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Die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich der Toten wird immer durchlässiger, und die Magierin Sorcha Faris ist eine der Wenigen, die noch verhindern können, dass es zur Katastrophe kommt. Verfolgt von den Schatten ihrer Vergangenheit, soll sie den Angriff gegen die finsteren Horden anführen, die die Menschheit zu überrennen drohen. Doch dazu muss sich Sorcha eine Macht zunutze machen, die ihren eigenen Untergang bedeuten könnte.
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Seitenzahl: 462
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Philippa Ballantine bei LYX
Impressum
PHILIPPA BALLANTINE
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Michaela Link
Nach der Zerstörung des Ordens brauchen die verbliebenen Diakone dringend einen neuen Anführer. Mehr denn je, nun da die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Anderwelt immer dünner wird. Während der Kaiser zusehends dem Wahnsinn verfällt und sein Reich im Stich lässt, um Rache an denen zu nehmen, die ihn betrogen haben, bereiten sich grausame Geisterhorden auf die Invasion vor. Die mächtige Diakonin Sorcha Faris scheint die Einzige zu sein, die dem Einhalt gebieten kann. Doch als Sorcha das Ausmaß ihrer magischen Fähigkeiten ergründet, kommt sie dem dunklen Geheimnis ihrer Herkunft auf die Spur. Ein Geheimnis, das das Vertrauen ihres treuen Partners Merrick Chambers auf eine harte Probe stellt. Einzig ihr Geliebter Raed, der an den Geisterherren Rossin gebunden ist, hält fest zu ihr. Allerdings verschweigt er Sorcha, wie viel Kontrolle der Rossin als Geschöpf der Anderwelt mittlerweile über ihn hat. Umzingelt von ihren Feinden, versucht Sorcha eine Magie zu meistern, die entweder die Welt der Lebenden vernichten wird – oder sie selbst …
Für Tee Morris, meinen Kapitän,
der mich überraschenderweise
an Seelengefährten glauben machte
Sielu – Seht durch die Augen eines anderen
Aiemm – Seht in die Vergangenheit
Masa – Seht in die Zukunft
Kebenar – Seht die wahre Natur einer Situation
Kolar – Schickt Eure Sicht auf die Reise
Mennyt – Seht in die Anderwelt
Ticat – Die letzte Rune der Sicht; für den letzten Moment
Aydien – Die Rune der Abstoßung
Yevah – Der Feuerschild
Tryrei – Öffnet ein Guckloch in die Anderwelt
Chityre – Blitzbringer
Pyet – Die reinigende Flamme
Shayst – Stehlt die Macht eines anderen
Seym – Die Rune des Fleisches
Voishem – Geht durch Wände
Deiyant – Bewegt Objekte mit Eurem Willen
Teisyat – Öffnet die Tür zur Anderwelt
Dampf stieg auf von den einst bewunderten Kanälen der Hauptstadt des Reichs Arkaym. Mehrmals musste der Geistherr, der Kojotengestalt trug, wieder umkehren, da er überall auf zerstörte Brücken und eingestürzte Häuser traf. Der Fensena beschnupperte die Leichen, die in den Gassen von Vermillion verwesten, aber anders als ein echter Kojote hielt er nicht inne, um sich an ihnen zu laben.
Dass ein fast mannshoher Kojote am helllichten Tage durch das Herz des Reichs streifte, wäre noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen. Doch er bewegte sich frei in der Stadt, und kein Diakon des Ordens, kein Soldat der Kaisergarde hielt ihn auf. Dem Kaiser von Arkaym war seine Hauptstadt gleichgültig. Er verfolgte vielmehr die Prinzen, die sich gegen ihn erhoben hatten, und es stellte sich heraus, dass diese Prinzen recht zahlreich waren.
Papiere raschelten im scharfen Wind und wirbelten an dem Kojoten vorbei. Er fing eines im Flug auf und drückte es blitzschnell mit der Pfote auf den Boden. Durch glänzende goldene Augen las der Geistherr – eine Fähigkeit, auf die er stolz war. Man hatte ein Kopfgeld ausgesetzt, und zwar auf Sorcha Faris. Sie wurde des Aufruhrs beschuldigt, des Hochverrats und des Mords. Noch verräterischer war der Titel, den sie ihr gaben. »Erzäbtissin des geächteten Ordens« stand unter ihrem schlecht gezeichneten Bild. Der Fensena mochte die Diakone nicht, aber er wusste, was ihn in der Anderwelt erwartete, und er verspürte nicht den geringsten Wunsch, die menschliche Welt brennen zu sehen.
Während diese finsteren Gedanken ihn mit Grauen erfüllten, trottete er durch die Stadt und erreichte schließlich die Vergoldete Brücke. Der Kanal darunter war mit allen möglichen toten und verwesenden Dingen verstopft, die seine Nase zucken ließen. Jemand hatte Opfergaben für einen der kleinen Götter am Geländer befestigt: Früchte, tote Vögel und etwas Blutiges, das nicht zu identifizieren war.
Doch die Brücke war unversehrt, und so lief er zur Kaiserlichen Insel hinüber. Die Ohren des Kojoten schnellten vor, als er vor sich zwischen den Läden, die die Brücke säumten, eilige Schritte vernahm. Obwohl die meisten Händler ihre Geschäfte längst aufgegeben hatten, da sie sich irrtümlicherweise anderswo sicherer wähnten, hielten einige wenige Unentwegte durch und kauerten in ihren kleinen Läden. Der Kojote konnte sie riechen, und er hörte sie flüstern.
Eine junge Frau kam über die Brücke auf ihn zugerannt und hielt etwas an der Brust. Der Fensena mit seinen scharfen Sinnen empfand ihren Angstgeruch als penetrant.
Es war ein Baby. Sie hielt ein Baby in den Armen. Im Licht des Sonnenuntergangs waren ihre Augen groß vor Panik. Schließlich sah sie den großen Kojoten mitten auf der Brücke und kam schlitternd zum Stehen.
Der Wind zerzauste das gestromte Fell des Kojoten, das für tiefere Winter und ein nördlicheres Klima geschaffen war. Er verspürte einen Stich des Mitgefühls für die Frau und ihr Kind. Der Rossin, der große Geistherr, der viele schreckliche Gestalten besaß, hätte sie im Nu zerfleischt. Der Fensena selbst hätte sie zumindest beißen und in ihren Körper springen können, um sich mit ihrer Energie noch für einige Tage in diesem Reich halten zu können.
Die Frau sah sich um, und nun spürte der Fensena das wirbelnde Nahen eines Artgenossen. Ein Geist auf der Suche nach einem Wirt stieß von der Insel herab. Dem Fensena kam er wie eine zerstörte Seele vor, die im Leben vielleicht sogar die Robe eines Diakons getragen hatte. Gewiss etwas, das von der Anderwelt verdorben und zu einer schrecklichen Form zerkaut worden war.
Der Fensena neigte den Kopf nachdenklich zur Seite und stellte eine Pfote vor die andere, um vor der Frau eine schwache Verbeugung zu machen.
»Lauft, solange Ihr noch könnt«, flüsterte er durch Kiefer, die dazu gemacht waren, Knochen zu zerbrechen und Fleisch zu zerreißen.
Dass Tiere das Maul öffneten und in der Sprache der Menschen redeten, war anfangs gar nicht so seltsam gewesen, vor vielen Generationen, als die Geister in die Welt kamen – aber Menschen hatten ein so überaus kurzes Gedächtnis und lasen nicht viel über ihre Geschichte.
Die Frau presste die Lippen aufeinander und nutzte ihre Chance. Sie schoss vorwärts und an ihm vorbei, so nah, dass ihre Röcke sein Fell streiften und der Duft ihrer Haut seine Nase erreichte. Der Kojote sah ihr nicht nach, doch sein Gehör folgte ihren Schritten.
Der Geist war ihr auf den Fersen, und es war wirklich so, wie der Kojote vermutet hatte. Die abgerissene und entweihte Gestalt eines Diakons vom Orden des Auges und der Faust schwebte die Brücke entlang. Früher hätte Wasser es dem Geist unmöglich gemacht, sie zu überqueren, aber die Anderwelt war diesem Reich jetzt sehr nah.
Der Geist nahm die Existenz des Fensena nicht zur Kenntnis. Er schwebte weiter und ließ sogar das Unkraut in den Pflasterritzen welken. Der Kojote wusste, was der Geist mit der Frau machen würde, wenn er sie einholte – und das würde er irgendwann.
