Die Rosenholzvilla - Tabea Bach - E-Book

Die Rosenholzvilla E-Book

Tabea Bach

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Beschreibung

Elisa reist ins Tessin, um ihren erkrankten Großvater zu unterstützen. Der kauzige und eigensinnige Niklas macht es seiner Enkelin jedoch nicht leicht. Aber der Zauber der Gegend erleichtert ihr das Einleben. An den tiefblauen, palmengesäumten Seen am Fuße der Alpen kann sie endlich entspannen. Dabei stößt sie auf eine kleine, aber feine Instrumentenmanufaktur, die in ihr die Sehnsucht weckt nach ihrem früheren Jugendtraum, Musikerin zu werden. Die Manufaktur wird geführt von zwei ungleichen Brüdern, die die lange Tradition des Instrumentenbaus ihrer Familie fortsetzen. Doch ihre unterschiedlichen Ansichten erschweren dies - ebenso die Tatsache, dass beide Männer Gefühle für Elisa entwickeln ...

Auftakt einer mitreißenden Reihe um Lebensträume, Liebe und eine Instrumentenbauerfamilie im Tessin

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Seitenzahl: 413

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitat1 – Der Anruf2 – Die Villa3 – Die Werkstatt4 – Turbulenzen5 – Beurlaubt6 – Das Wiedersehen7 – Die Mühle8 – Der Steinbruch9 – Das Versprechen10 – Die Einladung11 – Glockenblume12 – Die Heimkehr13 – Der Rosengarten14 – Schlagabtausch15 – Etwas NeuesDanksagungFreuen Sie sich auf die Fortsetzung …

Über dieses Buch

Elisa reist ins Tessin, um ihren erkrankten Großvater zu unterstützen. Der kauzige und eigensinnige Niklas macht es seiner Enkelin jedoch nicht leicht. Aber der Zauber der Gegend erleichtert ihr das Einleben. An den tiefblauen, palmengesäumten Seen am Fuße der Alpen kann sie endlich entspannen. Dabei stößt sie auf eine kleine, aber feine Instrumentenmanufaktur, die in ihr die Sehnsucht weckt nach ihrem früheren Jugendtraum, Musikerin zu werden. Die Manufaktur wird geführt von zwei ungleichen Brüdern, die die lange Tradition des Instrumentenbaus ihrer Familie fortsetzen. Doch ihre unterschiedlichen Ansichten erschweren dies – ebenso die Tatsache, dass beide Männer Gefühle für Elisa entwickeln …

Über die Autorin

Tabea Bach war Operndramaturgin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihre Romanreihen sind Bestseller und in verschiedene Sprachen übersetzt. Tabea Bach wurde in der Hölderlin-Stadt Tübingen geboren und wuchs in Süddeutschland sowie in Frankreich auf. Ihr Studium führte sie nach München und Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald, Ausgangspunkt zahlreicher Reisen in die ganze Welt. Die herrlichen Landschaften, die sie dabei kennenlernt, finden sich als atmosphärische Kulisse in ihren Romanen wieder. Mit ihrer Kamelien-Insel-Saga führt sie uns in die Bretagne.In den erfolgreichen Seidenvilla-Romanen wechselt der Schauplatz zu einer Seidenweberei in Venetien. Die Salzgarten-Reihe spielt auf den Kanarischen Inseln.

T a b e a B a c h

DIE

ROSENHOLZVILLA

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- undData-Mining bleiben vorbehalten.

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

Textredaktion: Marion Labonte, Labontext

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Einband-/Umschlagmotiv: © www.buerosued.de; © Ildiko Neer / Trevillion Images

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4199-6

luebbe.de

lesejury.de

Es ist das Größte, jederzeit bereit zu sein,das aufzugeben, was wir sind,um das zu werden, was wir sein können.

Jacqueline du Pré, Cellistin

1 Der Anruf

Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten die Kabine der Business Class in die Farbe von reifen Aprikosen. Die Maschine würde gleich landen, und Elisa ging ein letztes Mal den Korridor entlang, um nachzusehen, ob auch alle Passagiere angeschnallt und ihre Tische hochgeklappt waren. Sie half der jungen Mutter in der vorderen Reihe, ihren weinenden Säugling in die dafür vorgesehene Trage zu betten und sich selbst zu sichern.

»Es sind nur ein paar Minuten«, erklärte sie der Frau. »Wir werden eine ruhige Landung haben. Gleich dürfen Sie Ihren Schatz wieder auf den Arm nehmen.«

Unter dem warmen Klang von Elisas Stimme verstummte das Baby und sah sie aus großen Augen an. Seine Mutter schenkte Elisa ein dankbares Lächeln.

Elisa ging zum Mikrofon und informierte die Passagiere über das aktuelle Wetter, das sie in New York erwartete, gab die letzten Hinweise und schließlich ihrer Crew das Kommando, sich selbst zu setzen und anzuschnallen. Seit drei Jahren war sie Kabinenchefin und in dieser Funktion für acht Kolleginnen und Kollegen verantwortlich. Da sie nur »long distance« flog, wechselten lange, anstrengende Schichten mit Pausen von mehreren Tagen ab. Elisa gefiel ihr Beruf, nicht zuletzt, weil er sie rund um den Globus führte. New York war dabei ein eher unspektakuläres Ziel.

Sie legte den Gurt an und schloss für einige Momente die Augen. Auf die Frage ihrer Mutter neulich, ob sie glücklich sei, hatte sie, ohne zu zögern, mit Ja geantwortet. Da hatte Eric ihr noch nicht gesagt, dass er jetzt mit der neuen Pilotin zusammen war, um die sich alle scharten, als sei sie eine Sensation. Und tatsächlich kam es auch im 21. Jahrhundert immer noch selten vor, dass eine Frau diesen Posten bekleidete. Die Neue war Eric als Erste Offizierin zugeteilt worden, und als sei es ein Befehl von ganz oben gewesen, hatte er sofort etwas mit ihr angefangen.

Elisa presste die Lippen zusammen. Was hatte sie erwartet? Eric war seit Langem bekannt dafür, seine Partnerinnen zu wechseln wie das blütenweiße Hemd unter seiner Uniform. Gerade mal drei Monate waren er und Elisa ein Paar gewesen, und selbst das hatte Lena, Elisas Freundin, bereits für einen Weltrekord in der Statistik von Erics Beziehungskarussell gehalten.

Was würde Elisa sagen, wenn ihre Mutter sie heute fragen würde, ob sie glücklich sei? Genau dasselbe, dachte sie und straffte sich. Eric und sie passten sowieso nicht zusammen. Vermutlich war sie besser dran ohne ihn. Es überraschte sie selbst, wie wenig ihr die Trennung ausmachte. Sie war zweiunddreißig und von den Illusionen, die sie noch vor zehn Jahren über die großen Liebe gehabt haben mochte, war nicht mehr viel übrig.

Mit einem heftigen Ruck setzte das Flugzeug auf der Landebahn auf, und der Säugling fing erschrocken an zu schreien. Elisa schüttelte den Kopf. War dies Erics Antwort auf ihre Gedanken? Oder war er mit seiner Ersten Offizierin beschäftigt? Sonst waren seine Landungen die sanftesten der Welt. Sie fixierte die kleine rote Lampe, die gleich auf Grün springen würde, womit sie ihrer Crew das Zeichen zum Aufstehen geben konnte. Sie hatte alles versucht, um die Schicht zu tauschen und unter einem anderen Piloten zu fliegen, doch das war so kurzfristig nicht möglich gewesen. Was soll’s, sagte sie sich, als das Licht von Rot auf Grün umschaltete. Geh ich ihm eben aus dem Weg. Sie hatte sich mit Lena und einigen anderen Kolleginnen verabredet. An diesem freien Abend würden sie ein paar der bekanntesten New Yorker Rooftop-Bars unsicher machen, und darauf freute sie sich schon lange.

