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Dieses eBook: "Die Rückkehr des Sherlock Holmes" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Sherlock Holmes ist eine vom britischen Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle geschaffene Kunstfigur, die in seinen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert spielenden Romanen als Detektiv tätig ist. Besondere Bedeutung für die Kriminalliteratur erlangten Doyles Werke durch die beschriebene forensische Arbeitsmethode, die auf detailgenauer Beobachtung und nüchterner Schlussfolgerung beruht. Holmes gilt bis heute weithin als Symbol des erfolgreichen, analytisch-rationalen Denkers und als Stereotyp des Privatdetektivs. Arthur Conan Doyle (1859-1930) war ein britischer Arzt und Schriftsteller. Inhalt: Im leeren Hause Der Baumeister von Norwood Die tanzenden Männchen Die einsame Radfahrerin Die Entführung aus der Klosterschule Der schwarze Peter Die sechs Napoleonbüsten Der goldene Klemmer Der Mord in Abbey Grange Der zweite Blutflecken
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Im leeren Hause, Der Baumeister von Norwood, Die tanzenden Männchen, Die einsame Radfahrerin, Die Entführung aus der Klosterschule, Der schwarze Peter Die sechs Napoleonbüsten, Der goldene Klemmer
Im Frühling des Jahres 1894 war ganz London in Aufregung. Besonders die vornehme Welt war durch die Ermordung des Herrn Ronald Adair tief erschüttert. Dieser junge Baron hatte unter höchst eigentümlichen Umständen und auf ganz unerklärliche Weise das Leben verloren. Das Publikum hat von diesem Verbrechen seinerzeit nur wenig Näheres erfahren, weil die polizeilichen Nachforschungen keinen Erfolg gehabt hatten, und überdies das meiste im Interesse der weiteren Verfolgung des an und für sich schon außerordentlich schwierigen Falles geheim gehalten werden mußte. Erst jetzt nach Verlauf von zehn Jahren bin ich in der Lage, die fehlenden Glieder der Kette sowie den Schluß der Untersuchung bekannt zu geben. Aber trotz dieser langen Zeit empfinde ich noch ein Schaudern, wenn ich an das Verbrechen und seine tragische Aufdeckung denke, fühle aber auch von neuem jene Freude und jene Bewunderung, die mich damals erfüllte, als es endlich gesühnt war. Die Öffentlichkeit möge mir’s zu gut halten, daß ich ihr nicht gleich alles, was ich wußte, mitgeteilt habe, nachdem sie bereits meinen früheren Erzählungen über das Tun und Denken eines merkwürdigen Mannes ein lebhaftes Interesse geschenkt hatte. Ich würde es sicherlich nicht verabsäumt haben, denn ich hielt es für meine vornehmste Pflicht; aber eine Bitte aus dem eigenen Munde eben dieses Mannes verhinderte mich daran, und erst vor ein paar Monaten bin ich von meinem Versprechen entbunden worden.
Wie man sich leicht denken kann, hatte ich infolge meiner intimen Freundschaft mit Sherlock Holmes an dem Verbrechen ein hervorragendes Interesse, und habe, weil er selbst nicht mehr da war, die verschiedenen Fragen, die daran geknüpft wurden, genau verfolgt und geprüft. Zu meiner Beruhigung habe ich sogar seine eigenen Methoden zur Aufklärung angewandt, freilich mit nur geringem Erfolge. Als ich las, daß in dem wegen der Ermordung des Ronald Adair eingeleiteten Verfahren auf Grund der Voruntersuchung die Anklage wegen vorsätzlichen Mordes gegen ›Unbekannt‹ erhoben worden war, kam es mir wieder deutlicher als je zuvor zum Bewußtsein, was die Gesellschaft an Sherlock Holmes verloren hatte. In dieser dunkeln Angelegenheit gab es Punkte klarzustellen, die gerade etwas für ihn gewesen wären, und die Anstrengungen der Polizei würden durch die Beobachtungen, die Gewandtheit und den Scharfsinn dieses ersten Detektivs Europas wesentlich ergänzt und in die richtigen Bahnen gelenkt worden sein. Jeden Tag, wenn ich meine Runde machte, überlegte ich mir den Fall von neuem, ohne jedoch zu einer ausreichenden und vollkommen befriedigenden Erklärung gelangen zu können.
Auf die Gefahr hin, einigen Lesern eine bekannte Geschichte zu erzählen, will ich hier doch die Tatsachen rekapitulieren, soweit sie am Schluß der Vorverhandlung bekannt waren:
Ronald Adair war der zweite Sohn des Grafen Maynooth, des damaligen Gouverneurs in einer australischen Kolonie. Adairs Mutter war von Australien nach England gekommen, um sich hier einer Augenoperation zu unterziehen; sie bewohnte mit ihrem Sohne Adair und ihrer Tochter Hilda das Haus Parkstraße 427 in London. Der junge Mann verkehrte in der besten Gesellschaft und hatte, soviel man wußte, keine Feinde und auch keine besonderen Laster. Er war mit einem Fräulein Edith Woodley aus Carstairs verlobt gewesen; dieses Verhältnis war einige Monate vor seinem Tode mit beiderseitiger Einwilligung gelöst worden, und nichts hatte darauf hingedeutet, daß dadurch ein tieferes Gefühl verletzt worden wäre. Im übrigen spielte sich das Leben des jungen Herrn in einem vornehmen kleinen Kreise ab, denn er war von ruhiger Natur und kein Freund von Extravaganzen.
Trotzdem wurde dieser friedliche junge Edelmann in der Nacht des 30. März 1894 zwischen zehn und elf Uhr zwanzig Minuten auf eine höchst merkwürdige Weise und gänzlich unerwartet vom Tode ereilt.
Ronald Adair spielte gerne Karten, aber nie so hoch, daß ihn Verluste geschmerzt hatten. Er war Mitglied des Baldwin-, des Cavendish-und des Bagatelle-Kartenklubs. Nach dem Abendessen hatte er an jenem Tage nachgewiesenermaßen in dem letztgenannten Klub eine Partie Whist gespielt. Er hatte auch bereits am Nachmittag dort gespielt. Nach Aussage seiner Mitspieler – des Herrn Murray, des Barons Hardy und des Obersten Moran – hatte es sich ebenfalls um Whist gehandelt, und waren die Karten ziemlich gleichmäßig gefallen. Adair konnte höchstens fünf Pfund verloren haben. Er besaß ein beträchtliches Vermögen, sodaß ihn ein derartiger Verlust nicht weiter rühren konnte. Er hatte fast jeden Tag in dem einen oder anderen Klub gespielt, aber er war ein vorsichtiger Spieler und gewann gewöhnlich. Es wurde durch Zeugen festgestellt, daß er einige Wochen vorher an einem einzigen Abend in Gemeinschaft mit dem Obersten Moran tatsächlich gegen 420 Pfund von Godfrey Milner und Lord Balmoral gewonnen hatte. Diese Angaben, die im Laufe der Untersuchung über sein Vorleben gemacht wurden, mögen genügen.
Am Abend des Verbrechens kehrte er Punkt zehn Uhr aus dem Klub zurück. Seine Mutter und Schwester waren zu Besuch bei einer Verwandten. Das Dienstmädchen hat unter Eid ausgesagt, daß sie ihn in das Vorderzimmer im zweiten Stock, wo er sich gewöhnlich aufhielt, hat eintreten hören. Sie hatte dort Feuer angemacht und, weil es rauchte, die Fenster geöffnet. Kein Laut war aus dem Zimmer an ihr Ohr gedrungen. Als um elf Uhr zwanzig Minuten die Gräfin mit ihrer Tochter zurückkehrte, wollte sie ihrem Sohn Gute Nacht sagen. Sie fand jedoch die Türe seines Zimmers von innen verschlossen, und bekam keine Antwort auf ihr Rufen und Klopfen. Sie holte Hilfe und ließ die Türe aufbrechen. Der unglückliche junge Mann lag in der Nähe des Tisches auf dem Boden. Sein Kopf war von einer Revolverkugel zerschmettert, aber in dem ganzen Raum war keine Waffe zu sehen. Auf dem Tische lagen zwei Zehnpfundscheine und siebzehn Pfund zehn Schilling in Gold und Silber; das Geld war in kleine Häufchen von verschiedenen Betragen abgezählt. Daneben befand sich ein Blatt Papier, worauf einige seiner Klubfreunde gezeichnet waren. Unter jedem Bild stand der Name des Betreffenden; daraus wurde geschlossen, daß er vor seinem Ende die Verluste und Gewinne beim Kartenspiel hatte regeln wollen.
