Die Rückkehr des Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle - E-Book

Die Rückkehr des Sherlock Holmes E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

»Holmes«, rief ich, »sind Sie es wirklich? Wie ist es möglich, dass Sie noch leben? Haben Sie es tatsächlich geschafft, aus diesem entsetzlichen Abgrund zu steigen?« Vermisst und für tot gehalten, taucht Sherlock Holmes drei Jahre nach seinem rätselhaften Verschwinden in den Reichenbach Fällen wieder auf. Und das zur rechten Zeit! London ist im Griff eines neuen Unholds. Dreizehn Erzählungen über Geheimnisse, Enthüllungen und die vertrackte Logik des Bösen. Schwarzer Peter, tanzende Männchen, drei Studenten, sechs Napoleone – Sherlock Holmes löst alle Rätsel. Auch das um den »zweiten Fleck«, nach Dr Watson den bedeutendsten aller seiner Fälle. Neu übersetzt vom preisgekrönten Schriftsteller Henning Ahrens.

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Seitenzahl: 494

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Arthur Conan Doyle

Die Rückkehr des Sherlock Holmes

Erzählungen

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

FISCHER E-Books

Inhalt

Das Abenteuer im verlassenen HausDas Abenteuer mit dem Bauunternehmer aus NorwoodDas Abenteuer mit den tanzenden MännernDas Abenteuer mit der einsamen RadfahrerinDas Abenteuer in der KlosterschuleDas Abenteuer mit Black PeterDas Abenteuer um Charles Augustus MilvertonDas Abenteuer mit den sechs NapoleonsDas Abenteuer mit den drei StudentenDas Abenteuer mit dem goldenen KneiferDas Abenteuer mit dem verschwundenen DreiviertelspielerDas Abenteuer in Abbey GrangeDas Abenteuer mit dem zweiten FleckEditorische NotizZur Neuübersetzung

Das Abenteuer im verlassenen Haus

Im Frühling 1894 sorgte die Ermordung des Honourable Ronald Adair, begangen unter denkbar dunklen und dubiosen Umständen, in ganz London für Aufsehen, in Oberschicht-Kreisen sogar für Entsetzen. Viele Details, die während der polizeilichen Ermittlungen ans Licht kamen, sind allgemein bekannt, aber manches fiel unter den Tisch, weil es wegen der klaren Beweislage als überflüssig galt, alle Fakten offenzulegen. Erst jetzt, gut zehn Jahre später, darf ich die bemerkenswerte Kette der Ereignisse um die fehlenden Glieder ergänzen. Das Verbrechen, an sich schon interessant genug, wurde durch eine vollkommen unerwartete Folgeentwicklung, die für den tiefsten Schock und die größte Überraschung meines abenteuerlichen Lebens sorgte, allerdings weit in den Schatten gestellt. Noch heute, Jahre danach, bin ich wie berauscht und empfinde, wenn ich daran denke, die gleiche überwältigende Freude, Verblüffung und Ungläubigkeit wie damals. Jene Leser, die sich für die Schlaglichter interessiert haben, die ich ab und zu auf das Denken und die Taten einer großen Persönlichkeit geworfen habe, sind selbstverständlich nicht dafür verantwortlich, dass ich mit meinem Wissen hinter dem Berg gehalten habe. Ich hätte mich eigentlich verpflichtet gefühlt, sie umgehend zu informieren, nur wurde ich durch ein klares Veto seinerseits, das erst am Dritten des vergangenen Monats obsolet wurde, daran gehindert.

Wie man sich denken kann, hatte die enge Freundschaft mit Sherlock Holmes ein lebhaftes Interesse an Kriminalfällen in mir geweckt, und nach seinem Verschwinden studierte ich mit Hingabe alle Verbrechen, die bekannt wurden. Ich versuchte sogar mehrmals, seine Lösungsmethoden anzuwenden, aus Spaß an der Freude und mit geringem Erfolg. Am stärksten beschäftigte mich der tragische Fall Ronald Adairs, der mir den herben Verlust, den der Tod von Sherlock Holmes für unser Gemeinwesen darstellte, noch einmal schmerzhaft bewusst machte. Manche Aspekte dieses Falles hätten ihn brennend interessiert, und als Europas Verbrechensbekämpfer Nr. 1 hätte er die Ermittlungen durch seine Adleraugen und seinen Scharfsinn unterstützen können, wäre der Polizei vielleicht sogar mal wieder eine Nasenlänge voraus gewesen. Während ich an jenem Tag meine Patienten abklapperte, durchdachte ich den Fall immer wieder, konnte ihn aber nicht schlüssig erklären. Gut möglich, dass ich Eulen nach Athen trage, aber ich will die Fakten, soweit sie bei Prozessende bekannt waren, an dieser Stelle noch einmal zusammenfassen.

Ronald Adair, zweiter Sohn des Earl of Maynooth, damals Gouverneur einer australischen Kolonie, führte den Titel Honourable. Seine Mutter war aus Australien angereist, um sich am Grauen Star operieren zu lassen, und wohnte mit Ronald und ihrer Tochter Hilda in der 427 Park Lane. Der junge Mann verkehrte in der High Society und hatte, soweit bekannt, weder Feinde noch besondere Laster. Seine Verlobung mit Miss Edith Woodley aus Carstairs war einvernehmlich aufgelöst worden und schien keine bleibenden Wunden hinterlassen zu haben. Das Leben des jungen Mannes spielte sich weitgehend in einem kleinen und förmlichen Kreis ab, denn er hatte unauffällige Gewohnheiten und ein ausgeglichenes Wesen. Trotzdem fand dieser umgängliche, junge Aristokrat am Abend des dreißigsten März 1894 zwischen zehn und halb zwölf auf eine sehr sonderbare und unerwartete Weise den Tod.

Ronald Adair spielte gern und regelmäßig Karten, aber nie um halsbrecherisch hohe Einsätze. Er war Mitglied der Kartenclubs Baldwin, Cavendish und Bagatelle. In letzterem hatte er, wie die Ermittlungen zeigten, am Tag seiner Ermordung nach dem Dinner noch eine Partie Whist gespielt. Er hatte dort auch schon am Nachmittag gespielt, und zwar, wie seine Mitspieler – Mr Murray, Sir John Hardy und Colonel Moran – aussagten, ebenfalls Whist. Die Runde sei ausgeglichen gewesen, hieß es, und Adair könne nicht mehr als fünf Pfund verloren haben, eine unerhebliche Summe angesichts seines nicht gerade geringen Vermögens. Er hatte fast täglich einen der Clubs besucht und war als umsichtiger Spieler meist als Gewinner vom Tisch aufgestanden. Während der Beweisaufnahme zeigte sich, dass er mit Colonel Moran als Partner vor einigen Wochen bei einer Runde 420 Pfund von Godfrey Milner und Lord Balmoral gewonnen hatte. So weit die Ergebnisse der gerichtlichen Untersuchung seiner jüngsten Vergangenheit.

Am Abend des Verbrechens kehrte er um Punkt zehn Uhr nach Hause zurück. Mutter und Schwester besuchten gerade Verwandte. Das Hausmädchen gab an, sie habe gehört, wie er das vordere Zimmer im ersten Stock betreten habe, das er als Wohnzimmer nutzte. Dort hatte sie ein Feuer entfacht und, weil es qualmte, das Fenster geöffnet. Bis halb zwölf, als Mutter und Schwester heimkehrten, herrschte Stille in dem Zimmer. Lady Maynooth wollte ihrem Sohn noch eine gute Nacht wünschen, aber die Zimmertür war von innen verschlossen, und er reagierte weder auf Rufe noch Klopfen. Schließlich wurde die Tür mit fremder Hilfe geöffnet, und man fand den jungen Mann neben dem Tisch auf dem Fußboden. Er hatte eine grausige Kopfwunde, verursacht durch das Deformationsgeschoss eines Revolvers, der im Zimmer nicht aufzufinden war. Auf dem Tisch lagen zwei Zehn-Pfund-Scheine sowie siebzehn Pfund in Silber und Gold, die Adair zu unterschiedlich hohen Summen gestapelt hatte. Außerdem hatte er die Namen mehrerer Clubfreunde auf einem Zettel notiert und ihnen Summen zugeordnet, was darauf hindeutete, dass er kurz vor seinem Tod die Verluste und Gewinne beim Kartenspiel berechnet hatte.

Die gründliche Untersuchung der Todesumstände half den Ermittlern nicht weiter, sondern warf weitere Fragen auf. So konnte sich niemand erklären, warum der junge Mann die Tür von innen versperrt hatte. Das hätte zwar auch der Mörder tun können, um dann durch das Fenster zu fliehen, nur lag dieses sieben Meter über dem Erdboden, und direkt darunter befand sich ein Beet mit blühenden Krokussen. Weder Blumen noch Erde waren zertreten, und auf dem schmalen Rasen zwischen Haus und Straße gab es keine Fußabdrücke. Der junge Mann musste die Tür also selbst zugesperrt haben, aber wie war sein Tod zu erklären? Wenn jemand an der Mauer hinaufgeklettert wäre, hätte er Spuren hinterlassen. Natürlich hätte jemand durch das Fenster feuern können, aber es hätte schon eines Meisterschützen bedurft, um mit einem Revolver einen so präzisen Schuss abzugeben, und niemand hatte einen Knall gehört. Trotzdem gab es den Toten und das Deformationsgeschoss, das sich nach dem Eindringen ausgedehnt hatte und sofort tödlich gewesen war. So weit die Umstände des Rätsels in der Park Lane, das durch die Abwesenheit eines Motivs weiter kompliziert wurde, denn wie schon erwähnt hatte der junge Adair keine Feinde, und es gab keine Anzeichen für den Diebstahl von Geld oder Wertgegenständen.

