Die Sanddistel - Jo Schulz-Vobach - E-Book
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Die Sanddistel E-Book

Jo Schulz-Vobach

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Beschreibung

Im Leben zerrissen, im Herzen vereint: „Die Sanddistel“ von Jo Schulz-Vobach jetzt als eBook bei dotbooks. Wie eine Distel ist sie – voller Stacheln und fest im Boden verankert: So heißt es über Sophie, die fast 100jährige Matriarchin von Gut Distelitz auf Rügen. Doch nun kommt auf die ebenso lebenskluge wie streitbare alte Dame eine besondere Herausforderung zu: Gerade ist in Berlin die Mauer gefallen und das alte Landgut soll zum Schauplatz der Wiederbegegnung der in alle Himmelrichtungen verstreuten Familie werden. Dabei hat vor allem ihr ältester Sohn Franz hat eigene Pläne, wie es mit dem Erbe weitergehen soll. Doch Sophie bewahrt nicht nur die Geheimnisse der Vergangenheit, sie hat auch eine ganz besondere Vorstellung von der Zukunft ihrer Familie… Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Sanddistel“ von Jo Schulz-Vobach. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 556

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Über dieses Buch:

Wie eine Distel ist sie – voller Stacheln und fest im Boden verankert: So heißt es über Sophie, die fast 100jährige Matriarchin von Gut Distelitz auf Rügen. Doch nun kommt auf die ebenso lebenskluge wie streitbare alte Dame eine besondere Herausforderung zu: Gerade ist in Berlin die Mauer gefallen und das alte Landgut soll zum Schauplatz der Wiederbegegnung der in alle Himmelrichtungen verstreuten Familie werden. Dabei hat vor allem ihr ältester Sohn Franz hat eigene Pläne, wie es mit dem Erbe weitergehen soll. Doch Sophie bewahrt nicht nur die Geheimnisse der Vergangenheit, sie hat auch eine ganz besondere Vorstellung von der Zukunft ihrer Familie …

Über die Autorin:

Jo Schulz-Vobach arbeitet als freischaffende Journalistin und Schriftstellerin. Auch wenn die gebürtige Ostpreußin seit 1992 in Österreich lebt und schreibt, sind es die Landschaften der Ostsee, die sie dazu inspirieren, vergangenen Geschichten nachzuspüren. Ihre Romane »Meine Tochter verschwindet« sowie »Das Lächeln der Wölfin« und »Die Bernsteinfrau«, die die leisen und unbekannten Spuren der deutschen Geschichte vor dem Vergessen bewahren wollen, sind ebenfalls bei dotbooks erschienen.

Die Autorin im Internet: www.joschulzvobach.jimdo.com

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Die Zitate stammen aus: John Irving, Das Hotel New Hampshire Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann Copyright © 1984 Diogenes Verlag AG, Zürich

eBook-Neuausgabe März 2016

Dieses Buch erschien bereits 2009 unter dem Titel »Sophies Familie« bei Knaur Verlag.

Copyright © 2009 Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Stootsy, Yuriy Zhnravov

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-482-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Jo Schulz-Vobach

Die Sanddistel

Roman

dotbooks.

Die wichtigsten Personen

GOTTFRIED GRAF VON SAND und seine FRAU ADELE gründeten 1560 die von-Sand-Dynastie und das Gut Distelitz im Norden der Ostseeinsel Rügen.

SOPHIE VON SAND wurde schon als Kind »Sanddistel« genannt, entsprechend zäh und stachelig, letzte Hüterin des Familienstammsitzes, Mutter von fünf Söhnen, verteidigt Hab und Gut bis zum letzten Atemzug und führt einen Teil ihrer großen Familie ganz schön an der Nase herum.

ADALBERT VON SAND Sophies Ehemann, verschwindet kurz nach der Geburt des jüngsten Sohnes auf Nimmerwiedersehen, bleibt aber in Erinnerungen durchaus lebendig.

FRANZ VON SAND Sophies ältester Sohn, Routinier in allen möglichen Berufen und beruflichen wie persönlichen Untergängen.

BERTHA UND ADAM Sophies treueste Freunde und Begleiter in allen Lebenslagen.

HEINRICH VON SAND Sophies ältester Enkel, der seiner Großmutter den Rücken stärkt.

ROSIE VON SAND

Kärntner Urviech und an Heinrich interessiert.

WALTER VON SAND Heinrichs Sohn, scheitert an der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und steigt aus und woanders ein.

RENÉ VON SAND Walters Sohn und Sophies erster Ururenkel, Kind der DDR, Freund der Literatur und seiner Cousine um x Ecken, nämlich.

BEATRICE (BEA) VII. VON SAND Urenkelin von Franz und als einziges Mädchen in der Familie derer von Sand als Sophies Erbin im Gespräch.

PETER und MARIJKE VON SAND Eltern von Beatrice.

ROBERT VON SAND Sohn aus der Franz-Linie, Rechtsanwalt.

ANDREJ STOSCHENKOW Russe, dessen Vater in der Familiengruft derer von Sand ruht.

GUT DISTELITZ

verwandelt sich in den Zeitläufen vom glanzvollen Treffpunkt zur Ruine …

Prolog

An diesem Novemberabend 1989 – als einer der jüngeren Urenkel von Sophie von Sand mit dem Wagenheber aus seinem Porsche unter dem Jubel der Menge und im Licht zahlloser Scheinwerfer am Potsdamer Platz und angefeuert von den hysterischen Stimmen der TV- und Rundfunkreporter gegen die dem Westen zugewandte Berliner Mauer schlug – als auf gleicher Höhe, aber auf der östlichen Seite des Bauwerks, das die Stadt seit dem 13. August 1961 teilte, einer seiner bisher unbekannten Verwandten auf ebendiese Mauer kletterte – als abzusehen war, dass die Mauer von beiden Seiten Deutschlands endlich fallen würde und sich damit die Wiedervereinigung des geteilten Landes anbahnte –, an diesem Abend also befand sich Sophie von Sand zusammen mit ihren Freunden Bertha und Adam und einem Transistorradio aus den fünfziger Jahren im Keller des alten Gutshauses Distelitz im Norden der Ostseeinsel Rügen. Dicht nebeneinander, Sophie in der Mitte, saßen sie auf einer schmalen Gartenbank, die wie ihre Besitzer schon bessere Zeiten gesehen hatte, und probierten mit Kennermienen den gerade fertig gebrannten Apfelschnaps. Sie schwiegen miteinander, nippten an ihren Gläsern und betrachteten dabei im Funzellicht einer einzelnen nackten Glühbirne an der Decke des weitläufigen Kellerraumes die paar prallen Kartoffelsäcke in der einen Ecke, die Gläserreihe mit Marmelade, Obst, Gemüse und sauer Eingelegtem im Regal auf der anderen Seite sowie die Hartwürste und den einzelnen Schinken, die am Deckenbalken hingen.

»Gut, einfach gut, dein Schnaps«, unterbrach Adam das Schweigen.

Mit der freien Hand drehte er am Senderknopf des Radios, das er auf seinen Knien hielt. Ätherrauschen, Pfeifen und Jaulen vermischten sich mit lärmenden Stimmen. Sophie nickte und neigte horchend den Kopf. »Das liegt an meinen Apfelbäumen«, erklärte sie. »Die sind wie wir drei hier. Die werden erst im Alter reif.« Sie schwenkte den Rest der klaren Flüssigkeit in ihrem Glas.

Bertha, der auch ein aufmerksamer Betrachter nicht die fünfundachtzig angesehen hätte, ebenso wenig wie Sophies knapp neunzig, nahm ihre Brille von der Nase, putzte sie mit einem Schürzenzipfel und setzte sie wieder auf. »Trotzdem ist irgendwann Schluss mit den Alten, da kommt der Arsch einfach nicht vorbei.« In ihrer Stimme schwang Bedauern mit. »Und dann ist’s auch aus mit Sophies gutem Schnaps.«

Sie sah Adam an, dessen Rücken von täglicher Arbeit und seinen vierundachtzig Jahren gekrümmt war. Adam stellte das Radio vor sich auf den Boden und massierte mit Zeigefinger und Daumen seine leicht gerötete Nase. »Ach was, Mädels!« Er grinste nach rechts und dann nach links. »Unkt nicht schon wieder. Trinkt lieber, solange es für uns hier noch was zu trinken gibt.«

Er hob sein Glas, und auch Sophie trank und begann plötzlich ihr raues, herzhaftes Lachen.

»Dein Adam hat wie immer recht, Bertha!«, japste sie. »Trinken wir also auf unsere Inselseligkeit, solange sie noch hält.« Sie richtete ihren Zeigefinger auf das Radio. »Ehrlich gesagt, mir graut vor dem, was da auf uns zukommt.«

Alle drei musterten eine Weile die plötzlich eher karg wirkenden Vorräte in den Regalen.

