwiderte Malou.
Chris hob sein Glas, und sie tat es ihm nach.
Mittlerweile war die unfassbare Erleichterung in jeder einzelnen ihrer Zellen angelangt. Gerade noch einmal davongekommen!
Jetzt konnte sie lernen, ihn wie einen Bruder zu lieben …
*
Den nächsten Vormittag in der Redaktion erlebte Malou zunächst wie unter einer Glasglocke, so sehr war sie noch immer mit den Erkenntnissen des Vortags beschäftigt. Früh am Morgen hatte sie sich einen Ruck gegeben und Philipp in seiner kleinen Wohnung angerufen, aber er hatte nicht abgehoben.
War er vielleicht ganz nach Niederbayern in die Nähe seiner Flugschule gezogen, um dort ungestört seiner Leidenschaft nachzugehen? Oder gab es inzwischen Ersatz für sie, und er hatte die Nacht bei einer anderen Frau verbracht?
Ein Gedanke, der Malou wehtat.
Doch nach allem, was geschehen war, besaß sie keinerlei Recht, ihm deshalb Vorwürfe zu machen. Auch wenn ihr mittlerweile bewusst geworden war, wie sehr er ihr fehlte und wie gern sie ihn zurückhaben wollte. Und außerdem: Ihre Kleine brauchte ihn doch …
Sie überwand sich und rief in der Fahrschule seines Vaters an.
Eine schlecht gelaunte Aushilfskraft nahm den Anruf entgegen, reagierte zunächst auskunftsunwillig, ließ sich schließlich aber doch entlocken, dass der Junior bereits im praktischen Unterricht sei und am späten Nachmittag zurückerwartet werde.
Also war Philipp in München. Eine Riesenerleichterung für Malou.
»Ich bitte um Rückruf«, erwiderte sie. »Richten Sie ihm bitte aus, es sei dringend.«
Winkler war den Tag über außer Haus, was Malou die Gelegenheit verschaffte, ihre Empfindungen und Gedanken noch ein wenig zu sortieren, bevor sie ihm gegenübertreten musste. Viele der Kollegen erkundigten sich nach ihrem Befinden und bedauerten, dass sie die Party so bald hatte verlassen müssen. Malou blieb eisern bei der Ausrede einer Magen-Darm-Infektion, versicherte aber, sich inzwischen wieder wohlzufühlen.
»Geht es dir wirklich wieder gut?«, fragte Ella leise, als sie mittags Seite an Seite hinauf zur Redaktionskonferenz im zweiten Stock gingen. »Jetzt bist du schließlich nicht mehr nur für dich allein verantwortlich …«
»Bin so weit okay«, raunte Malou zurück. »Mit einer Erkenntnis muss ich allerdings erst noch klarkommen. Eine zweite dagegen hat mich maßlos erleichtert. Hält sich also irgendwie die Waage …«
»Jetzt klingst du ja fast wie die Pythia von Schwabing«, sagte Ella. »Bin gespannt, wann du irgendwann Klartext redest …«
Malou lächelte unbestimmt und nahm ihren Platz am großen Konferenztisch ein.
Chefredakteur Jörn Hornberg nutzte wie immer die verlegerische Abwesenheit, um sich wichtigzumachen. Zu jedem Beitrag seiner Redakteure hatte er etwas anzufügen, zu bekritteln oder infrage zu stellen.
»Nicht schon wieder die IVA«, raunzte er Heribert Klein vom Lokalen an. »Ich kann das Wort nicht mehr hören!«
»Aber die Internationale Verkehrsausstellung hat München weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt gemacht«, beharrte Klein. »Sie hat unser Image aufgebessert. Und sie läuft schließlich nur noch bis Anfang Oktober …«
»Die Bundestagswahl am 19. September ist doch wohl wesentlich entscheidender für unser Blatt«, wandte Hornberg ein.