Es war nicht seine Sorge, und er durfte deswegen seine Verabredung nicht versäumen. Der Kojote lief weiter, ließ die Brücke hinter sich und trabte den Hügel hinauf auf den Regierungssitz zu. Er war nicht gern in dieser Stadt. Doch wie bei seinem letzten Besuch war er für den Rossin unterwegs, den großen und mächtigen Geistherrn, an den er gebunden war – ob es ihm gefiel oder nicht.
Der Kojote hob den Kopf und schnupperte, als er sich der ausgebrannten Ruine der Mutterabtei näherte. Der Gestank von verwesendem Menschenfleisch war hier nicht zu verkennen. Nach dem Einsturz des Dachs hatte es niemanden gegeben, um die Leichen unter den Trümmern hervorzuziehen, und nun waren die Ruinen ein Friedhof. Dieser Ort hatte einst schöne Gärten, Dormitorien voller Diakone und eine große Bibliothek besessen.
Doch das, wonach er suchte, war nicht hier. Nichts war hier.
Mit zuckender Nase ging der Fensena weiter. Vor ihm lag der Kaiserpalast. Hier war jedoch ein wenig Vorsicht angebracht. Wie die Gestalt, die er trug, wusste der Fensena, dass er auf der Hut sein musste; er hatte einen Körper, er konnte getötet werden und seinen Zugriff auf dieses Reich vollends verlieren. Im Gegensatz zum Rossin war er nicht dauerhaft mit seinem Wirt verbunden. Also senkte er den Kopf und hielt sich im Schatten der Gebäude, die auf den Kaiserplatz hinausgingen. Seine Nase sagte ihm, dass sich darin anders als in der Mutterabtei lebendige Menschen befanden – Menschen, denen es wahrscheinlich nicht gefallen würde, wenn dort ein großer Kojote frei herumlief.
Er schnüffelte sich um den großen Platz vor dem Palast und schaute immer wieder kurz zu der hellen Steinmauer hinüber. Die anderen Geister hatten den Palast nicht in Ruhe gelassen, trotz der Zauber und Schutzzauber, die die Diakone im Laufe der Jahrhunderte angebracht hatten.
Der Kojote blieb stehen und stieß ein schwaches Jaulen aus, als ihm ein Gedanke kam; diese Diakone waren während eines großen Teils der Geschichte Arkayms der Sternenkreis gewesen. Der neuere Orden, dem Sorcha Faris gedient hatte, mochte zwar seine Zauber darüber angebracht haben, aber sollte das frühere Fundament fortgerissen worden sein, war alles umsonst gewesen. Genau das musste unmittelbar nach der Zerstörung der Mutterabtei geschehen sein.
Schließlich fand der Fensena im hinteren Teil des Palasts, wonach er suchte; ein Teil der Mauer und ihrer Schutzzauber waren dort gefallen. Der Haufen roter Steine war ein willkommener Anblick. Der Fensena musste hineingelangen, und zwar bald, da sein Herr nicht gerade das versöhnlichste Geschöpf war.
Er betrat den Lustgarten des Palasts und begriff, dass hier wohl kaum je wieder Lust zu finden sein dürfte. Es sah aus, als wäre ein kleiner Wirbelwind durch die ordentlichen Pflanzenreihen und kunstvoll geschnittenen Hecken gefahren. Alles war aus dem Boden gerissen und herumgeworfen worden, und er vermutete, dass Nebelhexen einmal mehr die alten Pfade genommen hatten, die der Bau des Palasts verlagert hatte. Obwohl die Insel kein Sumpf mehr war, würden die Hexen ihre alten Pfade benutzen, und da der Schleier zwischen dieser und der anderen Welt so dünn war, würden ihre Kräfte größer sein.
Der Fensena mochte die niederen Geister und ihre chaotische Natur nicht. Er bevorzugte Logik, da sie im Allgemeinen eine größere Überlebenschance bedeutete. Ein leises Grollen erklang in seiner Brust, und er zog instinktiv den gestromten Schwanz ein.
Die Nebelhexen waren noch da.
Jeder Chance beraubt, Reisende in die Irre zu führen, sie im Sumpf zu ertränken und sich ihr Wesen zu eigen zu machen, würden sie stattdessen mit Freuden einen Menschen in Stücke reißen. Oder sogar einen anderen Geist oder Geistherrn. Energie war schließlich Energie.
Der Fensena knurrte, aber eine Nebelhexe war ein vernunftloses Ding, nur dazu geschaffen, zu zerfleischen und sich zu nähren. Sie war kein Geistherr, der des logischen Denkens und Ränkeschmiedens mächtig war. Sie wurde von jedem Lebewesen in der Nähe angezogen. Bevor der Sternenkreis, der jüngst zurückgekehrte einheimische Orden, alles Notwendige getan hatte, um die Grenze zwischen der Anderwelt und hier niederzureißen, hatte die Nebelhexe nur Menschen in den Tod gelockt oder nach ihrem Verstand gegriffen. Doch jetzt war sie viel stärker.
Wie ein Diakon sah der Fensena ihre ganze Gestalt: die wirbelnden Muster, die bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Runen hatten und dieses Spinnennetz aus Hunger zusammenhielten. Als sie heulend auf ihn zukam und ihre eisigen Finger nach dem Fleisch des Fensena ausstreckte, fletschte er die Zähne und sprang.
Er mochte zwar einer der geringeren Geistherrn sein, aber einer einfachen Nebelhexe war er immer noch mehr als gewachsen. Seine Zähne trafen auf die Stränge des Geists, und seine Macht übertrug sich auf den Knoten aus runischen, sich wandelnden Gestalten. Mit ruckartiger Kopfbewegung zerriss der Fensena die Kreatur wie das verweste Fleisch eines Rentiers, das tagelang in der Sonne gelegen hatte.
Die Nebelhexe löste sich heulend auf und hinterließ nur einen bitteren Nachgeschmack im Mund des Kojoten. Leider gab es keine Möglichkeit, diesen Geschmack wieder loszuwerden. Auch deshalb vermied er nach aller Möglichkeit Scharmützel mit Geistern.
Der Fensena neigte den Kopf und lenkte seine Sinne auf das Gebäude hinter den Gärten. Es roch nach Tod, und in jedem Flur war frisches Blut. Während er einst, in seinen frühen Tagen in diesem Reich, darin geschwelgt hatte, störte ihn das jetzt.
Die lange rosafarbene Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul, und die tiefen Atemzüge, die er brauchte, um Luft zu holen, lenkten ihn ab. Er wusste auch, warum; diesem Körper blieb nicht mehr viel Zeit.
Das war der Grund, warum der Kojotengeistherr nicht mehr gern nach Vermillion kam: Zu viele Körper waren bereits von anderen Geistern besetzt. Seine Verbindung mit menschlichem Blut war bestenfalls dünn, und es war sehr schwer für ihn, einen Wirt zu nehmen, wenn bereits einer seiner Gefährten darin steckte. Ein weiterer Grund, den jüngsten Ereignissen zu grollen.
Mit einem langen hündischen Seufzen lief der Fensena einen einst gepflegten Kiesweg entlang. Vor ihm waren Menschen; er konnte sie riechen und auch mit seiner Geistsicht spüren, aber sie waren völlig verwirrt.
Der Kojote drückte eine Tür auf, die verriegelt und bewacht hätte sein sollen, und drang in die Gänge und Flure vor, wo einst die Geschäfte des Reichs geführt worden waren. Seine Krallen klickten auf dem Steinboden, und der Geruch von Urin und Verzweiflung füllte seine Nase.
Während der Fensena durch den Palast trottete, dachte er darüber nach, wie es dazu gekommen war. Der Rossin war in der Anderwelt eine grausame Macht gewesen und hatte viele von ihrer Art verschlungen. Doch seit er sich mit der Kaiserlichen Familie eingelassen hatte, war er viel zurückhaltender gewesen. Der Fensena hatte festgestellt, dass er seinen Schutz nicht gebraucht hatte. Tatsächlich konnte der Kojote in diesem Reich frei umherwandern, wie es ihm lieber war. Nur die Strömungsänderung, das leichte Dünnerwerden der Grenze zwischen dieser Welt und der Anderwelt hatte eine Veränderung angezeigt.
Das hatte Derodak bewirkt, dieser mächtige Narr, als er beschlossen hatte, dass die Zeit reif sei, seinen Plan in die Tat umzusetzen, die Geister für seine Zwecke zu nutzen und diese Welt endlich zu seiner eigenen zu machen. Das wiederum hatte eine Reihe von Ereignissen in Gang gesetzt, die das Ende des Reichs bedeuten konnten. Es würde die Zerstörung dieses Palasts wie einen Tropfen in einem Eimer Wasser erscheinen lassen.