Ich dachte den ganzen Tag über diese Fakten nach, weil ich eine schlüssige Theorie zu finden hoffte, genauer gesagt, jene Linie des geringsten Widerstandes, die laut meines toten Freundes der Ausgangspunkt jeder Ermittlung war. Ich gestehe, dass Fortschritte ausblieben. Abends schlenderte ich durch den Hyde Park und erreichte gegen achtzehn Uhr die Ecke Park Lane und Oxford Street. Auf den Bürgersteigen standen Schaulustige, und ihre auf ein bestimmtes Fenster gerichteten Blicke zeigten mir das gesuchte Haus. Ein großer, schmaler Mann, der eine Brille mit gefärbten Gläsern trug, vermutlich ein Detective in Zivil, legte, umringt von Zuhörern, seine eigene Theorie dar. Ich drängelte mich zu ihm durch, fand seine Ausführungen aber so absurd, dass ich mich verärgert abwandte. Dabei stieß ich mit einem hinter mir stehenden, krummen Alten zusammen, dem daraufhin mehrere Bücher aus der Hand fielen. Ich bückte mich danach. Eines, das weiß ich bis heute, hieß Der Ursprung des Baumkultes, und ich stufte den Kerl als verarmten Bibliophilen ein, der obskure Schwarten sammelte oder mit ihnen handelte. Er machte mit abschätziger Grimasse auf dem Hacken kehrt, und ich sah ihm nach, als er mit krummem Rücken und weißem Backenbart in der Menge verschwand.

Meine Untersuchung der Nr. 427 Park Lane trug fast nichts zur Klärung des Problems bei. Eine Mauer mit Zaunaufsatz, insgesamt nicht höher als anderthalb Meter, trennte das Haus von der Straße. Man konnte also problemlos in den Garten gelangen, aber selbst ein geübter Kletterer hätte das Fenster nicht erreichen können, denn es gab keinen Halt, nicht einmal ein Fallrohr, weshalb ich auf dem Rückweg nach Kensington verwirrter war denn je. Ich war gerade fünf Minuten in meinem Arbeitszimmer, da meldete das Hausmädchen einen Besucher. Zu meiner Verblüffung war es niemand anderer als der alte Büchersammler mit dem scharf geschnittenen, faltigen und von schlohweißen Haaren gerahmten Gesicht, der sich mindestens ein Dutzend seiner kostbaren Scharteken unter den rechten Arm geklemmt hatte.

»Mein Anblick scheint Sie zu überraschen, Sir«, krächzte er.

Das gab ich zu.

»Tja, ich habe durchaus ein Gewissen, Sir. Während ich Ihnen nachhumpelte, sah ich zufällig, wie Sie dieses Haus betraten, und da kam mir die Idee, dem Gentleman, der netterweise meine Bücher aufgehoben hat, einen Besuch abzustatten und ihm zu sagen, dass meine Schroffheit nicht böse gemeint war.«

»Nicht der Rede wert«, sagte ich. »Darf ich fragen, woher Sie mich kennen?«

»Nun, ja, Sir, ich bin sozusagen ein Nachbar, und wenn Sie mir die Freiheit gestatten: Meine kleine Buchhandlung befindet sich an der Ecke Church Street, und Sie sind dort stets willkommen. Möchten Sie nicht auch unter die Sammler gehen, Sir? Ich habe hier Die Vögel der britischen Inseln und Catull und Der Heilige Krieg – jedes Buch ein Schnäppchen. Mit fünf Bänden könnten Sie die Lücke im rechten Regal füllen. Sieht unordentlich aus, finden Sie nicht auch, Sir?«

Ich sah zum Bücherschrank, und als ich mich wieder umdrehte, stand der lächelnde Sherlock Holmes am Tisch. Ich sprang auf, starrte ihn sekundenlang wie vor den Kopf gestoßen an und wurde dann zum ersten und letzten Mal in meinem Leben ohnmächtig. Grauer Nebel wogte vor meinen Augen, und als er sich lichtete, schmeckte ich Brandy auf den Lippen und merkte, dass mein Hemdkragen geöffnet worden war. Holmes, die Flasche in der Hand, beugte sich über mich.

»Mein lieber Watson«, sagte er mit der Stimme, die ich bestens in Erinnerung hatte, »ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie gleich umkippen.«

Ich ergriff ihn bei den Armen.

»Holmes!«, rief ich. »Sind Sie das wirklich? Sind Sie tatsächlich noch am Leben? Kann es sein, dass Sie es geschafft haben, aus dem grauenhaften Abgrund zu klettern?«

»Nur nichts überstürzen«, sagte er. »Sind Sie fit genug, um über dieses Thema zu sprechen? Ich habe Ihnen durch mein unnötig dramatisches Auftauchen einen schweren Schock versetzt.«

»Ja, ich bin fit, nur traue ich meinen Augen nicht, Holmes. Unfassbar, dass Sie – ausgerechnet Sie – hier in meinem Arbeitszimmer stehen.« Ich spürte den schmalen, sehnigen Arm unter dem Stoff des Jackenärmels. »Ein Geist sind Sie jedenfalls nicht«, sagte ich. »Sie ahnen nicht, wie froh ich bin, Sie wiederzusehen, alter Freund. Sie müssen mir unbedingt erzählen, wie Sie dem Höllenschlund lebend entkommen sind. Bitte setzen Sie sich.«

Er nahm mir gegenüber Platz und zündete sich auf seine typisch nonchalante Art eine Zigarette an. Er trug noch den schmuddeligen, zweireihigen Mantel des Buchhändlers, aber der Rest dieser Person lag als Haufen weißer Haare und Bücher auf dem Tisch. Holmes wirkte noch hagerer und markanter als früher, doch die Totenblässe seines adlerhaften Gesichts verriet mir, dass er in letzter Zeit kein besonders gesundes Leben geführt hatte.

»Wie gut, mich endlich ausstrecken zu können, Watson«, sagte er. »Ist kein Vergnügen, wenn man sich als langer Mensch stundenlang anderthalb Köpfe kleiner machen muss. Und was die Erklärungen betrifft, so steht uns – denn ich würde Sie gern um Ihre Unterstützung bitten – eine gefährliche, arbeitsreiche Nacht bevor. Vielleicht sollte ich Ihnen erst danach berichten, was sich zugetragen hat.«

»Ich platze vor Neugier. Besser, Sie erzählen es gleich.«

»Begleiten Sie mich heute Nacht?«

»Wann auch immer und wohin auch immer Sie wollen.«

»Wunderbar! Genau wie früher. Ich denke, dass vor unserem Aufbruch noch ein kleines Dinner drin ist. Aber gut – das Thema Hölle. Ich hatte kein Problem damit, ihrem Schlund zu entkommen, weil ich niemals hineingestürzt bin. So einfach ist die Sache.«

»Sie sind nicht hineingestürzt?«

»Nein, Watson, bin ich nicht. Trotzdem habe ich in meiner Nachricht nicht gelogen, denn als ich die unheimliche Gestalt Professor Moriartys auf dem schmalen Pfad stehen sah, war ich überzeugt, mit meinem Leben abschließen zu müssen. In seinen grauen Augen lag eine unerbittliche Entschlossenheit. Wir wechselten einige Worte, dann schrieb ich mit seiner gütigen Erlaubnis die kurze Nachricht, die Sie später gefunden haben. Ich ließ sie mit Zigarettenetui und Alpenstock zurück und ging weiter, dicht gefolgt von Moriarty, der mich am Ende des Pfades stellte. Er zückte keine Waffe, sondern stürzte sich auf mich und packte mich mit seinen langen Armen. Er wusste, dass er verloren hatte, wollte sich aber noch an mir rächen. Miteinander ringend, taumelten wir zum Rand des Abgrunds, aber durch meine Übung in der japanischen Kampfsportart Bartitsu, die sich schon oft als nützlich erwiesen hat, konnte ich mich seinem Griff entwinden. Daraufhin stieß er einen grässlichen Schrei aus, trat mehrmals um sich und griff mit beiden Händen ins Leere, fand sein Gleichgewicht aber nicht wieder und fiel in die Tiefe. Flach auf dem Bauch liegend, beobachtete ich seinen langen Sturz, der damit endete, dass er unten auf einen Felsen prallte und ins Wasser klatschte.«

Ich lauschte dieser Erklärung, die Holmes zwischen Zügen an seiner Zigarette abgab, mit offenem Mund.

»Aber die Spuren!«, rief ich. »Ich habe eindeutig gesehen, dass die Spuren zweier Personen bis zum Ende des Pfades führten, und von dort ist niemand zurückgekehrt.«

»Tja, das kam so: Als der Professor stürzte, begriff ich, dass sich eine einmalige Chance bot. Moriarty war ja nicht der Einzige, der geschworen hatte, mich zu töten. Es gab mindestens drei weitere Personen, deren Rachegelüste nach dem Tod ihres Anführers nicht verfliegen würden, allesamt hochgefährliche Männer, und einer hätte mich bestimmt erwischt. Wenn aber alle Welt von meinem Tod überzeugt wäre, könnte ich diese Männer über kurz oder lang ausschalten, weil sie nachlässig werden und Fehler begehen würden. Danach würde ich bekanntgeben, noch am Leben zu sein. Mein Gehirn arbeitete so rasant, dass ich all dies durchdacht hatte, bevor Professor Moriarty auf dem Grund des Reichenbachfalls angelangt war.