»Ganz genau!«, kam es von Dietmar Schenk aus dem Politikressort, dem Malou seine unselige Verwicklung in Freddy Krenkls Todesumstände noch immer übel nahm, auch wenn er sich ihr gegenüber äußerst zurückhaltend gab. Ihre Gedanken wanderten zu Freddy zurück, dem smarten Sportreporter, mit dem sie sich 1962 zum Schein verlobt hatte, damit niemand erfuhr, dass er in Wahrheit seinen Freund Bruno liebte. Schenk hatte von Freddys homosexuellen Neigungen gewusst und seinen Kollegen zunehmend in die Enge getrieben. Nach außen hin gab Schenk den stockkonservativen Biedermann, sein heimliches Leben jedoch spielte sich in den diversen Schwulenbars der Stadt ab. Um seine eigenen Neigungen zu tarnen, verwendete er all seine Energie darauf, andere Schwule auf hinterhältige Weise bloßzustellen – was für ein Pharisäer!
»Dafür brauchen wir Platz!«, fuhr Schenk fort. »Wir sollten noch einmal die Kanzlerkandidaten in großen, aussagestarken Porträts vorstellen – Ludwig Erhard und Willy Brandt. Schließlich munkelt man, dass es zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen kommen könnte, womöglich sogar zu einem Regierungswechsel – mit fatalen Folgen für uns alle. Deutschlands Wirtschaftsmotor stottert ja bereits jetzt schon ordentlich. Wenn nun auch noch dieser Sozi die Wahl gewinnen würde, wäre das …«
»… zu schön, um wahr zu sein«, kam von Adrienne Riehl, der Kulturredakteurin. »Endlich keine CDU/CSU mehr am Ruder, politische Visionen anstatt einlullenden Zigarrenrauchs und vager Beschwichtigungen – welch ungemein befreiende Vorstellung!«
»Wir wollen doch sachlich bleiben, Adrienne«, sagte Hornberg, doch sie war bereits viel zu sehr in Fahrt, um sich einbremsen zu lassen.
»Nur keine Angst, werter Kollege, dazu wird es leider wohl ohnehin nicht kommen, denn das konservative Lager hält bereits kräftig dagegen«, fauchte sie. »Die deutschen Bischöfe haben alle wahlberechtigten Katholiken aufgefordert, nur Abgeordnete zu wählen, die aus – ich zitiere – ›gläubiger Haltung und im Vertrauen auf Gott ihre Aufgaben erfüllen‹. Und darauf hören leider noch immer viel zu viele – vor allem hier in Bayern.«
Ihre Augen blitzten kampfeslustig, die platinblonden Federhaare, raspelkurz geschnitten, vibrierten wie feine Antennen. Normalerweise kleidete Adrienne Riehl sich von Kopf bis Fuß in Weiß, kombiniert mit wechselnden Lagen ausgefallener Schmuckstücke, heute jedoch war sie ganz in Schwarz erschienen.
»Weil die Bayern eben Traditionsbewusstsein besitzen«, steuerte Heribert Klein vom Lokalen bei. »Und keinen Kanzler wollen, der unter einem Tarnnamen die schwerste Zeit Deutschlands feige im Ausland ausgesessen hat. Ist aber noch lange kein Grund, liebe Adrienne, gleich Trauer zu tragen …«
»Brandt war alles andere als feige, sondern ein mutiger Journalist, der im Exil Widerstand gegen die Nazis geleistet hat. Wann geht das endlich in deinen verbohrten Schädel, Heribert?« Adriennes Stimme war eisig. »Und was mein Schwarz betrifft: Malou und ich gehen heute zu dem Rolling-Stones-Konzert im Circus Krone. Und zu Rockkonzerten trägt man Schwarz, das solltest du dir merken!«