Es erheiterte den Fensena, dass nun der Rossin es war, der dieses Reich retten wollte … na ja, der es retten und dabei eine Scheibe für sich abschneiden wollte; eine besonders löwenhafte Scheibe. Sein Maul teilte sich zu einem hündischen Lächeln. Noch bevor es vorbei war, würde er den tiefen Sturz des stolzen Rossin erleben – vorausgesetzt es gab eine Gelegenheit, den Wegemacher daran zu hindern, die Wirklichkeit aufzureißen.
Der Fensena schob diese düsteren Gedanken beiseite und tappte den Flur entlang in die Richtung, in die seine Nase ihn führte. Einige Male war er gezwungen, sich im Dunkeln zu verstecken und sich in beschädigte Räume zurückzuziehen, um Menschen aus dem Weg zu gehen, aber wenn man bedachte, dass es sich hier um das Zentrum des menschlichen Reichs handelte, war das lächerlich einfach.
Der Kojote fand das Treppenhaus im Herzen des Palasts. Es gehörte zur ursprünglichen Festung, die es lange vor den Lustgärten und goldenen Sälen gegeben hatte, die kaiserliche Eitelkeit darüber bauen ließ. Je tiefer der Fensena nach unten kam, umso kühler und stiller wurde es, aber es gefiel ihm immer weniger. Die verblassten und von tiefen Rissen durchzogenen Wandgemälde erzählten Geschichten von seiner Art und von den Menschen, die danach getrachtet hatten, sie zu kontrollieren.
Vieles war hier unter dem Palast vergraben, was die verschiedenen Kaiser von Arkaym versteckt haben wollten. Einiges war im Laufe der Zeit wieder zum Vorschein gekommen, vieles andere aber noch immer verborgen.
Der Fensena hielt vor einer eingeschlagenen Mauer inne. Seine Nase sagte ihm, dass hier einst ein Geistherr eingekerkert gewesen war. Er hatte kein gutes Namensgedächtnis, aber er erinnerte sich an ein schönes geflügeltes Geschöpf, sehr talentiert darin, sich als etwas auszugeben, das es nicht war.
Der Boden fiel jetzt noch steiler ab, und die glatten und geschmückten Höhlenwände gingen in unbehauenen Stein über. Die flackernden Wehrsteinlichter wurden nun auch immer weniger. Das spielte keine Rolle; er brauchte kaum Licht, um zu sehen. Seine tierische wie seine Geist-Sicht leiteten ihn.
Der Fensena blieb dort stehen, wo das Gebäude endete und die alten Höhlen begannen. Hier unten waren die Wurzeln des Palasts. Er legte die Ohren an, als er zu einem Bild über dem Eingang aufschaute. Dass er offen stand, war ein weiteres Zeichen für die schwindende Kontrolle des Kaisers. Dieses Tor war immer verriegelt gewesen, solange Vermillion einen Kaiser gehabt hatte, der hoch oben auf dem roten Thron saß. Jetzt, da Kaleva wahnsinnig geworden war, waren alle Schlösser aufgesprungen – wie der Rossin es dem Fensena prophezeit hatte.
Das Bild über dem Durchgang hätte jedoch genügt, um jeden neugierigen Abenteurer abzuschrecken, der sich so tief hinunter gewagt hätte. Die Murashew, der leuchtende tödliche Geistherr in Frauengestalt, tanzte um eine schreckliche Figur, die alles andere als menschlich aussah. Sie überragte den Eingang und hielt die Ränder mit ihren muskulösen Tentakeln gepackt. Der Wegemacher war in dem Moment dargestellt, in dem er die Welt zur Anderwelt hin aufriss. Es war ein verheerendes Ereignis, vor dem der erste Kaiser gewarnt hatte. Viele dachten, dies sei eine Darstellung des Bruchs, aber der Fensena wusste, dass der Schaden, den dieser mächtige Geist anrichten würde, groß genug wäre, um das frühere Ereignis wie einen Kratzer auf dem Reich wirken zu lassen.
Mit gesenktem Kopf und angelegten Ohren schlich der Kojote unter dem schrecklichen Bogen hindurch in den alten Bauch von Vermillion. Es war ein kleiner, runder Raum mit einem Sandboden ohne menschliche Spuren. Doch er roch alt und fühlte sich warm an. Der Kojote schlich vorwärts und setzte sich in die Mitte des Raums. Im menschlichen Reich gab es heilige Orte; einige wurden von den Göttern und ihren Anhängern verehrt, manche waren die Heimat alter Legenden, und wieder andere waren gezeichnet von den furchtbaren Dingen, die dort geschehen waren.
Dieser Ort war nur sehr wenigen bekannt, aber diese wenigen waren sehr mächtig. Genau da, wo der Fensena jetzt saß, war der Rossin in die menschliche Welt gekommen. Hier hatte der erste Kaiser – der auch der allererste Diakon gewesen war – den Pakt mit dem schrecklichen Geistherrn besiegelt und ihm einen Halt in diesem Reich gewährt.
Der Fensena schaute zur Decke empor. Er wunderte sich darüber, dass der Fels über ihm so glatt und glänzend war wie Glas. Eine große Hitze war einst in diesem Raum entstanden, und der Fels zeugte noch immer davon.
Auch der Sand unter dem Kojoten war etwas Besonderes und stammte definitiv nicht aus Arkaym, sondern aus seiner Heimat. Beim Gedanken an die Anderwelt fröstelte den großen Kojoten bis ins Mark. Dort war es entweder glühend heiß oder bitterkalt, und man fand keine Ruhe. Das war der Grund, warum alle Geister auf dieser Seite sein wollten, im menschlichen Reich, wo man eine Wahl hatte und es Hoffnung gab. Er hatte nicht den Wunsch, in die Anderwelt zurückzukehren, und wollte auch nicht erleben, wie die Geister des Hungers und der Rache ins menschliche Reich kamen. Sie würden es gedankenlos in Schutt und Asche legen, wie sie es mit der Anderwelt getan hatten. Sie labten sich an den menschlichen Seelen, die durch diesen Ort kamen, weil das alles war, was sie hatten. Der Fensena und der mächtige Rossin hatten andere Pläne.
Der Kojote roch die Ankunft des Menschen und hörte das Rasen seines Herzens, lange bevor er erschien. Seine goldenen Augen glänzten, als er sich umdrehte und über das gestromte Fell seiner Schulter die Ankunft des Kaisers von Arkaym verfolgte.
Auf seine Weise sah er gut aus, frische Haut und festes Kinn, aber der Geistherr blickte mühelos hinter die Fassade. Kaleva, der Prinz, den die Anführer Arkayms aus dem fernen Delmaire gerufen hatten, um ihn zu ihrem Kaiser zu krönen, war eine gebrochene Hülle von einem Mann. Alle Tatkraft war ihm entrissen, aber andererseits war er nie wirklich stark genug gewesen, um über ein so großes Reich zu herrschen. Der Kojote fuhr sich mit der Zunge über Lippen und Nase. Er glaubte fest, dass die ganze Kraft dieser Familie in ein weibliches Gefäß gelegt worden war. Die Prinzen von Arkaym hatten nicht gut gewählt.
Der Kaiser stolzierte auf hochherrschaftliche Weise durch die alte Höhle, doch in Wirklichkeit hatte ihn derselbe Geistherr gerufen, der auch den Fensena hatte kommen lassen.
Aber er verstand nichts – das war sofort klar. Er betrachtete das geschmolzene Mauerwerk, ohne zu blinzeln. Als der Rossin bei der Zerstörung der Mutterabtei das Leben dieses kläglichen Menschen verschont hatte, hatte der Kaiser der großen Raubkatze etwas aus diesem Palast versprochen … und er konnte nicht gehen, um seinen persönlichen Krieg fortzuführen, bis dieser Pakt erfüllt war.
Als Kaleva in seiner eleganten weißen Uniform vom Tunnel aus ins Innere der Höhle sah, zuckte er beim Anblick des großen, in der Mitte hockenden Kojoten merklich zusammen – schließlich hatte er mit Geistherrn in Tiergestalt keine guten Erfahrungen gemacht. Das Maul des Fensena öffnete sich zu einem Hundehecheln, das einem menschlichen Lächeln am nächsten kam.