Die genauere Prüfung aller obwaltenden Umstände ließ die Sache nur immer rätselhafter erscheinen. In erster Linie war kein Grund einzusehen, warum der junge Mann von innen abgeriegelt haben sollte. Zwar war die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß es der Mörder getan hatte, und dann durch das Fenster entflohen war. Doch war dieses mindestens zwanzig Fuß über dem Boden, und das Beet mit blühenden Blumen unter dem Fenster zeigte keinerlei Fußspuren; die Blüten, wie der Erdboden selbst waren vollkommen unversehrt. Auch der schmale Rasenstreifen zwischen dem Haus und der Straße wies keine Fährte auf. Demnach mußte der junge Herr selbst die Tür abgeschlossen haben. Wie hatte er aber den Tod gefunden? Kein Mensch konnte durch das Fenster ein-oder ausgestiegen sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Angenommen, es habe jemand durch das Fenster geschossen, so mußte es wahrhaftig mit merkwürdigen Dingen zugegangen sein, daß eine Revolverkugel so sicher getroffen hatte. Außerdem ist die Parkstraße sehr belebt, und kaum hundert Meter vom Haus befindet sich ein Droschkenhalteplatz, aber kein Mensch hatte einen Schuß gehört.
Und doch war die Leiche mit der Schußwunde ein untrügliches Zeichen, daß geschossen worden war, und zwar war die Verwundung derart, daß der Tod augenblicklich eingetreten sein mußte. – So lagen die Verhältnisse; sie wurden dadurch noch verwickelter, daß jeder ersichtliche Beweggrund zur Tat fehlte, denn, wie ich erwähnt habe, war der junge Adair ein Mann, der keinen Feind hatte, und außerdem war noch nicht einmal der Versuch gemacht worden, Geld oder Wertgegenstände im Zimmer zu entwenden.
Ich ließ mir den Tatbestand häufiger durch den Kopf gehen und bemühte mich immer wieder, eine Erklärung zu finden, unter welche man alle diese verschiedenen Tatsachen zusammenreimen, und von der aus man einen Ausgangspunkt finden könnte, was nach dem Ausspruch meines armen Freundes die Vorbedingung jeder weiteren Nachforschung bilden mußte. Ich machte jedoch, offen gestanden, nur sehr geringe Fortschritte in der Sache. Eines Abends wanderte ich durch die Parkstraße und befand mich gegen sechs Uhr an der Ecke der Oxfordstraße. Vor dem Hause, das ich mir ansehen wollte, war eine große Menschenmenge versammelt und richtete ihre Blicke auf ein bestimmtes Fenster desselben. Ein schlanker, hagerer Mann mit blauer Brille, in dem ich stark einen Geheimpolizisten vermutete, gab seine Ansicht über den Vorfall zum besten, während die übrigen um ihn herumstanden und seinen Ausführungen lauschten. Ich drängte mich möglichst nahe an den Sprecher heran, aber seine Ausführungen erschienen mir so unsinnig, daß ich bald verstimmt von dannen ging. Dabei stieß ich einen ältlichen Mann an, der hinter mir gestanden hatte, und eine Anzahl Bücher, die er unter dem Arm trug, fielen zu Boden. Ich half sie ihm schnell aufheben, erinnere mich aber trotzdem noch genau eines seltsamen Titels auf einem derselben: ›Der Ursprung der Baum-Verehrung‹. Ich schloß daraus, daß der Mann irgend ein armer Bücherfreund wäre, der entweder gewerbsmäßig oder aus Liebhaberei alte Druckwerke sammelte. Ich stammelte eine Entschuldigung; die Bücher, die ich unglücklicherweise so übel behandelt hatte, waren aber offenbar in den Augen ihres Eigentümers unschätzbare Wertobjekte, denn er knurrte nur ein paar unverständliche Worte und drehte mir verächtlich den Rücken zu; und ich sah seinen Buckel und den weißen Backenbart in der Menge verschwinden.
Meine Wahrnehmungen in der Parkstraße 427 waren wenig dazu angetan, in das dunkle Problem, das mich beschäftigte, Licht zu bringen. Das Haus war durch eine niedrige Mauer mit einem Zaun von der Straße getrennt; beide zusammen konnten etwa fünf Fuß hoch sein. Es fiel also nicht besonders schwer, darüber hinweg in den Garten zu steigen, aber das Fenster war vollkommen unerreichbar: es führte weder eine Dachrinne noch sonst etwas hinauf, woran auch der gewandteste Kletterer hätte emporklimmen können. Ratloser als je zuvor, lenkte ich meine Schritte nach Kensington zurück. Ich hatte kaum fünf Minuten in meinem Arbeitszimmer gesessen, als das Dienstmädchen hereintrat und meldete, daß mich jemand zu sprechen wünsche. Zu meinem Erstaunen war es kein anderer als mein merkwürdiger alter Büchersammler. Er hatte ein scharfgeschnittenes, hageres Gesicht, von weißem Haar umrahmt, unter dem rechten Arm trug er seine kostbaren Bände, mindestens ein Dutzend an der Zahl.
»Sie werden sich wundern, mich hier zu sehen, mein Herr,« sagte er mit eigentümlicher, krächzender Stimme. Ich gab das ohne weiteres zu.
»Nun,« fuhr er fort, »als ich hinter Ihnen her humpelte und Sie in dieses Haus gehen sah, dachte ich als pflichtschuldiger Mann, du willst gleich mal diesen freundlichen Herrn aufsuchen und ihm sagen, daß, wenn du vorhin ein bißchen schroff gewesen bist, es nicht so gemeint war, und ihm für seine Liebenswürdigkeit, daß er die Bücher wieder aufgehoben hat, deinen Dank abstatten.«
»Sie machen zuviel Aufhebens von dieser Kleinigkeit,« antwortete ich ihm. »Darf ich vielleicht fragen, woher Sie mich kennen?«
»Ich bin so frei, Ihnen zu sagen, daß ich Ihr Nachbar bin, mein kleiner Bücherladen liegt an der Ecke der Domstraße, und es würde mir eine große Ehre sein, wenn Sie mich mal besuchten. Vielleicht sind Sie auch ein Liebhaber interessanter Bücher. Ich habe die ›Britischen Vögel‹, den ›Catullus‹ und den ›Heiligen Krieg‹, Werke, von denen jedes einzelne ein kostbarer Schatz ist. Mit fünf solchen Bänden würden Sie jenes leere Fach dort in Ihrem Bücherschrank gerade ausfüllen können. Es sieht so nicht hübsch aus, nicht wahr?«
Ich drehte mich nach dem Bücherspind um. Als ich mich wieder zurückwandte, stand am Schreibtisch mir gegenüber mit lächelnder Miene Sherlock Holmes. Ich sprang auf, sah ihm ein paar Sekunden verwundert ins Gesicht, und bin dann allem Anschein nach zum ersten-und letztenmal in meinem Leben in Ohnmacht gefallen. Ich weiß nur noch so viel, daß mein Auge umnebelt wurde, und ich beim Erwachen meinen Kragen aufgeknöpft fand, und den brennenden Nachgeschmack von Branntwein auf den Lippen spürte. Holmes war über meinen Stuhl gebeugt und hielt das Fläschchen noch in der Hand.
»Mein lieber Watson,« erklang die wohlbekannte Stimme, »ich bitte dich tausendmal um Entschuldigung. Ich hatte keine Ahnung, daß du so nervenschwach geworden seist.«
Ich ergriff seine Hand.