»Das könnte bis Ostern reichen«, sagte Bertha, stand auf und strich ihre Schürze glatt. »Könnte!«, wiederholte sie. »Aber unter diesen Umständen da …«, auch sie deutete in Richtung Radio, »… werden wir vielleicht schon an Neujahr in die Röhre gucken. Egal«, fuhr sie dann fort. »Das ist ja das Gute am Alter, dass uns kaum noch was überraschen kann.« Sie machte einen leicht torkelnden Schritt zur Kellertreppe hin. »So, und jetzt geh ich mal nach oben. Der Tag war lang und gut, wie viele Tage in den vergangenen Jahrzehnten, Kommunismus und Sozialismus hin oder her.«

Sophie grinste. »Unsere Bertha, die wusste schon immer Bescheid, was?«

»Ja«, bestätigte Bertha, bevor Adam nicken oder etwas sagen konnte. »Schließlich leb ich seit siebzig Jahren auf Distelitz und kenn dich und deine Mischpoke in- und auswendig. Und deshalb kann mich in diesem Haus auch nichts mehr aus der Ruhe bringen, nicht einmal das da im Radio.«

»Hört, hört!«, brummelte Adam vergnügt.

Bertha achtete nicht auf ihn.

»Deine fünf Söhne, Sophie, die waren schon immer wie die Heuschrecken«, sagte sie. »Überraschungsangriff, alles abgrasen, wieder verschwinden und erst dann wiederkommen, wenn das Gras nachgewachsen ist.«

»Zwei«, erinnerte Sophie gelassen. »Nur noch zwei Söhne. Zwei liegen bereits in der Gruft, und der dritte ist irgendwo verlorengegangen.«

»Von mir aus nur noch zwei. Aber jeder, ob nun tot oder nicht, hat sich inzwischen vermehrt wie die Karnickel.« Sie winkte zum Abschied. »Ich geh. Und gleich morgen früh werde ich mit dem Lüften anfangen. Es wird nämlich eine Weile dauern, bis wir den guten alten DDR-Mief aus den Zimmern und Betten raushaben.«

Sie sahen ihr nach, wie sie mit entschlossenem Hüftschwung die Treppe nach oben stieg. Die Kellertür fiel knarrend ins Schloss. Mörtelstaub, vermischt mit größeren Brocken, legte sich auf die ausgetretenen Steinstufen.

»Schenk uns noch einen ein, Adam, einen letzten.« Sophie hielt ihm ihr Glas entgegen. »Und den trinken wir auf die unvermeidbare Vergänglichkeit aller guten wie schlechten Dinge.«

I. Kapitel

Nicht nur der heftige Wintersturm, der um das Gutshaus sang, heulte und jammerte, die Äste der gewaltigen Buche über die Fensterscheiben ratschen und die losen Dachschindeln klappern ließ und mit seiner gewaltigen Musik die Kamine und jede Ritze, jedes Lockere füllte, hielt Sophie von Sand in dieser Nacht wach. Zum einen war es das Alter. Mit jetzt fast zweiundneunzig braucht man eben nicht mehr so viel Schlaf, sagte sie sich; da zählt jede Stunde Leben. Zum anderen waren es die Erinnerungen, die sie nach dem abendlichen Anruf von Franz, ihrem ältesten Sohn, überfluteten – mit einer Macht, die ihr zuweilen den Atem nahm und ihre Kehle eng werden ließ. Gute zwei Jahre waren seit dem Mauerfall in Berlin vergangen, und erst jetzt hielt ihr Sohn es für nötig, sich bei ihr zu melden. Und tat dabei noch so, als würden auch all die Jahre vorher nicht zählen, keine der nie gestellten Fragen, der unterlassenen Hilfsangebote, kein Weihnachts- oder sonstiges Fest. Ein paar bunte Postkarten mit lapidaren Grüßen, ja, die hatte er seit 61 geschickt, als die Mauer nicht nur Berlin, sondern ganz Deutschland zweiteilte. Aber diese Karten konnte er sich an den Hut stecken.

Ärger wallte immer wieder in Sophie auf, während sie den gewohnten Lauten der Insel und denen des über vier Jahrhunderte alten Hauses lauschte, in dem die Vergangenheit in Nächten wie dieser herumgeisterte, Gesichter aus der frostigen Dunkelheit schälte und verblassten Geschehnissen wieder Farbe verlieh. Sophie lag auf dem Rücken, gegen die Kälte in Zimmer und Bett mit Wollsocken, Mütze und Schal gewappnet, das klumpige Federbett hochgezogen bis zur Nasenspitze, die jubelnde Stimme von Franz noch in den Ohren. »Es ist so weit, liebste Sophie! Deutschland wird wieder das sein, was es einmal war. Und endlich werden wir, deine Familie, diese Wiedervereinigung auf heimatlichem Boden feiern können.« Ach du liebes bisschen, hatte sie gedacht und gefragt: »Wann?«

»Im Sommer«, antwortete er und gluckste freudvoll. »Ein Familientreffen auf der Insel. Alle werden kommen.« In Gedanken versuchte sie die Zahl ihrer Nachkommenschaft zu überschlagen. Jeder ihrer Söhne hatte sich nicht mit einer einzigen Ehefrau begnügt, sondern mehrmals geheiratet und in jeder Ehe eifrigst für Kinder gesorgt – männliche Kinder, natürlich, bis auf diese eine Ausnahme, und das ausgerechnet in der Franz-Linie. »Wie viele verstehst du unter alle?« Wieder dieses lächerliche, geradezu kindische Glucksen eines Mannes von jetzt sechsundsiebzig Jahren, das an ihren Nerven zerrte. »Na, na, liebe Sophie, du wirst doch hoffentlich noch wissen, wer alles zu deiner Familie gehört, oder?«

»Nein«, sagte sie schroff. »Ich habe die Übersicht verloren, wer von euch sich in den vergangenen fünfzig oder sechzig Jahren auf den fünf Kontinenten dieser Erde um wie viele vermehrt hat.«

»Mit denen aus eurem Osten sind wir derzeit circa hundertvierzig Familienmitglieder«, frohlockte er. »Die verflossenen Ehefrauen und die früh Verstorbenen unter uns von-Sand-Männern ausgenommen.« Sie schnappte nach Luft und keuchte: »Wie entsetzlich!« Er hörte das nicht, oder er wollte das nicht hören, wie er Zeit seines Lebens immer nur das gehört hatte, was ihm passte und was er widerstandslos drehen und wenden konnte. »Ich nehme stark an, dass du inzwischen dafür gesorgt hast, dass Gut Distelitz wieder uns gehört«, redete er also weiter. »Symbolische Mark für den Rückkauf und so, du verstehst?« Er wartete ihre Antwort nicht ab und fuhr fort: »Wir alle freuen uns auf dieses Treffen auf unserem Familienstammsitz. Die meisten unter uns haben ja unser Gut noch nie gesehen. Gut Distelitz, Graf von Sand! Das sind Namen, was? Nicht viele können von sich behaupten, dass sie Nachkommen einer im 16. Jahrhundert gegründeten Dynastie sind.«

»Zum einen«, begann Sophie, »es gibt kein ›von‹ und keinen ›Graf‹ mehr, das hat die DDR Gott sei Dank abgeschafft. Zum anderen, Gottfried war nur ein kleiner Graf – also von wegen ›Dynastie‹!« Bissig setzte sie hinzu: »Aber du hast schon als Kind mit deinem Namen und deiner Herkunft schamlos angegeben.« Einen Moment lang hatte Franz nun doch geschwiegen. Schon wollte Sophie den Hörer auflegen, da bat er mit streichelweicher Stimme: »Erzähl mir von unserem Haus, Sophie.« Und da platzte der bis dahin gebändigte Zornesknoten in ihrem Inneren. »Mein Haus!«, sagte sie laut. »Es ist immer noch mein Haus!« Sagte bitterböse: »Besser ausgedrückt, diese Bruchbude hier gehört tatsächlich wieder mir, und zwar mir allein.«

»Warum Bruchbude, liebste Sophie? Hast du etwa …«

»Ich habe nicht«, unterbrach sie ihn heftig. »Ich musste gewisse Veränderungen und Zerstörungen zulassen, ich wurde einfach nicht gefragt, weder von den plündernden Siegern des letzten Krieges damals noch von den Vertretern der DDR.« Sie schnaufte und fügte leiser hinzu: »Auch nicht vom Zahn der Zeit, der lässt sich nämlich nicht aufhalten, der nagt bereits seit Jahrhunderten an Distelitz.«

Danach war nicht mehr viel zu sagen gewesen. Schließlich hatte Franz versprochen: »Alles wird wieder gut werden, liebste Sophie. Dafür werde ich sorgen – als Familienoberhaupt.«

Sophie hatte wortlos den Hörer aufgelegt, eine Weile nur dagesessen im Foyer, in dem es wie in jedem Winter zog wie Hechtsuppe, und auf das Tosen der See unterhalb der Steilküste gehorcht und auf den Sturm, der über die Insel jagte. Dann, als ihr Kopf sich wieder mit Gedanken füllte, war sie nach oben und ins Bett gegangen.