»Für einen Menschenführer seid Ihr spät.« Er konnte sich die Stichelei nicht verkneifen und nutzte zudem gern die Gelegenheit, den Kaiser mit seinem Sprechvermögen zu erschrecken.
Der Kaiser trat einen Schritt zurück und warf einen Blick über die Schulter, als erwartete er, eine Art Puppenspieler würde aus der Dunkelheit springen. Der Mann war wirklich ein Narr, und Derodak hatte ihn an die Schwelle zum Wahnsinn geführt.
»Habt Ihr den Traum geschickt?« Endlich fand der Kaiser seine Stimme.
»Nein, ich war es nicht«, bellte der Kojote, stand auf und streckte sich. Er gab sich große Mühe, gleichgültig zu erscheinen. »Es war der, den wir beide Herr nennen.«
»Ich nenne ihn nicht …«
Der Fensena knurrte. Er zog es vor, den Gauner zu spielen, aber wenn es sein musste, konnte er so böse werden wie jeder Geistherr in diesem Reich oder in der Anderwelt. »Er ist der Rossin, der Spross der Kaiserlichen Familie. Von ihm kommt alle Kraft. Als er in Feuer und Staub vor Euch stand, habt Ihr vermutlich verstanden, dass …«
Der Kaiser schluckte vernehmlich und wurde blass wie Pergament. Der Fensena war sich ganz sicher, dass das Bild in seinem gebrochenen Geist aufblitzte. Der Rossin machte vieles gut, aber vor allem machte er Eindruck.
Der Kojote trat einen Schritt vor, senkte den Kopf und richtete seine goldenen Augen auf Kaleva. »Genug mit dem Getue. Ihr seid hier, um Euer Wort zu erfüllen und meinem Herrn zu geben, was er begehrt.«
Der Kaiser sah sich in dem öden und leeren Raum um. »Es gibt viele Dinge in meinem Palast, die ich ihm hätte geben können, aber hier ist nichts, was …«
Der Fensena fiel ihm mitten in der Dummheit wieder ins Wort. »Ihr seht wirklich gar nichts, nein? Als wäre Euch als Kind nie eine Geschichte vorgelesen worden.« Er blies einen Atemzug aus seiner langen Schnauze und schüttelte sich, als wäre Torheit Wasser und ließe sich irgendwie loswerden. Er konnte nicht glauben, dass dieser Mann nach Arkaym gekommen war, um darüber zu herrschen, und sich doch nie die Zeit genommen hatte, sich die alten Geschichten und Mythen anzuhören. Delmaire war ein schönes Land, aber es war nicht das Land, nicht das erste. Arkaym war sehr viel älter.
Doch er hatte weder Zeit noch Veranlassung, seinen Atem darauf zu verschwenden, jetzt davon zu erzählen. Wenn der Mensch so blind war, wie es den Anschein hatte, würde man es ihm zeigen müssen. Also drehte der Kojote auf dem Schwanz um und trat in die Mitte des Raums. Er spürte es in den Knochen summen, und ihm sträubte sich das Fell; es war der älteste Ort und auch ein Versteck.
Anders als der Rossin vermochte der Fensena zumindest hierher zu kommen, aber nicht einmal er konnte tun, was vom Kaiser verlangt wurde. Um ihm einen Hinweis zu geben, begann der Kojote zu graben. Seine stumpfen, aber wirksamen Klauen ließen den Sand fliegen, und obwohl ihm das Graben auf die Nerven ging, hielt er keinen Moment inne.
Schließlich wurde der Kaiser neugierig und kam näher, um zu schauen, was der Geistherr trieb. Der Fensena keuchte, und ihm dröhnte der Kopf, aber er hatte getan, was er konnte. Gemeinsam blickten Geistherr und Kaiser auf das, was er freigelegt hatte.
Es war eine Tür, genauer gesagt: eine Einstiegsluke. Der Palast von Vermillion verfügte über ein gerüttelt Maß solcher Verstecke, aber dieses war viel mehr. Kaleva ließ sich auf die Knie nieder und starrte auf die kreisrunde silberne Luke. »Was steht da?«, stieß er mit erstickter Stimme hervor.
Dass er es nicht lesen konnte, war keine Überraschung; es war in der Sprache der Ehtia geschrieben, die seit Langem aus dem menschlichen Gedächtnis getilgt waren. »Verflucht sei, wer das hochhebt«, war eine recht brauchbare Übersetzung, die der gebrochene Kaiser aber nicht zu kennen brauchte.
»Ich muss Eure Fragen nicht beantworten, Junge« erwiderte der Kojote, und ein Knurren verschärfte seine Stimme. »Ihr habt zu tun, was man Euch sagt.«
Der Kaiser zögerte kurz, das musste man ihm lassen. Er sah den Kojoten lange an, und dann sprang sein Blick dahin und dorthin, als führte er ein Selbstgespräch. Vielleicht tat er das auch.
Das Nackenfell des Fensena sträubte sich, und er fletschte die Zähne. »Tut, wie Euch geheißen – wie Ihr es dem Rossin versprochen habt, als er Euer Leben verschonte –, oder tragt die Konsequenzen!«
Dem Kaiser trat Schweiß auf die Stirn, aber er beugte sich vor und packte den Griff. Dies war der Moment, in dem alles schiefgehen konnte. Das Blut des Rossin floss nicht in diesem Kaiser, und die mächtigen Zauber, mit denen Derodak die Tür belegt hatte, konnten Kaleva zu Staub zermahlen. Doch er war der Kaiser und hatte auf dem Thron von Arkaym gesessen. Das sollte für den Zauber genügen … hoffentlich.
Kaleva keuchte und krümmte sich, als hätte man ihm einen Hieb in den Magen versetzt. Der Kojote wartete darauf, dass er Feuer fing, zu Asche zerstob oder dahinschmolz. Nichts davon geschah.
Schließlich richtete der Kaiser sich auf und riss am Türgriff. Ein knirschendes, altes Geräusch erfüllte den verlassenen Raum, und dann brach ein Schwall abgestandener Luft hinter der Luke hervor. Kojote wie Mensch wandten sich ab und husteten heftig. Die scharfen Sinne des Fensena sagten ihm, dass er fliehen sollte; hier unten gab es nicht nur schlechte Luft. Die Anderwelt war nah, und hier verlief eine alte Fuge. Für den Moment war sie fest verschlossen, aber sie machte den Geistherrn dennoch nervös.
Da er sich nicht rührte, war es der Kaiser, der sich in das Loch hinabbeugte. Er mochte fast so vernunftlos sein wie eine gesprungene Schüssel, aber er besaß reichlich von dem fatalen Problem der Menschen: Neugier. Der Fensena ließ ihn gewähren, da dort drin auch gut Fallen warten konnten.
Schon begann der Kaiser zu schreien, und die Vorsicht des Koyoten erwies sich als berechtigt. Lange Fangarme, grün und leuchtend rot, waren am Rand der Luke erschienen. Vielleicht war diese Fuge doch nicht so fest verschlossen, wie der Fensena gedacht hatte. Die dicken, kraftvoll pulsierenden Tentakel hatten sich Kaleva bereits um den Arm geschlungen und rissen an ihm, bis Blut im Rhythmus seines Herzschlags aus den Wunden drang.
Der Fensena spürte, wie sich seiner Kehle ein leises Wimmern entrang, und kämpfte den natürlichen Drang zur Flucht nieder. Während der Kaiser schrie und wie ein Wahnsinniger an seinem Arm und den Tentakeln riss, sprang der Kojote von einer Seite zur anderen. Ihm war klar, dass das Blut des Kaisers unbedingt in die Luke musste, daher stürzte er sich auf ihn und biss den Kaiser knapp oberhalb der Stelle in den Arm, an der der andere ihn gepackt hatte. Der Fensena stemmte sich gegen den Boden und sorgte dafür, dass der Mensch sich nicht bewegen konnte.
Der Raum stank nach der Anderwelt. Was, wenn die Grenze hier und jetzt brach? Ursprüngliche Angst, die der Fensena längst überwunden glaubte, durchfuhr ihn.
Die Fangarme hielten den Kaiser, und der Geruch von Blut erfüllte den Raum. Kaleva stieß einen seltsamen, erstickten Schrei aus, und dann gab es ein reißendes Geräusch.
Kaleva blieb taumelnd zurück und hielt sich den Arm, aber die Tentakel waren verschwunden und das Blut ebenfalls. Es war akzeptiert worden. Der Fensena stieß ein erleichtertes Jaulen aus und spähte ins Loch.