»Holmes!« rief ich. »Bist du’s wirklich? Ist’s möglich, daß du noch lebst? Ist’s möglich, daß du aus jenem fürchterlichen Abgrund herausgeklettert bist?«
»Einen Augenblick,« sagte er. »Fühlst du dich auch tatsächlich kräftig genug, um meiner Erzählung folgen zu können? Ich habe dich durch mein überflüssiges dramatisches Auftreten ernstlich erschreckt.«
»Ich bin wieder ganz auf dem Damm, aber wahrhaftig, Holmes, ich kann kaum meinen Augen trauen. Weiß Gott, ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du – du in aller Welt – in meinem Studierzimmer stehen sollst!« Ich erfaßte wiederum den Aermel seines Rockes und fühlte den mageren sehnigen Arm hindurch »Wirklich, du bist kein Geist,« sagte ich. »Lieber Junge, ich freue mich über alle Maßen, dich wiederzusehen. Setz’ dich und erzähl mir, wie du aus dem schrecklichen Abgrund lebend herausgekommen bist.«
Er nahm mir gegenüber Platz und zündete sich mit der ihm eigenen Gemütsruhe eine Zigarre an. Den langen Gehrock des Buchhändlers hatte er anbehalten, dagegen die übrige Kostümierung, das weiße Haar, den Bart und auch die Bücher auf den Tisch gelegt. Er sah noch hagerer und scharfsinniger aus als ehedem, aber sein Adlergesicht war so leichenblaß, als ob er in der letzten Zeit eine Krankheit durchgemacht hatte.
»Ich bin froh, daß ich mich wieder ordentlich ausstrecken kann,« begann er dann. »Für einen großen Mann ist es kein Vergnügen, wenn er stundenlang seine Körperlänge um einen Fuß verkürzen muß. Im übrigen, mein Lieber, mußt du mir zuerst sagen, ob du bei meiner Sache heute nacht mitwirken willst; es handelt sich um eine harte und gefährliche Arbeit. Es würde überhaupt am besten sein, wenn ich dir erst nach getaner Arbeit alles auseinandersetzte.
»Ich bin äußerst gespannt und möchte es lieber jetzt gleich erfahren.«
»Du willst also heute nacht mitkommen?«
»Wann und wohin du willst.«
»Du bist wahrhaftig noch der Alte. Ehe wir zu gehen brauchen, können wir einen kleinen Imbiß nehmen. Also, was den Abgrund betrifft, war es nicht allzu schwer, herauszukommen, aus dem einfachen Grunde, weil ich gar nie drin war.«
»Du warst nie drin?«
»Nein, Watson, ich war niemals drin. Mein Schreiben an dich beruhte zwar vollständig auf Wahrheit. Ich zweifelte selbst nicht im geringsten daran, daß ich bald aufgehoben sein würde, als ich in einiger Entfernung die verdächtige Gestalt des ehemaligen Professors Mariarty auftauchen sah. Ich las in seinen grauen Augen einen unabänderlichen Entschluß. Ich wechselte ein paar Worte mit ihm und erhielt die gütige Erlaubnis, dir jene kurze Notiz zukommen zu lassen, die du später gefunden hast. Ich legte sie samt Zigarettentasche und Spazierstock auf den schmalen Pfad und wanderte weiter, während mir Mariarty immer auf den Fersen folgte. Als ich am Ende des engen und steilen Weges angelangt war, blieb ich stehen und leistete ihm Widerstand. Da er keine Waffe bei sich hatte, stürzte er einfach auf mich los und umschlang mich mit seinen langen Armen. Er war sich bewußt, was für ihn auf dem Spiel stand, und versuchte mit aller Gewalt, an mir Rache zu nehmen. Wir gerieten zusammen an den Rand des Wasserfalls. Ich besitze jedoch einige Kenntnis von dem Baritsu, dem japanischen Ringen, welche mir schon häufiger zu statten gekommen ist. Ich riß mich los und versetzte ihm einen Stoß, sodaß er einen Augenblick taumelte und mit beiden Händen in der Luft herumfuchtelte; er verlor aber trotz aller Anstrengungen das Gleichgewicht und stürzte unter einem entsetzlichen Aufschrei hintenüber. Ich sah, wie er in die Tiefe fiel, an einen Felsenvorsprung aufschlug und unten ins Wasser plumpste.«
Staunend hörte ich Holmes’ Schilderung, er selbst rauchte gemächlich seine Zigarre dabei.
»Aber zum Teufel!« warf ich ein, »ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, daß zwei Fußspuren hinführten, aber keine zurück.«
»Das ging so zu: Im selben Moment, als der Professor verschwand, kam mir meine eigene Lage klar zum Bewußtsein. Sie war nicht ungünstig. Einerseits wußte ich allerdings, daß nicht Mariarty allein mir den Tod geschworen hatte; es blieben wenigstens noch drei andere, deren Rachebedürfnis nach dem Tode ihres Anführers sicher nicht abnehmen würde; lauter gefährliche Kunden, von denen mich der eine oder der andere gewiß einmal erwischen würde. Andererseits unterlag es für mich keinem Zweifel, daß sie freier und offener auftreten würden, wenn mich alle Welt für tot hielt. Sobald sich dann eine günstige Gelegenheit bieten würde, sie unschädlich zu machen, wollte ich wieder auftauchen und der Menschheit zeigen, daß ich doch noch am Leben wäre. Dies alles hatte ich, glaube ich, eher überdacht, als der Professor auf dem Grunde des Reichenbachfalles angekommen war; so schnell arbeitete damals mein Gehirn.
»Ich stand auf und prüfte die Felswand hinter mir. In deinem malerischen Bericht, den ich einige Monate danach mit großem Interesse gelesen habe, gibst du an, daß sie ganz glatt sei. Das stimmt nicht genau. Sie hat ein paar vorspringende Stellen, wo die Gesteinsschichten sich von einander absetzen, und worauf man mit dem Fuß haften kann. Sie ist aber so hoch, daß mir ein Emporklettern bis zur Spitze der Klippe unmöglich schien. Aber ich durfte auch nicht auf dem feuchten Pfad hinansteigen, denn ich würde Fußspuren darauf zurückgelassen haben. Ich hätte zwar die Schuhe verstellen können, wie ich das in ähnlichen Fällen öfter getan habe, aber das Vorhandensein dreier verschiedener Fußtapfen würde die Annahme einer absichtlichen Irreführung zu nahe gelegt haben. So mußte ich mich denn doch für das Kletterkunststück entschließen. Es war keine beneidenswerte Tätigkeit, mein lieber Watson. Ich leide wahrhaftig nicht an Einbildungen, aber ich gebe dir mein Wort, ich glaubte, aus dem Abgrund die Stimme des Professors zu vernehmen. Unter mir toste der Wasserfall. Jeder Fehltritt konnte verhängnisvoll werden. Mehr als einmal, wenn die Grasbüschel in meiner Hand abrissen, oder wenn meine Füße auf den schlüpfrigen Felsrändern ausglitten, hielt ich mich für verloren. Ich arbeitete mich jedoch allmählich in die Höhe, und gelangte endlich auf einen mehrere Fuß breiten, mit Moos bewachsenen Vorsprung, wo ich mich bequem verbergen konnte. Dort lag ich ganz behaglich ausgestreckt, lieber Watson, als ihr herbeikamet, um die näheren Umstände meines Todes festzustellen.
»Nachdem ihr endlich die unvermeidlichen, aber sehr irrigen Schlüsse gezogen hattet, begabt ihr euch ins Hotel zurück, während ich in meinem Versteck blieb. Ich hatte mir eingebildet, am Ende meiner Fährnisse angekommen zu sein, aber ein gänzlich unerwartetes Ereignis machte mir klar, daß mir noch mancherlei Ueberraschungen bevorstanden. Ein riesiger Felsblock kam plötzlich von oben herunter, sauste an mir vorüber und fiel donnernd hinab in die Tiefe. Im ersten Augenblick wähnte ich, es wäre ein Zufall, aber im nächsten erkannte ich bereits den wahren Sachverhalt. Als ich aufblickte, gewahrte ich nämlich das Gesicht eines Mannes, und ein zweiter Stein traf gerade meine Lagerstätte, kaum einen Fuß von meinem Kopf entfernt. Ich wußte nun, woran ich war. Mariarty hatte Helfershelfer gehabt, von denen einer – ich hatte auf einen Blick erkannt, was für ein gefährlicher Bursche es war – Wache gestanden hatte, während der Professor den Angriff ausgeführt hatte. Aus einer gewissen Entfernung, ohne daß ich ihn hatte sehen können, war er Zeuge vom Tode seines Freundes und von meiner Rettung gewesen. Er hatte gewartet, bis ihr weg waret, Watson, und war dann auf die Felswand geklettert, um womöglich das zu vollbringen, was seinem Gefährten nicht gelungen war.