Dass ich nicht lache, dachte sie jetzt wütend und zog das Federbett noch ein wenig höher. Ausgerechnet Franz als Familienoberhaupt! Obwohl der älteste ihrer Söhne – allesamt zwischen 1916 und 1920 geboren –, hatte er Gut Distelitz als Letzter verlassen. Während sich Friedhelm, Claus, Carlos und Felix bereits in der Weltgeschichte herumtrieben, hatte Franz sich lediglich die paar Kilometer bis nach Berlin bewegt und dort, gerade mal achtzehnjährig, die Uniform der neuen Machthaber Deutschlands angezogen. In dieser kam er dann in jeder freien Minute zurück in den heimatlichen Stall, gefolgt von einem Schwarm anderer junger arroganter, irregeleiteter Männer in Uniform, die mit ihren Stiefeln das Parkett in der großen Halle im Erdgeschoss sowie die Flanken der damals noch vorhandenen edlen gräflichen Reitpferde malträtierten, alles Vorhandene wegfraßen und wie die Löcher soffen, so manches flennende oder verzweifelte Inselmädchen zurückließen und auch sonst für alle möglichen Ärgernisse zuständig waren. Schließlich ging auch Franz, das heißt, er ging nicht freiwillig, denn Sophie schmiss ihn nach den von ihm inszenierten folgenschweren Ereignissen in der Silvesternacht 39 aus ihrem Haus und letztlich auch aus ihrem Sinn – eine zumindest für Bertha, damals noch Kindermädchen auf Distelitz, notwendige und verständliche Reaktion auf all das, was Franz seiner Mutter und damit dem Gut sowie der Insel angetan hatte. Im Gegensatz zu zwei seiner jüngeren Brüder und einem, der noch immer als verschollen galt, überlebte er den Krieg und hielt sich in den Jahrzehnten danach in verschiedenen Berufen im westdeutschen Raum mehr unter als über Wasser. Ein paarmal hatte er bis zum Bau der Mauer noch versucht, sich bei Sophie wieder einzuschmeicheln. Doch er war auf Granit gestoßen, denn sie hatte nach all den Schicksalsschlägen – zu denen auch ihr kurz nach Felix’ Geburt gen Asien entwichener Ehe- und Lebemann Adalbert seinen Teil beigetragen hatte – in ihrem Leben genug mit der Rettung der eigenen Haut zu tun.

Und nun bezeichnete Franz sich großspurig als »Familienoberhaupt« und wollte in dieser Rolle über den Kopf seiner Mutter hinweg ein Treffen von womöglich über hundert Leuten auf einem Gut, das als solches gar nicht mehr existierte, inszenieren. Sophie schüttelte sich, aber nicht vor Kälte, sondern vor Empörung. Was dachte sich der Junge, dieser jetzt alte Mann denn? Vielleicht, dass der durch Adalberts Verschwinden mit sämtlichen finanziellen Reserven und den Verlusten während der Weltwirtschaftskrise ohnehin schon durchlöcherte und mit der Enteignung nach 195o durch die DDR gänzlich erloschene Glanz des einst gräflichen Gutes wie durch Zauberhand wieder aufgetaucht sei? Dass man die Uhr zurückdrehen konnte, einfach so, und alles war wieder in Butter?

Erneut durchfuhr sie ein Schauer, diesmal war es Zorn. Sie ahnte, nein, sie wusste genau, was ihr Ältester vorhatte, da konnte er noch so viel drum herumreden. Was ihn jetzt auf die Insel lockte, war bestimmt nicht seine Mutter, dazu kannte sie ihn zu gut. Nein, es war das, was nach zwei Weltkriegen von Distelitz noch oder vielleicht noch vorhanden war, auf das er spekulierte. Dieses alte Gutshaus war bestimmt nicht das Interessanteste für ihn; es war schon vor dem Krieg sanierungsbedürftig gewesen und, wie er sich sicher denken konnte, inzwischen zur Bruchbude verkommen. Der Sturm pfiff auch in dieser Nacht wieder durch alle Lücken und Löcher wie durch einen Schweizer Käse. Was jetzt noch für einen Mann wie Franz zählte, der sich großspurig Immobilienmakler und Anlageberater nannte, das waren doch lediglich die etwas mehr als sechs Hektar Land, die vom einstigen Gut, das sich einmal über ganz Wittow erstreckte, übrig geblieben waren. »Welche Möglichkeiten!«, hatte er am Telefon geschwärmt. Und sie, Sophie, war ja trotz ihres abgeschiedenen Lebens nicht weltfremd oder litt schon an Altersdemenz. Schließlich hatte auch das DDR-Fernsehen Bilder von westlichen Urlauberzielen gezeigt. Und Rügen, und da vor allem der Norden mit der Halbinsel Wittow, über die sich einst die Ländereien von Gut Distelitz erstreckt hatten, war nun einmal ein noch unverbautes, reizvolles Fleckchen, auf das sich die westlichen Urlauber schon bald stürzen würden wie die Aasgeier.

Also spekuliert mein Sohn darauf, den einstigen Park in die Finger zu kriegen, überlegte Sophie, während sie durch das gen Osten gerichtete Fenster vor ihrem Bett den grauen Streifen am Horizont beobachtete, der sich langsam zwischen Ostsee und Himmelsgewölbe schob. Aber er weiß, dass ich nie, nie zulassen werde, dass auch nur ein Zentimeterchen von Distelitz in fremde Hände kommt. Also wird er darauf hoffen, dass ich bald in der Familiengruft verschwinde, um freie Bahn zu haben. Doch Franz scheint zu vergessen, dass wir von-Sand-Frauen zäh wie Leder sind – um vieles zäher als die Männer in der Familie. Und er vergisst das Wesentlichste, dass er nämlich nicht mein Erbe ist, nicht Erbe sein kann. Zum einen wurde Gut Distelitz nämlich seit Gottfried und Adele nur an Töchter vererbt. Zum anderen gab es da ein ganz bestimmtes Papier im Koffer unter ihrem Bett. Und außerdem gab es in München nach dieser schier endlosen Reihe von Jungen – mit der sie, Sophie, selbst angefangen hatte – endlich ein Mädchen.

Sie seufzte. Noch zu jung, viel zu jung zum Erben war die Kleine. Und außerdem Urenkelin von Franz, ausgerechnet Franz! Aber bis zum Sterben blieb noch viel Zeit.

Sophie lachte; es war ein jämmerlicher Laut, den sie mit einem Zipfel ihres Kopfkissens erstickte. Zum Lachen gab es jetzt wirklich keinen Grund.

Resolut schlug sie das Federbett zurück und schwang ihre Beine über den Bettrand. Sie betrachtete ihre Füße; in einem der Wollsocken war ein ziemlich großes Loch.

Franz kriegt nichts, dachte sie, auch nicht über meine Leiche!

»Immer noch unsere Sanddistel, was?« Franz lachte, nicht zum ersten Mal in diesem Telefongespräch mit seiner Mutter ein paar Wochen vor dem von ihm geplanten Familientreffen auf der Insel. »Ja«, meinte er dann unvermittelt, »eure DDR, die hat es uns im Westen nicht immer leichtgemacht, die …«

»Erstens«, unterbrach Sophie ihn scharf, »erstens ist es nicht ›unsere‹ DDR gewesen, denn niemand hat uns gefragt, ob wir sie wollten oder nicht. Zweitens hättest du auch nach 61 mit deinem westdeutschen Pass jederzeit auf die Insel kommen und damit den Kontakt zu deiner Verwandtschaft im Osten erhalten können. Dann würdest du nämlich jetzt objektiver über die Verhältnisse hier reden können.«

»Ich weiß, ich weiß, Sophie! Aber glaube mir, auch wir im Westen haben nichts geschenkt bekommen. Wir waren nur schneller als ihr.«

»Was du nicht sagst!« Sie stöhnte.

»Aber bald wird sich auch bei euch alles ändern, Sophie. Deine gesamte Familie steht jetzt hinter dir.« Seine Stimme wurde eine Spur dunkler. »Ich würde gern vor den anderen kommen, aber ich habe gerade eine Menge um die Ohren. Diverse Immobilienprojekte im Ausland, die kosten Zeit und Kraft. Ich bin auch jetzt schon wieder auf dem Sprung zum Flughafen.«

»Willst du meine Meinung dazu hören?« Bevor er antworten konnte, sagte sie:«Von mir aus braucht niemand zu kommen, auch du nicht. Ich lege schon seit Jahren keinen Wert mehr auf Gesellschaft dieser Art.«

»Deine Familie ist keine ›Gesellschaft dieser Art‹, Sophie!« Er lachte, diesmal klang es gekünstelte. »Rechne mit einer Invasion deiner Familie auf unserer Insel.«

Ha, Familie!, dachte Sophie. Die meisten von ihnen sind doch Fremde für mich, auch wenn jeder dieser alten und jüngeren Männer und Jungen den Namen meiner Familie trägt und vielleicht das eine oder andere Merkmal – wie etwa die Segelohren vom seligen Gottfried oder das feuerrote Haar seiner Adele – aufzuweisen hat.

Sie wechselte den Hörer von einer Hand in die andere. Ihr linkes Ohr glühte bereits.

»… auch die aus dem Osten«, sagte Franz gerade.

Und Sophies Gedanken blieben an diesem Wort »Osten« hängen. In der DDR und in den anderen kommunistischen Staaten geblieben waren einige der Nachkommen von Friedhelm, ihrem zweitältesten und in Japan verstorbenen Sohn. Auch nicht wenige, aber immerhin eine noch überschaubare Schar von Angehörigen, von denen der eine oder andere manchmal kam, um ihr zur Hand zu gehen. Keiner von ihnen stellte besondere Ansprüche. Das hatten Kommunismus und Sozialismus so an sich, dass jeder mit dem zurechtkommen musste, was er sich erarbeitete. Und über die Träume in seinem Kopf redete man nicht, die behielt man aus verschiedensten Gründen für sich.