Ich kam auf die Beine und untersuchte die Felswand hinter mir. In Ihrem anschaulichen Bericht, den ich einige Monate später mit großem Interesse las, bezeichnen Sie die Wand als steil. Aber das stimmt nicht ganz, denn sie bot einen gewissen Halt, und weiter oben schien es einen Felsvorsprung zu geben. Wegen ihrer Höhe war es fast unmöglich, sie zu erklettern, aber ich konnte auch nicht auf dem nassen Pfad zurückgehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich hätte natürlich rückwärts laufen können, nur hätten die Spuren dreier Personen auf eine List hingedeutet. Unter dem Strich schien die Wand also die beste Option zu sein. Die Klettertour war kein Zuckerschlecken, Watson. Unter mir brauste der Wasserfall. Ich neige nicht zu Einbildungen, meinte aber, Moriarty im Abgrund schreien zu hören. Jeder noch so kleine Fehltritt hätte den Tod bedeutet. Die Grasbüschel, an denen ich mich festhielt, rissen ab, ebenso oft, wie meine Füße oder Hände am nassen Gestein abrutschten, und ich glaubte mehrmals, es wäre um mich geschehen. Trotzdem kämpfte ich mich weiter nach oben und erreichte schließlich einen moosigen, mehrere Fuß tiefen Vorsprung, auf dem ich es mir gemütlich machen konnte, ohne entdeckt zu werden. Dort lag ich, Watson, während Sie und die Rettungskräfte die Umstände meines Todes auf rührende, aber recht ineffiziente Art untersuchten.

Nachdem Sie zu Ihrer unausweichlichen, aber irrigen Einsicht gelangt waren, brachen Sie zum Hotel auf, und ich war allein. Ich hatte geglaubt, die Sache wäre ausgestanden, doch ein unerwartetes Ereignis zeigte mir, dass ich mich geirrt hatte – ein großer Felsbrocken sauste an mir vorbei, krachte auf den Pfad und stürzte in den Abgrund. Ich dachte zunächst an eine natürliche Ursache, aber als ich nach oben sah, zeichnete sich der Torso eines Mannes vor dem dunkel werdenden Himmel ab, und ein zweiter Stein prallte dreißig Zentimeter von meinem Kopf entfernt auf den Vorsprung. Das konnte nur bedeuten, dass Moriarty nicht allein gewesen war. Ein Komplize – ein sehr gefährlicher Bursche, wie ich sofort begriff – hatte während meines Kampfes mit dem Professor auf der Lauer gelegen und sowohl den Tod seines Freundes als auch meine Klettertour aus der Ferne beobachtet. Er hatte abgewartet, war dann zum Rand der Felswand gegangen und versuchte nun zu vollenden, was Moriarty misslungen war.

Ich musste mir die Sache nicht lange überlegen, Watson. Als das grimmige Gesicht erneut über die Kante lugte, wusste ich, dass in Kürze ein dritter Stein fallen würde. Also kletterte ich wieder nach unten. Hätte ich Muße zum Nachdenken gehabt, dann hätte ich das sicher nicht getan, weil der Abstieg hundertmal schwieriger war als der Aufstieg, aber ich hatte keine Zeit, um an mögliche Gefahren zu denken, denn als ich von dem Vorsprung klettern wollte, zischte der nächste Brocken an mir vorbei. Auf halbem Weg rutschte ich ab, hatte aber Glück und landete auf dem Pfad, blutend und mit zerfetzten Kleidern. Ich nahm die Beine in die Hand, legte im dunklen Gebirge zehn Meilen zurück, und als ich eine Woche später Florenz erreichte, stand fest, dass niemand wusste, was aus mir geworden war.

Ich zog nur einen Menschen ins Vertrauen – meinen Bruder Mycroft. Ich muss mich vielmals bei Ihnen entschuldigen, mein lieber Watson, aber es war wichtig, dass man mich für tot hielt, und Sie hätten wohl keinen so überzeugenden Bericht über mein unglückliches Ende verfasst, wenn Sie nicht daran geglaubt hätten. Während der letzten drei Jahre wollte ich Ihnen mehrmals schreiben, befürchtete aber stets, Ihre Sympathie für mich könnte Sie zu Andeutungen verleiten, die mein Geheimnis verraten hätten. Deshalb habe ich mich heute Abend, nachdem meine Bücher runtergefallen waren, rasch aus dem Staub gemacht. Außerdem schwebte ich in Gefahr, und wenn Sie überrascht oder erschüttert gewesen wären, hätte das Zweifel an meiner Tarnung wecken und schlimme, ja katastrophale Folgen haben können. Was Mycroft betrifft, so musste ich ihn schon aus finanziellen Gründen ins Vertrauen ziehen. In London lief es weniger gut als erwartet, denn nach dem Prozess gegen Moriartys Bande blieben zwei Männer – sowohl seine gefährlichsten Komplizen als auch meine rachegierigsten Feinde – auf freiem Fuß. Also reiste ich zwei Jahre durch Tibet, besichtigte Lhasa und verbrachte einige Tage beim Dalai Lama. Sollten Sie über die Forschungsreise eines Norwegers namens Sigerson gelesen haben, dann wurden Sie, ohne dies zu ahnen, über Ihren alten Freund informiert. Danach begab ich mich nach Persien, besuchte Mekka und stattete dem Kalifen des Sudan eine aufschlussreiche Stippvisite ab, über die ich unser Außenministerium unterrichtete. Schließlich reiste ich nach Südfrankreich, genauer nach Montpellier, wo ich in einem Labor über Steinkohlenteerderivate forschte. Nachdem ich diese Arbeit zu einem zufriedenstellenden Abschluss gebracht hatte, hörte ich erstens, dass in London nur noch einer meiner Feinde übrig war, und erfuhr zweitens von dem Rätsel in der Park Lane, was meine Rückkehr beschleunigte, denn dieser Fall schien nicht nur hochinteressant, sondern auch eine einmalige Chance für mich zu sein. Ich reiste also sofort nach London, erschien höchstpersönlich in der Baker Street, was bei Mrs Hudson für einen hysterischen Anfall sorgte, und stellte fest, dass man dank Mycroft weder meine Zimmer noch meine Unterlagen angerührt hatte. So kam es, mein lieber Watson, dass ich mich heute um vierzehn Uhr in meinem vertrauten Zimmer auf dem vertrauten Lehnsessel wiederfand und mir wünschte, mein alter Freund würde wie üblich im anderen Sessel sitzen.«

Das war der verrückte Bericht, dem ich an jenem Aprilabend lauschte – ein Bericht, den ich für absolut unglaubwürdig gehalten hätte, wenn er nicht durch den für immer verloren geglaubten Anblick der schmalen, langen Gestalt und des lebhaften, hellwachen Gesichts bestätigt worden wäre. Holmes schien aus irgendeiner Quelle von meinem eigenen traurigen Verlust erfahren zu haben, drückte sein Mitgefühl aber eher durch seine Art denn durch Worte aus. »Arbeit ist das beste Mittel gegen die Trauer, mein lieber Watson«, sagte er, »und heute Abend steht uns eine Arbeit bevor, die, sollten wir Erfolg haben, das Dasein eines Menschen auf diesem Planeten mehr als rechtfertigt.« Ich bat ihn vergeblich, weitere Einzelheiten zu nennen. »Sie werden bis morgen früh genug sehen und hören«, erwiderte er. »Die vergangenen drei Jahre bieten noch ausreichend Gesprächsstoff. Um halb neun brechen wir zum denkwürdigen Abenteuer mit dem verlassenen Haus auf, und bis dahin sollten wir das Thema auf sich beruhen lassen.«

Als ich zur genannten Stunde neben ihm in einer Droschke saß, den Revolver in der Tasche und den Rausch des Abenteuers im Herzen, war es tatsächlich genau wie früher. Holmes war kühl, ernst und stumm. Wenn der Schein der Straßenlaternen auf sein Gesicht fiel, konnte ich sehen, dass er die Brauen runzelte und die Lippen zusammenpresste. Ich wusste nicht, welches Raubtier des finsteren Dschungels der Londoner Unterwelt zur Strecke gebracht werden sollte, aber die Art des Meisterjägers verriet mir, dass uns ein hochbrisantes Abenteuer bevorstand – das sardonische Lächeln dagegen, das trotz seiner düsteren Selbstbeherrschung immer wieder seine Lippen umspielte, verhieß unserer Jagdbeute wenig Gutes.

Ich hatte geglaubt, die Baker Street wäre unser Ziel, aber Holmes ließ die Droschke an einer Ecke des Cavendish Square halten. Beim Aussteigen fiel mir auf, dass er forschende Blicke nach links und rechts warf, und an jeder Straßenecke, die wir passierten, genau darauf achtete, ob wir verfolgt wurden. Wir nahmen einen sehr ungewöhnlichen Weg. Holmes, der die Londoner Nebenstraßen wie seine Westentasche kannte, eilte sicheren Schrittes durch ein Gewirr von Stallungen und Verschlägen, von deren Existenz ich niemals etwas geahnt hatte. Schließlich traten wir auf eine kleine, von schiefen, alten Häusern gesäumte Straße, durch die wir zur Manchester Street gingen, die uns wiederum zur Blandford Street führte. Dort bog er ruckartig in einen schmalen Gang ein, trat durch ein Holztor auf einen verlassenen Hof und öffnete mit einem Schlüssel die Hintertür eines Hauses. Wir gingen gemeinsam hinein, und er schloss die Tür.