»Es blieb mir nicht viel Zeit zum Besinnen, mein Lieber. Ich sah das grimmige Gesicht wieder über die Klippe lugen und merkte daraus, daß bald noch mehr Steinblöcke folgen würden. Ich kroch rückwärts die steile Wand hinunter. Ich glaube kaum, daß ich mit kühler Ueberlegung die Rückreise angetreten habe, denn sie war tausendmal schwieriger, als das Hinaufklettern. Doch hatte ich keine Muße, lange über die Gefahr nachzudenken, ein neuer Stein rollte an mir vorbei, als ich an der Kante des Vorsprungs hing. In der Mitte des Weges rutschte ich aus und kam durch ein gnädiges Geschick, wenn auch zerschunden und blutend, glücklich unten auf dem Pfade an. Ich machte mich gleich auf die Beine, marschierte in der Nacht noch zehn Meilen weit durch das Gebirge und befand mich eine Woche später, in dem sicheren Bewußtsein, daß kein Mensch in der Welt wisse, was aus mir geworden sei, in Florenz.
»Ich hatte nur einen einzigen Vertrauten – meinen Bruder Mycroft. Ich bitte dich vielmals um Verzeihung, lieber Watson, aber es war unbedingt notwendig, daß ich für tot gehalten wurde, und du würdest keine so überzeugende Schilderung meines unglücklichen Endes geschrieben haben, wenn du nicht selbst daran geglaubt hättest. Verschiedene Male in den letzten drei Jahren war ich im Begriff, dir Nachricht zukommen zu lassen, aber immer wieder hielt mich die Furcht davon ab, deine Zuneigung zu mir könnte dich zu einer Unvorsichtigkeit verleiten und mein Geheimnis an den Tag bringen. Aus diesem Grunde drehte ich mich auch heute abend um, als du die Bücher aufhobst, denn jedes Zeichen der Ueberraschung und Erregung deinerseits hätte die Aufmerksamkeit auf meine Person gelenkt, und sehr unerwünschte und nie wieder gut zu machende Folgen haben können. Mycroft mußte ich mich anvertrauen, um die nötigen Geldmittel zu erhalten. Die Ereignisse in London nahmen nicht den gewünschten Verlauf, denn von der Mariartyschen Bande befanden sich noch zwei Mitglieder, und gerade meine erbittertsten Feinde, auf freiem Fuße. Ich bereiste daher zwei Jahre lang Tibet, besuchte Lhassa und hielt mich mehrere Tage beim Lama auf. Du hast gewiß die Aufsehen erregenden Forschungen eines Norwegers, Namens Sigerson, gelesen, aber wohl nie geahnt, daß du damit Nachrichten von deinem Freund erhieltest. Danach wanderte ich durch Persien, machte einen Abstecher nach Mekka und stattete in Chartum dem Kalifen einen kurzen, aber interessanten Besuch ab, dessen Ergebnisse ich im ›Foreign Office‹ veröffentlicht habe. Nach meiner Rückkehr nach Frankreich verbrachte ich einige Monate im Süden dieses Landes, in Montpellier, wo ich in einem chemischen Laboratorium dem Studium der Steinkohlenteerverbindungen oblag. Nachdem ich meine Untersuchungen zu einem befriedigenden Abschluß gebracht und erfahren hatte, daß nur noch einer meiner Feinde in London sei, wollte ich zurückkommen. Das mysteriöse Verbrechen in der Parkstraße hat meine Rückkehr noch beschleunigt. Es interessierte mich nicht nur an sich, sondern schien mir auch eine günstige Gelegenheit zur Ausführung meines Vorhabens zu sein. Ich fuhr also schleunigst nach London, begab mich nach der Bakerstraße, versetzte Frau Hudson in heftige Krämpfe und fand, daß Mycroft meine Zimmer und meine Sachen genau in derselben Ordnung gelassen hatte, wie ich sie verlassen. So saß ich denn, mein lieber Watson, heute nachmittag um zwei Uhr in meinem alten Lehnstuhl, in meinem alten Zimmer, und hatte weiter keinen Wunsch, als meinen alten Freund Watson in dem anderen Stuhl zu sehen, den er so oft geziert hatte.«
Das war die merkwürdige Erzählung, die ich an jenem April-Abend zu hören bekam – eine Erzählung, die ich nie geglaubt haben würde, wenn ich nicht die lange, hagere Gestalt und das scharfe, lebhafte Gesicht vor mir gesehen hätte, das ich nie wiederzuschauen gemeint hatte. Auf irgend eine Weise mußte mein Freund auch von meinem eigenen Mißgeschick gehört haben. Sein Mitleid zeigte sich mehr in seinem Benehmen als in Worten. »Arbeit ist das beste Mittel gegen Kummer und Verdruß,« sagte er nur, »und ich habe für heute nacht ein Stück Arbeit, das allein, wenn wir’s glücklich vollenden, für einen Mann das Leben wertvoll macht.« Meine Bitte um näheren Aufschluß darüber war vergeblich. »Bis morgen wirst du genug erfahren,« antwortete er. »Jetzt haben wir uns noch über die letzten drei Jahre zu unterhalten. Dieser Gesprächsstoff wird bis halb zehn genügen und dann wird’s Zeit, daß wir zu unserem vielverheißenden Abenteuer nach dem leeren Hause aufbrechen.«
Es war tatsächlich wieder wie in den alten Zeiten, als ich um die angegebene Zeit neben ihm in der Droschke saß, den Revolver in der Tasche und gespannt auf die kommenden Dinge. Holmes war ernst und schweigsam. Im Schein der Straßenlaternen sah ich, wie er nachdenklich die Stirn in Falten gelegt und die Lippen fest aufeinander gepreßt hatte. Ich wußte nicht, was für Wild wir in den dunkeln Revieren des Londoner Verbrecherviertels jagen wollten, aber an dem Gesicht dieses ausgezeichneten Jägers erkannte ich wohl, daß es sich um eine sehr gefährliche Art handeln müsse, und das gelegentliche Lächeln aus seinem sonst unbeweglichen, finsteren Antlitz war wenig glückverheißend für unsere Feinde.
Ich glaubte, wir würden nach der Bakerstraße fahren, aber an der Ecke des Cavendish-Platzes ließ Holmes halten. Ich bemerkte, wie er sich beim Aussteigen nach allen Seiten umschaute, und auch ferner an jeder Straßenecke vergewisserte, daß ihm niemand folgte. Wir schritten durch die dunkelsten Straßen und Gassen. Holmes hatte eine erstaunliche Ortskenntnis, und er führte mich mit größter Sicherheit und in eiligem Tempo durch ein wahres Labyrinth von Remisen, Ställen und Lagerräumen, von deren Existenz ich noch nicht einmal eine Ahnung hatte. Endlich gelangten wir durch eine enge Gasse, die von alten düsteren Gebäuden eingeschlossen war, in die Manchester-und in die Blandfordstraße. Hier bog er rasch in einen schmalen Gang ein, ging durch ein großes hölzernes Tor über einen öden Hof und schloß dann mit einem Schlüssel die hintere Türe eines Hauses auf. Wir traten zusammen ein, und hinter uns schloß er wieder zu.
Obwohl es stockdunkel war, merkte ich doch gleich, daß das Haus leer war. Der Fußboden knarrte, und an der Wand fühlte ich mit meiner tastenden Hand herabhängende Tapetenfetzen. Holmes faßte mich mit seinen kalten dünnen Fingern bei der Hand und führte mich in dem langen Gang weiter, bis ich den trüben Lichtschimmer von einem Fenster über einer Tür gewahrte. In dieser Ecke wandte er sich nach rechts, und wir kamen in einen großen leeren Raum. Es war ganz dunkel darin, nur in der Mitte war ein matter Lichtschein, der von der Straße her kam. Die Laterne war aber so weit entfernt und das Fenster so verstaubt und schmutzig, daß wir mit knapper Not gerade erkennen konnten, wo wir standen. Mein Gefährte klopfte mich leise auf die Schulter und flüsterte mir ins Ohr:
»Weißt du, wo wir sind, Watson?«
»Das ist sicher die Bakerstraße,« antwortete ich, während ich durch das matte Fenster blickte.