»Zu diesen dreckigen Höhlenmenschen mit ihrer erbärmlich primitiven Musik? Falls solche Lärmbelästigung überhaupt die Bezeichnung Musik verdient«, setzte Klein wütend nach. »Dann noch viel Spaß!«
»Den werden wir garantiert haben«, ergriff nun Malou das Wort. »Die deutschen Fans sind ganz verrückt nach diesen englischen Jungs. Und für 6,90 DM pro Karte können sich das sogar die ganz Jungen leisten. Auf meiner Seite habe ich die Band gestern ja bereits angekündigt. Jetzt werde ich noch mehr Infos über sie liefern. Andrew Loog Oldham, ihr Manager, hat mir für die Pause zwischen den beiden Auftritten ein kurzes Exklusivinterview zugesagt. Nicht einmal die BRAVO darf an Ort und Stelle mit Mick Jagger & Co reden. Nur Der Tag wird vorgelassen. Unsere Leser werden uns diese Ausgabe aus den Händen reißen …«
»Eintagsfliegen, nichts als Eintagsfliegen«, höhnte Klein. »Schreiben Sie doch lieber ein anständiges Porträt über Freddy Quinn oder Zarah Leander – der Erste singt Schlager fürs Herz, und die Leander hat als großer UFA-Star bis heute ihr Publikum!«
»Wenn du dich da nicht gewaltig täuschst«, sprang Ella Weiss Malou bei. »Diese beiden sind doch von gestern, die Musik von heute geht ganz neue Wege – hochrangig anerkannte Wege! Nächsten Monat werden die Beatles von der Queen mit dem Empire Orden ausgezeichnet. Wer hätte damit jemals gerechnet? Vielleicht stehen die Rolling Stones ja bereits als nächste Kandidaten auf der königlichen Liste. Somit hätte Der Tag, vertreten von der Gräfin, echte Weitsicht bewiesen …«
»Dann hat die Queen eben auch nicht mehr alle Tassen im Schrank«, keifte Klein. »Diese Pilzköpfe sind doch ebenfalls das Allerletzte …«
»Banause«, schrie Adrienne. »Betonschädel!«
»Jetzt haltet alle mal die Luft an!« Willem Bautz, der nach Freddys Tod das Sportressort übernommen hatte, machte eine geheimnisvolle Miene. »Den größten Knüller wisst ihr alle nämlich noch gar nicht.« Er strich genüsslich über den dunklen Schnurrbart, den er neuerdings trug.
»Und der wäre?«, kam es von Jörn Hornberg.
»Sommerolympiade 1972 in München. Na, was sagt ihr nun?«
»Träumen Sie weiter«, erwiderte Dietrich Schenk säuerlich. »Doch niemals in unserem beschaulichen Millionendorf!«
»Gerade in unserem Millionendorf«, bekräftigte Bautz. »Wieso sollte München weniger für die Sommerspiele 1972 geeignet sein als Montreal oder Madrid? Geeignete Sportstätten müssten hier wie dort errichtet werden. Ich fände es wunderbar, den Nazi-Spielen von 1936 einen modernen, bunten, weltoffenen Gegenpol entgegenzusetzen, und mit dieser Ansicht stehe ich beileibe nicht allein.« Sein Lächeln wurde spitzbübisch. »Man hat mir aus sicherer Quelle zugetragen, NOC-Präsident Willi Daume habe unseren OB Hans-Jochen Vogel ermutigt, eine diesbezügliche Bewerbung einzureichen. Münchens Chancen stehen prima. Sobald ich mehr weiß, bringen wir es als Erste. Na, was sagt ihr nun?«
Olympia in München – für einen Augenblick herrschte am Redaktionstisch verblüffte Stille. Doch schon bald flogen erneut wechselseitige Argumente hin und her.