»Hättest du eventuell Lust auf ein Konzert?«, fragte Roy, als sie gemeinsam als Letzte das Flugzeug verließen. Der junge Mann, der gerade seine Ausbildung mit Bravour abgeschlossen hatte, strich sich die weißblond gefärbten Haare aus der hübschen Stirn. »Ich wollte eigentlich Steven damit überraschen.« Er seufzte tief, und Elisa warf ihm einen bedauernden Blick zu. Die beiden Flugbegleiter waren seit Kurzem ein Paar. An diesem Morgen hatte sich Steven jedoch krankgemeldet. »Möchtest du vielleicht die Karte?«

»Oh, danke, das ist nett von dir«, antwortete Elisa erfreut. Sie mochte den jungen Kollegen gern. »Leider haben wir schon etwas anderes vor.«

»Willst du mitkommen, Roy?«, warf Lena ein, die in der Gangway auf die beiden gewartet und Elisas Bemerkung gehört hatte. »Wir machen uns einen unvergesslichen Abend. Sabrina, Elke und Daniela sind auch dabei. Das wird toll!«

Sie betraten das Flughafengebäude, wo die Kolleginnen in einem kleinen Pulk beisammenstanden, jede mit einem kleinen Rollköfferchen bewaffnet und offenbar bester Laune. Unvermittelt stieg Elisa ein vertrauter Duft in die Nase. Erics Aftershave. Sie blickte sich um und stellte fest, dass er direkt hinter ihr stand, die Neue an seiner Seite.

»Was habt ihr denn vor heute?« Die Co-Pilotin lächelte in die Runde. »Können wir mitkommen?«

Lena warf Elisa einen erschrockenen Blick zu und setzte zu einer Antwort an, doch Sabrina, die offenbar vollkommen ahnungslos war, kam ihr zuvor.

»Wir machen einen drauf«, verkündete sie mit blitzenden Augen. »Mit The Crown fangen wir an. Das soll wirklich sensationell sein …«

»Natürlich«, fiel ihr Eric ins Wort und zog seine neue Freundin an sich. »Eines der bekanntesten Dachlokale von New York City. Da schließen wir uns euch selbstverständlich an.«

Elisa stöhnte innerlich auf. Als sich die anderen in Bewegung setzte, blieb sie ein Stück zurück. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Die Lust auf einen mondänen Abend in den New Yorker Bars war ihr gründlich vergangen. Wütend betrachtete sie Erics Rücken, der mitten im Pulk der Flugbegleiterinnen wie so oft den Hahn im Korb gab. Auf einmal war Roy wieder an ihrer Seite.

»Weißt du, was?«, sagte sie zu ihm. »Ich komm gerne mit dir. Was wird denn gespielt? Nein, warte. Ich lass mich einfach überraschen.«

Sie waren alle in demselben Hotel untergebracht, und als Elisa in dem eleganten schwarzen Kleid, das sie stets dabeihatte, wenn sie eine der internationalen Metropolen anflogen, in die Lobby kam, wartete Roy bereits auf sie. Eilig gingen sie auf eines der Taxis zu, die vor dem Hotel warteten. Sie waren spät dran, der Transfer vom John-F.-Kennedy-Flughafen nach Manhattan hatte länger gedauert denn je, und Roy bat den Fahrer, so schnell zu fahren wie nur möglich.

»Wenn ihr’s eilig habt, solltet ihr die Metro nehmen«, lautete dessen lakonische Antwort.

Elisa ließ sich in den durchgesessenen Kunstledersitz sinken und schloss die Augen. Lena hatte angekündigt, Sabrina zur Schnecke zu machen, doch Elisa hatte ihr das ausgeredet. Schließlich brauchte nicht die gesamte Crew zu wissen, dass sie gerade von Eric abserviert worden war. Ihr war die Lust auf das fröhliche Geschnatter ihrer Kolleginnen sowieso vergangen. Mit einem Mal merkte sie, wie müde sie eigentlich war. Hätte sie besser im Hotel bleiben sollen?

Das Taxi stoppte. Elisa öffnete die Augen und sah sich um. Sie befanden sich in Midtown Manhattan, nur zwei Blocks vom Central Park entfernt. Alles kam ihr so bekannt vor, vor allem dieses prächtige Backsteingebäude, trutzig und imposant wie ein italienischer Palast. Beklommen betrachtete Elisa den Haupteingang mit den fünf rund gewölbten Portalen über dem beleuchteten Vordach. Die Carnegie Hall.

»Hier?«, fragte Elisa ungläubig. Die gesamte Crew wusste, dass Roy am liebsten Jazzmusik hörte, wofür er laut Lena eigentlich viel zu jung war. Deshalb hatte Elisa erwartet, den Abend in einem der berüchtigten New Yorker Jazzclubs zu verbringen und nicht ausgerechnet in diesem Tempel der klassischen Musik.

»Steven liebt klassische Musik«, erklärte Roy und musterte sie besorgt. »Du bist auf einmal so bleich. Ist dir nicht gut?«

»Alles bestens«, erwiderte sie und starrte auf die weit geöffneten Türen.

»Wir sollten uns beeilen«, drängte Roy. »Es ist schon fünf nach acht. Himmel, hoffentlich lassen sie uns überhaupt noch auf unsere Plätze.«

Wie benommen folgte Elisa ihm in das ehrwürdige Konzertgebäude, über die mit roten Teppichen ausgeschlagenen Treppen hinauf zum Foyer. Mit jedem Detail kam die Erinnerung zurück …

»Schnell«, rief ihnen eine Platzanweiserin zu und riss Roy geradezu die Karten aus der Hand, um sie dann im Eilschritt zur richtigen Tür zum Parkett zu bringen. Die unverkennbaren Klänge, mit denen sich ein Orchester gemeinsam einstimmte, beseitigten jeden Rest von Elisas Hoffnung, es könnte sich vielleicht doch um ein Jazzkonzert handeln. Mühsam unterdrückte sie den Impuls, einfach wegzulaufen, und folgte Roy in den Saal. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, während missbilligend dreinblickende Besucher ihretwegen aufstehen mussten, um sie zu ihren Plätzen in der Mitte der zehnten Reihe durchzulassen.

Und da saß sie schließlich auf einem der rot gepolsterten Plätze. Das Orchester hatte sein Einstimmen beendet, es herrschte erwartungsvolle Stille. Applaus brandete auf, als der Dirigent die Bühne betrat, gefolgt von einer zierlichen Gestalt. Eine junge Frau, nein, eher ein Teenager, trat an die Rampe und verbeugte sich. Ihre rechte Hand umfasste den Hals eines Cellos.

Elisa war, als blicke sie durch einen Spiegel in die Vergangenheit und sah sich selbst. Die junge Frau setzte sich und platzierte den Dorn am unteren Ende ihres Instruments in den dafür vorgesehenen Halter am Boden. Nahm ihr Cello zwischen die Knie, überprüfte die Spannung des Bogens. Dann richtete sie ihren Blick auf den Dirigenten, der die Arme hob und den Einsatz gab.

Roy drückte Elisa einen Programmzettel in die Hand, den ihm wohl die Platzanweiserin gegeben hatte. PREISTRÄGERKONZERTDESINTERNATIONALENCELLO-WETTBEWERBS, las sie, darunter den Namen der jungen Frau und die Stücke, die sie spielte. Bereits mit den ersten Klängen erkannte sie das berühmte Cellokonzert von Robert Schumann. Denn sie hatte einmal selbst dort oben gesessen und dieses Stück gespielt, auf genau dieser Bühne.