»Allerdings. Wir sind im Camden House, unserer alten Wohnung gegenüber.«
»Aber was wollen wir hier?«
»Wir haben von hier eine ausgezeichnete Aussicht auf jenen malerischen Pfeiler dort drüben. Komm’, bitte, etwas näher ans Fenster, lieber Watson, nimm dich aber in acht, daß du nicht gesehen wirst, und guck’ mal nach unserem alten Heim hinüber – dem Ausgangspunkt von so manchem unserer kleinen Erlebnisse. Ich will sehen, ob ich dich nach dreijähriger Abwesenheit noch überraschen kann.«
Ich schlich mich vor und sah nach dem wohlbekannten Fenster. Ein Ausruf der Verwunderung und des Erstaunens entfuhr meinen Lippen. Die Rolljalousien waren heruntergelassen, das Zimmer war hell erleuchtet und auf dem Fenstervorhang war der Schatten eines Mannes auf einem Stuhl in scharfen Umrissen deutlich wahrnehmbar. Man konnte den eckigen Kopf, die breiten Schultern und das scharfgeschnittene Gesicht genau erkennen. Das Bild sah wie eine große schwarze Silhouette aus der Zeit unserer Großeltern aus. Es war ein getreues Konterfei von Holmes. Ich war dermaßen erstaunt, daß ich meine Hand ausstreckte, um mich zu überzeugen, ob er selbst wirklich noch neben mir stände. Er barst bald vor verhaltenem Lachen.
»Gut so?« fragte er.
»Bei Gott!« rief ich aus, »wunderbar!«
»Ich hoffe, daß ich in der Zwischenzeit meine Erfindungskraft nicht eingebüßt habe,« sagte er in jenem Tone der Freude und des Stolzes, den der Künstler beim Anblick seiner eigenen Schöpfung empfindet. »Es sieht mir tatsächlich ähnlich, nicht wahr?«
»Ich hätte geschworen, du wärst’s.«
»Das Verdienst der Ausführung gebührt dem Herrn Oskar Meunier in Grenoble, der ein paar Tage auf die Anfertigung des Modells verwandt hat. Es ist eine Wachsbüste. Die Aufstellung und alles übrige habe ich heute nachmittag während meines Aufenthaltes in der Bakerstraße selbst besorgt.«
»Aber wozu das alles?«
»Aus sehr gewichtigen Gründen, lieber Watson, weil ich gewisse Leute glauben machen will, ich sei zu Hause, während ich in Wirklichkeit anderswo bin.«
»Du denkst also, die Zimmer werden beobachtet?«
»Ich weiß, daß sie beobachtet werden.«
»Von wem?«
»Von meinen alten Feinden, Watson, von der reizenden Gesellschaft, deren Vorstand im Reichenbachfall ruht. Du mußt bedenken, daß ihnen, und nur ihnen allein, bekannt ist, daß ich noch lebe. Sie haben vermutet, daß ich früher oder später doch wieder in meine Wohnung zurückkehren würde, sie daher fortwährend beobachten lassen und meine Ankunft heute früh erfahren.«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich ihre Wache wiedererkannte, als ich zum Fenster hinaussah. Es ist ein ungefährlicher Mensch, Namens Parker, ein armer Drehorgelspieler. Ich schere mich den Teufel um ihn, kümmere mich aber um so mehr um seinen gefährlichen Auftraggeber, den Busenfreund Mariartys, den Mann, der die Steine geschleudert hat, den schlauesten und verwegensten Verbrecher Londons. Dieser Bursche ist heute nacht hinter mir, Watson, und hat keine Ahnung, daß wir hinter ihm sind.«
Auf diese Weise erfuhr ich allmählich, was mein Freund vorhatte. Von diesem stillen Platze aus sollte den Aufpassern aufgepaßt und sollten die Verfolger verfolgt werden. Jener Schatten drüben war der Köder, und wir waren die Jäger. Lautlos standen wir in der Dunkelheit und beobachteten die Vorübergehenden. Holmes rührte und regte sich nicht, aber er war zweifellos auf seiner Hut und richtete ein wachsames Auge auf alle Passanten. Es war kaltes, stürmisches Wetter, der Wind pfiff durch die lange Straße. Die meisten Leute trugen Ueberzieher und hatten den Kragen in die Höhe geschlagen. Ein paarmal hatte ich den Eindruck, als ob dieselbe Person wiederholt vorbeikäme, und besonders fielen mir zwei Männer auf, die vor dem Sturm im Torweg eines ein paar Häuser weiter oben liegenden Gebäudes Zuflucht zu suchen schienen. Ich machte meinen Freund darauf aufmerksam. Er zeigte jedoch nur einen gewissen Unwillen und blickte unausgesetzt auf die Straße hinaus. Er stampfte zuweilen mit den Füßen auf den Boden und trommelte mit den Händen an die Wand, ein Zeichen, daß er ungehalten war, weil seine Voraussetzungen nicht so ganz in der gehofften Weise eintrafen. Als die Straße allmählich leer geworden war, ging er unruhig auf und ab. Ich wollte gerade eine Bemerkung machen, als mein Blick zufällig auf das bekannte Fenster hinüberfiel und ich eine fast ebenso große Ueberraschung sah wie vorher.
»Der Schatten hat sich bewegt!« rief ich ihm zu. In der Tat war uns nicht mehr das Profil, sondern der Rücken zugekehrt.
»Natürlich hat er sich bewegt,« antwortete Holmes. »Hältst du mich für einen solchen Stümper, Watson, daß ich eine offenkundige Vogelscheuche aufstelle und damit die geriebensten Verbrecher Europas täuschen will? Wir sind seit zwei Stunden hier und Frau Hudson hat die Figur alle Viertelstunde etwas gedreht, also in der ganzen Zeit vielleicht achtmal. Sie macht es selbstverständlich so, daß ihr eigener Schatten nicht gesehen werden kann. »Ha!« stieß er aus und hielt dann den Atem an. In dem trüben Licht sah ich, wie er den Kopf in die Höhe richtete und sich in der stärksten Spannung befand. Die Straße war jedoch vollkommen menschenleer. Jene beiden Männer mochten sich noch in dem Torweg verborgen halten, ich konnte sie jedenfalls nicht mehr sehen. Alles war ruhig und dunkel. Nur der Fenstervorhang mit dem schwarzen Schatten in der Mitte war noch erleuchtet. In dem tiefen Schweigen vernahm ich wieder Laute von Holmes, aus denen ich seine furchtbare, unterdrückte Erregung hörte. Im nächsten Augenblick zog er mich in die finsterste Ecke des Zimmers und hielt mir warnend die Hand auf den Mund. Ich fühlte, wie seine Finger zitterten. Ich hatte meinen Freund niemals in einer solchen Aufregung gesehen, und doch konnte ich auf der Straße durchaus nichts Verdächtiges entdecken.