Dort unten sah er, wonach er trachtete, war aber nicht so dumm, es sich selbst nehmen zu wollen. Er drehte sich zum Kaiser um. »Greift hinein. Holt es raus.«
Kalevas Augen waren groß und verängstigt. »Nein, n-n-nein …«, stotterte er.
Törichter, verdammter Mensch. Dem Fensena riss der Geduldsfaden. Er stand so kurz davor, die Aufgabe, die der Rossin ihm gestellt hatte, zu vollbringen. Dazu gedrängt benutzte der Kojote schließlich seine Macht.
Er griff den Kaiser an und warf ihn um. Für einen Moment zerrte und riss er wie wild an dem heulenden Mann. Der Geruch von Blut trieb ihn an, und es war durchaus möglich, dass er ihn an Ort und Stelle töten würde.
Schließlich fand der Fensena sein gelassenes Zentrum wieder. Als er zur Besinnung kam, stand er über dem verängstigten Kaiser, der über die Verletzungen durch die Tentakel hinaus nun viele Bisswunden hatte. Der Blick des Fensena war auf seine Kehle geheftet, und er überlegte, wie einfach sie aufzureißen wäre. Er konnte sich auch den Körper des Kaisers aneignen, da sein jetziger Körper kurz vor dem Verlöschen stand.
Nein, das durfte er nicht. Der Kaiser wurde gebraucht, und der Rossin wollte nur, was versprochen worden war. Der Fensena knurrte tief und leise. »Greift hinein und holt es raus. Sofort!«
Der Kaiser rutschte zur Seite, weg vom Kojoten und auf die Luke zu. Der Fensena hatte den Menschen davon überzeugt, dass er gefährlicher war als das, was in der Grube war, was immer das sein mochte. Kalevas Hand schloss sich um ein Bündel und zog es heraus.
Es verströmte einen modrigen und kräftigen Geruch. Der Kojote vergaß sofort den Menschen; all seine Sinne waren auf das Bündel gerichtet. »Öffnet es«, knurrte er.
Der immer noch zitternde Kaiser tat, wie ihm geheißen. Der Pelz des Rossin war unverkennbar; das Fell dick, üppig und mit dunklen Flecken gemustert. Es war zusammengelegt und fest mit einem dünnen roten Seil verschnürt.
Die Augen des Fensena glänzten, und ohne ein Wort nahm er das Seil zwischen die Zähne. Den Kaiser ließ er auf dem Boden sitzen, wo er sich die Wunden hielt. Er war nicht länger von Belang. Jetzt musste der Kojote zu seinem Herrn zurückkehren, und zwar schnell. Es war Zeit, dass ihr Plan vorankam.
Es lag in der Natur aller Verräter, in der Dunkelheit zuzuschlagen, und in dieser Nacht – wie in vielen vor ihr – nutzten sie diese Chance.
Sorcha Faris hatte die Nacht damit begonnen, neben ihrem Geliebten Raed Syndar Rossin zu schlafen, der nach ihr selbst vielleicht meistgesuchten Person im Reich von Arkaym. Sie waren eingeschlummert, nachdem sie sich geliebt und die Laken gewärmt hatten, so gut es in der kalten nördlichen Festung ging, die zu ihrer Zuflucht geworden war. Es war eine gute Art, in den Schlaf hinüberzudämmern, auch wenn sie sich noch nicht ganz daran gewöhnt hatte.
Das Lächeln auf dem Gesicht der Diakonin wäre vielen Mitbrüdern aus der Mutterabtei fremd gewesen; Sorcha Faris war nicht für ihr Lächeln bekannt. Doch da der Orden des Auges und der Faust zerschlagen war und die Mutterabtei in Ruinen lag, würde keiner von ihnen Gelegenheit haben, sie zu kritisieren. Das war wahrhaftig das einzig Gute an der Zerstörung der Mutterabtei.
Als der erste Schrei erklang, schrak Sorcha aus dem Schlaf und griff instinktiv nach ihrem Geliebten, um ihn wachzurütteln. Überrascht stellte sie fest, dass die Hilfeschreie in ihrem Kopf erklangen; sie schienen jedoch auch in der steinernen Zitadelle widerzuhallen.
Ein zweiter Schreck war, dass ihre suchenden Hände nichts fanden; Raed war nicht da. Seine Seite des dürftigen Lagers war kalt, und selbst der Geruch seiner Haut fehlte. Er musste in der Nacht davongeschlüpft sein.
Nicht dass sie ihm Streifzüge in tiefer Nacht wirklich verübeln konnte. Nur Stunden zuvor hatte Sorcha sich mit zehn der stärksten verbliebenen Diakone beraten, bis die Kaminfeuer der Zitadelle runtergebrannt waren. Danach hatte sie es sehr genossen, Raed zu wecken, und infolgedessen keine richtige Erinnerung daran, eingeschlafen zu sein.
Raeds Aufenthaltsort war im Moment jedoch nicht das Wichtigste, da ein weiterer gedämpfter Schrei zu hören war, diesmal von jenseits der Zimmerdecke. Sorcha sprang nackt aus dem Bett, warf sich ihren Umhang über, gürtete ihn und legte den Säbel an. Instinktiv griff sie nach den Handschuhen, mit denen sie aufgewachsen war, hielt aber unvermittelt inne: Die Handschuhe waren zerstört worden. Sie musste sich das jedes Mal ins Gedächtnis rufen, weil sie fast ein Leben lang mit ihnen als ihren Foki gearbeitet hatte und das nicht binnen weniger Monate ungeschehen zu machen war. Sie spürte diesen Verlust noch immer. Die komplizierte Wirkungsweise der Runen auf ihrer Haut bot nicht so viel Trost wie einst das Gewicht glatten Leders an ihren Händen.
Also eilte Sorcha notdürftig bekleidet aus dem Zimmer und rannte dorthin, wo jetzt der Aufruhr war, nicht nur in ihrem Kopf, sondern durch den Flur hallend. Was mochte es diesmal sein? In der vergangenen Nacht war ein Hund der Diakone zerstückelt worden, während in der Woche zuvor geisterhafte Nachrichten in Stein gebrannt worden waren. Sie sah gleich, dass es eskalierte; jemand wollte ihnen sagen, dass sie nicht allein waren, und ihnen Todesangst einjagen.
Diese Klosterzitadelle war alt und mancherorts verfallen, aber sie war auch recht groß, eine Tatsache, die Sorcha verfluchte, als sie die Treppe immer zwei Stufen auf einmal hinaufsprang. Sie hatten jedoch keine große Auswahl an Schlupfwinkeln. Dieser nördliche Vorposten war vor langer Zeit vom Sternenkreis, dem ersten einheimischen Orden, verlassen worden, aber es war der beste Platz, den sie finden konnten. Die verbliebenen Mitglieder des Ordens des Auges und der Faust, die sie hier versammelt hatte, hatten das Kloster vor dem Einzug auf Zauber und Fallen abgesucht. Sie hatte es für sicher gehalten.
Während Sorcha eine weitere Wendeltreppe hinaufstürmte, wanden und dehnten sich die silbrigen, in ihre Haut tätowierten Runen, als wären sie lebendig. Sie waren nicht so ruhig, wie sie es eingeschnitzt in die Handschuhe gewesen waren. Das fand Sorcha beunruhigend, tröstete sich aber mit dem Wissen, dass sie ihr niemals genommen werden konnten.
Die flackernden Lampen in den Klostermauern warfen ein unsicheres Licht, aber darauf war sie nicht angewiesen; sie hatte etwas viel Besseres. Etwas anderes, das man Sorcha nie wieder nehmen würde, war ihr Partner Merrick Chambers. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, wusste sie, dass er erwachte. Seine Gegenwart war eine Wärme in ihrem Rücken, eine unsichtbare Kerze, die ihr Vertrauen stärkte.
Ihr Sensibler hatte einen sehr leichten Schlaf – ein glücklicher Umstand angesichts ihrer Lage. Sein Zentrum umgab sie wie eine tröstende Umarmung, aber es war mehr als das. Wenn sie getrennt waren, waren sie nur sie selbst, zusammen waren sie mehr als die Summe ihrer Kräfte und Teile. Wenn er seine Sicht mit ihr teilte, war sie ein Habicht, ein Löwe und beinahe eine Göttin.
Jetzt rannte Sorcha die Treppe sicherer hinauf, ihre Füße schlugen voller Zuversicht auf den Stein. Wer immer zu dieser späten Stunde erschienen war, würde gleich sein blaues Wunder erleben – ob es nun Wesen aus diesem Reich oder der Anderwelt waren.