Elisa saß starr auf ihrem Stuhl. All die Jahre hatte sie versucht, jenen Tag zu vergessen, und tatsächlich hatte sie lange überhaupt nicht mehr an die Ereignisse von damals gedacht. Hatte diesen Moment, der ihr Leben für immer in eine andere Richtung katapultiert hatte, aus ihrer Erinnerung gelöscht. Diese fürchterliche Schmach, die Verwirrung, in die sie gestürzt war, die vielen schlaflosen Nächte, in denen sie diesen einen Augenblick immer und immer wieder aufs Neue durchlebt hatte, ihren Zusammenbruch und die vielen Wochen in einer Klinik, in der außer ihr nur überarbeitete und ausgebrannte Erwachsene gewesen waren, die sich nicht vorstellen konnten, wie es möglich war, dass bereits eine Sechzehnjährige an diesen Punkt gelangte. Und dann war eine Zeit gekommen, in der sie sich das selbst nicht mehr hatte erklären können.

Denn einige kostbare Jahre lang waren die Musik und das Cello ihr einziger Lebensinhalt gewesen. Wie im Rausch hatte sie ihre Siege gefeiert, damals, als sie mit einer Leichtigkeit, die alle in Staunen versetzte, selbst Preisträgerin dieses Wettbewerbs und vieler anderer wurde. Schon im Alter von zwölf Jahren hatte man ihr eine ganz große Karriere vorhergesagt, hatte sie mit Ehrungen und Auszeichnungen überhäuft. In allen großen Konzertsälen war sie aufgetreten, in Mailand und Wien, Buenos Aires und London, in Tokio und an anderen berühmten Orten. Bis zu jenem Abend, an dem das Unerklärliche passiert war …

Ihre Hand, die den Programmzettel hielt, war eiskalt und gleichzeitig schweißnass und hielt das Papier viel zu fest. Wie war es möglich, dass sie nach all den Jahren noch immer jede einzelne Note kannte, so vertraut waren ihr die Melodien.

Elisa wagte kaum zu atmen, während die Musik ihren Lauf durch Schumanns wundervolles Werk nahm. Die junge Solistin spielte makellos, und doch hatte sie selbst damals den sehnsuchtsvollen Kantilenen einen viel tieferen Ausdruck verliehen, hatte ihr Cello zum Singen gebracht und damit ihr Publikum verzaubert. Aber was maßte sie sich an, sie, die schon lange kein Cello mehr angerührt hatte?

Elisa hatte diese Komposition seit damals nie mehr gehört. Das war nicht schwierig gewesen, denn sie hatte die Welt der Musik vollkommen aus ihrem Leben verbannt. Und trotzdem bemerkte sie nun fasziniert, wie sich die Finger ihrer linken Hand unwillkürlich zu bewegen begannen, als ob sie sich noch genauer an alles erinnerten als sie selbst. Sie musste ihre rechte Hand auf ihre linke legen, um sie daran zu hindern, die Tonfolgen zu greifen. Etwas begann in ihrem Innern zu vibrieren, ja, sie hatte diese Musik einmal geliebt, sie war lange Zeit ein Teil von ihr gewesen.

Doch in ihre Freude des Wiedererkennens mischte sich sogleich jenes andere Gefühl, so als würde eine Faust ihren Magen zusammenpressen. Je weiter das Stück voranschritt, umso unerbittlicher wurde der Druck. Jene verhängnisvolle Stelle rückte unaufhaltsam näher, und Elisa fühlte ihr Herz heftig schlagen. Nur noch wenige Takte – sie hielt den Atem an und schloss die Augen. Und dann war alles wieder da.

Sie war sechzehn Jahre alt und saß auf der Bühne der bis auf den letzten Stehplatz ausverkauften Carnegie Hall. In der Ehrenloge befand sich kein Geringerer als der Präsident der Vereinigten Staaten, die First Lady an seiner Seite. Und am Dirigentenpult stand jener Mensch, der damals verantwortlich gewesen war für ihr Wohl und Weh, ihr Fels in der Brandung, ihr Antrieb und Ansporn …

Die Stelle war vorüber, und Elisa atmete auf. Die junge Frau dort vorn auf dem Podium spielte weiter, unfehlbar und mit großer Ausdruckskraft. Sie war wirklich gut. Nicht wie Elisa, der damals etwas widerfahren war, was sie keinem Menschen je hatte erklären können. Denn wie macht man anderen begreiflich, dass man mitten in seinem bislang wichtigsten Konzert von einer unsichtbaren Welle erfasst worden war, die jeden Ton verschlungen hatte und einem einen Moment der vollkommenen Stille beschert hatte? Niemand hatte das verstanden, und am allerwenigsten sie selbst. Tatsache war, dass es wirklich still im Konzertsaal gewesen war, als die Welle sich zurückgezogen hatte. Bis sich eine peinlich berührte Unruhe im Parkett ausgedehnt hatte, die im Nu das gesamte Auditorium erfasste. Eine ratlose Unruhe, vor der sie schließlich einfach geflohen war …

»Du wirst doch nicht krank werden?«, fragte Roy, als sie den Saal für die Pause verließen.

Elisa schüttelte den Kopf. »Nur Kopfschmerzen«, sagte sie, und das war nicht einmal gelogen. »Bitte lass dir von mir nicht den Abend verderben. Ich nehm ein Taxi und leg mich im Hotel aufs Ohr.«

Mitten in der Nacht läutete ihr Handy. Sie hatte eine Ewigkeit nicht einschlafen können. Das Konzert hatte einen Sturzbach an Erinnerungen in ihr wachgerufen, die wie eine verrückt gewordene Filmcollage vor ihr abliefen, sobald sie die Augen schloss. Wieder und wieder hatte sie die Szene im Konzertsaal durchlebt, bis sie sich in ihren Träumen mit den Ereignissen von damals vermischt hatte. Noch halb benommen nahm sie den Anruf an. Es war Anna, ihre Mutter, und zuerst verstand sie kein Wort von dem, was sie sagte.

»Bitte, Mama.« Sie musste sich räuspern. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

»Natürlich«, antwortete ihre Mutter erstaunt. »Zehn Uhr. Schläfst du etwa noch?« Sie stutzte kurz, dann setzte sie hinzu: »Wo bist du denn?«

»In New York.« Elisa nahm einen Schluck Mineralwasser. »Egal was los ist, hat das nicht Zeit bis morgen?«

»Tut mir leid. Ich hab nicht gewusst … Dann sprechen wir später. Wann kann ich dich am besten erreichen?«

Elisa war jetzt wach genug, um zu hören, wie aufgewühlt Anna klang. So selten sie sich auch sahen, hatten sie doch ein gutes Verhältnis zueinander. »Warte«, unterbrach Elisa sie. »Jetzt bin ich sowieso wach. Was gibt es denn?«

»Niklas hatte einen Schlaganfall«, platzte es aus ihrer Mutter heraus. »Er liegt in einer Privatklinik in Lugano. Eben kam der Anruf.«

Elisa schwieg betroffen. Sie und ihre Mutter sprachen nicht über Elisas Großvater, schon seit langer Zeit nicht mehr. Genau genommen seit damals, jenem Konzert.

»Und jetzt?«, fragte sie in die Stille hinein. »Wirst du hinfahren?«

»Nein«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. »Du weißt, dass ich das nicht kann. Außerdem habe ich überhaupt keine Zeit. Morgen beginnt die Modemesse in Paris. Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht …«

»Ich?« Elisa war mit einem Mal hellwach. Wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn wieder am Dirigentenpult stehen. Wie stellst du dir das vor, wollte sie fragen.

»Hör zu, ich weiß, was du fühlst«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Mit mir hat er damals dasselbe gemacht. Mich hat er zu Höchstleistungen an der Geige getrieben und dich … Na ja, das ist alles lange her. Und jetzt ist er alt und braucht Hilfe.«

Dann fahr du doch hin, dachte Elisa trotzig.