»Wir sollten allmählich los«, sagte Malou zu Adrienne, die neben ihr saß. »Sonst versäumen wir noch das Konzert. Wo steckt eigentlich Samy? Schläft er immer noch seinen Rausch aus?«
»Geht wohl eher um einen vereiterten Backenzahn«, erwiderte Adrienne. »Schon gestern hat er über Schmerzen geklagt und wahrscheinlich auch deswegen so eifrig getankt. Über Nacht scheint es schlimmer geworden zu sein. Geh zum Doc und lass dich unbedingt anschauen, hab ich ihm vorhin am Telefon gesagt. Schon die größten Geister sind an verschleppten Zahngeschichten verreckt. Das hat ihn dann wohl nachdenklich gemacht.«
»Und wenn er zu krank ist, um zum Konzert zu kommen? Dann stehe ich ohne Fotografen da!«
»Der kommt«, versicherte Adrienne. »Auf einen Samy kann man sich verlassen …«
An diesem Abend gab es keine Clowns in der Zirkusarena, weder Löwen noch Elefanten. Wohin man auch schaute, überall Menschen, kreischend, schwitzend, in völliger Ekstase – und Malou mittendrin. 1800 Plätze bot der große Steinbau offiziell, doch ihr kam es gerade so vor, als seien noch viel mehr Fans gekommen. Und bereits nach dem ersten Riff hatte es niemanden mehr auf den Sitzen gehalten. Die meisten Zuschauer waren Mädchen im Teenageralter, aber Malou sah auch ein paar leicht verloren wirkende junge Männer. Manche davon waren so verpickelt, dass sie sich bestens als Abnehmer für Onkel Julius’ magisches Goldelexier geeignet hätten. The Troggs, als Vorband engagiert, klopften schlichten Holzhacker-Beat herunter, bis ihr aktueller Hit Wild Thing die Stimmung zum ersten Höhepunkt des Konzerts trieb.
Malou sah sich suchend um. Wo war eigentlich Adrienne abgeblieben?
Irgendwo in der Masse musste sie Malou abhandengekommen sein. Aber sie würden schon wieder zusammenfinden, da war sie sich sicher. Viel übler war, dass es noch immer keine Spur von Samy gab.
Als die Rolling Stones die Bühne betraten und Mick Jagger im legeren Ringelpullover die Worte »I need you, I need you, I need you« ins Publikum schrie, kreischte die Menge so laut auf, dass die ersten Takte von Everybody Needs Somebody To Love komplett untergingen. Doch dann setzte sich der Song durch, und auch Malou konnte nicht länger stillstehen. Ihre Schultertasche mit dem Aufnahmegerät, auf das sie bei dieser besonderen Gelegenheit nicht hatte verzichten wollen, empfand sie nur anfangs als hinderlich, schon bald hatte sie die Last ganz vergessen.
Pain In My Heart schloss sich an, gefolgt von zwei eher schwächeren Nummern, bis The Last Time das Publikum nochmals in eine Ekstase trieb, die überzuschwappen drohte, als die Band As Tears Go By anstimmte, jenen Song, den Jagger und Richards für Marianne Faithfull geschrieben hatten und der die junge Sängerin über Nacht berühmt gemacht hatte.
Nicht enden wollender orkanartiger Jubel.
Malou war nass geschwitzt, so begeistert hatte auch sie mitgetanzt – nicht gerade die beste Voraussetzung für ein Interview.
Und nach wie vor kein Samy weit und breit …
Doch sie konnte das Interview unmöglich absagen. Ob mit oder ohne Fotos, da musste sie jetzt durch. Also machte sie sich backstage auf den unübersichtlichen Weg zur provisorischen Garderobe, ihren Presseausweis in der Hand. Eine schlanke junge Frau in beigem Pelzmantel und einem atemberaubenden Minirock, die ganz genau zu wissen schien, wo sie hinwollte, schloss sich ihr an.
War ihr etwa die Konkurrenz auf den Fersen und drohte das Exklusivinterview zu kippen?
Schließlich drehte Malou sich entschlossen um.
»You know how to get to The Rolling Stones?«, fragte sie.
»Du kannst ruhig deutsch mit mir reden«, kam als Antwort. »Auch wenn meines vielleicht ein bisschen seltsam klingt, weil ich in Rom aufgewachsen bin. Ich bin Anita Pallenberg, und ich muss zu Brian Jones. Und wer bist du?«
»Malou Graf vom Tag. Sie … ihr seid verabredet? Bist du auch Journalistin?«
»Nein.« Anita grinste. »Lebenskünstlerin trifft es wohl am ehesten. Brian braucht mich. Er weiß es nur noch nicht. Andiamo, wir müssten gleich da sein …«
Eine letzte schäbige Tür, vor der eine schmale Gestalt stand, die Kameratasche lässig über der Schulter baumelnd.