Vor sich konnte Sorcha nicht nur Menschen schreien und rufen hören, sie konnte auch deren Gefühle schmecken. Angst lief dort oben Amok; Laienbrüder versuchten, das Geheul ihrer verängstigten Schar zu überbrüllen, um wieder Kontrolle herzustellen.
Sie sterben. Merrick schien Nachrichten immer im ruhigsten Ton vorzubringen. Wir müssen jetzt dort sein.
Sie antwortete nicht, denn sie war zu sehr damit beschäftigt, die Panik oben zu ergründen. Noch nicht Identifizierbares versetzte normale Menschen in blinde Panik, während die gelassenen, harten Zentren der Laienbrüder wie Ankersteine inmitten eines chaotischen Sturms waren. Sie mochten keine Kräfte haben, aber sie waren ausgebildet.
Nur leicht außer Atem erreichte Sorcha in dem Moment den Treppenabsatz, als Merrick und Zofiya – die einstige Erbin Arkayms – aus einem anderen Flur kamen. Ihre Zimmer lagen tiefer im Kloster, näher an der Wurzel des Bergs. Die Diakonin war sich nicht ganz sicher, wie sie zu der Bindung ihres Partners an die dunkelhaarige, schöne Großherzogin Zofiya stand, die ungeachtet der Situation immer so gebieterisch wirkte wie ihr Titel. Merrick fing Sorchas Blick auf und brauchte nichts zu sagen; sie wusste, dass jetzt nicht die Zeit für Aussprachen war.
Zofiya warf sich den Patronengurt über, während sie gemeinsam die letzten Stufen hinaufliefen, aber zum Glück schwieg sie diskret. Die andauernden Schreie von oben wurden lauter. Bemerkenswerterweise ließ sie Merrick und Sorcha vorangehen.
Vielleicht, dachte Sorcha unvermittelt, macht mein Freund bei ihr Fortschritte.
Merrick warf ihr aus dem Augenwinkel einen warnenden Blick zu. Die tätowierten Runen der Sicht tauchten sein junges Antlitz in unheimliche Schatten, für die es nicht gemacht war. Die Erkenntnis, ihn nie wieder so zu sehen wie bei ihrer ersten Begegnung in der Mutterabtei, versetzte ihr einen Stich. Es war nur wenige Jahre her, und doch hatte sich so viel verändert.
Vorsicht. Seine Gedanken formten sich in ihrem Kopf so mühelos wie ihre. Auch das war ihr beinahe genommen worden. Obwohl sie anfangs über das Eindringen von Merricks Gedanken geschimpft hatte, hieß sie es jetzt willkommen. Es war die Grundlage des Ordens. Ihres Ordens. Was immer das in Zukunft bedeuten würde.
Erhebt euch gemeinsam oder fallt allein.
Es war ein Spruch, der auf einem majestätischen Gebäude stehen könnte, und er war ihr in einem müßigen Augenblick eingefallen. Vielleicht würde er eines Tages ein Motto sein.
Es waren seltsame Gedanken, die in ihrem Kopf nicht schweigen wollten, nicht einmal in Momenten wie diesem. Merricks Sicht verlieh ihr immer größere Klarheit, je wacher er wurde, und sie näherten sich dem Angriffsherd.
Ja, ein Angriff. Das ist es tatsächlich. Merricks Stimme mischte sich in ihre Gedanken. Diesmal keine finsteren Worte in Stein oder Hundekadaver. Ein offener Angriff.
Ihr gemeinsames Zentrum war trotzdem verwirrt. Geister waren im Raum oder hatten ihn gerade verlassen, aber als sie die oberste Treppenstufe erreichten, spürten sie sie nicht mehr.
Merrick und Sorcha tauschten einen Blick, dann stieß sie in unausgesprochener Übereinkunft die Tür zum Großen Saal auf.
In diesem Raum hatte Sorcha nur Stunden zuvor mit den anderen Diakonen – den Stärksten der Überlebenden – getagt, um einen Weg zu finden. Jetzt sah der Saal ganz anders aus. Die Tische, an denen sie vor so kurzer Zeit noch gesessen hatten, waren umgeworfen, und die Flammen im Kamin loderten wie ein Freudenfeuer. Dabei war das Holz zuletzt zu roter Glut heruntergebrannt gewesen und hatte machtlose Menschen gewärmt, die bei ihnen Schutz gesucht hatten.
Wir haben sie im Stich gelassen.
Der Große Saal war der Ort, an dem viele Laienbrüder und viele von denen, die den Diakonen folgten, sich für die Nacht niedergelassen hatten, da die meisten bewohnbaren Räume von Paaren und Diakonen besetzt waren. Wie Sorcha sah, war der Saal auch der Ort, an dem die Geister die menschliche Welt betreten hatten. Infolgedessen war es kein schöner Anblick.
Die Regeln, mit denen Sorcha als Mitglied des Ordensnoviziats aufgewachsen war – etwa die Unfähigkeit der Untoten, die Lebenden direkt zu verletzen –, waren nur noch ferne Erinnerungen; jetzt waren die Untoten mehr als fähig, die Lebenden zu verletzen. Sie schienen es sogar zu genießen.
Blut war an die Wände und auf den Tisch gespritzt, an dem sie nur Stunden zuvor gesessen hatte. Leichen lagen wie Abfall bis in den letzten Winkel verstreut. Durch das Zentrum, das sie mit Merrick teilte, war der Geruch von Angst und Tod im Raum überwältigend. Wäre sie in ihrer Zeit als Diakonin nicht so oft ähnlichen Szenen ausgesetzt gewesen, hätte Sorcha sich vielleicht übergeben oder wäre wie verrückt in die andere Richtung gelaufen.
»Bleib zurück, Zofiya«, murmelte Merrick der Großherzogin zu. »Es ist noch nicht vorbei.«
Er hatte recht, und glücklicherweise wusste die Kaiserliche Schwester das auch. Sie runzelte die Stirn und verstärkte den Griff um ihr Schwert, aber sie blieb, wo sie war.
Sie waren noch immer vom Gestank der Anderwelt umgeben, und selbst wer keine besonderen Fähigkeiten besaß, konnte ihn riechen. Die Überlebenden kämpften sich auf die Beine und würgten, während sie eilends den Raum verließen. Zofiya winkte viele zu sich heran und half ihnen, zur Tür zu wanken.
Merrick und Sorcha tauschten einen weiteren Blick. Die Aktive bog die Finger durch – fast so, als steckten sie noch immer in verziertem Leder – und trat mit ausgestreckten Händen, die Runen bereit, in den Raum.
Undeutlich spürte sie andere Aktive und Sensible die Treppe hinaufgerannt kommen, aber sie würde sich nicht darauf verlassen, dass sie rechtzeitig eintrafen.
Jemand will uns hier haben. Ihr Sensibler flüsterte in die stillen Teile ihres Verstands, abseits der rasenden Gedanken.
Instinktiv wusste sie, dass er recht hatte; sie und Merrick waren es, die die Schreie der Verletzten und Sterbenden hören sollten.
Dieser Angriff auf den Orden, den sie aufbauten, war sehr gezielt. Sie hatten in den Monaten des Reisens seit der Zerstörung der Mutterabtei weitere Konvertiten um sich geschart, aber sie konnten es sich nicht leisten, auch nur einen von ihnen zu verlieren. Wenn jemand die Aufmerksamkeit von Sorcha Faris und Merrick Chambers erregen wollte, dann war dies der richtige Weg.
»Alle anderen raus jetzt!« Merrick wartete einige Schritte hinter ihr und hielt mühelos das Zentrum für sie ruhig. Trotzdem schaffte er es, einer letzten Gruppe von Anhängern, die immer noch in den fernen Schatten des Großen Saals kauerten, Anweisungen zu geben. Sie starrten ihn an, sichtlich schockiert über das Gesehene, doch dann ging eine schmalgesichtige Frau, der Blut über die Stirn rann, ihnen zur Tür voraus.
Sorcha wartete und hielt ihre Atmung durch bloße Willenskraft ruhig, während sie um die Selbstsicherheit rang, die sie erst jüngst wiedererlangt hatte. Sie hoffte, man merkte es ihr nicht allzu deutlich an, wie neu sie noch war. Durch die gemeinsame Verbindung flüsterte sie ihrem Partner zu, was sie vorhatte.