»Ich kann das nicht«, sagte ihre Mutter, als hätte sie ihre Gedanken gehört. »Du weißt, wie wir zueinander stehen. Es würde ihn nur aufregen, mich zu sehen. Bei dir ist es das etwas anderes.«

»Als ob ihn mein Anblick weniger aufregen würde.«

»Das ist etwas anderes«, wiederholte ihre Mutter sanft. »Ich bin sicher, dass er nach allem, was damals passiert ist, dir gegenüber ein schlechtes Gewissen hat.« Und als Elisa nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Hör zu, Liebes, du würdest mir einen Riesengefallen tun.«

»Und was genau stellst du dir vor?«

»Fahr hin und sieh nach, wie es um ihn steht«, bat ihre Mutter. »Das ist alles, worum ich dich bitte.«

»Er wird doch nicht sterben …«, sagte Elisa leise, mehr zu sich selbst.

Einen Moment lang war es still zwischen ihnen. Dann hatte ihre Mutter sich wieder gefangen. »So schnell stirbt Niklas nicht«, versicherte sie mit fester Stimme. »Und falls es tatsächlich so schlimm sein sollte, komme ich natürlich.«

»Ich schau mal, ob ich es einrichten kann.« Elisa seufzte. »Zuerst muss ich aber in meinem Flugplan nachsehen.«

»In Ordnung.« Die Erleichterung war ihrer Mutter deutlich anzuhören. »Du bist ein Schatz, Elisa. Ich bin dir sehr dankbar.«

Um ihre Nachtruhe war es nun geschehen. Nachdem sie sich eine Stunde lang hin und her gewälzt hatte und ihr bewusst wurde, wie leid sie es im Grunde war – bei aller Begeisterung für ihren Beruf –, jede Nacht in einem anderen Bett zu schlafen, stand sie auf und zog sich an. Es war kurz nach vier und sie fühlte sich wie gerädert. Um acht musste sie am Flughafen sein, es blieb ihr also einige Zeit, die sie totzuschlagen hatte. Da konnte sie genauso gut nach Coney Island hinausfahren, wo sie schon ewig nicht mehr gewesen war.

Sie checkte aus dem Hotel aus und ließ sich ein Taxi rufen. Während sie in Soho nach Westen abbogen, um am Hudson River entlang in Richtung Battery Tunnel zu fahren, zog langsam die Dämmerung herauf. Um diese frühe Stunde war selbst in einer Stadt wie New York, deren Puls niemals erlosch, kaum Verkehr. Ein paar einsame Straßenkehrmaschinen zogen ihre Bahnen.

In Brooklyn folgten sie dem Shore Parkway entlang der New York Bay und fuhren immer weiter in Richtung Süden. Fasziniert sah Elisa zu, wie der Morgen anbrach. Es war Mai, der Tag versprach, warm zu werden, noch wehte eine leichte Brise.

Am berühmten Luna Park in Coney Island ließ Elisa sich absetzen. Mit müden Augen betrachtete sie die aus zahlreichen Filmen vertraute, kunterbunte Szenerie mit den Karussells, dem legendären Riesenrad und der Thunderbold-Achterbahn. Und da fiel ihr wieder ein, dass sie damals mit ihrem Großvater hier gewesen war, am Morgen vor dem Konzert. »Ich möchte so gerne das Meer sehen«, hatte sie gesagt, und Niklas hatte sie zu diesem Strand gebracht.

Der schien zu dieser frühen Stunde allein den Möwen zu gehören. Wie damals zog Elisa ihre Schuhe aus und wanderte auf dem noch nachtkühlen Sand den Meeressaum entlang. Versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Dass sie am Abend zuvor zufällig in das Preisträgerkonzert gestolpert war, kam ihr beim erwachenden Licht des neuen Tages vollkommen surreal vor. Was für ein merkwürdiger Zufall, dass ihr Großvater ausgerechnet jetzt einen Schlaganfall erlitten hatte. Überhaupt war es für sie schwer vorstellbar, dass dieser Mann, stark, massiv, riesengroß wie ein knorriger Baum, von so etwas Banalem wie einem Schlaganfall gefällt werden konnte.

Ein paar Möwen flogen keckernd und schimpfend auf und zogen ihre Kreise über den Wellen. In einer Sandkuhle lag ein kleiner, einarmiger Teddybär, der schon bessere Tage gesehen hatte. Der Himmel nahm die Farbe von Blutorangen an, ein paar Wolkenfäden am Horizont flammten lilafarben auf.

Elisa blieb stehen und sah sich um. Hinter ihr erleuchtete die aufgehende Sonne einen fast türkisblauen Himmel. Zeit, zurückzugehen. Zeit, dass sie sich wie eine Erwachsene verhielt und nicht mehr wie ein Mädchen, das seine wichtigste Chance vertan hatte.

Damals hatte sie alle ihre Stücke auswendig gespielt, und natürlich brauchte sie auch heute keinen Blick in den Flugplan, um zu wissen, wohin sie ihre Arbeit in den nächsten Tagen führen würde. Sie hatte lediglich ein bisschen Spielraum gewinnen wollen, nachdem ihre Mutter sie dermaßen überrumpelt hatte. Der heutige Rückflug führte über Mailand. Und danach hatte sie eine Woche frei.

Das war noch ein Aspekt, den Elisa am Langstreckenfliegen so schätzte: Auf eine Reihe von anstrengenden Tagen und Nächten, die sich durch die Zeitverschiebung ineinander verflochten und wenig Schlaf zuließen, folgten längere Erholungsphasen.

Sie schrieb ihrer Mutter eine Kurznachricht und teilte ihr mit, dass sie nach Lugano fahren würde. Als sie endlich in Mailand-Malpensa landeten, war es 22 Uhr Ortszeit. Sie verabschiedete sich von ihrer Crew, von der jeder zu seinem Heimatflughafen weiterflog. Elisa allerdings würde hier übernachten und am folgenden Tag in aller Frühe mit einem Mietwagen nach Lugano fahren.

Am nächsten Morgen brauchte sie fast doppelt so lange als die von ihrem Navigationssystem angekündigte Stunde ins Tessin. Denn auf der Stadtautobahn rund um Mailand hatte sich eine einzige zäh fließende Autokolonne gebildet, und erst nach einer Dreiviertelstunde konnte sie in Richtung Norden abbiegen. Bei Gaggiolo überquerte sie die Grenze und war endlich in der italienischen Schweiz.

Elisa war nervös. Sie hoffte, dass ihre Mutter damit recht behalten würde, dass Niklas ihrer Hilfe nicht bedurfte und sie rasch wieder aus seinem Leben verschwinden konnte. Aber hätte sich dann überhaupt jemand aus der Klinik bei der Tochter des Patienten gemeldet?

Vor der Ponte Diga, dem Damm, der Bissone mit Melide auf dem anderen Ufer des Luganer Sees verband, staute sich der Verkehr erneut. Baustellenfahrzeuge blockierten eine der Spuren, ungeduldige Autofahrer trommelten auf ihren Lenkrädern, hier und dort wurde gehupt. Dennoch konnte Elisa sich dem Zauber der Landschaft, die sie umgab, nicht entziehen. Und als sie endlich den Seedamm erreichte, wusste sie kaum, wohin sie zuerst schauen sollte – auf das türkis glitzernde Wasser, auf die bewaldeten, steil aufragenden Hänge des Monte Arbòstora oder zu den bezaubernden Villen, die das Ufer säumten.

Kurz nach elf fuhr sie auf den Parkplatz der Privatklinik. Sie trank von dem Mineralwasser, das sie mitgenommen hatte, saß einen Moment lang einfach nur da und überlegte, was sie jetzt wohl erwartete. Ihr Handy klingelte, und sie schrak zusammen. Es war Anna.