Obwohl es stockfinster war, hatte ich das sichere Gefühl, dass das Haus verlassen war. Die nackten Dielen knarrten unter unseren Schuhen, und ich ertastete eine Wand, deren Tapete in Fetzen hing. Holmes’ kalte, schmale Finger schlossen sich um mein Handgelenk, dann führte er mich durch einen langen Flur, an dessen Ende das trübe Oberlicht einer Tür erkennbar war. Dort wandte er sich abrupt nach rechts, und wir betraten ein großes, quadratisches, leeres Zimmer, schwach durch das Licht der Straße erhellt. Die Ecken lagen in tiefem Schatten, eine Lampe gab es nicht, und das Fenster war so staubig, dass wir einander nur schemenhaft erkennen konnten. Mein Begleiter legte mir eine Hand auf die Schulter und seine Lippen an mein Ohr.

»Wissen Sie, wo wir sind?«, flüsterte er.

»Das ist die Baker Street«, antwortete ich mit einem Blick durch das trübe Fensterglas.

»Richtig. Wir befinden uns im Camden House, gegenüber unserer alten Wohnung.«

»Und warum sind wir hier?«

»Weil wir von hier aus einen hervorragenden Blick auf unsere malerische Hütte haben. Darf ich Sie bitten, Watson, etwas näher an das Fenster zu treten, aber vorsichtig, damit man Sie nicht sieht, und dann unsere alte Wohnung ins Visier zu nehmen – Ausgangspunkt fast all Ihrer kleinen Märchen? Mal schauen, ob ich Sie nach dreijähriger Abwesenheit noch überraschen kann.«

Ich schlich zum Fenster, und als ich zur Wohnung aufblickte, entwich mir ein überraschtes Keuchen. Im Wohnzimmer brannte ein helles Licht, das den klar umrissenen, schwarzen Schatten eines sitzenden Mannes auf das zugezogene Rollo warf. Kopfhaltung, breite Schultern und markante Züge, die sich im Dreiviertelprofil abzeichneten, waren unverkennbar. Die Wirkung entsprach den Scherenschnittporträts, die zur Zeit unserer Großeltern in Mode gewesen waren. Es war das perfekte Abbild von Holmes. Ich war so verblüfft, dass ich nach ihm tastete, um sicherzugehen, dass er neben mir stand. Er erbebte vor stummem Lachen.

»Und?«, fragte er.

»Meine Güte!«, rief ich. »Das ist umwerfend.«

»Ich hoffe, dass mein Erfindungsreichtum weder mit dem Alter schwindet noch durch Gewohnheit abstumpft«, erwiderte er, und in seiner Stimme schwangen der Stolz und die Freude eines Künstlers über sein Werk mit. »Sieht mir ziemlich ähnlich, finden Sie nicht auch?«

»Ich hätte schwören können, dass Sie es sind.«

»Das Lob gebührt Monsieur Oscar Meunier aus Grenoble, der diese Wachsbüste geformt hat. Alles andere habe ich heute Nachmittag während meines Besuches in der Baker Street arrangiert.«

»Und warum?«

»Weil ich gute Gründe dafür habe, mein lieber Watson, anderen vorzugaukeln, ich wäre zu Hause, obwohl ich in Wahrheit ganz woanders bin.«

»Sie vermuten also, dass die Wohnung observiert wird?«

»Ich weiß, dass sie observiert wird.«

»Durch wen?«

»Durch meine alten Feinde, Watson. Die reizende Bande, deren Anführer unten im Reichenbachfall liegt. Diese Leute – und nur diese Leute – wissen, dass ich noch am Leben bin. Sie nahmen an, dass ich früher oder später in die Baker Street zurückkehren würde, und sie haben die Wohnung während der ganzen Zeit observiert. Heute Morgen wurden sie dann Zeugen meiner Ankunft.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil ich ihren Posten bei einem Blick aus dem Fenster erkannt habe. Es handelt sich um einen eher harmlosen Kerl namens Parker, übrigens ein Virtuose auf der Maultrommel, der Leute bis zur Bewusstlosigkeit würgt und dann ausraubt. Er ist mir egal. Doch die Person, für die er arbeitet, der engste Freund Moriartys, der durchtriebenste und gefährlichste Kriminelle Londons, jener, der die Felsbrocken von der Klippe stieß, ist mir bestimmt nicht egal. Genau dieser Mann ist heute Abend hinter mir her, Watson, ohne zu ahnen, dass wir in Wahrheit hinter ihm her sind.«

Die Pläne meines Freundes schälten sich allmählich heraus. In diesem idealen Versteck sollten die Späher ausgespäht und die Spürhunde aufgespürt werden. Der kantige Schatten dort oben war der Lockvogel, wir waren die Jäger. Stumm im Dunkeln stehend, beobachteten wir die Menschen, die in beiden Richtungen an uns vorbeieilten. Holmes stand reglos da, aber ich wusste, dass er hellwach war und den Blick auf den Strom der Passanten geheftet hatte. Die Nacht war finster und stürmisch, der Wind pfiff durch die lange Straße. Viele Leute waren unterwegs, die meisten in Mantel und Schal gehüllt. Ich hatte mehrmals den Eindruck, dass jemand ein zweites Mal vorbeilief, aber mir fielen vor allem zwei Männer auf, die in einem Hauseingang weiter oben in der Baker Street Schutz vor dem Wind gesucht hatten. Ich versuchte, meinen Begleiter auf die beiden hinzuweisen, aber er brummte nur ungeduldig und starrte weiter auf die Straße. Er scharrte mehrmals mit den Füßen, trommelte mit den Fingern hektisch gegen die Wand. Wurde er unruhig, weil sein Plan zu misslingen drohte? Als sich die Straße gegen Mitternacht leerte, konnte er seine Erregung nicht mehr unterdrücken und schritt im Zimmer auf und ab. Ich wollte gerade etwas sagen, als ich den Blick zum erhellten Fenster hob und eine Überraschung erlebte, die der ersten in nichts nachstand. Ich ergriff Holmes bei einem Arm und zeigte nach oben.

»Der Schatten hat sich bewegt!«, rief ich.

Tatsächlich kehrte uns die Gestalt nicht mehr das Profil, sondern den Rücken zu.

Sein Unmut und seine Ungeduld mit Menschen, die im Kopf nicht so schnell waren wie er, schienen während der letzten drei Jahre nicht geringer geworden zu sein.

»Natürlich hat er sich bewegt«, sagte er. »Halten Sie mich für so blöd, einige der klügsten Köpfe Europas durch eine Attrappe täuschen zu wollen, die man sofort als solche erkennt? Während der zwei Stunden, die wir in diesem Zimmer verbracht haben, hat Mrs Hudson die Haltung der Attrappe achtmal verändert, also jede Viertelstunde. Sie tut das so, dass man ihren Schatten nicht sieht. Ah!« Er japste aufgeregt. Im Dämmerlicht konnte ich sehen, wie er den Kopf nach vorn reckte und zur Wachsamkeit in Person erstarrte. Die Straße war wie leergefegt. Gut möglich, dass die zwei Personen noch im Hauseingang kauerten, aber sie waren nicht mehr zu sehen. Bis auf das leuchtend gelbe Rollo gegenüber, auf dem sich die Silhouette abzeichnete, war alles dunkel und totenstill, und ich hörte wieder den Zischlaut, der von höchster und nur mühsam gezügelter Erregung zeugte. Sekunden später wurde ich in den finstersten Winkel des Zimmers gezogen und spürte Holmes’ warnende Hand auf den Lippen. Die Straße war weiter dunkel und menschenleer, doch ich hatte meinen Freund noch nie so aufgeregt erlebt.

Plötzlich bemerkte ich, was er mit seinen schärferen Sinnen längst wahrgenommen hatte. Ich hörte leise Schritte, aber nicht in der Baker Street, sondern im rückwärtigen Teil des Hauses, in dem wir uns verbargen. Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen. Kurz darauf vernahm ich die Schritte im Flur – gedämpft, im leeren Haus aber deutlich vernehmbar. Ich wich wie Holmes geduckt gegen die Wand zurück und griff nach dem Revolver. Als ich ins Zwielicht spähte, entdeckte ich einen Mann, dessen schemenhafter Umriss ein klein wenig schwärzer war als die Schwärze der offenen Tür. Nach kurzem Innehalten schlich er herein. Seine unheimliche Gestalt war keinen Meter von uns entfernt, und ich machte mich schon darauf gefasst, einen Angriff abwehren zu müssen, begriff aber, dass er sich allein wähnte. Er pirschte sich dicht an uns vorbei und schob das Fenster behutsam fünfzehn Zentimeter auf. Als er sich vor die Öffnung kniete, fiel das Licht der Straße, das nicht mehr durch die schmutzige Scheibe getrübt wurde, direkt in sein Gesicht. Der Mann schien vor Erregung zu beben. Seine Augen glitzerten wie Sterne, die Gesichtsmuskeln arbeiteten krampfartig. Er war schon etwas älter, hatte eine schmale, lange Nase, eine hohe, kahle Stirn und einen buschigen, ergrauenden Schnurrbart. Er hatte den Zylinder in den Nacken geschoben, unter dem offenen Mantel schimmerte eine weiße Hemdbrust. Sein Gesicht war dunkel, hager und von furchteinflößenden, tiefen Furchen durchzogen. Er schien einen Stock zu halten, doch als er ihn absetzte, polterte es metallisch. Dann holte er ein klobiges Objekt aus der Manteltasche und hantierte damit, bis es so laut und scharf klickte, als wären Feder oder Bolzen eingerastet. Weiter auf dem Fußboden kniend, setzte er sein ganzes Körpergewicht ein, um einen Hebel zu spannen, dies mit einem schleifenden Drehgeräusch, das mit einem weiteren lauten Klicken endete. Als er sich erhob, konnte ich erkennen, dass er ein Gewehr mit unförmigem Kolben hielt. Er öffnete den Verschluss, schob etwas hinein, ließ ihn zuschnappen und kniete sich wieder vor das Fenster. Er legte den Lauf auf die Fensterbank, und während er probehalber zielte, lag der lange Schnurrbart auf dem Lauf, und ich sah sein Auge glitzern. Als er den Kolben vor der Schulter zurechtrückte, seufzte er leise und zufrieden, und ich warf einen Blick auf sein Zielobjekt, die schwarze Silhouette auf gelbem Grund, die er über Kimme und Korn anvisierte. Eine Sekunde war er reglos und wie erstarrt. Dann drückte er ab. Zuerst ertönte ein ebenso unerwartetes wie lautes Zischen, danach das silberhelle Klirren in Scherben gehenden Glases. In diesem Moment fiel Holmes wie ein Tiger über den Schützen her und warf ihn auf den Bauch, aber der Mann sprang sofort wieder auf und packte Holmes mit krampfartiger Kraft bei der Kehle. Daraufhin zog ich ihm den Revolver über den Schädel, stürzte mich auf ihn, als er zu Boden fiel, und hielt ihn fest, während Holmes in eine Trillerpfeife blies. Auf dem Bürgersteig wurden eilige Schritte laut, und Sekunden später stürmten zwei Polizisten in Uniform und ein Detective in Zivil durch den Vordereingang ins Zimmer.