Merrick hatte keine Bedenken. Sobald die Verletzten die Schwelle überschritten hatten, gab er Zofiya ein Zeichen. »Verriegle die Tür.«
Dass die Großherzogin, die Schwester des Kaisers von Arkaym, Befehle von einem bloßen Sensiblen Diakon entgegennahm, wäre noch vor einem Jahr ein Witz gewesen. Es war ein weiterer Beweis, dass die Welt kopfstand.
Sorcha hörte das Zuschlagen der dicken Holztür und Momente später das beruhigende dumpfe Geräusch, mit dem der Riegel vorgeschoben wurde. Es würde die Untoten kaum aufhalten, aber für die draußen Kauernden war es symbolisch.
Unnötig zu erwähnen, dass sie sich damit auch von der schnell nahenden Hilfe der anderen Diakone abgeschnitten hatten. Sorcha runzelte die Stirn, als sie über die Reste eines zerstörten und verkohlten Tischs stieg. Sie würde nicht zulassen, dass noch mehr Gefährten getötet wurden – nicht um ihretwillen.
Merrick trat näher an sie heran, schob die Kapuze seines Umhangs zurück und drückte zwei Fingerkuppen auf das stilisierte Dritte Auge, das jetzt direkt über seiner Nase zwischen den Brauen tätowiert war. Sein Riemen – der dicke Lederstreifen mit den eingravierten Runen, einst der Fokus des Sensiblen – war bei der Zerstörung des Ordens des Auges und der Faust wie die Handschuhe vernichtet worden. Der Verlust dieses Musters hatte die Erschaffung eines neuen erforderlich gemacht, aber auch bedeutet, dass die Sensiblen sich das Dritte Auge in die Haut hatten stechen lassen müssen. Da es für gewöhnlich nur mit den mächtigsten Runen der Sicht verwendet wurde, war durch seine ständige Gegenwart die Anpassung an die neue Situation für die Sensiblen viel schwerer als das, was die Aktiven durchleiden mussten.
Doch Merrick übertraf wie immer seine Kameraden und war ihnen um einiges voraus. Er war in vieler Hinsicht ein besserer Diakon, als Sorcha je zu sein hoffen konnte. Vielleicht hatte sie deshalb eine spontane Abneigung gegen ihn gefasst, als man sie zu Partnern gemacht hatte.
Lag das nicht daran, dass ich jünger war und besser aussah als Ihr? Seine Stimme in ihrem Kopf klang trügerisch heiter.
Trotz ihrer ernsten Lage konnte Sorcha sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Soweit ich weiß, seid Ihr das immer noch … sofern Ihr nicht meinetwegen gealtert seid …
Ihr Partner zupfte an einer Locke seines dunkelbraunen Haars, wie um imaginäre graue Strähnen vorzuzeigen. Sollte man von Anspannung graue Haare bekommen, würden sie alle silberhäuptig sein, wenn diese Sache beendet wäre.
Alle Ungezwungenheit verschwand, als Merricks Zentrum einen schwachen Hauch von etwas Untotem auffing; der Verwesungsgeruch überlagerte den scharfen Gestank von Blut und Angst. Es war mit das Erste, was sie beide im Noviziat gelernt hatten: Einer Erscheinung ging fast immer ein Geruch voraus.
Ein weniger kluger oder schlechter eingespielter Sensibler hätte vielleicht die Rune Aiemm beschworen, um zu sehen, was hier geschehen war. Ein Mutigerer hätte möglicherweise Masa gerufen, um in die Zukunft zu sehen, aber Merrick wusste so gut wie Sorcha, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. Das Blut um sie herum sagte alles, was sie über die Vergangenheit zu wissen brauchten, und die Zukunft war so verlässlich wie Rauch. Stattdessen beschwor Merrick Mennyt und blickte in die Anderwelt.
Sie hatten oft eine Vision der Untoten geteilt, Blicke auf dahingeschiedene Seelen oder Geister, die am Rand dieses Reichs zitterten und bereit waren, herauszukommen. Doch was Mennyt ihnen jetzt zeigte, hatten sie noch nie gesehen.
Reihen um Reihen von Geistern standen wie Soldaten da, bereit, Burgmauern zu erstürmen, und jeder Einzelne strotzte vor Zielstrebigkeit und Hass. Es war ein Anblick, der beiden Diakonen den Atem nahm und sie kurz erstarren ließ.
Sie warteten dort, alle Arten von schrecklichen Kreaturen des Todes. Einige waren die verwundeten Seelen der Toten aus dieser Welt, jetzt verdorben und verloren in der Anderwelt. Andere waren Geister, die schon immer dort weilten und sich den Schmerz der Lebenden wünschten. Schließlich waren da die Geistherrn mit ihrer schrecklichen Intelligenz.
So viele. Bei den Knochen, so viele.
Keiner der beiden Diakone hätte sagen können, wessen Worte das waren, aber es war das Gefühl, das sie teilten.
Sorcha bekam feuchte Augen, als sie durch Merrick schaute. Normalerweise waren nur die stärksten Untoten in der Lage, Risse zu finden, durch die sie in die menschliche Welt gelangen konnten. Als Sorcha jetzt mit den Augen den Raum absuchte, wurde ihr klar, dass er voller Untoter war, die sich aufgereiht hatten, um vorzutreten. Der Schleier zwischen den beiden Welten war nie so papierdünn und lächerlich erschienen.
Ob das an der Zerstörung des Ordens lag?, fragte sie sich. Oder wäre es ohnehin geschehen?
Unser Orden ist nicht der einzige auf der Welt, rief Merrick ihr ins Gedächtnis. Seine Worte beruhigten sie. In der Vergangenheit sind viele andere Orden untergegangen, aber es hat immer neue gegeben, die ihren Platz eingenommen haben. Das hier … ist etwas ganz anderes.
Ihr Partner war der entschlossenste Mensch, den Sorcha je gekannt hatte, und doch spürte sie seine Angst wie Essig auf der Zunge. Angesichts all der Geisterreihen, die stumm auf den Eintritt in die Welt warteten, wäre es selbst dem tapfersten Diakon so gegangen.
Doch es gab keinen Durchschlupf, der breit genug für sie war – noch nicht.
Hatte Teisyat – die letzte Rune, die jeder Aktive als Abschlussprüfung lernte – die Geister hierher gebracht? Vielleicht brauchte es nur einen Diakon, der die Hand hob, und …
Denkt nicht einmal daran. Merricks Finger schlossen sich um ihre Schulter. Der enge körperliche Kontakt riss sie zurück in die Wirklichkeit. Wenn hier jemand Teisyat benutzt hätte, wären sie alle gekommen, und wir wären alle tot.
Nein, es hatte wirklich jemand eine Rune geöffnet, aber es war nicht die siebte. Dann also Tryrei … nur einen Spalt – genug, um einen einzigen besser kontrollierbaren Geist einzulassen.
Kebenar rauschte über Sorcha hinweg, die Rune der Sicht, die die wahre Natur der Dinge offenbarte. Jetzt wurden die Bilder der wartenden Geister schwächer, und ein zartes Muster schwacher Risse legte sich vor Sorchas Gesichtsfeld. In gewisser Weise war das noch schlimmer.
So viele, murmelte Merrick und folgte Sorcha tiefer in den Saal. Es war wie ein Ei, das gegen eine Schüssel geschlagen worden war, und genau wie das Ei konnte jeder dieser Risse nachgeben. Mehrere hatten es bereits getan, aber die Geister waren in die Anderwelt zurückgeschlüpft. So schlau waren sie normalerweise nicht.
Die Festung, ein ehemaliges Kloster, war alt und hatte viele staubige Ecken. Plötzlich traute Sorcha dem Ort nicht mehr. Obwohl sie ihn genau untersucht hatten, war er vom einheimischen Orden gebaut worden, dem Sternenkreis, der die Zerstörung des Auges und der Faust bewirkt hatte. Dieser Orden war für seine Gerissenheit bekannt. Doch das Kloster war auch der letzte Ort, an dem der Sternenkreis nach ihnen gesucht hätte, und es war auf allen Seiten von Wasser umgeben. Früher hätte es deshalb garantiert kein Geist betreten.
Sorcha war des Wissens herzlich überdrüssig, dass in den letzten Jahren alle Regeln gebrochen worden waren.
Draußen, flüsterte Merrick ihr zu. Seht nach draußen.