»Bist du dort?«, fiel sie mit der Tür ins Haus. »Wie geht es ihm?«

»Ich bin gerade erst angekommen«, antwortete Elisa und sah hinüber zum Eingang des Krankenhauses. »Und jetzt geh ich rein.« Kurz war es still zwischen ihnen. »Hör mal«, fuhr Elisa fort. »Ich melde mich, wenn ich mehr weiß, ja? Bitte ruf jetzt nicht jede halbe Stunde an.«

»Okay, okay«, antwortete ihre Mutter kleinlaut. »Ich bin nur … Ich mach mir Sorgen.«

Warum kommst du dann nicht her?, dachte Elisa und biss sich auf die Zunge. Stattdessen sagte sie: »Es wird schon nicht so schlimm sein. Ich ruf dich an.«

»Elisa?«, hörte sie ihre Mutter sagen.

»Ja?«

»Danke, dass du das machst.«

»Ist doch klar. Bis später, Mama.«

»Bis später, Liebes.«

Elisa beendete das Gespräch, schaltete ihr Mobiltelefon vorsichtshalber aus und stieg entschlossen aus dem Wagen. Wie es ihr in all den Jahren als Flugbegleiterin zur Gewohnheit geworden war, kontrollierte sie ihre Kleidung, auch wenn sie an diesem Tag nicht die Uniform trug, sondern ein apricotfarbenes Sommerkleid, das sie vor Kurzem während eines Aufenthalts in San Francisco gekauft hatte, dazu helle Sandalen. Ihr langes blondes Haar hatte sie im Nacken mit einer Spange locker zusammengenommen. Im Glas der Eingangstür sah sie flüchtig ihr Spiegelbild und überlegte, wie sehr sie sich wohl in den vergangenen Jahren verändert hatte. Und ob Niklas sie überhaupt gleich wiedererkennen würde.

Er lag in einem Einzelzimmer mit Blick auf den See, seine massige Gestalt hob sich unter dem weißen Laken ab. Um ihn herum waren medizinische Apparaturen aufgestellt, die den Raum mit einem verhaltenen Summen erfüllten, ein Infusionsbeutel hing über ihm in einem Gestell und versorgte ihn mit irgendeiner Flüssigkeit. Sein Kopf mit der eindrucksvollen Löwenmähne, die inzwischen fast vollständig ergraut war, ruhte auf einem Kissen, die Augen unter den buschigen Brauen waren geschlossen. Ein ganzer Tsunami an widersprüchlichen Gefühlen stürmte auf Elisa ein, als sie ihren Großvater so sah.

Der Arzt, der sich als Dr. Fullner vorgestellt und Elisa hereingeführt hatte, trat einen Schritt zurück und bedeutete ihr, ihm nach draußen zu folgen. »Er schläft gerade«, sagte er auf dem Flur und warf einen Blick in die Krankenakte in seiner Hand. »Möchten Sie mich in mein Büro begleiten?«

Elisa folgte ihm und nahm auf dem Besucherstuhl Platz. In ihren Ohren surrte es leise. Niklas’ Anblick hatte sie mehr verstört, als sie erwartet hatte. »Wie geht es ihm?«, fragte sie und musste sich räuspern, so belegt klang ihre Stimme.

»Den Umständen entsprechend recht gut«, lautete die Antwort. Dr. Beat Fullner war Deutschschweizer und stammte aus Basel, das hatte er ihr bei der Begrüßung erzählt. Auch wenn Elisa sehr gut italienisch sprach, so war sie in diesem Moment doch froh, mit dem Arzt in ihrer Muttersprache reden zu können. »Wir haben ihn aus der Intensivstation entlassen können, das ist schon mal ein gutes Zeichen. Viel mehr können wir noch nicht sagen. So ein Schlaganfall ist immer eine höchst individuelle Sache. Manche erholen sich rasch und vollständig. Andere hingegen …«

»Wovon hängt das ab?«, fragte Elisa.

»Von vielen Faktoren«, erklärte Dr. Fullner. »Von der Konstitution des Patienten. Von Vorerkrankungen. Davon, wie rasch er nach dem Apoplex in Behandlung kam. Und natürlich davon, welche Hirnregionen betroffen waren.«

»Glauben Sie, mein Großvater wird wieder gesund?« Elisa versuchte, in der Miene des Arztes zu lesen.

»Vieles spricht dafür«, sagte er vorsichtig. »Soweit es scheint, war er kerngesund vor dem Hirnschlag. Und er kam zum Glück ohne Zeitverlust in Behandlung. Es gibt also durchaus Grund zur Hoffnung. Mehr kann ich nicht sagen. Aber ich verspreche Ihnen, dass wir unser Möglichstes tun, so wie immer. Lassen Sie mich Ihnen nun Schwester Ingrid vorstellen«, sagte er und erhob sich. »Sie ist meine rechte Hand und Ihre Ansprechpartnerin, wenn ich nicht zu erreichen bin.« Sie begaben sich gemeinsam zur Stationsleitung, und Schwester Ingrid, eine kompetent wirkende Mittvierzigerin mit freundlichen Augen hinter einer randlosen Brille, bat Elisa, etwas Wäsche für ihren Großvater zu bringen und ihre Handynummer zu hinterlassen.

Danach wusste Elisa nicht so recht, was sie tun sollte. Sie beschloss, noch einmal nach Niklas zu sehen.

Leise betrat sie sein Zimmer. Ihr Herz fing wie wild an zu klopfen, als sie sah, dass er wach war. Sie ging an sein Bett, und ihre Blicke trafen sich.

Seine Augen waren noch immer dieselben, blau wie ein Gletscher in der Sonne. Sie weiteten sich, als er sie sah. Elisa konnte nicht einschätzen, ob vor Freude oder Empörung.

»Wie geht es dir?«, fragte sie leise und griff nach seiner Hand, nach der, in der keine Kanüle steckte. Sie fühlte sich kühl und spröde an, die Haut eines alten Menschen, die lange nicht eingecremt worden war. Er drehte seinen Kopf vollends zu ihr und musterte sie mit großen staunenden Augen. Erkannte er sie nicht und überlegte, wer sie sein könnte? »Ich bin es«, sagte sie. »Elisa.«

Es klopfte an der Tür, gleich darauf wurde sie geöffnet. Ein Mann streckte seinen Kopf ins Zimmer, er mochte in Elisas Alter sein, vielleicht etwas älter. Sein dunkles Haar war kurz geschnitten, seine braunen Augen unter den kräftigen Brauen wanderten besorgt von Niklas zu Elisa. »Darf ich?«, fragte er.

Elisa war zu überrascht, um zu antworten, und er nahm ihr Schweigen als Einladung. Im nächsten Moment stand er auf der anderen Seite des Krankenbetts. »Wie geht es ihm?«

Der Löwenkopf drehte sich langsam in Richtung des jungen Mannes. Ein Strahlen erhellte Niklas Eschbachs Züge. Sein Lächeln spiegelte sich in dem seines Besuchers. »Ach, was bin ich froh«, entfuhr es dem. »Jetzt wird alles gut.«

»Ich bin Fabio«, sagte der Fremde, nachdem die Schwester sie gebeten hatte, den Kranken allein zu lassen. Er reichte Elisa die Hand. Elisa schüttelte sie und musterte ihn neugierig. Fabio war groß und schlank, seine Augen hatten die Farbe von Haselnüssen. »Und dich hab ich schon mal gesehen«, fuhr er fort.

»Ich bin Elisa«, antwortete sie verwundert. Fabios Rechte war rau wie die eines Handwerkers. »Niklas’ Enkelin.«

»Natürlich!« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Das Mädchen mit dem Cello.«

Elisa blieb kurz die Luft weg, dann hatte sie sich wieder gefangen. »Das ist lange her«, sagte sie. »Woher kennst du Niklas?«, fragte sie, während sie gemeinsam in Richtung Ausgang gingen.