»Hi, Malou«, sagte Chris. »Samy war leider indisponiert, da bin ich auf väterlichen Wunsch hin kurzerhand für ihn eingesprungen. Einmal die Rolling Stones ganz aus der Nähe – wer will sich das schon entgehen lassen? Hab sie früher in London ein paarmal im Marquee Club erlebt, da waren sie gar nicht übel. Aber sie werden immer besser, von Auftritt zu Auftritt. Bald werden sie echte Weltklasse sein.« Sein Ton wurde besorgt. »Wird dir das alles hier nicht zu viel? Die Leute, der Lärm, die schlechte Luft …«
»Keineswegs«, erwiderte Malou schärfer als eigentlich beabsichtigt, weil sie sich durch seine unvorhergesehene Anwesenheit überrumpelt fühlte. »Lass uns reingehen und arbeiten!«
Mick Jagger und Keith Richards saßen an einem kleinen Tisch; Brian Jones fläzte breitbeinig auf dem Sofa. Bill Wyman und Charlie Watts, der Schlagzeuger, machten es sich im Hintergrund auf zwei Sesseln bequem. Überall standen Flaschen herum. Es roch nach Alkohol, Rauch und etwas Schwerem, Süßlichem. Anzunehmen, dass in den übervollen Aschenbechern nicht nur Tabakreste lagen.
»You are Miss Graf ?«, sprach ein schlanker Mann mit dunklem Pilzkopf Malou an. »I’m Andrew Oldham, the manager.«
»Hallo!«, erwiderte Malou. «Yes, I am Malou Graf, society journalist of the newspaper Der Tag – we phoned!And this is … our photographer Chris Winkler.«
Jetzt stotterte sie fast, so nervös war sie. Und ihren deutschen Dialekt hörte sie selbst überdeutlich. Warum fiel ihr das Englisch nur so schwer? Kein Wunder eigentlich, ihr Schulwissen ruhte ja seit Jahren verstaubt in der Schublade!
»Alright, you have ten minutes and five questions.«
Fünf Fragen!, dachte Malou entsetzt. Wie sollte sie aus fünf Fragen ein gutes Interview machen?
Chris packte die Kamera aus und begann sofort zu fotografieren. Dabei schien ihn besonders zu faszinieren, was gerade zwischen Brian Jones und Anita Pallenberg passierte, die mittlerweile so eng neben ihm saß, als wolle sie mit ihm verschmelzen. Fast wie Zwillinge sahen die beiden aus mit ihren hellblonden Prinz-Eisenherz-Frisuren und den hübschen, leicht blasierten Gesichtern. Die zwei begannen sich leidenschaftlich zu küssen und wollten offensichtlich nicht mehr gestört werden.
Also wandte sich Malou an Jagger, den Sänger und Frontmann der Band.
»Wenn du magst, kann ich für dich übersetzen«, bot Chris an, während er gleichzeitig Foto um Foto schoss. »Bin in Englisch ziemlich fit, wie du ja vielleicht weißt …«
Sein Grinsen war hinreißend, und Malou willigte gerne ein. Als das Interview begann, war sie heilfroh, sich auf ihr Aufnahmegerät verlassen zu können, denn Mick Jagger redete schnell, verschluckte zahlreiche Silben und benutzte Worte, die sie noch nie zuvor gehört hatte.
Von der überwältigenden Anziehungskraft auf Frauen, die er angeblich hatte, spürte Malou bei dieser kurzen Begegnung nur wenig. Er war ein mageres Kerlchen mit braunen Haaren und dem größten Mund, den sie je gesehen hatte, aber erstaunlich wohlerzogen und ausgesprochen pfiffig, wie sie fand. Mehr Schalk im Nacken schien dieser schwarzhaarige Richards zu haben, der wie ein leicht abgewrackter Automechaniker aus Manchester aussah, eine Kippe an der nächsten anzündete, dabei ständig vor sich hin grinste und die Lippen spitzte, als wolle er gleich zu pfeifen beginnen.