Sie trat kühn auf den Balkon, und Wasserrauschen begrüßte sie. Das stumpfe Profil der Zitadelle schob sich aus der Mitte des Lawinenfalls, der von Granitklippen Hunderte Meter in den See stürzte. Es war ein heimtückischer Ort, aber nicht annähernd so gefährlich wie die Lücke ins Reich der Geister, Geistherrn und aller bösen Geschöpfe, gegen die der Orden kämpfte. Corenee war ein kleines Fürstentum, das hauptsächlich aus strengen Herzögen und den Ziegenhirten bestand, über die sie herrschten. Tief im Südwesten Arkayms gelegen, war das Fürstentum ein perfektes Versteck. Oder zumindest war es das gewesen.
Sorchas Gesicht war plötzlich von wirbelnden, eisigen Wassertröpfchen bedeckt. Sie wartete einen Moment und richtete die Augen nicht auf die echte Welt, sondern konzentrierte sich stark auf die, die Merrick ihr zeigte. Die langen Reihen von Geistern beobachteten sie genauso eindringlich. Es kam ihr vor, als stünden sie dicht vor ihr hinter feiner Gaze, und wenn sie nur die Hand ausstreckte, könnte sie einen von ihnen berühren.
Merrick unterbrach diese gefährlichen Gedanken, indem er ihren Namen rief, sowohl in ihrem Kopf als auch in die Nacht hinein. Ein Riss wurde größer. Das Stärkste kam durch.
Schon zwei Mal hatte Sorcha einem Geistherrn gegenübergestanden: der Murashew und Hatipai. Beim ersten Mal hatten sie sich auf die Kraft des Rossin verlassen. Beim zweiten Mal hatte Sorcha, ohne Merrick an ihrer Seite, gewonnen, war aber in tiefer Bewusstlosigkeit gelandet, einem schrecklichen Tod bei lebendigem Leibe. Jetzt standen sie allein auf dem Balkon.
Wo ist Raed?, dachte Sorcha für sich. Ihr Geliebter war immer noch nicht aufgetaucht, und sie konnte ihn nicht in der Festung spüren. Sie tastete durch die Verbindung, die sie, Merrick und den Jungen Prätendenten verknüpfte. Die Verbindung war noch da, aber sonst nichts. Als wäre Raeds Bewusstsein in dunklen Rauch gehüllt.
Sie warf Merrick einen Blick zu. Seine braunen Augen unter den Runentätowierungen waren bekümmert. Seine Worte bestätigten das, als sie in ihren Verstand drangen. Ich kann ihn nicht sehen.
Nur wenige Worte hätten sie mehr entmutigen können. Merrick war nicht nur ihr Sensibler – er war der Beste, mit dem sie je gearbeitet hatte. Die Verbindung, die sie teilten, war die stärkste. Wenn er den Rossin nicht sehen konnte, hatte sie echten Grund zur Sorge.
Doch dazu war jetzt keine Zeit. An ihren verschwundenen Geliebten zu denken, während die Welt vor ihnen aufbrach, wäre mehr als dumm gewesen: der reinste Selbstmord.
Sich aufs Überleben zu konzentrieren bedeutete, sich auf das zu fokussieren, was vor ihr lag. Grellrote Risse wurden jetzt größer und zeigten: Was immer bereit war, durchzukommen, näherte sich dem Ziel seiner Reise. Es war, als beobachtete man ein Küken beim Schlüpfen. Doch dies würde etwas völlig anderes werden als ein riesiger, wütender Hahn.
An so ziellose, komische Gedanken in einem solchen Moment war Sorcha nicht gewöhnt. Disziplin und Ausbildung waren ihr von Kindesbeinen an eingebläut worden, und wie sie jüngst herausgefunden hatte, war sie außerdem die Tochter einer mächtigen Sensiblen.
Und auch die Tochter von etwas anderem, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf.
Sorcha riss den Blick von den wachsenden Lücken in der Realität los und schaute Merrick an, doch der konzentrierte sich darauf, mehr von der Situation zu sehen, und hatte nicht in ihren Verstand gesprochen.
Gerade als Merrick den Kopf in ihre Richtung drehte, hatte Sorcha sich aufgerichtet. Mit vorsichtiger und präziser Entschlossenheit konnte sie ihre Gedanken vom momentanen Entsetzen und der Sorge losreißen, was genau das für eine Stimme gewesen war, und sie wieder auf den kommenden Schrecken richten. Sensible und Aktive Diakone waren durch eine Partnerschaft, die nur wenige Geheimnisse hatte, fest aneinandergebunden, aber es gab Wege, einige Kleinigkeiten voreinander zu verbergen. Sorcha war noch nicht bereit, ihre dunkleren, schleichenden Ängste mit Merrick zu teilen.
Zuerst mussten sie dies überleben. Durch das Zentrum ihres Partners spürte sie, dass sich weitere Diakone ihrer Position näherten. Sobald sie eingetroffen waren, konnten sie ein Konklave bilden, und dann hätten sie die Übermacht.
Doch ein Konklave beruhte auf körperlicher Nähe.
Kaum war Sorcha dieser Gedanke gekommen, fuhr schon ein kalter, stechender Wind aus dem Spalt. Er raste um sie und Merrick herum. Kein normaler Sturm hätte einen solchen Schrei hervorbringen können, und er war beißend und voller Bitterkeit. Er umkreiste sie und blies ihnen die Umhänge wie Leichentücher um den Leib, bevor er in den Großen Saal raste.
Sorcha hörte die schweren Holzläden zuschlagen, und als ob das nicht gereicht hätte, um den Diakonen zu versichern, dass dies mit Absicht geschah, folgte gleich darauf der Lärm von Möbeln, die gegen die Türen geschleudert wurden. Schwere Holztische, Stühle und die Bündel ihrer Gefährten bildeten eine wirkungsvolle Barrikade und verhinderten, dass Sorcha und Merrick den Saal verließen oder jemand zu ihnen gelangte.
Die Rune Voishem, die es den Diakonen ermöglicht hätte, durch Wände zu gehen, war von ihren jüngst tätowierten Kollegen noch nicht gemeistert worden. Sie würden zögern, sie zu benutzen. Niemand wollte irgendwo stecken bleiben. Stattdessen war undeutlich zu hören, wie Schultern gegen Türen prallten.
»Dann soll es so sein«, murmelte Sorcha mit eiskalten Lippen, und ihre Worte gefroren in der Luft. Sie wandte sich wieder der jetzt fußbreiten Lücke zu und krempelte die Ärmel möglichst weit hoch.
Merrick trat einen Schritt näher, sodass er in ihrem Schatten stand, der rückwärts in den Großen Saal fiel. So hell war das Licht, das aus dem Spalt in der Wirklichkeit kam.
Alles war für einen Moment vollkommen still; selbst das Tosen des Wasserfalls schien fern zu sein. Ihr gemeinsames Zentrum konzentrierte sich allein auf die lange, dünne Gestalt, die sich durch die Lücke in der Welt drängte. Sie schlüpfte mit saugendem Plopp hindurch, doch ihr Platz wurde sofort von einer anderen eingenommen, die ihre genaue Kopie war.
Geistherrn waren es nicht, und das war eine unmittelbare Erleichterung, aber die beiden Diakone hatten keine Chance, das zu genießen, weil sie erkannten, was stattdessen entflohen war.
Wari waren größer als durchschnittliche Geister und dafür bekannt, kurz vor Geistherrn zu erscheinen. Manche nannten sie die »Herolde«, aber sie hatten mehr als Trompeten und Banner dabei. Ein Wari konnte einem Menschen die Seele ausreißen wie ein Mann einem gut gekochten Huhn einen Knochen. Sie waren unglaublich selten, und doch zwängte sich jetzt ein Dritter durch den Spalt.
Einer wäre kein Problem gewesen, doch als die messerscharfen Gestalten auf sie zuzukreiseln begannen, hob Sorcha die Hände. Sie war ausgebildet, Selbstvertrauen auszustrahlen, aber sie teilte Merrick ihre Sorgen über die Verbindung mit. Die Runen fühlten sich auf ihrer Haut nicht so gut an wie auf ihren nun zerstörten Handschuhen. Sie waren schlüpfrig wie Fische, und deshalb zögerte sie zu handeln.
Durch das gemeinsame Zentrum glänzten die Wari wie silbern schillernde Wolken. Ihre langen Arme waren zu Klauen geformt, die perfekt für ihren Zweck geeignet waren.
Sorcha. Für einen Moment begriff sie nicht, dass es Merricks Stimme in ihrem Kopf war. Sorcha, wiederholte er. Sie kreisen uns ein. Wir müssen handeln, bevor ihnen das gelingt.