»Sind Sie das, Lestrade?«, fragte Holmes.

»Ja, Mr Holmes. Ich habe mich der Sache selbst angenommen. Gut, dass Sie wieder in London sind, Sir.«

»Ich denke, Sie können etwas inoffizielle Hilfe gebrauchen. Drei unaufgeklärte Morde innerhalb eines Jahres sind drei zu viel, Lestrade. Im Molesey-Fall haben Sie allerdings … Will sagen, Sie haben ihn recht gut gehandhabt.«

Wir waren alle aufgestanden. Unser Gefangener stand schweratmend da, flankiert von zwei kräftigen Constables. Auf der Straße hatten sich schon Gaffer versammelt. Holmes schloss das Fenster und ließ das Rollo herunter. Lestrade hatte zwei Kerzen aufgetrieben, die Constables hatten ihre Blendlaternen geöffnet. So konnte ich unseren Gefangenen endlich genauer betrachten.

Das uns zugewandte Gesicht war sowohl sehr markant als auch überaus bösartig. Philosophenstirn und sinnlicher Kiefer legten nahe, dass der Mann anfangs ein großes Potential zum Guten wie auch zum Bösen besessen haben musste. Aber man konnte die grausamen, blauen Augen, die schweren, zynischen Lider, die angriffslustige Nase oder die bedrohliche, zerfurchte Stirn nicht betrachten, ohne die überdeutlichen Warnsignale der Natur zu bemerken. Er schenkte uns keine Aufmerksamkeit, sondern starrte Holmes mit einer Miene an, in der zu gleichen Teilen Hass und Verblüffung geschrieben standen. »Sie Satan!«, murmelte er in einem fort. »Sie schlauer, schlauer Satan!«

»Ah, Colonel«, sagte Holmes, der seinen zerknickten Kragen richtete. »›Liebe find’t zuletzt ihr Stündlein‹, wie es bei Shakespeare heißt. Seit den Aufmerksamkeiten, mit denen Sie mich bedacht haben, als ich über dem Reichenbachfall auf dem Felsvorsprung lag, hatten wir nicht mehr das Vergnügen, denke ich.«

Der Colonel starrte meinen Freund immer noch an wie in Trance. »Sie schlauer, schlauer Satan!«, war das Einzige, was er hervorbringen konnte.

»Ich habe Sie noch gar nicht vorgestellt«, sagte Holmes. »Dies, Gentlemen, ist Colonel Sebastian Moran, früher Soldat in der Indischen Armee Ihrer Majestät, und der beste Großwildjäger, den unser Reich im Osten jemals hervorgebracht hat. Stimmt es nicht, Colonel, dass die Zahl der Tiger, die Sie erlegt haben, bis heute unübertroffen ist?«

Der alte Mann starrte meinen Begleiter weiter stumm an. Mit seinem grimmigen Blick und dem buschigen Schnurrbart wirkte er selbst wie ein Tiger.

»Erstaunlich, dass ein alter Shikari wie Sie auf eine so simple List hereinfällt«, sagte Holmes. »Sie müssten sie eigentlich kennen. Haben Sie niemals ein kleines Kind an einen Baum gebunden und dann mit der Flinte oben im Geäst darauf gelauert, dass der Köder Ihren Tiger anlockt? Dieses verlassene Haus ist mein Baum, und Sie sind mein Tiger. Wären es mehrere Tiger gewesen, dann hätten Sie bestimmt zusätzliche Flinten zur Hand gehabt, ebenso für den unwahrscheinlichen Fall eines Fehlschusses. Dies …« – er zeigte in die Runde – »… sind meine zusätzlichen Flinten. Ein absolut schlüssiger Vergleich.«

Colonel Moran wollte ihn wutschnaubend anspringen, doch die Constables zerrten ihn zurück. Seine zähnefletschende Miene bot einen schrecklichen Anblick.

»Ich muss gestehen, dass Sie mich in einer Hinsicht etwas überrascht haben«, sagte Holmes. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie dieses verlassene Haus und das praktische Fenster nutzen würden. Ich hatte geglaubt, Sie würden die Sache von der Straße aus erledigen, wo Sie von Lestrade und dessen munteren Männer erwartet wurden. Aber davon abgesehen lief alles wie erwartet.«

Colonel Moran wandte sich an den Detective.

»Sie mögen gute Gründe für meine Verhaftung haben«, sagte er, »aber ich verwahre mich dagegen, von dieser Person verhöhnt zu werden. Wenn ich mich schon in den Händen des Gesetzes befinde, sollte alles juristisch korrekt ablaufen.«

»Tja, klingt vernünftig«, sagte Lestrade. »Wollen Sie noch etwas loswerden, bevor wir aufbrechen, Mr Holmes?«

Holmes hatte das schwere Luftgewehr aufgehoben und untersuchte dessen Funktionsweise.

»Eine bewundernswerte und absolut einmalige Waffe«, sagte er, »lautlos und von gewaltiger Durchschlagskraft. Ich kannte von Herder, den blinden deutschen Büchsenmacher, der sie auf Bestellung des verstorbenen Professors Moriarty konstruiert hat. Ich weiß seit Jahren von ihrer Existenz, hatte sie aber noch nie in der Hand. Ich empfehle sie Ihrer besonderen Aufmerksamkeit, Lestrade, wie auch die dazugehörigen Geschosse.«

»Sie können sich darauf verlassen, dass wir alles untersuchen, Mr Holmes«, sagte Lestrade, während der ganze Trupp zur Tür marschierte. »Noch etwas?«

»Ich würde gern wissen, welche Anklage Sie erheben wollen.«

»Welche Anklage, Sir? Natürlich die des versuchten Mordes an Mr Sherlock Holmes.«

»O nein, Lestrade. Ich möchte nicht in die Sache verwickelt werden. Das Verdienst dieser bemerkenswerten Verhaftung gebührt Ihnen ganz allein. Ja, Lestrade, ich beglückwünsche Sie! Sie haben ihn durch Ihre wohlbekannte Mischung aus Klugheit und Kühnheit geschnappt.«

»Ihn geschnappt! Wen geschnappt, Mr Holmes?«

»Den Mann, nach dem die ganze Polizei vergeblich gefahndet hat – Colonel Sebastian Moran, der den Honourable Ronald Adair am Dreißigsten des letzten Monats durch das offene Fenster im ersten Stock von 427 Park Lane mit diesem Luftgewehr und einem Deformationsgeschoss getötet hat. So muss die Anklage lauten, Lestrade. Tja, Watson, vielleicht wäre es für Sie ein lohnendes Vergnügen, eine halbe Stunde mit einer Zigarre in meinem Wohnzimmer zu verbringen, vorausgesetzt, es stört Sie nicht, dass es durch das zerschossene Fenster zieht.«

 

Mycroft Holmes’ Aufsicht und der sofortige Einsatz von Mrs Hudson hatten dafür gesorgt, dass unsere alten Zimmer unverändert waren. Beim Eintreten fiel mir zwar eine ungewohnte Sauberkeit auf, aber alle vertrauten Landmarken waren am Platz: die Ecke mit den Chemikalien und dem durch Säure verätzten Bohlentisch; das Regal mit dem Spalier der mächtigen Einklebebücher und Nachschlagewerke, die viele unserer Mitbürger am liebsten verbrannt hätten. Die Diagramme, der Geigenkasten und der Pfeifenständer – sogar die persischen Hausschuhe mit dem Tabak –, all das fiel mir ins Auge, als ich mich umschaute. Außerdem erblickte ich zwei Gestalten: erstens Mrs Hudson, die bei unserem Eintreten bis über beide Backen strahlte, und zweitens die Attrappe, die bei unserem nächtlichen Abenteuer eine zentrale Rolle gespielt hatte – eine wachsfarbene Büste meines Freundes, so kunstvoll ausgeführt, dass sie sein perfektes Ebenbild war. Sie stand auf einem einbeinigen, runden Tischchen und war so geschickt mit einem seiner alten Morgenröcke drapiert, dass die Illusion von der Straße aus perfekt war.

»Ich hoffe, Sie haben alle Vorsichtsmaßnahmen eingehalten, Mrs Hudson?«, fragte Holmes.