Heinrich, dachte Sophie jetzt und musste bei dem Gedanken an diesen ihrer Enkel im Osten lächeln. Heinrich ist mir und dem Haus am treuesten geblieben. Und Adam und Bertha. Das alte Mädchen seit 1920 und ihr Adam, unser Alterchen, seit 1942.

»Diese Mauer hat alles zerstört«, sagte Franz. »Ganze Familien auseinandergerissen, nichts …«

»Weißt du, Sohn«, unterbrach sie seinen Redeschwall, »ich bin ganz zufrieden mit dem, was ich habe.«

Sie hörte ihn laut atmen, dann wechselte er das Thema: »Ich sagte doch schon, dieses neue Gesetz zum Wiederaufbau im Osten …« Er zögerte kurz. »Ist noch … noch alles da?«

Sie lachte. »Was meinst du mit alles? Vielleicht dieses alte, marode Haus, das wahrscheinlich keinen Pfifferling mehr wert ist? Den verwilderten Park, der unter Naturschutz steht – und das alles am Arsch der Welt? Na gut«, setzte sie hinzu, »die Mauern von der Familiengruft gibt es noch, aber die ist bereits voll bis zum Rand.«

»Und die Ländereien …?«

»Ländereien?«, wiederholte sie gedehnt. »Du scheinst vergessen zu haben, dass dein Vater bis 1921 alles verscherbelt hatte.«

»Nicht alles«, widersprach er. »Es gab noch Felder, Wiesen, Waldstücke. Ich kann mich erinnern …«

Jetzt wurde Sophie böse.

»Nicht genug, um dieses Haus und dich und deine Brüder nach dem Verschwinden eures Vaters einigermaßen über Wasser halten zu können!«, erklärte sie in scharfem Ton. »Außerdem hatte jeder von euch so seine Ansprüche, falls du das vergessen haben solltest!«

Einen Moment lang schwiegen sie beide.

»Aber die Bilder, Sophie. Das Familiensilber. Und Adeles Schmuck! Nach dem Krieg hast du davon geredet, dass du die Sachen irgendwo im Keller vergraben hattest, bevor die Russen kamen.«

»Alles futsch, mein Junge.«

»Futsch? Alles?«

Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefasst hatte. Nur der Jubilierton in seiner Stimme war weg.

»Aber das Gutshaus gibt es noch. Welch eine tröstliche Vorstellung, Sophie – unser Haus als Ort der Wiedervereinigung der von-Sand-Familie. Ein Treffen auf heimatlichem Grund und Boden!«

»Ja«, sagte sie, »das muss man sich mal vorstellen – hundertvierzig von Sands auf heimatlichem Grund und Boden.«

Sie hörte ihn seufzen.

»Warum bist du so bissig, Sophie?«

Sie kniff die Lippen zusammen, drängte bestimmte Erinnerungen zurück und betrachtete dabei die kargen Reste der dunklen, vom Alter fast schwarz gewordenen Holzvertäfelung an den Wänden des einstmals so glanzvollen und von dem großen Lüster in der Mitte und unzähligen Wand- und Stehlampen immer hellbeleuchteten Foyers und dann das brüchige Treppengeländer, die von vielen Füßen blankgewetzten Marmorstufen, die zur Empore des oberen Geschosses führten. Sie spürte den kühlen Luftzug, der durch den großen Raum strich und sie trotz ihrer dicken Strickjacke frieren ließ. Wieder schloss sie die Augen und roch das Alter und die Zeit, die schon lange an diesem Gebäude nagten und es verfallen ließen, weil nichts und niemand sie aufzuhalten vermochte, kein guter Wille, nicht der beste Architekt und auch kein Geld. Sie hörte das leise Rascheln der letzten Körner, die durch die Sanduhr der Zeit und ihres eigenen Lebens liefen. Falls wirklich jemand dieses Haus einmal übernehmen sollte, überlegte sie, wird er schnell erkennen, dass nicht einmal Idealismus den Verfall noch aufhalten kann. Er muss nach vorn schauen, denn die Vergangenheit lässt sich nicht wiederholen. Und das Neue lässt sich dem Alten nicht aufzwingen, denn es würde das, was einmal war, verwischen und der Vergessenheit überlassen. Es reicht auch nicht, dieses Haus, diesen Platz hier zu mögen, vielleicht sogar zu lieben und seine Erinnerungen in Ehren halten zu wollen. Denn so wie Menschen sterblich sind, fallen auch einst festgefügte Mauern irgendwann in sich zusammen.

»Alles wird sich zum Guten wenden. Das verspreche ich dir«, meldete Franz sich wieder.

»Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, entgegnete sie. Und leise, mit einem Hauch milder Wehmut und Traurigkeit, fügte sie hinzu: »Vergiss nicht, dass ich dich kenne … seit dem Tag deiner Geburt vor jetzt fast achtzig Jahren.«

Schon als kleiner Junge hatte Franz den Mund meistens zu voll genommen, erinnerte Sophie sich, als sie nach dem Anruf ihres Sohnes in der düsteren und ziemlich leeren Bibliothek saß und sich am flackernden Kaminfeuer wärmte. Es war einer dieser Abende im Frühling, an denen der immer kühle Nordostwind von der See über die Steilküste im Norden der Insel stürmte, die fast kahlen Stämme der noch jungen Buchen im weitläufigen Park rund ums Gutshaus zum Ächzen und Knarren brachte, die losen Dachziegel und alten Fensterläden am Haus klappern ließ, in alle Ecken und durch trockenes Laub am Boden fuhr und dann stöhnend und fauchend ins flache Land mit seinen zart grünenden Äckern und Wiesen einfiel. Regen, vermischt mit Graupelschauern, klatschte gegen die hohen Fenster, Nässe und Kälte zwängten sich durch Risse und Ritzen in den brüchigen Rahmen ins Innere. Die dünneren Zweige der einzigen mächtigen Buche auf dem Anwesen, die schon zu Lebzeiten von Sophies Ururgroßmutter alt gewesen war und die Kahlschläge auf der Insel überlebt hatte, fingerten kratzend über den hölzernen, schon lange nicht mehr benutzbaren Balkon an der Südmauer des Gebäudes. Und unten am Strand schlugen die Wellen mit Getöse gegen die einst von Riesenhand ans Ufer geschleuderten Steine. Die Dunkelheit draußen war voller Geräusche, voller Töne und wilder Gesänge. Sophie kannte sie alle, seit über neunzig Jahren hörte sie selten etwas anderes. Sie kannte auch die Geräusche im Haus, wo alles atmete, knackte, raschelte oder knisterte – im Gebälk, in Schränken und Truhen, in rostenden Scharnieren, unter den schmalen Treppenstufen aus Holz, die vom Gang zur Küche nach oben zum Dachgeschoss führten. Sogar der alte Holzboden in der Bibliothek schien sich in solchen Nächten wie dieser zu regen, zu seufzen und Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen.

»Sophie« hat der Junge mich genannt, ging ihr durch den Kopf. Wann hatte Franz damit aufgehört, sie »Mutter« zu nennen? Hatte er überhaupt einmal »Mutter« zu ihr gesagt?

Es fiel ihr nicht ein, und sie zog den flusigen Wollschal enger um ihre im Alter schmalgewordenen Schultern und versuchte sich ihren Sohn als nun alten Mann vorzustellen. War er Adalbert, seinem Vater, ähnlich? Doch an das Aussehen des Erzeugers ihrer fünf Söhne konnte sie sich nur noch schwach erinnern, da sie vor dem Einmarsch der russischen Armee auch alle Fotoalben irgendwo im weitläufigen und im Lauf der Zeit teilweise eingestürzten Keller vergraben hatte. Und außerdem hatte sie ihn ganz bewusst aus ihren Erinnerungen gestrichen. Adalbert war Forscher, Weltreisender und Genießer der schönen und leichten Dinge des Lebens gewesen, außerdem ein Dieb und Betrüger. Dass Adalbert verschwand, war Pech und Glück für mich, sagte Sophie sich nicht zum ersten Mal. Pech, weil sie von heut auf morgen mit fünf kleinen Kindern und einem nach dem Ersten Weltkrieg langsam, aber sicher verkommenden Gut mit zu wenigen Arbeitskräften und einem vorn Gatten ohne ihr Wissen geleerten Bankkonto dastand. Glück, weil sie diesen zu jeglicher Arbeit auf dem Gut unfähigen, dafür umso lebenshungrigeren Ehemann endlich losgeworden war. Glück ebenfalls, weil zu diesem Zeitpunkt außer ihrer Mutter und deren Mutter auch noch ihre Urgroßmutter lebte, alles Frauen, die ähnliche Erfahrungen mit ihren Ehemännern gesammelt hatten und trotzdem nie auf den Gedanken gekommen waren, den früh Flüchtigen auch nur eine einzige Träne nachzuweinen. Also weinte auch Sophie ihrem Adalbert keine Träne nach. Jedenfalls keine öffentliche.

Auf Distelitz war in dieser Zeit sowieso eine Menge zu regeln und zu tun gewesen. Geblieben waren Sophie und den älteren von-Sand-Frauen außer dem maroden Gutshaus und verfallenden Nebengebäuden nur Schulden sowie ein paar Gemälde, die alte Familienbibel, das unhandliche, schon immer selten benutzte Familiensilber und jener Familienschmuck, den Gottfried einst seiner Adele geschenkt hatte und der seitdem von Frau zu Frau vererbt wurde. Doch die Freude daran beziehungsweise darüber war kurz, denn die Zeit, in der sich Deutschland zwar von den Folgen des Ersten Weltkrieges, der Weltwirtschaftskrise und anderen Widrigkeiten erholte, gleichzeitig aber den Zweiten ins Auge zu fassen begann, und in der ihre fünf Söhne zu Männern mit standesgemäßen Ansprüchen heranwuchsen, forderte auch von Sophie immer wieder neue Opfer.