Aber auf einmal merkte ich, was er mit seinen schärferen Sinnen wohl schon früher gehört hatte. Ein schwaches, unheimliches Geräusch drang an mein Ohr, freilich nicht von der Bakerstraße, sondern von der Hofseite des Hauses her, in dem wir uns verborgen hielten. Eine Türe wurde auf-und wieder zugemacht. Kurz darauf wurden leise Schritte hörbar – Schritte, die man nicht hören sollte, die aber in den leeren Räumen doch stark widerhallten. Holmes drückte sich an die dunkle Wand, und ich tat dasselbe, indem ich meinen Revolver in die Hand nahm. In der Türe gewahrte ich die undeutlichen Umrisse eines Mannes. Er stand einen Moment still, dann kroch er vorwärts. Die schwarze Gestalt war kaum drei Meter von uns entfernt; ich war schußbereit. Da wurde mir plötzlich klar, daß sie keine Ahnung von unserer Anwesenheit hatte. Sie schlich dicht an uns vorbei; hinüber nach dem Fenster. Sie öffnete es leise, etwa einen halben Fuß weit. Das Licht von der Straße wurde nun nicht mehr durch die schmutzigen Scheiben abgeschwächt, es fiel jetzt direkt auf das Gesicht des Mannes. Er schien sich in der furchtbarsten Aufregung zu befinden. Seine Augen funkelten, seine Gesichtszüge zeigten krampfhafte Zuckungen. Er war nicht mehr jung, hatte eine schmale vorspringende Nase, eine glatte, hohe Stirne und einen starken graumelierten Schnurrbart. Sein Gesicht war hager, von wilden Furchen durchzogen und von bräunlicher Farbe. In der Hand hatte er ein stockähnliches Instrument. Als er es auf den Boden legte, gab es aber einen metallischen Klang. Dann zog er etwas aus der Ueberziehertasche. Er hantierte längere Zeit daran herum, endlich gab es einen lauten Knacks, als wenn eine Feder oder ein Schloß einspringt. Er kniete noch immer auf dem Fußboden und mühte sich mit aller Kraft an irgend einem Hebel oder dergleichen ab, bis man wieder ein ähnliches, aber stärkeres Einschnappen hörte, wie vorher. Nun richtete er sich auf, und ich sah, daß das Werkzeug in seiner Hand eine besondere Art Schießgewehr vorstellte. Er öffnete es hinten, steckte etwas hinein und ließ den Bolzen wieder einschlagen. Dann kauerte er sich nieder, legte den Lauf auf die Fensterbrüstung und nahm, indem sein mächtiger Schnurrbart auf den Schaft herunterhing, mit blitzenden Augen das Visier. Er atmete tief auf, als er angelegt hatte. Einen Augenblick war er mäuschenstill und zuckte mit keiner Wimper. Endlich drückte er ab. Ein eigentümliches ›Ptsch‹ und der charakteristische Ton beim Aufschlagen eines Geschosses! Im selben Moment sprang ihm Holmes in den Nacken und warf ihn flach auf den Boden, mit dem Gesicht nach unten. Doch mit übermenschlicher Kraft arbeitete sich der Schurke herum und erwischte Holmes an der Kehle. Da schlug ich ihn mit dem Revolvergriff auf den Schädel, warf mich auf ihn und hielt ihn fest. Mein Gefährte ließ einen schrillen Pfiff ertönen. Gleich wurden Schritte auf dem Pflaster draußen hörbar, und zwei Schutzleute und ein Geheimpolizist stürzten durch den Vordereingang ins Zimmer.
»Sind Sie’s, Herr Lestrade?« sagte Holmes.
»Jawohl, Herr Holmes. Ich habe diese Arbeit selbst übernommen. Es ist gut, daß Sie wieder in London sind.«
»Ich glaube wohl, daß Ihnen ein bißchen Mithilfe nicht unwillkommen sein wird. Drei unaufgeklärte Morde in einem Jahre ist des Guten etwas zuviel, Lestrade. Aber in der Moleseyschen Sache sind Sie geschickter zu Werke gegangen als sonst – ich meine, die haben Sie wirklich gut gemacht.«
Wir waren alle auf den Beinen. Unser Gefangener befand sich wutschnaubend zwischen zwei handfesten Polizisten. Auf der Straße hatten sich natürlich einige Gaffer versammelt. Holmes schloß das Fenster und ließ die Rolladen herunter. Lestrade zündete zwei Kerzen an, und die Schutzleute machten ihre verhängten Laternen frei. Endlich konnte ich mir unseren Mann genauer bei Licht betrachten.
Ich sah ein sehr männliches, aber auch sehr bösartiges Gesicht. Die Stirne war diejenige des Philosophen, die Kiefer verrieten den Genußmenschen; dieser Mann war mit großen Anlagen ausgestattet, zum Guten wie zum Bösen. Die trotzigen blauen Augen mit den hündischen Brauen und Wimpern, die starke gebogene Nase und die drohende tiefgefurchte Stirn zeigten den geborenen Verbrecher an. Er nahm von niemandem Notiz, sondern starrte unausgesetzt auf Holmes. Haß und Bewunderung lagen in seinem Ausdruck. »Sie Teufelskerl! Sie ganz geriebener Teufel!« knirschte er immer wieder zwischen den Zähnen.
»Ja, ja, Herr Oberst,« sagte Holmes, während er seinen Kragen in Ordnung brachte, »der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Ich glaube, seitdem Sie mir am Reichenbachfall jene Aufmerksamkeit erwiesen, habe ich nicht wieder das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen.«
Der Oberst stierte meinen Freund noch immer mit haßerfüllten Blicken an. »Sie verfluchter, ganz verfluchter Teufel!« war alles, was er herausbringen konnte.
»Ich habe Sie noch nicht miteinander bekannt gemacht,« sagte Holmes. »Dies, meine Herren, ist der Oberst Sebastian Moran, ehemaliger Offizier Ihrer Majestät im britischen Heer in Indien und der beste Schütze, den es je dort gegeben hat. Ich glaube, die Behauptung ist nicht übertrieben, Herr Oberst, daß Sie als Tigerjäger unerreicht waren.«
Der wütende Graubart erwiderte kein Wort, sondern blickte meinen Gefährten noch immer unverwandt an. Mit den leuchtenden Augen und dem sich sträubenden Schnurrbart sah er selbst wie ein Tiger aus.
»Es wundert mich eigentlich,« fuhr Holmes fort, »daß ein so alter Schikari auf meinen einfachen Trick hineingefallen ist. Er mußte Ihnen doch bekannt sein. Sie haben doch schon selbst, mit einem Zicklein als Köder und das Gewehr in der Hand, unter einem Baume gelegen und auf den Tiger gelauert? Nun, dieses leere Haus ist mein Baum, und Sie sind mein Tiger. Sie haben wohl auch Reservegewehre mitgenommen für den Fall, daß mehrere Tiger kommen, oder, was kaum anzunehmen war, daß Sie fehlschießen sollten? Diese hier,« er zeigte auf die Umstehenden, »sind meine Reservegewehre. Paßt der Vergleich nicht sehr schön?«
Oberst Moran tat einen Satz nach vorne, auf Holmes zu, und knurrte wie ein wildes Tier, aber die Polizisten rissen ihn wieder zurück. Sein wütendes Gesicht war schrecklich anzusehen, es war ganz verzerrt.
»Ich gebe allerdings zu, daß Sie mir eine kleine Ueberraschung bereitet haben,« sagte Holmes weiter. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie selbst auch dieses Haus und dieses Fenster zu Ihrer Operation ausersehen hätten. Ich hatte geglaubt, Sie würden von der Straße aus vorgehen. Deshalb ließ ich meinen Freund Lestrade mit seinen Leuten dort Wache halten. Aber von dieser Kleinigkeit abgesehen, ist alles meinen Erwartungen entsprechend eingetroffen.«
Jetzt wandte sich der Oberst an den offiziellen Detektiv.
»Sie mögen mich nun zu recht oder unrecht verhaftet haben,« sagte er, »jedenfalls habe ich keine Lust, mir die Sticheleien dieses Menschen länger gefallen zu lassen. Ich befinde mich in der Gewalt der Justiz und kann verlangen, daß die Dinge ihren gesetzlichen Verlauf nehmen.«
»Dagegen läßt sich nichts einwenden,« antwortete Lestrade. »Haben Sie noch etwas zu sagen, Herr Holmes, ehe wir aufbrechen?«
Holmes hatte die mächtige Windbüchse vom Boden aufgehoben und prüfte ihren Mechanismus.