»Ich bin auf allen vieren gekrabbelt, Sir, genau wie Sie gesagt haben.«

»Ausgezeichnet. Sie haben Ihre Sache hervorragend gemacht. Haben Sie gesehen, wo das Geschoss eingeschlagen ist?«

»Ja, Sir. Ich fürchte, Ihre wunderschöne Büste ist kaputt, denn das Geschoss hat den Kopf durchschlagen und wurde beim Aufprall gegen die Wand plattgedrückt. Ich habe es vom Teppich aufgelesen. Hier ist es!«

Holmes hielt es mir hin. »Eine weiche Revolverkugel, wie Sie sehen, Watson. Durchaus genial, denn wer würde schon darauf kommen, dass ein solches Geschoss mit einem Luftgewehr abgefeuert wird? Wunderbar, Mrs Hudson. Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Unterstützung. Und nun, Watson, würde ich Sie gern in Ihrem alten Sessel sitzen sehen, denn es gibt noch einiges zu besprechen.«

Holmes hatte den schmuddeligen, zweireihigen Mantel gegen den mausgrauen Morgenrock eingetauscht, den er der Attrappe abgenommen hatte, und war wieder ganz der Alte.

»Die Nerven des alten Shikari sind immer noch wie Stahlseile und seine Augen so scharf wie eh und je«, sagte er lachend, während er die zerschossene Stirn der Büste betrachtete. »Direkt in den Hinterkopf und glatt durchs Gehirn. Er war der beste Schütze Indiens, und in London gibt es kaum jemanden, der ihn übertrifft. Kannten Sie seinen Namen?«

»Nein.«

»Ja, ja, so flüchtig ist der Ruhm! Aber wenn ich mich nicht irre, kannten Sie den Namen von Professor James Moriarty, einem der klügsten Köpfe dieses Jahrhunderts, auch nicht. Würden Sie mir bitte meine Biographie-Kartei aus dem Regal reichen?«

Er blätterte träge darin, während er, mit der Zigarre im Sessel zurückgelehnt, große Rauchringe blies.

»Gar nicht übel, meine Sammlung von M’s«, sagte er. »Moriarty allein wäre natürlich eine Zierde für jeden Buchstaben, aber hier haben wir auch Morgan, den Giftmörder, Merridew, an den ich mich mit Grauen erinnere, Mathews, der mir im Wartesaal der Charing Cross Station den rechten Eckzahn ausschlug, und zu guter Letzt Moran.«

Er reichte mir das Buch, und ich las:

Moran, Sebastian, Colonel. Arbeitslos. Früher 1st Bangalore Pionieers. Geboren 1840 in London. Sohn von Sir Augustus Moran, C.B., einst britischer Minister für Persien. Besuchte Eton und Oxford. Diente im Jowaki-Feldzug, im Afghanistan-Feldzug, in Sharasiab (Kriegsberichte), Sherpur und Kabul. Autor von Großwild des westlichen Himalaya (1881); Drei Monate im Dschungel (1884). Adresse: Conduit Street. Clubs: Anglo-Indian, Tankerville, Bagatelle Card Club.

Am Rand stand in Holmes’ gestochener Handschrift:

Zweitgefährlichster Mann Londons.

»Erstaunlich«, sagte ich, indem ich das Buch zurückreichte. »Seine Laufbahn ist die eines ehrenwerten Soldaten.«

»Stimmt«, erwiderte Holmes. »Bis zu einem gewissen Punkt lief alles glatt. Er hatte immer gute Nerven, und in Indien erzählt man sich bis heute, wie er einem angeschossenen, menschenfressenden Tiger in einem Entwässerungsgraben hinterherkroch. Manche Bäume wachsen bis zu einer gewissen Höhe und entwickeln dann unangenehme Eigenarten. Für viele Menschen gilt das Gleiche. Eine meiner Theorien lautet, dass die Entwicklung eines Individuums der Abfolge all seiner Vorfahren entspricht und dass sich ein plötzlicher Schwenk des Charakters zum Guten oder Bösen einem Einfluss verdankt, der irgendwann Eingang in die Ahnenreihe fand. Der betreffende Mensch wird somit zum Epitom der Geschichte seiner ganzen Familie.«

»Finde ich etwas gewagt.«

»Tja, ich beharre nicht darauf. Colonel Moran irrte jedenfalls vom Weg ab, aus welchem Grund auch immer. Obwohl es zu keinem offenen Skandal kam, wurde ihm der Boden in Indien schließlich zu heiß. Er quittierte den Dienst, kam nach London und geriet erneut in Verruf. Zu jener Zeit diente er Professor Moriarty, der große Stücke auf ihn hielt, als Personalchef. Moriarty bezahlte ihn üppig, setzte ihn aber nur bei ein oder zwei heiklen Jobs ein, die kein Durchschnittskrimineller hätte erledigen können. Vielleicht erinnern Sie sich an Mrs Stewart, die 1887 in Lauder starb? Nein? Nun, ich bin überzeugt, dass Moran dahintersteckte, aber damals fehlten mir die Beweise. Der Colonel arbeitete so verdeckt, dass wir ihm sogar nach der Zerschlagung von Moriartys Bande nichts nachweisen konnten. Wissen Sie noch, wie ich damals, als ich Sie zu Hause besuchte, aus Angst vor Luftgewehren die Fensterläden schloss? Sie haben mich sicher für überspannt gehalten, doch ich hatte gute Gründe, denn ich wusste erstens von der Existenz dieser bemerkenswerten Waffe und zweitens, dass sie von einem der weltweit besten Schützen geführt wurde. Während unseres Aufenthalts in der Schweiz hat er uns gemeinsam mit Moriarty verfolgt und mir dann am Reichenbachfall sehr ungemütliche fünf Minuten beschert.

Wie Sie sich denken können, habe ich die Zeitungen während meines Aufenthalts in Frankreich aufmerksam studiert und auf eine Möglichkeit gewartet, ihn zur Strecke zu bringen, weil ich wusste, dass er mir das Leben in London zur Hölle machen würde. Was also tun? Ich konnte ihn schlecht in einer direkten Konfrontation erschießen, ohne selbst auf der Anklagebank zu landen. An einen Richter konnte ich mich auch nicht wenden, denn niemand hätte auf Grundlage dessen gehandelt, was man als wahnhaften Verdacht eingestuft hätte. Also waren mir die Hände gebunden. Ich verfolgte jedoch die Nachrichten über Straftaten, denn ich wusste, dass ich ihn früher oder später kriegen würde. Dann wurde Ronald Adair erschossen, und das war meine Chance. Angesichts all der Tatsachen, die mir bekannt waren, stand eindeutig fest, dass Colonel Moran der Täter war. Er hatte mit dem jungen Mann Karten gespielt, er war ihm vom Club nach Hause gefolgt, er hatte ihn durch das offene Fenster erschossen. Da biss keine Maus den Faden ab. Die Geschosse allein würden ihn an den Galgen bringen. Ich ging sofort hin und wurde von Morans Späher entdeckt. Mir war klar, dass er mein Erscheinen umgehend dem Colonel melden würde. Dieser wäre schwer beunruhigt, weil er mein Auftauchen automatisch mit dem Mord in Verbindung bringen und ganz sicher versuchen würde, mich schnellstens aus dem Weg zu räumen, und zwar mit seiner mörderischen Waffe. Ich sorgte für ein leichtes Ziel im Fenster, und nachdem ich der Polizei mitgeteilt hatte, dass sie vielleicht eingreifen müsse – Sie haben die Beamten übrigens mit unfehlbarem Instinkt in einem Hauseingang entdeckt, Watson –, suchte ich einen Ort, an dem ich alles ungestört beobachten konnte, nicht ahnend, dass Moran ausgerechnet diesen für seinen Anschlag auswählen würde. Weiterer Erklärungsbedarf, Watson?«

»Ja«, sagte ich. »Worin bestand Colonel Morans Motiv für die Ermordung des Honourable Ronald Adair?«

»Ah! Da betreten wir den schwankenden Boden, auf dem der scharfsinnigste Denker ins Stolpern kommt, mein lieber Watson. Die Faktenlage erlaubt viele Hypothesen, und sollten Sie eine habe, dann wäre sie wahrscheinlich ebenso plausibel wie meine.«

»Sie haben also eine?«

»Die Faktenlage ist relativ klar. Wir wissen, dass Colonel Moran gemeinsam mit Ronald Adair viel Geld gewonnen hatte. Moran ist aber, wie ich seit langem weiß, ein Falschspieler. Vermutlich hat Adair am Tag seiner Ermordung entdeckt, dass Moran betrog. Daraufhin hat er ihn unter vier Augen zur Rede gestellt und gedroht, ihn auffliegen zu lassen, wenn er nicht freiwillig aus dem Club austreten und schwören würde, nie wieder zu spielen. Höchst unwahrscheinlich, dass ein Grünschnabel wie Adair einen so viel älteren Mann ohne weiteres verpfiffen hätte, zumal es einen Riesenskandal gegeben hätte. Stattdessen hat es sich wohl abgespielt wie beschrieben. Ein Ausschluss aus den Clubs wäre für Moran, der von seinen ergaunerten Gewinnen lebte, der Ruin gewesen. Also tötete er Adair, der nicht vom Falschspiel seines Partners profitieren wollte und gerade die Summen berechnete, die er zurückerstatten musste. Er schloss die Tür ab, weil er von den Damen des Hauses sicher zur Rede gestellt worden wäre, wenn sie ihn mit dem Geld und den Namen ertappt hätten. Leuchtet das ein?«

»Sie dürften den Nagel auf den Kopf getroffen haben.«

»Meine Theorie kann vor Gericht bestätigt, aber auch widerlegt werden. Colonel Moran wird uns jedenfalls nicht mehr belästigen. Das berühmte Luftgewehr Herrn von Herders wird das Museum von Scotland Yard schmücken, und Mr Sherlock Holmes kann sich wieder unbeschwert der Aufklärung jener interessanten, kleinen Probleme widmen, die das komplexe Londoner Leben in Hülle und Fülle zu bieten hat.«

Das Abenteuer mit dem Bauunternehmer aus Norwood

»Aus der Sicht des Kriminalexperten«, erklärte Mr Sherlock Holmes, »ist London seit dem beklagenswerten Tod Professor Moriartys ein unfassbar langweiliges Pflaster.«

»Da würden Ihnen sicher nur wenige brave Bürger zustimmen«, erwiderte ich.