Doch schließlich hatte Malou auf dem Rekorder, was sie wissen wollte: Wie die Band München fand, was sie an Deutschland mochte und was nicht, wann die neue LP herauskommen würde und ob bald eine neue Europa-Tournee geplant war.
»First we will rock Berlin«, sagte Jagger grinsend, die Maxi-Lippen genüsslich geschürzt. »It should be Germany’s capital!«
Interessante Ansicht und tiefgründiger, als man einem jugendlichen Rocksänger zugetraut hätte. Aber darauf konnte Malou in der Kürze der Zeit leider nicht eingehen.
Eins aber musste sie noch wissen, bevor sie die Garderobe wieder verließ. Jagger war seit einiger Zeit mit Chrissie Shrimpton verlobt, der Schwester des Models Jean Shrimpton, um die sich gerade alle Fotografen rissen. Malou jedoch war zu Ohren gekommen, dass es in der Beziehung heftig kriseln sollte. Da musste sie unbedingt nachhaken. Und das fix, denn Manager Oldham wippte bereits ungeduldig mit der Schuhspitze.
»What about love, Mr. Jagger?«, fragte sie. »What does it mean to you?«
»Love …« Er zog das Wort in die Länge wie Kaugummi. Hörte sich nicht so an, als würden bald die Hochzeitsglocken läuten!. »Well, love is just a four-letter word …«
»No!«, kam ein empörter Aufschrei von Charlie Watts,dem bislang stummen Drummer aus der Ecke. »Love is the essence of live. And I have definitely found my essence!«
»Danke, dass du eingesprungen bist«, sagte Malou zu Chris, als sie gemeinsam den Zirkusbau wieder verlassen hatten. Adrienne hatte sich von ihnen verabschiedet und war bereits zum nächsten Termin aufgebrochen. »Und sorry, dass ich erst so seltsam war. Aber mit dir zu arbeiten, fühlt sich noch ziemlich ungewohnt für mich an.«
»Dafür ging es doch eigentlich ganz gut«, erwiderte Chris. »Wie es aussieht, wird es wohl ohnehin eher die Ausnahme bleiben, denn ich mache mich bald wieder auf die Reise. Und dieses Mal geht es weiter weg. Ich will auf dem Landweg nach Indien, wo starke, bunte Bilder auf mich warten.« Er legte den Kopf leicht schief. »Dachte ja zuerst, vielleicht hält mich etwas hier – hält jemand mich hier –, aber da du offensichtlich andere Pläne verfolgst, kann ich leichten Herzens wieder losfahren.«
Er stierte auf ihren Bauch.
»Keine Ahnung, was werden wird«, entgegnete Malou wahrheitsgemäß. »Ich weiß nur, dass ich ein Kind bekomme. Alles andere steht noch in den Sternen. Im Verlag gebe ich übrigens morgen Bescheid. Eine Nacht zum Nachdenken nehme ich mir noch.«
»Gute Idee. Ich fahre gleich los, die Filme entwickeln. Könnte mir vorstellen, dass ein paar ziemlich heiße Aufnahmen darunter sind: Jones und diese Pallenberg beispielsweise. Hast du gesehen, wie hemmungslos die beiden rumgeknutscht haben? Aber auch Jagger und du im vertrauten Talk tête-à-tête – das fetzt! Soll ich dich mit meinem Bus nach Hause bringen?«
Bloß nicht. Allein die Erinnerung an seine bunt bemalte rollende Unterkunft weckte Erinnerungen in Malou, die sie jetzt so gar nicht brauchen konnte.
»Danke dir, aber ich nehme lieber die Tram«, sagte sie. »Das letzte Stück gehe ich zu Fuß. Bisschen durchlüften kann niemals schaden. Und danach setze ich mich an die Schreibmaschine.«