»Eine wunderbare und eigenartige Waffe,« sagte er, »schießt geräuschlos und hat eine furchtbare Durchschlagskraft. Ich habe Herder, den blinden deutschen Mechaniker, der sie auf Bestellung des seligen Professors Mariarty konstruiert hat, persönlich gekannt. Ihre Existenz war mir schon jahrelang kein Geheimnis mehr, aber ich hatte noch nie die Gelegenheit, sie in die Hand zu bekommen. Ich empfehle sie Ihrer besonderen Beachtung, Herr Lestrade, und die zugehörigen Kugeln ebenfalls.«
»Sie können sich darauf verlassen, Herr Holmes, daß wir beiden unsere Aufmerksamkeit schenken werden,« erwiderte Lestrade, als wir alle zusammen nach der Türe zugingen. »Noch etwas?«
»Ich möchte Sie noch fragen, was Sie als Grund zur Festnahme angeben wollen?«
»Was? Nun selbstverständlich den Mordanschlag auf Sherlock Holmes.«
»Ach nein, Lestrade. Ich möchte mit meiner Person ganz aus dem Spiel bleiben. Ihnen, und Ihnen ganz allein, soll das Verdienst der denkwürdigen Verhaftung zugeschrieben werden, die Sie eben ausgeführt haben. Jawohl, Herr Lestrade, ich gratuliere Ihnen! Mit Ihrer gewohnten glücklichen Mischung von Schlauheit und Kühnheit haben Sie ihn gefangen.«
»Ihn gefangen! Wen gefangen, Herr Holmes?«
»Den Mann, den die ganze Polizei vergeblich gesucht hat – den Oberst Sebastian Moran, der den Baron Ronald Adair im zweiten Stock des Hauses Parkstraße 427 am 30. des vergangenen Monats durch das offene Fenster mit einer Büchsenkugel erschossen hat. Um dieses Verbrechen handelt es sich, Herr Lestrade. Und nun, mein lieber Watson, können wir uns in meinem Arbeitszimmer bei einer Zigarre noch ein Plauderstündchen gönnen.«
Unsere alten Räumlichkeiten waren dank der Aufsicht Mycrofts und der Fürsorglichkeit der Frau Hudson vollkommen unverändert geblieben. Beim Eintreten fiel mir zwar die ungewohnte Ordnung auf, aber es stand noch alles an seinem alten Platz. Die chemische Ecke mit dem Tisch aus Tannenholz und den Säureflecken war noch vorhanden. Das Regal mit den Büchern, worin sich viele Aufzeichnungen befanden, die wohl viele unserer Mitbürger gerne in Flammen hätten aufgehen sehen, stand noch auf dem alten Fleck. Die Pläne und Karten, den Geigenkasten und den Pfeifenhalter – ja selbst den persischen Pantoffel mit dem Tabak – alles sah ich wieder, als ich mich umschaute. Neu im Zimmer war nur die merkwürdige Figur, die eine so bedeutende Rolle bei unserem nächtlichen Abenteuer gespielt hatte. Es war eine Nachbildung meines Freundes aus Wachs, so wunderbar ausgeführt, daß sie ihm täuschend ähnlich sah. Sie stand auf einem Tischchen und war mit einem alten Arbeitsrock von Holmes so angetan, daß die Täuschung von der Straße aus vollkommen sein mußte.
Frau Hudson war uns freudestrahlend entgegengeeilt, als wir eingetreten waren.
»Ich hoffe, Sie haben keine Vorsichtsmaßregel außer acht gelassen, Frau Hudson?« fragte Holmes.
»Ich bin auf den Knien hingerutscht, genau wie Sie mir befohlen hatten, Herr Holmes.«
»Ausgezeichnet. Sie haben Ihre Sache vorzüglich gemacht. Haben Sie gesehen, wo die Kugel hingeflogen ist?«
»Jawohl. Ich fürchte, sie hat die schöne Büste verdorben; sie ist nämlich gerade durch den Kopf gegangen und an der Wand abgeprallt. Ich hab’ sie vom Teppich aufgehoben. Hier ist sie.«
Holmes reichte sie mir hin. »Eine richtige Revolverkugel, wie du siehst. In dieser Sache steckt eine feine Ueberlegung, Watson, denn kein Mensch konnte glauben, daß ein solches Ding aus einer Büchse kommt. Ich danke Ihnen schön, Frau Hudson, für Ihre freundliche Mitwirkung. Und nun setz’ dich wieder auf deinen alten Stuhl, Watson, ich muß dir noch manches erzählen.«
Er hatte den langen Schoßrock ausgezogen und war in seinem mausgrauen Schlafrock wieder der alte Holmes von ehedem.
»Des alten Schikaris Nerven sind noch gut und ruhig,« sagte er lachend, als er den zerschmetterten Schädel seiner Büste in Augenschein nahm.
»Gerade mitten durchs Gehirn. Er war der beste Schütze in Indien, und er wird auch in London schwerlich seinesgleichen haben. Ist er dir dem Namen nach bekannt?«
»Nein, ich kenne ihn nicht.«
»Ei, ei, das ist merkwürdig! Aber, wenn ich nicht irre, hattest du ja auch den Namen des Professors Mariarty, eines der feinsten Köpfe des Jahrhunderts, vorher nicht gehört. Du kannst mir mal das Buch mit den Biographien herreichen.«
Er blätterte gemächlich, während er in seinen Stuhl zurückgelehnt lag und riesige Rauchwolken aus der Zigarre von sich blies.
»Ich habe eine niedliche Sammlung von Namen, die mit ›M‹ anfangen,« sagte er endlich. »Da ist Mariarty selbst, ein Mann, über den man ein ganzes Buch schreiben könnte, ferner Morgan, der Giftmischer, dann kommt Merridew schrecklichen Angedenkens und mein Freund Mathews vom Wartesaal in Charing Croß und hier endlich Herr Moran. Er gab mir das Buch, und ich las:
»Moran, Sebastian, Oberst a. D. Früherer Offizier beim ersten Pionierregiment in Bengalore. Im Jahre 1840 in London geboren, als Sohn des Abgeordneten und ehemaligen britischen Gesandten in Persien, August Moran. Besuchte die Hochschulen in Eton und Oxford. Machte die Feldzüge in Jowaki und Afghanistan mit und stand in Charasiab, Scherpur und Kabul. Verfasser von: ›Hochjagden im westlichen Himalaja‹, 1881; ›Drei Monate im Dschungel‹, 1884. Adresse: Conduitstraße. Mitglied des Anglo-indischen, des Tankerville-und des Bagatellespielklubs.«
Am Rande hatte Holmes selbst bemerkt: »Der zweitgefährlichste Mann in London.«
»Sonderbar!« sagte ich, als ich ihm den Band zurückgab. »Der Mann hat eine sehr achtbare Soldatenlaufbahn hinter sich.«
»Das ist richtig,« versetzte Holmes. »Bis zu einem gewissen Zeitpunkt war er anständig. Er hatte stets eiserne Nerven. Man erzählt jetzt noch die Geschichte, wie er in Indien in einem Graben sich an einen Tiger heranschlich, der einen Menschen verzehrte, und ihm die Beute abjagte. Es gibt Wesen, Watson, die sich bis zu einem bestimmten Punkte normal entwickeln und sich dann mit einem Male vollkommen verändern. Man kann das öfter beobachten. Meiner Ansicht nach spiegelt sich in der Entwickelung jedes Einzelwesens diejenige der ganzen Vorfahrenkette wieder, und ein plötzlicher Umschlag zum Guten oder zum Bösen stellt den Ausfluß aus der Reihe seiner Ahnen dar. Das Individuum wiederholt gewissermaßen die Geschichte seiner Familie.«
»Diese Theorie erscheint mir etwas phantastisch.«
»Nun, ich will nicht näher darauf eingehen, wie ihm aber auch sei, Oberst Moran geriet allmählich auf Abwege. Wenn es auch nicht zum öffentlichen Skandal gekommen ist, in Indien wurde ihm der Boden doch zu heiß unter den Füßen, er konnte sich nicht mehr länger dort halten. Er kam also nach London und erfreute sich auch hier nicht lange eines guten Rufes. Damals nahm sich Professor Mariarty seiner an, er war eine Zeitlang seine rechte Hand. Mariarty unterstützte ihn reichlich mit Geldmitteln und verwandte ihn nur ein oder zwei Male bei ganz großen Sachen, die kein gewöhnlicher Verbrecher hätte durchführen können. Kannst du dich vielleicht noch auf den Tod der Frau Stewart in Lander im Jahre 1887 besinnen? Ich bin fest überzeugt, daß Moran der Hauptbeteiligte dabei war, wenn ihm auch nichts nachgewiesen werden konnte. Auch als die Mariartysche Bande ergriffen wurde, verstand er sich so geschickt aus der Schlinge zu ziehen, daß wir ihm nichts ans Zeug flicken konnten. Erinnerst du dich noch, wie ich dazumal, als ich in deiner Wohnung war, aus Furcht vor der Windbüchse die Fensterladen schloß? Du hieltst mich sicher für krankhaft erregt und übermäßig ängstlich. Ich wußte jedoch wohl was ich tat, denn ich kannte die Existenz dieses eigentümlichen Gewehrs und wußte auch, daß einer der besten Schützen dahinter stand. Als wir in die Schweiz gingen, folgte er uns mit Mariarty, und es war kein anderer als er, der mich am Reichenbachfall fünf Minuten lang bombardierte.
»Du kannst dir vorstellen, daß ich während meines Aufenthaltes in Frankreich die Zeitungen sehr aufmerksam studierte, um ihn bei irgend einer Gelegenheit fassen zu können. So lange er sich auf freiem Fuß befand, würde ich in London keinen Augenblick meines Lebens sicher gewesen sein. Tag und Nacht hätte ich keine Ruhe gehabt, und früher oder später wäre ich ihm doch zum Opfer gefallen. Was hätte ich dagegen tun können? Ich konnte ihn nicht erschießen, wollte ich mich nicht selbst in Ungelegenheiten bringen. Mich an die Behörde zu wenden, hätte keinen Zweck gehabt, denn auf bloßen Verdacht hin darf sie nicht einschreiten. Ich war also vollständig machtlos. Ich verfolgte daher die Kriminalnachrichten, weil ich überzeugt war, ihn doch einmal erwischen zu können. Da kam die Meldung von der Ermordung des jungen Adair. Meine Stunde war endlich gekommen! Nach dem, was ich wußte, war es da nicht sicher, daß Moran der Mörder sein mußte? Er hatte mit dem jungen Manne Karten gespielt, er war ihm vom Klub nach Hause gefolgt und hatte ihn durch das offene Fenster erschossen. Das unterlag für mich keinem Zweifel. Die Kugeln allein werden zu seiner Ueberführung genügen. Ich kehrte rasch zurück. Seine Wache sah mich und setzte ihn selbstverständlich sofort von meiner Anwesenheit in Kenntnis. Er mußte meine schleunige Rückkehr unbedingt mit seinem Verbrechen in Zusammenhang bringen und darüber stark beunruhigt sein. Es war mir daher klar, daß er sofort mich aus dem Wege zu schaffen versuchen, und zu diesem Zweck sein Mordgewehr mitbringen würde. Ich hinterließ ihm am Fenster ein ausgezeichnetes Ziel. Ich unterrichtete die Polizei – du wirst, nebenbei bemerkt, ihre Anwesenheit in jenem Torweg gewiß nicht vermutet haben – und nahm jenen Beobachtungsposten ein, der mir dazu besonders geeignet erschien; freilich, ließ ich mir nicht träumen, daß er denselben Fleck zu seinem Angriff wählen würde. Ist dir die Sache nun klar, mein Lieber?«
»Nicht ganz,« antwortete ich.
»Du hast mir nicht erklärt, warum er den jungen Ronald Adair getötet hat.«
»Ach so! Damit kommen wir auf das Gebiet, wo auch ein streng logisch denkender Mensch irren kann. Darüber mag sich jeder auf Grund der Tatsachen seine eigene Meinung bilden, und dabei gilt die eine so viel wie die andere.«
»Hast du dir deine schon gebildet?«
»Mir erscheint es nicht allzu schwer, ein Motiv zu finden. Es ist nachgewiesen, daß Moran und Adair nicht unbedeutende Summen im Spiel umgesetzt haben. Nun hat Moran zweifellos falsch gespielt – davon war ich schon lange überzeugt. Ich glaube, daß Adair am Tage der Ermordung den Betrug entdeckt und ihm höchstwahrscheinlich die vertrauliche Mitteilung gemacht hatte, daß er seine Ausschließung aus dem Klub veranlassen würde, wenn er nicht freiwillig austräte und vom Kartenspiel wegbliebe. Es ist kaum anzunehmen, daß ein junger Mann wie Adair sofort einen riesigen Skandal machen und einen bekannten und viel älteren Herrn in dieser Weise bloßstellen wollte. Meine Vermutung hat insofern viel für sich. Die Ausstoßung aus dem Klub bedeutete aber für Moran, der von den Erträgnissen des falschen Spielens lebte, zugleich den materiellen Ruin. Aus diesem Grunde ermordete er Adair, als dieser gerade ausrechnete, wieviel Geld er selbst zurückzahlen müßte, um an dem Falschspiel seines Partners keinen Anteil zu haben. Er verschloß die Türe, um von den Damen nicht überrascht und gefragt zu werden, was alle die Namen und Geldhäufchen bedeuten sollten. Leuchtet dir’s ein?«
»Ich zweifle nicht, daß du das richtige getroffen hast.«
»Bei der Verhandlung wird sich herausstellen, ob ich recht habe oder nicht. Im übrigen, es mag damit werden wie’s will, Oberst Moran wird uns nicht mehr beunruhigen, die berühmte Büchse, System Herder, wird das Kriminalmuseum zieren, und Herr Sherlock Holmes kann sich wieder frei und ungestört dem Studium jener interessanten kleinen Probleme widmen, an denen im Londoner Leben wahrhaftig kein Mangel ist.«
»Vom Standpunkt des Kriminalisten,« sagte Sherlock Holmes eines Tages, »ist London seit dem Tode des Professors Mariarty seligen Angedenkens die uninteressanteste Stadt geworden.«
»Ich kann mir kaum denken, daß viele ehrbare Bürger deine Ansicht teilen,« gab ich ihm zur Antwort.
»Nun – ja, ich will nicht selbstsüchtig sein,« sagte er lächelnd und schob seinen Stuhl vom Tisch zurück, an dem wir eben gefrühstückt hatten. »Die Allgemeinheit, hat immerhin den Vorteil, nur der arme Fachmann ist zu bedauern, weil er Beschäftigung und Brot verliert. Dem Manne von Beruf brachte oft die Zeitung eines Morgens alle möglichen guten Aussichten. Oft war es nur eine ganz schwache Spur, Watson, eine ganz zarte Andeutung, und doch zeigte sie mir, daß etwas für den Detektiv im Anzug war, ebenso wie die leiseste Schwingung am Rande des Netzes die in der Mitte lauernde Spinne auf die nahende Beute aufmerksam macht. Unbedeutende Diebstähle, leichte Ueberfälle, kleinliche Beleidigungen – alle diese Vergehen konnten von einem Manne, der die Fäden in der Hand hatte, in Zusammenhang gebracht und auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden. Für das Studium der feineren Verbrecherwelt bot keine Stadt Europas ein solch’ gutes Material wie das damalige London. Aber jetzt –« er zuckte mit den Achseln, betrübt über den Stand der Dinge, an dem er selbst treulich mitgearbeitet hatte.
Zu der in Rede stehenden Zeit war Holmes einige Monate von seiner Reise zurück, und ich hatte auf sein Anraten meine Praxis verkauft und wohnte wieder mit ihm zusammen in unserem alten Heim in der Bakerstraße. Meine kleine Kundschaft hatte ein junger Arzt, Namens Berner, für einen so auffallend hohen Preis übernommen, wie ich ihn kaum zu fordern gewagt hatte – ein Umstand, der mir erst nach Jahren klar wurde, als ich erfuhr, daß Berner ein entfernter Verwandter von Holmes, und mein Freund der Vermittler war.
Diese Monate unserer Partnerschaft waren jedoch nicht so ereignislos, wie er gesagt hatte. Nach meinen Notizen fällt in diese Zeit der Fall des Präsidenten Murillo und der erschütternde Vorgang auf dem holländischen Dampfer ›Friesland‹, wobei wir beide beinahe das Leben verloren hatten. Seine kalte, stolze Natur war aber jeglichem öffentlichem Beifall abhold, und darum bat er mich dringend, nichts darüber zu veröffentlichen – dieses Hindernis ist, wie ich bereits in einer früheren Erzählung erwähnt habe, erst jetzt beseitigt.
Holmes saß nach seinem sonderbaren Protest behaglich in seinen Stuhl zurückgelehnt und las die Morgenblätter, als es plötzlich heftig klingelte und ungestüm an der Haustür pochte. Nachdem aufgemacht worden war, kam jemand rasch die Treppe heraufgestürzt und stand im nächsten Augenblick in unserem Zimmer. Es war ein junger Mann in der höchsten Erregung, mit verstörten Blicken und zerzaustem Haar, bleich und zitternd. Er sah uns, einen nach dem anderen, verdutzt an und mußte aus unseren fragenden Gesichtern entnehmen, daß wir auf eine Entschuldigung wegen seines taktlosen Eintretens warteten.
»Es tut mir leid, Herr Holmes,« sagte er hastig. »Nehmen Sie mir’s nicht übel. Ich bin fast von Sinnen. Ich bin der unglückliche John Hektor Farlane.«
Er brachte das so heraus, als ob der Name allein seinen Besuch und sein Benehmen erklären müßte; aber an meines Freundes Gesicht konnte ich ersehen, daß er so wenig damit anzufangen vermochte wie ich.