»Tja, ich sollte wohl nicht so egoistisch sein«, sagte er lächelnd, als er den Stuhl vom Frühstückstisch zurückschob. »Die Stadt ist eindeutig der Gewinner, und außer dem armen Spezialisten, der nichts mehr zu tun hat, gibt es keinen Verlierer. Als der Professor noch sein Unwesen trieb, war die Morgenzeitung eine wahre Fundgrube. Ich entdeckte oft nur den Hauch einer Spur, Watson, den schwächsten Hinweis, der trotzdem von dem Wirken des kriminellen Superhirns zeugte, so wie uns das leise Zittern am Rand eines Netzes in Erinnerung ruft, dass die Spinne im Zentrum lauert. Kleine Diebstähle, willkürliche Übergriffe, Vandalismus – der Mann, der alle Fäden in der Hand hielt, konnte dies zu einem sinnvollen Ganzen verweben. Für Menschen, die sich mit der Welt des raffinierten Verbrechens beschäftigten, war keine europäische Hauptstadt ergiebiger als London. Aber heute …« Er tat die Situation, für die er durch seine Tätigkeit maßgeblich mitverantwortlich war, humorvoll durch ein Schulterzucken ab.

Zu diesem Zeitpunkt war Holmes seit einigen Monaten wieder vor Ort. Ich hatte meine Praxis auf seine Bitte hin verkauft und war in die alten Räumlichkeiten in der Baker Street zurückgekehrt. Meine kleine Praxis in Kensington war von einem jungen Arzt namens Verner erworben worden, der mit erstaunlich wenig Murren die höchste Summe gezahlt hatte, die ich zu fordern wagte – was ich erst einige Jahre später begriff, als ich erfuhr, dass Verner ein entfernter Verwandter von Holmes war und dass dieser das Geld aufgetrieben hatte.

Während der letzten Monate war unsere Zusammenarbeit keineswegs so ereignislos gewesen wie von ihm behauptet, denn beim Überfliegen meiner Notizen stoße ich auf den Fall der Papiere des Expräsidenten Murillo und den des niederländischen Dampfers Friesland, in dessen Verlauf wir nur knapp mit dem Leben davonkamen. Aufgrund seines kühlen und stolzen Wesens sträubte sich Holmes gegen jede Form des öffentlichen Beifalls und verpflichtete mich auf das strengste, kein weiteres Wort über seine Person, seine Methoden oder Erfolge zu verlieren – ein Verbot, das, wie gesagt, erst kürzlich aufgehoben wurde.

Mr Sherlock Holmes hatte sich nach seiner eigenwilligen Klage im Sessel zurückgelehnt und wollte gerade in aller Ruhe die Morgenzeitung aufschlagen, als wir durch ein ohrenbetäubend lautes Klingeln abgelenkt wurden, gefolgt von einem hohlen Pochen, als würde jemand mit der Faust gegen die Haustür hämmern. Nachdem diese geöffnet worden war, vernahmen wir stürmische Schritte im Flur, danach ein hastiges Poltern auf der Treppe, und Sekunden später stürzte ein panischer junger Mann ins Zimmer, blass und zerzaust, japsend und mit flackernden Augen. Er schaute uns nacheinander an, bis ihm angesichts unserer fragenden Blicke dämmerte, dass sein Hereinplatzen nach einer Entschuldigung verlangte.

»Verzeihen Sie, Mr Holmes«, rief er. »Nehmen Sie es mir nicht übel. Ich werde bald wahnsinnig. Ich bin der unglückliche John Hector McFarlane, Mr Holmes.«

Er sagte dies, als wäre allein sein Name eine Erklärung für sein überstürztes Erscheinen, doch die unbewegte Miene meines Mitbewohners verriet mir, dass er den Mann genauso wenig kannte wie ich.

»Nehmen Sie eine Zigarette, Mr McFarlane«, sagte er, indem er ihm das Etui hinschob. »Mein Freund, Dr. Watson, würde Ihnen angesichts Ihres Zustandes bestimmt ein Beruhigungsmittel verschreiben. Während der letzten Tage war es viel zu warm. Wäre schön, wenn Sie sich setzen und Ihr Anliegen in aller Ruhe schildern, sobald Sie sich beruhigt haben. Sie haben so getan, als müsste ich Ihren Namen kennen, aber von den offensichtlichen Tatsachen abgesehen – Sie sind Junggeselle, Anwalt, Freimaurer und Asthmatiker –, sind Sie für mich ein unbeschriebenes Blatt, glauben Sie mir.«

Da mir die Methoden meines Freundes bekannt waren, konnte ich seine Schlussfolgerungen problemlos nachvollziehen und bemerkte die unordentliche Kleidung, den Packen juristischer Papiere, das Amulett an der Uhr, das gegen das Asthma helfen sollte. Doch unser Klient starrte uns verblüfft an.

»Ja, trifft alles zu, Mr Holmes, und außerdem bin ich gerade der unglücklichste Mensch in ganz London. Bitte lassen Sie mich nicht im Stich, Mr Holmes, um Gottes willen! Sollte ich verhaftet werden, bevor ich alles berichtet habe, dann sorgen Sie bitte dafür, dass man mir etwas Zeit gibt, damit ich die ganze Wahrheit darlegen kann. Wenn ich wüsste, dass Sie für mich tätig sind, würde ich leichteren Herzens ins Gefängnis gehen.«

»Verhaften!«, rief Holmes. »Das ist ja wunder … will sagen hochinteressant. Und warum will man Sie verhaften?«

»Wegen des Mordes an Mr Jonas Oldacre aus Lower Norwood.«

Das ausdrucksstarke Gesicht meines Mitbewohners zeigte ein Mitgefühl, in das sich zu meinem Leidwesen eine gewisse Zufriedenheit mischte.

»Na, so was«, sagte er. »Beim Frühstück habe ich mich gegenüber meinem Freund, Dr. Watson, noch darüber beklagt, dass die sensationellen Fälle aus den Zeitungen verschwunden seien.«

Unser Besucher griff mit zitternder Hand nach dem Daily Telegraph, der immer noch auf Holmes’ Knie lag.

»Hätten Sie die Zeitung aufgeschlagen, Sir, dann hätten Sie auf den ersten Blick gesehen, warum ich hier sitze. Ich habe das Gefühl, als wären mein Name und mein Unglück schon in aller Munde.« Er zeigte uns eine Seite aus dem Mittelteil. »Hier ist es, und mit Ihrer Erlaubnis lese ich es vor. Hören Sie gut zu, Mr Holmes. Die Schlagzeile lautet: ›Geheimnisvoller Fall in Lower Norwood. Bekannter Bauunternehmer vermisst. Verdacht auf Mord und Brandstiftung. Hinweis auf einen Verdächtigen.‹ Diesem Hinweis geht man jetzt nach, Mr Holmes, und ich weiß, dass er unweigerlich zu mir führen wird. Ich wurde seit dem Verlassen der London Bridge Station beschattet und bin überzeugt, dass man nur noch auf den Haftbefehl wartet. Das wird meiner Mutter das Herz brechen – das bricht ihr das Herz!« Dieser Gedanke schien so qualvoll zu sein, dass er seine Hände rang und sich auf dem Stuhl hin und her warf.

Ich betrachtete den Mann, den man eines Gewaltverbrechens verdächtigte. Er war ungefähr siebenundzwanzig, flachsblond und gutaussehend, wenn auch auf eine erschöpfte, ungute Art, hatte blaue, verängstigte Augen und einen Mund, der von Sensibilität und Schwäche zeugte. Kleidung und Haltung waren die eines Gentleman. Das Bündel der mit Vermerken übersäten Papiere, die seinen Beruf verrieten, ragte aus der Tasche seines Sommermantels.

»Wir müssen die Zeit nutzen, die uns bleibt«, sagte Holmes. »Lesen Sie mir den Zeitungsartikel bitte vor, Watson?«

Unter der reißerischen Titelzeile, die unser Klient zitiert hatte, stand der folgende, vielsagende Bericht:

»Gestern am späten Abend oder heute am frühen Morgen kam es in Lower Norwood zu einem Vorfall, der auf ein schweres Verbrechen hindeutet. Mr Jonas Oldacre ist ein wohlbekannter Einwohner des Stadtteils und hat dort jahrelang eine Baufirma betrieben. Der Zweiundfünfzigjährige ist Junggeselle und lebt am westlichen Ende der Sydenham Road in Deep Dene House. Er gilt als eigenbrötlerisch und verschlossen, und man sagt ihm exzentrische Angewohnheiten nach. Vor einigen Jahren zog er sich aus seiner Firma zurück, mit der er angeblich ein großes Vermögen verdient hatte. Hinter seinem Haus liegt jedoch ein ihm gehörender Holzhof, auf dem gegen Mitternacht ein Feuer ausbrach. Nach dem Feueralarm waren die Spritzenwagen rasch zur Stelle, aber der heftige Brand konnte erst gelöscht werden, nachdem der Stapel vollständig niedergebrannt war. Anfangs deutete alles auf ein herkömmliches Unglück hin, aber neue Indizien legen ein schweres Verbrechen nahe. Die Abwesenheit des Eigentümers während des Brandes sorgte für Erstaunen, und Nachforschungen ergaben, dass er sich auch nicht in seinem Wohnhaus aufhielt. Sein Bett war unberührt, im Schlafzimmer stand ein Safe offen, wichtige Dokumente waren auf dem Fußboden verstreut, und schließlich entdeckte man im Zimmer Spuren eines heftigen Kampfes, Blutspritzer und einen Spazierstock aus Eiche, dessen Griff ebenfalls Blutspuren aufwies. Wie man weiß, empfing Mr Jonas Oldacre in seinem Schlafzimmer zu später Stunde noch Besuch, und der Stock konnte als Eigentum des Besuchers identifiziert werden, eines jungen Londoner Anwaltes namens John Hector McFarlane, Juniorpartner von Graham & McFarlane, 426 Gresham Buildings, E.C. Laut der Polizei lassen die bislang gesicherten Beweise auf ein sehr überzeugendes Tatmotiv schließen, und man darf weitere sensationelle Entwicklungen erwarten.