Sie kuschelte sich in Adalberts alten Ohrensessel. Zwischen Herbst und spätem Frühling waren die Küche mit dem riesigen Eisenherd und die Bibliothek mit ihrem offenen Kamin die einzigen beheizten Räume im ganzen Haus. Im Foyer war es eisig kalt, und auch im Obergeschoss, wo es nach den Umbauten nach der Gründung der DDR nun mehr als zwanzig Schlafräume gab, herrschten Kälte und Feuchtigkeit, der Schimmel hatte sich in allen Ecken festgesetzt, der Putz bröckelte, die Linoleumböden schlugen Wellen. Trotzdem hatte Sophie sich hier oben eines der Eckzimmer als Schlafraum eingerichtet, nachdem auch Adam und Bertha wieder zurück ins Haus gekommen waren und Sophies ehemaliges Zimmer zwischen Küche und Bibliothek bezogen hatten, in dem ein kleiner Kachelofen allen Abrissversuchen widerstanden hatte.

Schon Anfang der dreißiger Jahre hatten die von-Sand-Frauen auf den Trümmern des linken Nebengebäudes, in dem früher die Landarbeiter und ein Teil des Hauspersonals gewohnt hatten, einen großen Küchengarten angelegt, in dem sie Kartoffeln, Obst und Gemüse anbauten. Zwischen den Apfelbäumen auf der Obstwiese, die an die alte Remise auf der rechten Seite grenzte, liefen damals Ziegen und mindestens drei Dutzend Hühner herum, während sich die Schweine im Schlamm hinter der Remise suhlten. Im Stall standen die letzten Pferde eines noch zu Zeiten von Adalbert prächtigen Gestüts, bis sie von der Wehrmacht beschlagnahmt wurden. Inzwischen waren die Nebengebäude fast vollständig in sich zusammengefallen. Nur die Kellerräume darunter existierten zum Teil noch – ebenso alt wie das Gutshaus. Dafür, dass sich niemand in diese Unterwelt verirrte und womöglich von nachrutschendem Erdreich verschüttet wurde, hatten Sophie und Adam kurz vor Kriegsende gesorgt, Öffnungen mit Brettern vernagelt, Schuttberge aufgehäuft, Mauern aus Feldsteinen hochgezogen. Die meisten von diesen Durchgängen waren noch immer nicht wieder geöffnet worden.

Wozu auch, dachte Sophie, während sie in die Glut auf dem Eisenrost sah und dem Sturm zuhörte, der ums Haus tobte. Der alte Gottfried, der den Boden unter den Gebäuden durchgegraben hatte wie ein Maulwurf, wird seine Gründe für den Erhalt dieser Unterwelt gehabt haben. Wir, Adam, Bertha und ich, brauchen nicht mehr als den Kellerraum für die Kohlen, einen für unsere Vorräte und dann noch den anderen, den wir nach dieser enormen Apfelernte vor ein paar Jahren endlich freigeräumt haben – weil da nämlich die Geräte für meine heimliche Schnapsbrennerei zu finden waren.

Ein plötzlicher Windstoß fauchte durch den Kaminschlot, die Glut stob auseinander und spritzte funkelnde Sterne gegen das Schutzgitter. Ein paar davon fielen auf den alten Holzboden. Sophie streckte die Füße aus und zertrat die glühenden Reste mit ihren ausgelatschten Pantoffeln. Das fehlt noch, dachte sie, dass das Haus in Flammen aufgeht, bevor Franz und die anderen sich davon überzeugt haben, dass hier nichts, aber auch gar nichts mehr zu holen ist außer ein paar Erinnerungen und vielleicht etwas Sehnsucht nach der Rückkehr längst vergangener Zeiten.

Vielleicht tue ich ihm in manchen Dingen Unrecht, überlegte sie. Tief in ihrem Inneren war sie überzeugt davon, dass auch die eine oder andere positive Saite in ihrem ältesten Sohn war. Doch deren Klang wurde von den schrillen Tönen in seinem Wesen überdeckt. Das Gute in ihm war und blieb wohl für immer verschüttet. Inzwischen war er sechsundsiebzig, nur sechzehn Jahre jünger als sie, seine Mutter. Ein alternder Mann, der zeit seines Lebens mit sich selbst nicht ins Reine hatte kommen können. Ein Träumer, ein Gratwanderer, ein Verlierer war und ist er, sagte sie sich. In Liebe gezeugt und von uns Frauen mit großen Erwartungen überhäuft. Kein Wunder, dass er immer wieder scheitert.

Na ja! Sophie keckerte leise vor sich hin, halb bedauernd, halb amüsiert. Die Frauen auf Distelitz hatten ihren Männern schon immer ziemlich harte Nüsse zum Knacken gegeben, sie nicht ausgeschlossen.

»Gibt es etwas zum Mitlachen?«, fragte Bertha, die mit einer Kanne Tee und zwei Henkelbechern auf einem Tablett in die Bibliothek kam. Sophie schnupperte in den Dampf, der aus der Kannentülle stieg und sich im Raum verteilte. Er roch nach Kräutern, die sie und Bertha in jedem Jahr auf den Wiesen und in den Wäldern der Insel sammelten und in der alten Remise in Bündeln trockneten und die dann als Tee verbraucht oder in Salben und Cremes verarbeitet wurden, welche Sophie auf den Wochenmärkten in der Umgebung verkaufte.

»Friedhelm«, sagte Sophie. »Erinnerst du dich an Friedhelm?«

»Wie könnte ich Friedhelm vergessen, da wir doch seine Zwillinge Heinrich und Dietmar hier im Haus hatten«, meinte Bertha. »Viel mehr als diese beiden hat er ja nicht hinterlassen, als er 49 in Japan an der asiatischen Grippe starb.«

Sophie nickte. »Er war immerhin noch bei Verstand, als er in seinem Testament verfügte, dass seine verschiedenen Innereien der medizinischen Forschung in seiner Wahlheimat zu übergeben und der Erlös daraus für seine Überführung in die Familiengruft sowie für die Flugkosten seiner beiden Söhne aus erster Ehe nach Deutschland genutzt werden sollten.«

Bertha goss Tee in beide Becher. »Ein Glück für uns, zumindest was Heinrich betrifft.«

Sophie lächelte bei dem Gedanken an diesen ihrer diversen Enkel. Heinrich, dessen Frau schon gestorben war, lebte seit vielen Jahren in Erfurt und damit in der Nähe seines älteren Sohnes Walter und dessen bisher einzigem Sohn René, während es Dietmar nach Dresden und seine zahlreichen männlichen Nachkommen unter anderem nach Polen, Rumänien und Tschechien gezogen hatte.

»Heinrich ist ein Glücksfall.«

»Scher nicht alle anderen über einen Kamm, bloß weil dein Franz so ist, wie er ist.«

»Ja, ja, ich weiß.« Sophie seufzte. »Du hast recht. Ich bin eine störrische, verbitterte Alte, die nicht akzeptieren kann, dass ihre Zeit fast vorbei ist. Eben eine Sanddistel, die auch noch zusticht, wenn Blätter und Blüte schon vertrocknet sind.« Dann stieß sie einen noch längeren Seufzer aus. »Ach, Bertha, warum konnten wir nie die Zeit aufhalten, damit alles so blieb, wie es einmal war? Und warum ist dieses Theater um die Mauer und die Wiedervereinigung für unsereinen kein Grund zum Jubeln? Schließlich haben wir im Osten nach dem Krieg auch weitergelebt, und nun soll auf einmal alles, was wir uns geschaffen haben, nichts mehr gelten, bloß weil der Westen uns jetzt vor Augen halten kann, dass wir und der Kommunismus und Sozialismus in unserem Land schon Fossilien sind?«

Draußen hatte der Sturm noch zugenommen, riss an allem Beweglichen, schlug die alten Fensterläden gegen das Gemäuer und klapperte mit den Dachschindeln.

»Du siehst Gespenster, Sophie.« Bertha reichte ihr einen der Becher. »Trink erst mal was Heißes, bevor du weitergrübelst. Dieses feuchtkalte Wetter zieht einem alle Wärme aus dem Körper und verdüstert die Seele, da wirkt ein guter Tee wahre Wunder.« Sie rückte sich einen der Stühle, die um den runden Tisch in der Mitte der Bibliothek standen, in die Nähe des Kamins. Unvermittelt sagte sie: »Vergiss nicht, dass es bei denen im Westen jetzt auch ein Mädel gibt.«

»Richtig. Beatrice VII. von Sand.« Sophie schmeckte den Namen auf ihrer Zunge.

Sie sah Bertha an, die Gefährtin vieler Jahre, Jahrzehnte, betrachtete das runzelig gewordene, ermüdete Gesicht, das ihr eigenes Altern widerspiegelte. Sie schaute forschend in die mit den Jahren matt gewordenen Augen unter den noch immer dicken, nun weiß wie Mehlstaub wirkenden Brauen und dachte daran, dass es gute Augen waren, deren Blick sie noch immer wärmte und stärkte, manchmal und auf freundschaftliche Art und Weise auch verspottete oder maßregelte und sie oft an ihre Grenzen zu erinnern wusste.