»Wir sind quasi … Nachbarn«, antwortete er. »Er war gerade bei uns, als es passiert ist. Ich hab den Krankenwagen gerufen.«

»Dann haben wir dir viel zu verdanken«, sagte Elisa. »Wie gut, dass er nicht allein war.«

»Ja, das kann man wohl sagen.« Inzwischen hatten sie das Portal erreicht. Fabio hielt Elisa höflich die Glastür auf. »Wie lange kannst du bleiben?«

»Ich … ich weiß noch nicht«, stammelte sie. »Auf alle Fälle mal bis morgen oder übermorgen, denke ich. Ich bräuchte ein Hotel. Kannst du mir eins empfehlen?«

»Ein Hotel?« Fabio sah sie verblüfft an. »Nein, nein. Du kannst doch in der Villa wohnen, da ist Platz genug.«

»Aber ich hab keinen Schlüssel und überhaupt …«

»Wir haben einen Schlüssel«, fiel ihr Fabio ins Wort. Er sah auf die Uhr. »Ich muss mich leider beeilen, gleich kommt ein Kunde. Hier …« Er zog einen umfangreichen Bund aus der Tasche und löste zwei Schlüssel heraus. »Der hier ist für das Tor. Und der andere für das Haus. Du kennst den Weg?«

»Ähm, ich bin nicht sicher. Ich war schon lange nicht mehr dort«, gab Elisa zu.

»Dann fahr mir einfach hinterher. Kurz vor dem Haupttor biege ich ab. In Ordnung?«

Der Weg führte am Ufer des Lago di Lugano entlang in Richtung Süden, an der Seebrücke vorbei, und stieg schließlich in Serpentinen den Monte Arbòstora hinauf. Langsam kehrte Elisas Erinnerung zurück, und spätestens, als sie das kleine Bergdorf Morione erreicht hatten, erkannte sie alles wieder. Die Villa ihres Großvaters lag etwas oberhalb des Ortes inmitten eines eigenen Parks, der von hohen Mauern umschlossen war. Als Fabio fröhlich hupend auf einen unbefestigten Weg linkerhand abbog, sah sie den Torbogen mit den schmiedeeisernen Flügeltüren am Ende der Einfahrt bereits vor sich.

Sie öffnete das Tor und fuhr hindurch, stellte den Wagen ab und kam sich plötzlich wie ein Eindringling vor. Ob es Niklas recht war, dass sie hier Quartier bezog? Nachdem er Fabio sofort erkannt und sich über seinen Anblick so gefreut hatte, war sie sich nicht mehr im Klaren darüber, wie sie den konsternierten Blick, mit dem er sie gemustert hatte, deuten sollte. Besonders glücklich hatte er jedenfalls nicht gewirkt.

Sie hob das leichte Rollköfferchen aus dem Kofferraum und trug es über den Kiesweg zum Eingang. Eine Freitreppe mit fünf Stufen führte zum Portal. An beiden Seiten lief das steinerne Geländer in einer Schneckenform aus, die dem Hals eines Streichinstruments nachempfunden war.

Elisa schloss die mächtige Eingangstür auf und betrat das Vestibül. Gedämpftes Licht fiel durch die Fenster, streifte den aus verschiedenfarbigen Terrakottafliesen gestalteten Fußboden und zauberte Lichtreflexe auf die Einlegearbeiten aus edlem Rosenholz im Geländer der Treppe, die in den ersten Stock führte. Dort oben befanden sich die Schlafräume, auch das Zimmer, in dem Elisa einmal gewohnt hatte. Und eigentlich wusste sie, dass es besser wäre, auf dem direkten Weg dorthin zu gehen. Mit etwas Glück würde sie frische Wäsche finden, ihr Bett beziehen und sich dann nach der langen Arbeitswoche so richtig ausschlafen. Und doch stellte sie zuerst den Koffer ab, ging auf die eindrucksvolle, mit Schnitzereien verzierte Flügeltür zu, hinter der der größte und wichtigste Raum des gesamten Hauses lag, Niklas Eschbachs Lebensmittelpunkt – das Musikzimmer.

Sie drückte die Klinke nieder und stemmte sich wie früher gegen das Türblatt. Wunderte sich, dass sie es längst nicht mehr als so schwer empfand wie damals.

Der Saal allerdings war noch immer eindrucksvoll. Da stand er, der Konzertflügel, schwarz glänzend mitten auf einem riesigen Orientteppich, umrahmt von mehreren schwarzen Ledersesseln. Fünf bodentiefe Fenstertüren boten einen Blick über die Terrasse hinweg auf den Luganer See weit unten im Tal, der in der Mittagssonne glitzerte.

Wie magisch angezogen ging Elisa zum Flügel. Auf dem Notenpult war die Partitur einer Sinfonie von Beethoven aufgeschlagen, daneben ein Bleistift und eine Lesebrille. Es roch nach Harz und Sandelholz und nach dem dezenten Aftershave ihres Großvaters. Kein Stäubchen lag auf dem Lack des Instruments, in dem sich die Deckenleuchte aus Muranoglas spiegelte. Vom Klavierhocker aus sah man direkt auf das Porträt in Öl, das Paulina Conti-Eschbach darstellte, Elisas Großmutter, die eine berühmte Sängerin gewesen war und Niklas’ große Liebe. Paulina war bei Annas Geburt gestorben, und das Einzige, was Elisa von ihr geblieben war, waren ein paar Schallplattenaufnahmen, die sie allesamt auf ihrer Playlist hatte und immer wieder anhörte, vor allem, wenn sie wegen des Jetlags nicht einschlafen konnte. Er hat mir das nie verziehen, hatte Anna einmal behauptet, so als wäre sie schuld an Paulinas Tod. Nach dem Ölgemälde zu urteilen hatte sie die dramatische Schönheit ihrer Mutter geerbt, dazu wohl ihr italienisches Temperament, und so sehr Niklas seine Frau geliebt haben mochte, so sehr geriet er mit seiner Tochter wegen jeder Kleinigkeit in Streit. Das war schon immer so gewesen und mit den Jahren nur noch schlimmer geworden.

Unschlüssig drehte Elisa sich um und wollte gerade ihr altes Kinderzimmer aufsuchen, als ihr Blick auf die Wand neben dem Kamin fiel, die voller gerahmter Fotografien hing. Niklas, in allen möglichen Posituren beim Dirigieren. Niklas mit berühmten Dirigentenkollegen und anderen Stars. Eines zeigte ihn mit Placido Domingo, ein anderes mit dem Geiger Yehudi Menuhin.

Wie eitel er doch noch immer ist, dachte sie und verließ das Musikzimmer. Kein einziges Foto, auf dem er nicht zu sehen war.

Sie nahm ihren Koffer und ging die Treppe hinauf. Auf der Balustrade im Obergeschoss angekommen, blieb sie wie angewurzelt stehen. Früher hatten zwischen den fünf Schlafzimmertüren alte Stiche mit historischen Instrumenten gehangen. Heute befanden sich dort Fotografien. Elisas Magen begann zu flattern. Denn es war sie selbst, die ihr aus den Rahmen entgegenblickte. An den Wänden hingen vier Fotografien aus vier verschiedenen Jahren, und auf jedem hielt sie glücklich strahlend ihr Cello umarmt.

2 Die Villa

Sie hätte doch in ein Hotel gehen sollen. Am besten in eines der internationalen Ketten, die überall auf der Welt gleich aussahen, diskret und neutral, frei von allen persönlichen Erinnerungen. Stattdessen stand sie nun vor diesem Bett mit dem zart roséfarbenen Überwurf und dem weißen Teddybären darauf, den ihr jüngeres Ich überallhin mitgeschleppt hatte. Doch ihr Maskottchen hatte versagt und war von ihr zurückgelassen worden, so wie alle anderen Dinge, die damals ihr Leben ausgemacht hatten. Zum Beispiel das Poster mit ihrem großen Idol Jacqueline du Pré, jener Cellistin, die viel zu jung gestorben war und mit der man sie häufig verglichen hatte, vielleicht auch wegen ihrer äußeren Ähnlichkeit mit der großen Künstlerin, dem langen blonden Haar und dem strahlenden Lächeln.