NACHTRAG: Kurz vor Drucklegung kursieren Gerüchte, laut denen Mr John Hector McFarlane wegen des Mordes an Mr Jonas Oldacre verhaftet wurde. Als sicher gilt, dass man einen Haftbefehl erlassen hat. In Norwood wurden jetzt neue und verstörende Erkenntnisse über das Schicksal des unglücklichen Bauunternehmers bekannt. Wie Ermittlungen ergaben, wurde eine schwere Last durch die offene Flügeltür des Schlafzimmers im Erdgeschoss, wo man die Kampfspuren entdeckte, zu dem Holzstapel geschleift. Laut bestätigten Angaben fand man außerdem verkohlte Körperteile in der Asche. Die Polizei geht von einem extrem perfiden Verbrechen aus: Nachdem der Täter das Opfer im Schlafzimmer erschlagen hatte, durchwühlte er die Papiere und schleifte die Leiche anschließend zu dem Holzstapel, den er in Brand setzte, um alle Spuren des Verbrechens zu vernichten. Die Ermittlungen wurden in die Hände des erfahrenen Inspektor Lestrade, Scotland Yard, gelegt, der den Hinweisen so tatkräftig und scharfsinnig wie üblich nachgeht.«

Sherlock Holmes lauschte diesem Bericht mit geschlossenen Augen und aneinandergelegten Fingerkuppen.

»Der Fall hat ganz sicher interessante Aspekte«, sagte er auf seine träge Art. »Darf ich zunächst einmal fragen, warum Sie noch auf freiem Fuß sind, obwohl es genug Beweise zu geben scheint, die eine Verhaftung rechtfertigen, Mr McFarlane?«

»Ich wohne bei meinen Eltern in der Torrington Lodge, Blackheath, Mr Holmes, aber letzte Nacht nahm ich mir ein Zimmer in einem Hotel in Norwood, weil ich zu später Stunde noch einen Geschäftstermin bei Mr Jonas Oldacre hatte, und ging von dort aus zu ihm. Von den Vorfällen erfuhr ich erst, als ich auf der Rückfahrt im Zug den Artikel las, den Sie gerade gehört haben. Ich begriff sofort, was mir drohte, und bin in der Hoffnung zu Ihnen geeilt, dass Sie den Fall übernehmen. Man plant sicher, mich zu Hause oder in meinem Büro in der City zu verhaften. Ein Mann ist mir von der London Bridge Station aus gefolgt, und ich habe keinen Zweifel daran … Großer Gott! Was ist das?«

Die Türglocke schellte, danach dröhnten schwere Schritte auf der Treppe. Kurz darauf stand unser Freund Lestrade in der Tür. Hinter seinem Rücken konnte ich ein oder zwei Polizisten in Uniform erkennen.

»Mr John Hector McFarlane?«, fragte Lestrade.

Unser unglücklicher Klient erhob sich mit leichenblassem Gesicht.

»Ich verhafte Sie wegen vorsätzlichen Mordes an Mr Jonas Oldacre, Lower Norwood.«

McFarlane drehte sich mit einer Geste der Verzweiflung zu uns um und sank dann vollkommen niedergeschmettert auf seinen Stuhl.

»Moment, Lestrade«, sagte Holmes. »Der Gentleman wollte gerade von diesem hochinteressanten Fall berichten, und das könnte uns eventuell bei der Aufklärung helfen. Eine weitere halbe Stunde Verzögerung macht Ihnen doch sicher nichts aus.«

»Der Fall ist schon so gut wie aufgeklärt«, erwiderte Lestrade grimmig.

»Ich würde den Bericht trotzdem gern hören, wenn Sie erlauben.«

»Na, gut, Mr Holmes, ich kann Ihnen schwer etwas abschlagen, denn Sie haben der Polizei in der Vergangenheit das eine oder andere Mal gute Dienste geleistet, und Scotland Yard schuldet Ihnen einen Gefallen«, sagte Lestrade. »Ich habe allerdings die Pflicht, bei dem Verhafteten zu bleiben, und muss ihn darauf hinweisen, dass alles, was er sagt, gegen ihn verwendet werden kann.«

»Damit bin ich mehr als einverstanden«, sagte unser Klient. »Ich bitte nur darum, dass Sie zuhören und die Wahrheit zur Kenntnis nehmen.«

Lestrade sah auf seine Uhr. »Ich gebe Ihnen eine halbe Stunde«, sagte er.

»Sie müssen zunächst wissen«, sagte McFarlane, »dass ich Mr Jonas Oldacre nicht persönlich kannte. Sein Name war mir geläufig, weil meine Eltern vor vielen Jahren mit ihm bekannt waren, aber sie verloren einander aus den Augen. Deshalb war ich sehr überrascht, als er mich gestern gegen fünfzehn Uhr in meinem Büro in der City aufsuchte. Noch überraschter war ich, als er mich über den Zweck seines Besuches aufklärte. Er hielt mehrere vollgekritzelte Notizbuchseiten in der Hand, die er auf den Tisch legte – hier sind sie.

›Dies ist mein Testament‹, sagte er. ›Ich möchte, dass Sie es in eine juristisch einwandfreie Form bringen, Mr McFarlane. Ich warte währenddessen hier.‹

Also begann ich, das Testament zu kopieren. Sie können sich bestimmt denken, wie erstaunt ich war, als ich feststellte, dass er mich, von ein paar Ausnahmen abgesehen, zu seinem Universalerben einsetzte. Er war ein kleiner, wieselartiger Mann mit weißen Wimpern, und als ich aufsah, merkte ich, dass der amüsierte Blick seiner grauen Augen auf mir ruhte. Ich traute kaum meinen Sinnen, während ich die Klauseln des Testaments las, aber er erklärte mir, er sei Junggeselle und habe so gut wie keine lebenden Verwandten, sei außerdem in seiner Jugend mit meinen Eltern bekannt gewesen, habe nur Gutes über mich gehört und sei überzeugt, dass sein Vermögen bei mir in würdigen Händen sei. Ich war so verblüfft, dass ich nur ein Dankeschön stammeln konnte. Das Testament wurde wie gewünscht aufgesetzt, unterzeichnet und von meinem Kanzleigehilfen bezeugt. Sie finden es auf diesem blauen Blatt, und dies sind die erwähnten Zettel mit dem Entwurf. Mr Jonas Oldacre erklärte mir dann, es gebe einige Dokumente – Baupachtverträge, Eigentumsurkunden, Hypotheken, Interimsaktien und dergleichen mehr –, die ich unbedingt einsehen und verstehen müsse. Er werde keine Ruhe finden, bis alles unter Dach und Fach sei, sagte er und bat mich, noch am gleichen Abend mit dem Testament zu ihm nach Norwood zu kommen, um alles zu sichten. ›Und denken Sie daran, mein Junge: Kein Wort zu Ihren Eltern, bevor alles geregelt ist. Es soll eine Überraschung für sie sein.‹ Er bestand nachdrücklich auf dieser Bedingung, und ich musste ihm fest versprechen, sie einzuhalten.

Wie Sie sich vorstellen können, Mr Holmes, konnte ich ihm angesichts seiner Großzügigkeit keine Bitte abschlagen. Er war mein Wohltäter, und ich war bestrebt, seine Wünsche in jeder Hinsicht zu erfüllen. Also telegraphierte ich meinen Eltern, dass ich abends noch einen wichtigen Termin hätte und nicht wisse, wie lange es dauere. Mr Oldacre hatte mich für einundzwanzig Uhr zum Abendessen bestellt, denn früher, sagte er, sei er nicht zu Hause. Ich war aber erst gegen halb zehn dort, weil ich das Haus nicht gleich fand. Er war …«

»Moment!«, sagte Holmes. »Wer hat Ihnen die Tür geöffnet?«

»Eine Frau mittleren Alters, offenbar seine Haushälterin.«

»Ich nehme an, dass sie Ihren Namen gewusst hat?«

»Richtig«, sagte McFarlane.

»Bitte fahren Sie fort.«

McFarlane wischte sich über die verschwitzte Stirn und setzte seinen Bericht fort.

»Diese Frau führte mich in ein Wohnzimmer, wo auf dem Tisch ein bescheidenes Essen angerichtet war. Danach folgte ich Mr Jonas Oldacre ins Schlafzimmer. Er öffnete den dort stehenden schweren Safe und entnahm ihm eine Menge Dokumente, die wir gemeinsam durchgingen. Zwischen dreiundzwanzig Uhr und Mitternacht waren wir fertig. Weil er meinte, wir dürften die Haushälterin nicht stören, verließ ich das Haus durch die Flügeltür des Zimmers, die die ganze Zeit offen gewesen war.«

»War das Rollo unten?«, fragte Holmes.