Dann bewegte Bertha sich auf ihrem Stuhl; sie beugte sich vor. »Du solltest diesen alten Sessel endlich auf den Müll werfen. Der ist viel zu groß für dich.« Sie sah sich um. »Überhaupt ist hier vieles zu groß für dich geworden.«

»Adalbert hat oft hier gesessen.«

»Dein Adalbert, ja, der hat hineingepasst. Der hat damals den Sessel ausgefüllt, so stattlich war er.«

»Er war ein Schuft«, sagte Sophie.

Adalbert hatte nämlich vor etwa sieben Jahrzehnten zum letzten Mal in diesem Sessel gesessen, genau an dem Tag, an dem Bertha das Gutshaus, in dem ihre Mutter als Köchin arbeitete, betreten hatte, um als Kindermädchen die Aufgabe zu übernehmen, fünf kleine, zum Teil noch in den Windeln steckende Jungen unter einen Hut zu bringen. Am nächsten Morgen war er weg, sozusagen vom Erdboden verschwunden. Inzwischen war das Leder des Ohrensessels brüchig und rissig geworden. Das Füllmaterial quoll heraus und stank bei feuchtem und kaltem Wetter wie ein ganzer Schafstall. Und das Holz knarrte bei jeder Bewegung, denn das Monstrum hatte viel Zeit an anderen und weniger einladenden Orten verbracht – zuerst auf dem staubigen Dachboden, dann in der Remise zwischen anderem Müll aus FDGB-Zeiten, dann im Keller, bevor Sophie und Adam es wieder hochgewuchtet, gereinigt und in der Bibliothek an den Kamin gerückt hatten. Schon vor Jahren hatte Adam das alte Ding verbrennen wollen, weil er nicht mehr wusste, wo er noch flicken, kleben oder nageln sollte. Aber da ließ Sophie nicht mit sich reden, das Erbstück, das schon Generationen vor ihr in Ehren gehalten hatten, musste bleiben, in diesem düsteren Raum und wieder genau an demselben Platz wie zu Adalberts Zeiten und wahrscheinlich schon vor einigen Hundert Jahren.

»Du solltest das Monstrum rausschmeißen.«

»Das Monstrum bleibt!«

Bertha seufzte.

»Franz hat sich nach Adeles Schmuck erkundigt«, sagte Sophie.

»Oh!« Bertha zog ihre Mehlbrauen hoch. »Und … hast du …?«

»Ha!«

»Dann ist man gut.«

Lange saßen die beiden Frauen nur da, schwiegen und schauten den Flammen im Kamin zu und auf die brüchig gewordenen Kacheln, mit denen er eingefasst war und auf denen der selige Gottfried die Geschichte seiner adligen Herkunft in Miniaturen hatte verewigen lassen. Die Farben wirkten verblasst, die Glasur, von der Hitze und vom Alter gerissen, legte sich gleich zarten Spinnennetzen auf Jagd- und Ballszenen, auf winzige, kaum noch erkennbare Gesichter, über die Konturen von einstigem Prunk und Wohlstand. Zuweilen, wenn eine der Flammen aus dem Holzrest hochleckte, schienen sich die Figuren einen Moment lang zu bewegen, schienen zu unhörbarer Musik über glänzende Böden zu schweben, dann flogen winzige Jagdhunde hinter einem Hirsch her, da beugten sich kräftige Buchen im Sturm und flatterten Segel am Mast eines Schiffes auf dem Meer.

»Ich war damals sechzehn und hatte keine Ahnung von Kindererziehung«, sagte Bertha unvermittelt. Sophie lachte, und dabei tanzten die Faltenkränzchen in ihrem Gesicht lustig hin und her.

»Ich auch nicht, obwohl ich schon zwanzig war und fünf Kinder hatte. Und auch sonst wusste niemand hier im Haus genau, wie man Jungen erziehen sollte. Mädchen ja, aus denen wäre etwas Ordentliches geworden.«

Bertha verzog ihren großen Mund, so dass er noch breiter wirkte.

»Das kommt davon.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Davon, dass ihr von-Sand-Frauen seit jeher die Eigenheit habt, eure Männer früh aus dem Haus zu treiben.«

»Jede von uns hatte ihre Gründe.« Sophie trank ihren Becher aus und erhob sich. Einen Moment lang stand sie nur da und horchte mit schiefgelegtem Kopf auf das Heulen des Windes draußen und auf die Geräusche im Haus. Irgendwo hoch über ihnen tropfte es, kaum hörbar, aber stetig.

»Wieder das Dach«, erklärte Bertha. »Überall sind Löcher, seit neuestem auch in der Decke zum Dachboden. Bei dem Regen sollten wir bald Eimer aufstellen.«

»Das Haus ist wie ich – überall Löcher und Wunden, in denen die Zeit herumbohrt.« Sophie hustete und lachte dann heiser. »So«, sagte sie. »Bevor es hier noch kälter wird oder sogar bis nach unten durchregnet und auch du noch sentimental oder zornig wirst, sollten wir lieber Schluss machen mit dem Lamentieren und ins Bett gehen.«

Sentimentale Stimmungen hatte sie sich in ihrem bisherigen Leben äußerst selten erlaubt. Manchmal in ihren jüngeren Jahren und wenn sie an ihre Söhne dachte, die sie gar nicht richtig kennengelernt hatte, weil sie so früh fort und damit aus ihrem Leben gegangen waren, gab es diese Momente, in denen ihr Herz seltsam weich geworden war. Oder wenn sie sich an die Zeit mit Adalbert erinnerte, den sie im Alter von fünfzehn Jahren geheiratet hatte, nein, heiraten musste und auch wollte, weil er sie auf einer Wiese des Gutes zwischen reifenden Ähren, Kornblumen und Mohnblüten zum ersten Mal geschwängert hatte und sie ihn trotz all seiner Fehler und Schwächen und Liebschaften bis zu dem Moment leidenschaftlich liebte, in dem er sie für immer verließ. So etwas konnte er mit all den anderen Mädchen und Frauen in seinem Leben machen – aber nicht mit ihr! Da stieß sie ihm ihre Distelstacheln ins Fleisch, da verbannte sie die Erinnerung an sein schönes Gesicht, an seine dunklen Augen, in denen sie sich vom ersten bis zum letzten Tag ihres Beisammenseins verlieren konnte, auch die Erinnerung an seinen kräftigen, athletischen Körper, an seine melodische Stimme, seine begehrlichen Hände und Berührungen, sein mitreißendes Lachen, seine eleganten Bewegungen, seinen unwiderstehlichen Charme … verbannte einfach alles, was er einmal für sie gewesen war, für immer. Danach war sie gefeit gegen jeden, nun, gegen fast jeden Mann, der ihren Weg kreuzte.

Das stimmt nicht, das mit dem Vergessen, sagte sie sich jetzt, während sie kurz nach Sonnenaufgang im Küchengarten das Unkraut zwischen zarten Salatköpfen und Karotten-, Bohnen- und Kohlrabigrün zupfte. Wenn sie nämlich ehrlich war, dann hatte sie nichts vergessen, nicht einen Tag dieser Zeit mit Adalbert. Schon gar nicht für immer vergessen, das war überhaupt nicht möglich, denn wenn sie einen ihrer Söhne oder später einen ihrer ersten Enkel aus Friedhelms Verbindungen angesehen hatte, erkannte sie hier schon wieder den Schwung von Adalberts Lippen in ihren Gesichtern oder da diesen Blick, der sie noch immer tief im Inneren berühren konnte. Oder sie hatte das Elegante wiedererkannt, mit der ihre Söhne sich wie einst ihr Vater auf ein Pferd schwangen, um loszupreschen, wild, zügellos. Da wurde sie weich und verletzlich, ganz von innen her.

Obwohl Sophie jedes Kleidungsstück, das sie an diese Vergangenheit und ihre hellen Träume hätte erinnern können, verräumt oder sogar vernichtet hatte, öffnete sie zuweilen diesen wuchtigen, längst wurmstichigen Kleiderschrank, den sie nach Adalberts Verschwinden aus ihrem Schlafzimmer entfernt hatte und der den gierigen Augen und Händen der Roten Armee und später auch der Neugier nach alten Werten Wühlender entgangen war, weil er in einer dunklen, von dichten Vorhängen aus Spinnweben verdeckten Ecke auf dem weitläufigen Dachboden allmählich verrottete. Dann atmete sie den Geruch der für immer verlorenen Zeit ein. Und dann wurde ihr fast schmerzhaft bewusst, dass auch sie und dieses mehr und mehr verfallende Haus auf dem besten Weg waren, sich in eine Art Dornröschenschlaf zurückzuziehen, aus dem es kein Erwachen mehr geben würde, weil die Prinzen schon vor langer, sehr langer Zeit verschwunden oder gestorben waren.