Elisa drehte sich langsam einmal um sich selbst. Fast alles war noch genau wie damals, nur das Cello stand nicht mehr an seinem Platz, natürlich nicht, es wäre Unsinn, ein so wertvolles Instrument sechzehn Jahre lang unbenutzt zu lassen. Wer heute wohl darauf spielte?

Elisa gab sich einen Ruck, nahm den Koffer und verließ den Raum. Sie würde nicht in ihrem ehemaligen Kinderzimmer schlafen, in dem sie all ihre Schulferien verlebt hatte, bis sie im Alter von vierzehn Jahren zu ihrem Großvater gezogen war, um sich in seiner Obhut ganz dem Cellospiel zu widmen. Stattdessen ging sie nach nebenan, wo früher ihre Mutter übernachtet hatte, wenn sie, was selten genug vorkam, zu Besuch gekommen war, denn Anna war nicht wirklich einverstanden damit gewesen, und es hatte viele Kämpfe gekostet, bis sie es erlaubt hatte. In der Zwischenzeit war der Raum in ein geschmackvolles Gästezimmer umgestaltet worden – Elisa erkannte ihn kaum wieder, und genau das gab ihr Luft zum Atmen.

Es lohnte nicht, ihre Sachen in den Schrank zu räumen, sie war es gewöhnt aus dem Koffer zu leben. Und lange würde sie definitiv nicht bleiben.

»Ich habe eine Mission«, sagte sie sich selbst. »Und dann verschwinde ich wieder.« Mit diesem beruhigenden Mantra ging sie ins Schlafzimmer ihres Großvaters, um die Sachen herauszusuchen, die er in der Klinik brauchte.

Es war seltsam, seinen Kleiderschrank zu öffnen. Sie mochte sich nicht vorstellen, was er sagen würde, könnte er sehen, wie sie seine Unterwäsche durchging und ein paar Teile herausnahm, um sie in die Reisetasche zu packen, die sie in einem anderen Fach gefunden hatte. Niklas Eschbach hatte immer streng auf seine Privatsphäre geachtet, hatte wenige Menschen nah an sich herangelassen. Elisa war eine von ihnen gewesen, ja, sie hatte sich eingebildet, seinem Herzen am nächsten zu stehen, doch das war ein Irrtum.

»Dein Großvater hat sein Herz gegen einen Taktstock eingetauscht«, hatte ihre Mutter einmal gesagt. Elisa hatte das nicht glauben wollen, aber wie immer hatte Anna am Ende recht behalten. Er hatte nicht nach ihr gesehen, nachdem sie auf so unerklärliche Art und Weise versagt hatte. Hatte sie fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Mit Versagern gab Niklas Eschbach sich nicht ab.

Elisa riss sich zusammen. Zwei Pyjamas zum Wechseln, ein Morgenmantel, Wollsocken, Slipper und für alle Fälle die weiche Kaschmirjacke – alles verstaute sie sorgfältig in der Tasche.

Dann ging sie ins Badezimmer. Rasierzeug, Zahnputzsachen, Kamm und eine Creme, Elisa konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Tiegel zu öffnen und an ihr zu schnuppern. Es war der herbe Duft ihrer Kindertage, und sie beeilte sich, das Döschen wieder zu verschließen.

Als sie das Zimmer verließ, prallte sie mit einem Körper zusammen, schrie vor Schreck auf und erschrak noch mehr, als die andere Person einen noch viel lauteren Schrei ausstieß. Es war eine junge Frau Mitte zwanzig mit schwarzem, zu einem Dutt aufgesteckten Kraushaar, aus dem sich ein paar widerspenstige Locken gelöst hatten. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Elisa an.

»Dio mio«, keuchte sie und packte mit beiden Händen den Stiel eines Wischmopps wie eine Waffe. »Wer zum Teufel sind Sie? Und was tun Sie hier?« Und als sie die Reisetasche in Elisas Hand entdeckte, fügte sie eine Spur schriller hinzu: »Gleich rufe ich die Polizei!«

»Ich bin Niklas Eschbachs Enkelin«, erklärte Elisa, nachdem sie sich wieder gefasst hatte. »Und wer sind Sie?«

»Enkelin?« Die junge Frau musterte sie skeptisch. Direkt unter ihrem linken Auge befand sich ein kleines, rundes Muttermal, was ihr den Ausdruck eines Harlekins verlieh. »Er hat keine Enkelin. Sonst hätte er mir längst von ihr erzählt. Ich mach ihm jetzt schon seit vier Jahren den Haushalt und …«

»Mein Großvater liegt im Krankenhaus«, fiel Elisa ihr ins Wort. »Und ich muss ihm ein paar Sachen bringen.«

Die Haushälterin wurde bleich. »Im Krankenhaus? Was ist denn passiert?«

»Lass sie in Ruhe, Serafina«, erklang von unten eine volltönende weibliche Stimme. »Sie hat jetzt anderes zu tun, als mit dir zu streiten. Signor Niklas hatte einen Schlaganfall.«

Unten im Foyer stand eine Frau und blickte zu ihnen herauf. Elisa schätzte sie auf um die sechzig. Geistesgegenwärtig ergriff sie die Gelegenheit, um sich an Niklas’ Haushälterin vorbeizuschlängeln und die Treppe hinunterzugehen.

»Ich bin Mariella«, empfing sie die Ältere und musterte sie eingehend aus haselnussbraunen Augen. Ihr modisch kurz geschnittenes Haar war fast ergraut, und eine senkrechte Falte zwischen ihren Augenbrauen verlieh ihr eine gewisse Strenge, was ihrer Schönheit keinen Abbruch tat. »Fabios Mutter.«

»Freut mich«, antwortete Elisa und kam sich nun tatsächlich wie ein Eindringling vor. All diese Menschen hatten Schlüssel zur Rosenholzvilla und gingen hier ein und aus. So war es schon immer gewesen, ihr Großvater hatte Personal, das dafür sorgte, dass die Betten gemacht waren und kein Körnchen Staub auf dem blank polierten Flügel lag. »Ich bin Elisa.«

Mariella nickte. Natürlich hatte Fabio ihr das bereits erzählt. »Fährst du zu Niklas?«, fragte sie. »Nimmst du mich mit? Ich wollte auch nach ihm sehen.«

Sie sprachen wenig während der Fahrt. Elisa war viel zu aufgewühlt, um die üblichen höflichen Fragen zu stellen, und Mariella hielt offenbar nicht viel von Smalltalk. Sie wirkte angespannt und besorgt, was Elisa den Eindruck gab, dass Niklas mehr für sie und ihre Familie war als ein Nachbar.

»Sie kennen meinen Großvater schon lange?«, fragte sie schließlich, als sie bereits auf den Parkplatz der Privatklinik abbog. Dass Mariella sie so selbstverständlich duzte, fand sie mehr als befremdlich.

»Ja«, antwortete Mariella. »Sehr lange.« Danach verstummte sie wieder.

Im Krankenhausflur ließ sie Elisa den Vortritt. »Geh du ruhig zuerst zu ihm«, schlug sie vor. »Und ruf mich, wenn ihr so weit seid.«

Was meinen Sie mit »so weit sein«, wollte Elisa fragen, ließ es aber. Sie kannte diese Frau nicht und hielt es für klüger, die höfliche Distanz zu wahren, mit der sie auch einen Fluggast behandelt hätte.

Ihr Großvater wandte den Kopf in ihre Richtung, als sie eintrat.

»Hallo Niklas«, sagte sie, so wie sie ihn immer genannt hatte, beim Vornamen, alles andere hatte er weit von sich gewiesen. »Wie fühlst du dich?« Die hellblauen Augen schienen ihr Gesicht zu studieren, wanderten dann an ihrer Gestalt auf und ab, und Elisa fragte sich wie beim ersten Mal, ob er sie erkannte. Schließlich richtete er seinen Blick auf die Tasche. »Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht«, fuhr sie fort und gab sich alle Mühe, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Sie stellte die Tasche auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster ab und trat zögernd ans Bett. Sie hatte ihren Großvater als imponierenden, kraftstrotzenden Mann in Erinnerung. Ihn nun so hilflos zu erleben schnürte ihr die Kehle zu.

»Was … willst du hier?«, kam es mühsam aus Niklas’ Mund. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich zu artikulieren, seine Worte klangen undeutlich und verwaschen. Der Blick aus seinen hellblauen Augen war jedoch klar und unerbittlich.

»Nach dir sehen«, antwortete sie und fühlte sich hilflos.

»Wo … ist Anna?«

Elisa holte tief Luft. Die Frage nach ihrer Mutter hatte sie nicht erwartet. Früher hatte er sich kaum nach Anna erkundigt, und sie war ihm so gut es ging aus dem Weg gegangen. Was nicht einfach für Elisa gewesen war.

»Hat sie … dich vorgeschickt?«

»Sie hat mich gebeten …«

Seine Mundwinkel verzogen sich leicht, dann wandte er den Blick ab. »Ist … Mariella … da?«

»Ja«, antwortete Elisa. »Sie wartet draußen.«

»Hol sie rein.« Trotz seiner Hinfälligkeit konnte er also immer noch Befehle erteilen. Elisa beschloss, dies als ein gutes Zeichen zu nehmen, und rief die Nachbarin ins Zimmer.

»Lass … uns allein«, stieß er mühsam in Elisas Richtung hervor, als sie zu zweit an seinem Bett standen.

»Niklas«, mahnte Mariella streng. »Sie ist deine Enkelin.«

»Na und?«, kam es undeutlich vom Bett. »Das … weiß sie ja … selbst nicht mehr.« Eine Ader schwoll an seiner Schläfe an, Elisa kannte dieses Vorzeichen eines Wutanfalls nur zu gut. »Ich brauche keine … Enkelin, die nur … aus Pflichtgefühl hier ist.«

»So kannst du nicht mit ihr reden«, wandte Mariella ein. »Immerhin …«

»Ist schon in Ordnung«, fiel ihr Elisa sanft ins Wort. »Er darf sich auf keinen Fall aufregen.«

»Bleib hier«, befahl Mariella energisch. »Wer weiß, ob dieser Sturkopf das alles überlebt. Willst du so von deinem Großvater scheiden?« Und zu dem Kranken gewandt sagte sie: »Reiß dich zusammen, Niklas. Familie ist Familie und …«

»Danke«, unterbrach Elisa sie nun eine Spur schärfer. Ihr war nicht entgangen, wie Niklas’ Schlagader zu pulsieren begonnen hatte. »Das ist vielleicht nett gemeint, aber völlig fehl am Platz.«

»Genau«, stieß Niklas hervor.

»Ich warte draußen. Und keine Sorge, ich bring Sie schon wieder nach Hause.« Und damit verließ sie das Krankenzimmer.

Vor der Tür musste sie sich an die Wand lehnen, so flau war ihr auf einmal. Vergeblich sah sie sich nach einem Stuhl um. Am Ende des Flurs entdeckte sie eine komfortable Sitzecke, doch sie konnte sich nicht dazu entschließen, sich dort bequem niederzulassen, die Beine übereinanderzuschlagen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung, so wie sie es Mariella gegenüber gerade behauptet hatte.

»Nichts ist in Ordnung«, sagte sie leise vor sich hin und versuchte, ihren Atem zu beruhigen.

Was fiel dieser Frau eigentlich ein, sich derart in ihre Familienangelegenheiten einzumischen? Wer war sie überhaupt? Was hatte sie mit Niklas zu schaffen? War sie seine … Lebensgefährtin? Der Gedanke erschien Elisa absurd, schließlich war Niklas zweiundachtzig Jahre alt. Warum jedoch nicht? Wieso sollte ein Mann wie ihr Großvater, vital und noch immer auf seine Weise attraktiv, nicht mit einer Frau zusammen sein?

Dabei war das alles vollkommen nebensächlich. Was so schmerzhaft in ihrer Brust brannte, waren Niklas’ Worte. Ich brauche keine Enkelin, die nur aus Pflichtgefühl hier ist. Und am meisten tat weh, dass es die reine Wahrheit war. Nie im Leben wäre sie hierher zurückgekommen, hätte ihre Mutter sie nicht so inständig darum gebeten.

Ihre Mutter! Siedend heiß fiel Elisa ein, dass sie ihr Mobiltelefon noch immer nicht angeschaltet hatte. Mit zittrigen Fingern holte sie es aus ihrer Handtasche. Wartete ungeduldig, bis es hochgefahren war und ein Netz gefunden hatte. Doch sie steckte es wieder weg. Was sollte sie Anna sagen? Dass Niklas sie aus dem Krankenzimmer geworfen hatte? War das nicht zu erwarten gewesen? Sie fühlte sich außerstande, jetzt mit Anna zu sprechen, die in Paris ihren Geschäften nachging und offenbar aus sicherer Entfernung verfolgen wollte, ob ihr Vater starb oder nicht.

Niklas ist auf dem Weg der Besserung, tippte sie stattdessen in eine Nachricht. Ich bleibe eine Nacht. Sie drückte auf »Senden« und fühlte sich sofort besser. Rasch schaltete sie das Gerät aus, denn sie nahm an, dass Anna sofort versuchen würde, sie anzurufen, um Näheres zu erfahren. Aber dafür musste sie schon selbst herkommen, schwor sich Elisa.

Die Tür ging auf, und Mariella kam aus Niklas’ Zimmer. Sie streifte Elisa mit einem schwer zu deutenden Blick und wandte sich dem Treppenhaus zu. Wut stieg in Elisa auf, während sie ihr folgte. Was war eigentlich los mit ihr? Zuerst hatte sie sich von ihrer Mutter herschicken lassen. Dann war sie von Niklas abgekanzelt worden. Und nun eilte sie einer wildfremden Frau hinterher, die sie wie ihre persönliche Taxifahrerin behandelte? Am liebsten hätte Elisa Mariella auf dem Parkplatz stehengelassen und wäre direkt zurück zum Mailänder Flughafen gefahren. Mit ein bisschen Glück könnte sie noch die Maschine um sechs erwischen und wäre um neun zu Hause. Dummerweise war ihr Koffer in der Villa. Und es war nun mal nicht ihre Art, jemanden auf einem Parkplatz stehenzulassen, schon gar nicht eine Frau um die sechzig.

Das Schweigen zwischen ihnen war nun von ganz anderer Art als das auf der Hinfahrt. Elisa war wütend, und ihre Mitfahrerin sollte das durchaus merken. Doch als sie vor dem Tor zur Villa anhielt, damit Mariella aussteigen konnte, rührte diese sich nicht.

»Soll ich Sie woanders hinbringen?«, fragte Elisa kühl.

Mariella schüttelte den Kopf. »Du darfst ihm das nicht übel nehmen«, sagte sie, und natürlich wusste Elisa, wen sie meinte.

»Wie wäre es, wenn Sie mich einfach in Ruhe ließen?«, fauchte sie zornig zurück und konnte es selbst nicht fassen, dass sie das tat. Wo war ihre legendäre Selbstbeherrschung geblieben, mit der sie selbst die schwierigsten Fluggäste zu nehmen wusste? Sie hatte keine Ahnung. In ihr brodelte und kochte es nur so. Am liebsten hätte sie mit den Fäusten auf das Lenkrad eingehämmert. Stattdessen brach sie plötzlich in Tränen aus und konnte rein gar nichts dagegen tun. »Gehen Sie endlich«, schluchzte sie, doch alles, was Mariella tat, war, ihr ein Taschentuch zu reichen und zu warten, bis der Sturzbach versiegte.

»Komm doch nachher zum Abendessen zu uns.« Ihre Stimme klang auf einmal mütterlich und weich.

Elisa schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich möchte wirklich lieber allein sein«, antwortete sie.