Das muss am Älterwerden liegen, dass mehr und mehr Erinnerungen auftauchen, dachte sie, während sie sich aufrichtete, einen Haufen Unkraut in der Hand, und ihren schmerzenden Rücken streckte. Vom Garten aus hatte sie einen freien Blick auf die See, wo sich dunkle Wolken zusammenzogen und leiser Donner grollte. Etwas Regen wäre gut, überlegte sie; nicht zu viel, sonst ersäuft mir hier alles, und dann der Dreck in der Küche und Berthas Gezeter. Sie kicherte in sich hinein, weil sie plötzlich an die Frauen vor ihr denken musste. Genauso wie sie hatten sie von dieser Stelle aus nach dem Wetter geschaut und sich Gedanken über zu viel Nass im Küchengarten und den Schmutz auf dem Parkett im Foyer gemacht.

Damals, zur Zeit ihrer Großmutter, waren alle Räume im Haus noch hell, warm und gemütlich, auch im Foyer prasselte das Feuer im großen Kamin, überall standen Bodenvasen mit frischen Zweigen oder späten Blüten aus dem Park, dazwischen der schwarzglänzende Flügel und hübsche weiche Sofas und Sessel und niedrige Tischchen auf wertvollen Teppichen auf dem Parkettboden, darüber der riesige glänzende und stets leise, ganz leise klirrende Kronleuchter aus Kristall, dessen Licht jeden Winkel und sogar die Bildergalerie entlang der Treppe nach oben beleuchtete. »Salon« nannte man das Foyer damals, und in diesem »Salon« versammelten sich bis kurz vor dem Ausbruch des ersten großen Krieges im Jahre 1914 Künstler, Philosophen, Diplomaten und Politiker, die sogar aus Berlin anreisten. Silvester wurde zum rauschenden Fest, und in den Sommernächten brannte unten am Strand ein knisterndes, funkensprühendes Feuer, um das die Gäste tanzten oder über das sie sprangen, paarweise und Hand in Hand, auf ihren Gesichtern ein berührender Glanz und die Sehnsucht nach Unbenennbarem. Und Sophie, das Kind, das heranwachsende Mädchen, mitten unter ihnen. In diesem Salon hatte sie mit Adalbert getanzt, Jahre später mit Sergej, dem wundervollen Pianisten und Liebhaber, und noch später einmal mit Jakob, dem dritten Mann in ihrem Leben, den sie geliebt und mehr gebraucht hatte als die anderen beiden. Einmal hatte sie mit ihm getanzt, ein einziges Mal nur und in einer Zeit, die vollgepresst war mit Misstrauen, Angst und Hoffnungslosigkeit.

Sie schmiss das gezupfte Unkraut mit energischem Schwung auf den Komposthaufen, wollte dabei auch diese plötzlich lebendig werdende Erinnerung an jenen Winter 44/45 loswerden. Doch das war nicht so einfach, also musste sie die Bilder, die da auftauchten, zulassen. Das war der härteste Winter seit vielen Jahren gewesen, die Ostsee an ihren Rändern zugefroren, die Steine mit einer dicken Eiskruste am Ufer, und zwischen den Steinen, auf einer gefrorenen Schicht von Tang und Dreck dieser Mann, dieser Tote, dessen Uniform nur noch aus spärlichen Fetzen bestand, der keine Erkennungsmarke, keinen Ausweis, keine Briefe von Angehörigen bei sich trug, weil der Sog, die unermüdlich zugreifende Kraft des Wassers sie fortgetragen hatte. Nur dieses verwaschene, zerknitterte Foto, das eine fremde junge lachende Frau zeigte, fand sich später im Rest seiner Uniformjacke, genau da, wo der zerrissene Fetzen Stoff über seinem Herzen lag. Vielleicht, hatte Sophie damals gedacht, vielleicht war er Engländer, vielleicht Amerikaner oder Russe, vielleicht sogar ein deutscher Soldat, über der See abgeschossen, von einem torpedierten Schiff über Bord gegangen, verletzt oder schon tot, von der eisigen Kälte gnädig umfangen und von den stürmischen Wellen hierhin und dorthin getragen, langsam entkleidet und schließlich an Land gespült. Es war ihr in diesem Moment egal, wer er war, denn jeder Tote sah seltsam einsam und in sich zurückgezogen aus, und diese sichtbare Einsamkeit berührte ihr Herz mehr als die Bilder von Flüchtlingsströmen, von brennenden oder schon zerstörten Städten, die jetzt in allen Zeitungen zu sehen waren.

Sie war an diesem Morgen die Stufen vom Park zum Strand hinuntergestiegen, dann sah sie den Toten, und sein Gesicht war so weiß und glänzend wie die dicke Eisschicht auf den rundlichen Steinen am Ufer. Die weißlich grünen Schaumkronen der auflaufenden Wellen hatten sich auf einem seiner Stiefel und an den spärlichen Resten seiner Kleidung festgesetzt und waren dort zu Eis geworden und erinnerten Sophie an das Eiweißgebäck aus Berthas Küche. Das hatte ihre Freundin im zweiten Jahr dieses Krieges zum letzten Mal gebacken und mit Pistazienkernen verziert, an dem Tag, als sie endlich ihren Jugendfreund Adam heiraten konnte, den man wegen einer Kriegsverletzung vorzeitig nach Hause auf die Insel geschickt hatte. Der Unbekannte war nicht der erste Tote, den Sophie sah, denn sie hatte schon zwei Jahre zuvor den größten Teil ihres Hauses für die Einrichtung eines Erholungsheimes für Verwundete freigegeben. Aber dieser Tote am Strand war jünger als alle anderen, die sie in den damals fünfundvierzig Jahren ihres Lebens zu sehen bekommen hatte. Bei seinem Anblick erhielt der Panzer, den sie in dieser schrecklichen Zeit, nein, wahrscheinlich schon sehr viel früher, um ihr Herz gelegt hatte, um überleben zu können, einen Riss. Sie dachte an Franz und Felix, ihre Söhne, die in diesem Krieg noch kämpften, der eine auf deutschem, der andere auf afrikanischem Boden, beide vielleicht schon verwundet oder bereits gefallen, ohne dass man es wusste, und nun irgendwo in fremder Erde vermoderten und deren Knochen auch ihre Knochen waren, deren Blut auch das ihre war. Sie dachte, während sie das Gesicht aus Eis auf dem gefrorenen Ufer betrachtete, an ihren Sohn Friedhelm in Japan, an Carlos, der irgendwo in Kolumbien lebte, und an Claus, der in Australien wahrscheinlich noch immer in einer sandigen Grube nach Smaragden grub. So verloren wirkte dieser fremde und tote Junge vor dem bedrohlich dunklen Himmel, vor der anstürmenden See und all dem Eis am Ufer, dass sie sich neben ihn hockte, ihre Hose, eine alte Trainingshose von Adam, und Schuhe, ebenso alt, nun feucht vom Wasser und kalt vom Sturm, und die erstarrte, von Krebsen oder Fischen oder von der stürmischen See selbst angenagte Hand des einsamen Fremden mit ihren eigenen kalten und noch ganzen Händen umhüllte, in der törichten Hoffnung, sie zu wärmen oder sich von ihr wärmen und vielleicht auch trösten zu lassen, für einen Moment nur, einen Herzschlag lang. Gemeinsam mit Adam und Bertha hatte sie den Toten die endlosen Treppen zwischen Strand und dem oberen Rand der Steilküste hinaufgetragen und ihn dann in der Familiengruft beisetzen lassen. Das Foto hatte sie zusammen mit ein paar von den Fetzen seiner Kleidung in ein unscheinbares Kästchen gelegt und in der Bibliothek verwahrt und noch später, als sie Distelitz verlassen musste, mitgenommen. In den folgenden Jahren hatte sie dieses Kästchen immer wieder geöffnet, um den Inhalt anzusehen oder ihn jemandem zu zeigen, der vielleicht etwas damit anfangen konnte. Schließlich hatte jemand, ein Feriengast aus Berlin, das Foto mitgenommen, um es seinen Bekannten und Freunden zu zeigen. Doch damit war nur das Bild aus ihrem Leben verschwunden, nicht aber die Erinnerung an jenen Unbekannten und die Hoffnung, dass sich dieses Rätsel doch einmal lösen würde.

Der steinerne Sarg stand noch immer in der Gruft zwischen den Särgen und Urnen der toten von Sand. Und manchmal stieg Sophie die Steinstufen hinunter, legte ihre Hand auf den Stein und dachte an Adalbert, den Vater ihrer Söhne, der vielleicht noch lebte oder vielleicht doch schon in einem Sarg aus einer japanischen Tischlerei unter der Erde lag. Und für den und für ihre ihr fremd gewordenen Söhne dieser Fremde ein Ersatz war.

»Hör endlich auf, sentimentale Alte!«, schalt Sophie sich laut. Vom Zaun flog zeternd eine Amsel auf, als sie mit der Hacke wie wild in die trockene Erde rund um die Bohnenschösslinge schlug. »Verrückte Alte!«, keuchte sie, als sie endlich damit aufhören konnte.

II. Kapitel

Der Zeitpunkt für das erste Treffen derer von Sand aus Ost und West, aus Nord und Süd auf Distelitz, das er, Franz, nach reiflicher Überlegung für Juli und August 92 geplant hatte, war seiner Meinung nach gut gewählt. Die überschäumende Euphorie auf beiden Seiten Deutschlands nach dem Mauerfall hielt sich nun in erträglichen Grenzen. Die Schäden, die Kommunismus und Sozialismus im Osten angerichtet hatten, wurden überschaubarer – was man von den Kosten, die der Bundeskanzler dafür dem Westen aufzuerlegen gedachte, allerdings nicht behaupten konnte.

»Es war vernünftig von euch, erst einmal abzuwarten«, erklärte Franz den diversen Vertretern aus jedem Zweig in Sophies Familie, mit denen er dank der ausgeklügelten Telefonanlage in seiner Penthouse-Wohnung im 23. Stockwerk eines Frankfurter Bankhauses gleichzeitig verbunden sein konnte. »Als ich und mein Sohn Robert am vergangenen Wochenende zur Vorbereitung unseres Treffens auf der Insel waren, lag noch immer viel im Argen. Sehr viel!«, betonte er dramatisch. »Sogar für mich, der unser Haus am längsten von uns allen kennt, war es ein schockierendes Erlebnis.« Er holte hörbar Atem und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, bevor er richtig loslegte: »Vierzig Jahre lang hat sich niemand darum gekümmert. Jahrzehntelang hat niemand auch nur einen Handgriff unternommen, um den allgemeinen Verfall aufzuhalten. Und erst unser Park, dieses einstige Kleinod – jetzt völlig verwildert. Fast alle Bäume sind verschwunden, der Rest eine ungepflegte Wildnis.«

»Wirklich eine Schande«, regte sich jemand in der Ferne auf. »Ich verstehe Sophie … äh … deine Mutter, unsere Großmutter nicht. Es muss doch auch nach dem Krieg noch einiges an Vermögen vorhanden gewesen sein – wie konnte sie dann diesen Verfall zulassen!«

»Vergiss nicht, diese DDR hatte sich unseren Besitz unter den Nagel gerissen«, erinnerte ein anderer Gesprächsteilnehmer. »Enteignet! Staatseigentum! Sophie hätte gar nichts unternehmen können. Sie hat Distelitz erst jetzt wieder zurückkaufen können.«

»Also ist doch Vermögen vorhanden!«, rief eine Stimme erfreut.

»Wenn jemand erbt, dann doch wohl …« Franz biss sich rechtzeitig auf die Zunge. »Zurück zum Thema«, bestimmte er dann. »Sophie hat nichts mehr im Griff, kein Wunder in ihrem Alter.«

»Senil?«

»Demenz?«

»Etwa Alzheimer?«

»Pflegefall?«

Franz zögerte. Er wollte schon antworten: »Alles möglich, immerhin ist sie im gesegneten Alter von jetzt zweiundneunzig Jahren.« Das hätte ihm bei der zu erwartenden Diskussion um die Durchsetzung seiner Pläne für Gut Distelitz wahrscheinlich eine Menge Erklärungen und auch Überzeugungsarbeit erspart. Doch unwillkürlich erinnerte er sich an die zwei Tage bei seiner Mutter, die für ihn aus verschiedenen Gründen weniger erfreulich als anstrengend und deprimierend gewesen waren. Er hatte seine Mutter lange nicht mehr gesehen und war mit der Vorstellung auf die Insel gekommen, eine alte, schon sehr alte und gebrechliche Frau anzutreffen, die zwar noch immer eigensinnig und furchtbar stur und bissig wie ein Terrier sein konnte, aber doch froh war, dass ihr nun einer ihrer Söhne tatkräftig zur Seite stehen und ihr die Verantwortung für das restliche Vermögen abnehmen wollte, bevor sie unter die Erde musste.

Wie sehr er sich getäuscht hatte!

Er entschied sich zur ehrlichen Antwort. »Nein, weder noch, schon gar nicht Alzheimer.« Er setzte ein zweifelndes »Aber …« hinterher, auch eine vielsagende Pause, die ihre Wirkung auf seine Gesprächspartner wohl nicht verfehlte, denn er hörte mitfühlendes Seufzen und Murmeln durch den Äther schwingen.

»Wie ist sie denn überhaupt so, unsere Sophie?«, wollte schließlich jemand wissen.

»Ja, wie ist sie, unsere Sophie?« Franz dachte nach. Anstrengend, hätte er antworten können. Voller Stacheln mit Widerhaken. Eben eine Sand-Distel, fest im Boden verankert, nicht auszurotten. So war sie schon immer gewesen, und jetzt, im Alter, hatten sich diese Eigenschaften noch verstärkt. »Nicht ganz leicht«, erklärte er moderat. »Doch was kann man von Menschen anderes erwarten, die vier Jahrzehnte lang Mauer, Kommunismus und Sozialismus hinter sich haben?«

»Die Arme«, meinte jemand mitfühlend.

»Es sieht also nicht gut aus«, setzte Franz seinen Bericht über seinen ersten Besuch bei Sophie fort. »Weder bei ihr noch auf unserem Besitz. Und dieser Adam und seine Bertha, die mit in unserem Haus wohnen, sind auch nicht mehr die Jüngsten, nur ein paar Jährchen jünger als Sophie. Adam klopft hier und da ein bisschen rum oder dreht eine lockere Schraube fest. Arbeiten kann man das wirklich nicht nennen! Aber kein Wunder, in dieser DDR hat niemand freiwillig einen Finger gerührt, das ging alles genau nach Plan. Nur, einen Plan für den Erhalt eines sowieso schon alten Gutshauses gab es eben nicht.«

»Was ist aus dem Familienschmuck geworden, Franz? Hat Sophie den noch?«, fragte eine Stimme mit Schweizer Akzent. »Und dann die Bilder – erzählt wurde doch mal von mindestens einem Renoir, wenn ich mich recht erinnere.«

»Weg«, antwortete Franz. »Alles weg!« Obwohl das nicht ganz stimmte, denn das große Ölbild im vergoldeten Rahmen, das er schon als Kind zu seinem Lieblingsbild erklärt hatte, weil es das gräfliche Gutshaus in seiner glanzvollsten Zeit, also kurz nach seiner Gründung zeigte, das hatte er seitlich der Treppe, die vom Foyer ins Obergeschoss führte, sofort entdeckt. Auch die protzigen Porträtgemälde von Gottfried und Adele hingen wieder da, doch die konnte Sophie gern behalten, jemand anderem vererben oder die Rahmen verscheuern und den Rest auf den Müll werfen. Aber das Ölbild, das beeindruckte ihn nach wie vor, das wollte er für sich haben, das würde sich gut in seinem Büro machen, in dem er seine Gespräche mit Investoren führte. »Alles!«, wiederholte er mit dumpfer Stimme. »Alles weg. Von den Russen geklaut oder vernichtet oder verscheuert. Was weiß ich, was Sophie damit gemacht hat.«

»Was heißt das, weg?«, regte sich ein Clanmitglied laut auf. »Sie hat sich doch immer als Hüterin des Familienbesitzes gesehen. Sie lässt doch nichts einfach verschwinden. Allein das Familiensilber war ein Vermögen wert. Und dann der Familienschmuck unserer Adele.«

»Wenn du Lust hast, unter Trümmern und im meterhohen Schutt nachzugraben, bitte schön.«

Fröhlich jubelte jemand: »Leute, wir haben einen Familienschatz im Keller! Also vergesst eure Schaufeln nicht.«

»Moment mal!«, brüllte Franz los. Ein paar Sekunden lang rauschten nur zwitschernde Töne und Knacken durch die Leitung.

Dann meldete sich jemand mit spanischem Akzent: »Was denkst du, Don Francisco, wie viel ist unser Distelitz heutzutage noch wert?«

»Millionen!«, schrie jemand begeistert, bevor Franz antworten konnte. Er hatte ohnehin nicht vor, sich auf irgendwelche Spekulationen einzulassen.

»Wir sehen und sprechen uns auf der Insel«, beendete er resolut die Telefonkonferenz.

Später an diesem Tag saß er noch immer an seinem wuchtigen Schreibtisch und lehnte sich zurück. Nachdenklich blickte er durch das Panoramafenster in den abendlichen Himmel über Frankfurt. Hier und da blinkte bereits ein Stern auf, verschwommen und weit entfernt wirkende Lichtzeichen aus dem All, denn in der Stadt stießen tagtäglich Millionen von Fahrzeugen, unzählige Fabrikschlote und Kamine ihre Giftgase und ihren Feinstaub nach oben und bildeten eine gewaltige Glocke über dem Rhein-Main-Gebiet. Kurz dachte er an die reine Luft auf der Insel, an die Frische über der Küste. Nie vorher hatte er das Licht so heiter und leicht, ja, geradezu unbefleckt empfunden wie in diesen zwei Tagen bei seiner Mutter. Da stand er ein- oder zweimal am Fenster der Wetterwarte, die im Leuchtturm an der nördlichen Spitze der Insel eingerichtet worden war, oder er trat bei seinem Spaziergang durch diese Wildnis, die früher einmal ein Park mit akkurat geschnittenen Hecken, gepflegten Blumenbeeten und kurzem Rasen unter hohen Buchen gewesen war, so dicht an den Rand der Steilküste, dass ihm beim Hinabsehen ein wenig schwindelig wurde. Dann blickte er abwechselnd auf die See und auf das Land, und dieses seltsame Licht verlieh Formen und Flächen eine fast übernatürliche Klarheit. Überwältigt von für ihn ungewöhnlichen Gefühlen, dachte er: Hier bin ich geboren, diese Insel ist meine Heimat, ich habe sie im Blut. Und ich werde dafür sorgen, dass diese Insel aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht.