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Manche Geheimnisse kannst du nicht hinter dir lassen: „Das Lächeln der Wölfin“ von Jo Schulz-Vobach jetzt als eBook bei dotbooks. Nach vielen Jahren kehrt Helene Wolf, genannt „die Wölfin“, in jenes kleine sibirische Dorf zurück, in das sie einst der Krieg verschlug. Als Hebamme stand sie damals täglich an der Seite der Dorfbewohnerinnen. Und doch blieb die unbeugsame Frau stets eine Fremde. Helene hofft auf ein Wiedersehen mit ihrer Tochter Lara, die sie einst mit dem verheirateten Arzt Viktor zeugte und bei ihm zurückließ. Aber nach all den Jahren steht die Tochter der Mutter unversöhnlich gegenüber. Zu tief scheinen die Wunden, die das Leben schlug. Und doch gibt es etwas, das Helene ihrer Tochter sagen muss: Ein Geheimnis, das ihre Leben verändern wird … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Das Lächeln der Wölfin“ von Jo Schulz-Vobach. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 675
Über dieses Buch:
Nach vielen Jahren kehrt Helene Wolf, genannt »die Wölfin«, in jenes kleine sibirische Dorf zurück, in das sie einst der Krieg verschlug. Als Hebamme stand sie damals täglich an der Seite der Dorfbewohnerinnen. Und doch blieb die unbeugsame Frau stets eine Fremde.
Helene hofft auf ein Wiedersehen mit ihrer Tochter Lara, die sie einst mit dem verheirateten Arzt Viktor zeugte und bei ihm zurückließ. Aber nach all den Jahren steht die Tochter der Mutter unversöhnlich gegenüber. Zu tief scheinen die Wunden, die das Leben schlug. Und doch gibt es etwas, das Helene ihrer Tochter sagen muss: Ein Geheimnis, das ihre Leben verändern wird …
Über die Autorin:
Jo Schulz-Vobach arbeitet als freischaffende Journalistin und Schriftstellerin. Auch wenn die gebürtige Ostpreußin seit 1992 in Österreich lebt und schreibt, sind es die Landschaften der Ostsee, die sie dazu inspirieren, vergangenen Geschichten nachzuspüren. Ihre Romane »Meine Tochter verschwindet« sowie »Die Bernsteinfrau« und »Die Sanddistel«, die die leisen und unbekannten Spuren der deutschen Geschichte vor dem Vergessen bewahren wollen, sind ebenfalls bei dotbooks erschienen.
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eBook-Neuausgabe April 2016
Dieses Buch erschien bereits 2006 unter dem Titel »Das Geheimnis der Wölfin« bei Knaur Verlag
Copyright © der Originalausgabe 2006 Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Dimitry Savin (Haus), BestPhotoStudio (Frau)
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-411-5
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Jo Schulz-Vobach
Das Lächeln der Wölfin
Roman
dotbooks.
»Jeder muss den richtigen Weg finden. Du kannst ihn nicht sehen, deshalb ist er schwer zu finden. Keiner kann ihn dir zeigen. Jeder Mensch muss den Weg allein finden.«
Charlie Knight vom Stamm der Ute, USA, 1991
Der Herbst kommt schnell in diesem Land, erfüllt die Luft mit dem herben Geruch von wildem Thymian und mit dem süßen Verströmen von Blüten und Gräsern vor dem Zerfall, auch mit der Ahnung vom nächsten Winter, der lang und kalt, dunkel und erbarmungslos sein wird wie alle sibirischen Winter.
Fedja hat vor einigen Wochen aus alten Brettern eine Bank gezimmert, die Flächen abgeschmirgelt und mit Leinöl gestrichen und sie dann, schweigend wie oft und mürrisch, weil Victor, der Doktor, ihm den Wodka verboten hat, vor mein Haus gestellt. Da sitze ich nun und sehe dem Dunst zu, der aus den Tümpeln im Moor, aus Wiesen und aus den in der vergangenen Nacht schon gefrierenden Erdkrumen der Felder nach oben steigt. Katharina ist mit einem vollen Korb gekommen und hat sich neben mich gesetzt. Sie riecht nach ihrem immer frischen Hefegebäck und anderem aus ihrer Küche und erzählt in munterem Ton von Onkel Wanja und seinem Rheumatismus, von Afronsija, deren Antrag auf eine Kur endlich genehmigt wurde, und von der jungen Maria, der Frau von Dimitri Asamowitsch, die ihr erstes Kind erwartet und voller Angst ist und auf Zuspruch von mir, der Hebamme, hofft. Katharina erzählt auch von Victor und der zu erwartenden Grippewelle in diesem Herbst, bei der er meine Hilfe brauchen wird.
Und während Katharina redet, denke ich an Lara, die ihrem Vater so ähnlich ist und nun das Erbe der »Wölfinnen« in unserer Familie übernehmen will. Ich erinnere mich an Laras Freundin Albina, die Raissas Schamanenkleidung unter dem prächtigen Wolfsfell trägt, das einmal Raissa, ihrer Urgroßmutter, gehörte, weshalb ich es ihr geschenkt habe. Lara und Albina haben ihre Träume von einem Leben und Lernen in den Wäldern nicht aufgegeben; sie sind heute Morgen aufgebrochen, um Grenzen zu erproben und auch zu überschreiten. Alexej, Laras ehemaliger Kollege, der sie liebt, geradezu schmerzhaft liebt, wie ich in den Gesprächen mit ihm erfuhr, hat sich den beiden Frauen für ein paar Wochen oder sogar Monate angeschlossen. Er ging ganz schief auf dem Pfad vom Haus zur Dorfstraße, wo das Auto geparkt war, die Fotoausrüstung hing schwer auf seiner Schulter. Er wird die Bilder für das von Lara geplante Buch über die neuen Schamanen Sibiriens machen. Der Wind trug Laras fröhliche Stimme und Albinas und Alexejs Lachen, auch das Geräusch des anfahrenden Autos hierhin und dorthin; ihre winkenden Hände waren eine ganze Weile zu sehen, bis das Fahrzeug in einer Biegung verschwand.
Noch lange danach blieb ich vor meinem Haus stehen, die eine Hand wie zum Winken von der Luft festgehalten, mit der anderen leicht auf die mir von Victor aufgedrängte Krücke gestützt. Dicht an mein Knie gedrängt saß Lupa, meine kleine Wölfin, meine Gefährtin langer, stiller Abende in der Wohnküche und meiner kurzen Ausflüge ins Moor oder in den Wald. Lupa, Hüterin meiner Träume und meiner Erinnerungen. Wir blickten gemeinsam zur Straße und dann zum Dorf hinüber, das sich in diese Endlosigkeit zwischen Himmel und Land schmiegt.
An diesem Morgen dachte ich auch darüber nach, dass eine verlorene Heimat sich nie ersetzen lässt und dass dieses Land und die Stadt, in der ich vor langer Zeit geboren wurde und die ich bald darauf verlassen musste, in meinen Knochen, in meinen Augen, in meinen Erinnerungen und in meiner Geschichte nisten, dass ich aber schon so lange in Nowgoje lebe, dass ich die Stärke des Bodens unter meinen Füßen und seine Bereitschaft, meinen Wurzeln neuen Halt zu geben, spüren kann.
Und schließlich erfüllte mich Erleichterung und Zufriedenheit darüber, nach all den Jahren der rastlosen Suche nun meinen Platz gefunden zu haben – hier in Nowgoje, in diesem Sibirien.
»Gut geht es uns, Wölfin«, höre ich Katharina neben mir sagen. Sie legt ihre rundliche, warme Hand auf meinen Arm, ich spüre jeden ihrer kräftigen Finger durch den Stoff der Jacke auf meiner Haut; es ist eine angenehme Wärme. Victors Frau sieht mich mit ihren dunklen, schönen, immer ein wenig geheimnisvollen Mongolenaugen fest an. »Gut geht es uns.«
Und ich erwidere ihr Lächeln. »Ja, gut geht es uns.«
Sie hat niemandem, auch nicht Victor, Bescheid gegeben, dass sie kommt. Deshalb geht sie die paar Kilometer von der kleinen Bahnstation bis zum Dorf zu Fuß. Der Schnee knirscht bei jedem Schritt, und sie geht langsam die kaum erkennbare Straße entlang. Es ist unerwartet windstill, doch sie fröstelt trotzdem, und das Gewicht des prall gefüllten Rucksacks zerrt an ihren Schultern, während die Segeltuchtasche bei jedem Schritt gegen ihre linke Hüfte schlägt. Der Schmerz pflanzt sich fort in Arme und Rücken, wird zum Ziehen und Zerren, der Nacken wird steif, die Schultermuskeln verspannen sich.
Aber sie nimmt das und die Kälte nur am Rande wahr. Das Wiedererkennen der Landschaft und ihrer Unbeweglichkeit, das Knacken der frostigen Luft auf ihrer Haut, in ihrer Nase, in ihrem Mund und schließlich das Zulassen einer noch zögernden, aber freudigen Erwartung, nach ihrer Reise, die eine lange, seltsam unruhige und vergebliche Suche nach einem Ort, der Heimat sein konnte, war, vielleicht hier, in diesem Land Sibirien, dessen Kälte sie kennt, auch seine zuweilen überraschende Wärme, ankommen und bleiben zu können, sind stärker als alle anderen Empfindungen, als alle schmerzhaften Erinnerungen. Stärker – und von einer ungewohnten Wärme, die sie nachgiebig stimmt, fast bereitwillig macht zu vergessen und die Gespenster der Vergangenheit zu vertreiben.
»Zu Hause ankommen«, sagt sie laut. Sie schmeckt diese Worte eisig, aber nach der enttäuschenden Erfahrung in fremden Ländern irgendwie tröstlich wirkend auf ihrer Zunge, auf ihren Lippen. Sie denkt daran, dass ein Zuhause nicht Heimat ist, nicht bedeuten kann, denn Heimat ist dort, wo Wurzeln sind. Und sie ist eine Entwurzelte, eine, die bisher nirgendwo richtig Fuß fassen konnte, weil der Boden ihr nicht genügend Nahrung gab, die Luft nicht zum Atmen reichte. Eine Suchende ist sie, die irgendwo, vielleicht in Amerika, vielleicht in einem europäischen Land, aufgegeben hat, von Müdigkeit überwältigt, und jetzt vom Wunsch vorwärts getrieben wird, wenigstens ein Zuhause zu finden, irgendwo, und dort vielleicht für immer zur Ruhe zu kommen.
Sie sagt sich, dass sie Ordnung schaffen muss, um ankommen zu können. Vor allem das muss geordnet werden, was sie vor mehr als zwei Jahren aus diesem Land vertrieben hat, nein, vor dem sie geflüchtet ist, in Panik fast und mit der Absicht, zumindest räumliche Distanz zu dem, was geschehen war, zu schaffen und sich Neuem zu öffnen. Sie wollte vergessen und gleichzeitig etwas wiederfinden, weshalb sie gereist ist, unaufhörlich auf der Suche. Immer weiter hat sie sich von diesem Land und seinen Menschen entfernt. Doch in ihren Träumen, in ihren Gedanken, in ihren Erinnerungen waren sie ihr so nahe wie in den Jahren, den Jahrzehnten zuvor. Und weil sie nie gereist war, nie eine andere Sprache ausprobiert und keine Erfahrung im Erkunden unbekannter Städte und Landschaften hatte, fühlte sie sich überall fremd, enttäuscht, oft auch überfordert von der Aufdringlichkeit mancher Menschen, die sie, wenn sie ihnen etwas von ihrer Lebensgeschichte offenbarte, als Exotin betrachteten und die Unsicherheit, mit der sie sich ohnehin fortbewegte, nur noch vergrößerten.
Zügig schreitet sie nun aus. In der Ferne, da, wo der schneeschwere Himmel und die Erde sich berühren, kann sie schon die Konturen des weitläufigen Dorfes zwischen Moor und Wald erkennen. Die Häuser ducken sich in die Mulden zwischen aufgeworfenen Schneewällen, von vielen ist gerade das Dach zu erkennen. Silbriger Rauch steigt spiralig aus Schornsteinen auf und zeichnet seltsame Geisterfiguren in die Luft. Und Helene wird plötzlich bewusst, dass sie in der Zeit ihrer Reise die behagliche Wärme der rundbauchigen Kachelöfen in den Wohnküchen sibirischer Häuser, den Anblick glühend roter Herdplatten und zerbeulter Wasserkessel und Töpfe darauf und den Geruch nach Kohl und Fleisch oder Fisch, nach Hefegebäck und nach Wodka, sogar die trunkenen Gespräche zwischen Onkel Wanja und dem alten Fedja, Katharinas weiche Stimme und Victors Bass dazwischen vermisst hat. Sie geht schneller, fast rennt sie jetzt die Straße entlang, wobei das Gepäck schmerzhaft gegen ihren Körper schlägt, und sie beginnt zu schwitzen. Sie atmet stoßweise und sagt laut: »Ich werde alles in Ordnung bringen.« Und ihre Worte klingen in der Weite der stillen weißen Landschaft fast wie eine Beschwörung, die sich gleich einem weichen, sanften Tuch auf alle noch unbeantworteten Fragen und alle Ängste in ihrem Innern legt.
Sie kann das Tempo nicht halten. Kein Wunder, sagt sie sich, ich bin nicht mehr die Jüngste, ich bin vierundsechzig Jahre alt. Also geht sie wieder langsamer und erinnert sich auf einmal an ihre Wanderungen durch Königsberg, ihre Geburtsstadt, die nun einen fremden Namen trägt – Kaliningrad. Ein Name, der die Vergangenheit übertüncht, die Menschen von damals vergessen lässt, auch ihre Geschichten, ihre Schicksale, ihre Sprache. Mehr als fünf Jahrzehnte liegen zwischen dem Damals und der Gegenwart. Fast mein ganzes Leben, wird ihr bewusst. Der Gedanke deprimiert sie, wie diese Zeit sie deprimiert hat, die sie in Kaliningrad verbrachte, zwischen Plattenbauten und Baustellen, im winzigen Garten an der Stadtgrenze, in dem ihre Cousine Henriette, ihre einzige noch lebende Verwandte, ein paar Kartoffeln, ein bisschen Gemüse anbaut, und im hektischen Getriebe auf großen Plätzen und breiten Straßen mit Geschäften, am von russischen Touristen überfüllten Badestrand an der Ostsee oder im neu erstandenen Dom, wo ein junger Mann Vorträge vor deutschen und russischen Besuchern hielt. Königsberg – das ist eine Stadt aus einem anderen Leben, eine Stadt aus einem längst vergangenen Traum, denkt Helene. Kaliningrad, das ist die Wirklichkeit, ist eine Gegenwart, in der sie sich nicht mehr zurechtfindet, in der sie keinen Platz mehr zu haben scheint, das hat sie schon nach wenigen Tagen bei ihrer Cousine erkannt. Erst als sie weiter, viel weiter gereist war, konnte sie wieder mit Sehnsucht an ihre Heimatstadt denken und sie sich für eine Weile sogar als den Ort vorstellen, an dem sie den Rest ihres Lebens verbringen würde, denn Zeit und Entfernung hatten die Tristesse der Plattenbauten, das Bedrückende überall sichtbarer Armut und die Zeichen müder Resignation in den Gesichtern von Menschen ihres Alters schon wieder gemildert, Menschen, deren Schicksal der Geschichte ihrer Cousine ähnelte. Nur noch wenige gebürtige Ostpreußen hatte Helene in Kaliningrad getroffen, vor allem Frauen in ihrem Alter, die den Krieg und seine Folgen überlebt hatten und die untereinander immer seltener Deutsch sprachen. Eine bereits verformte Sprache dünner, zittriger Stimmen war das Deutsch in dieser Stadt geworden; sie klang seltsam fremd in Helenes Ohren. Doch fremd klang auch die Sprache deutscher Touristen, die sich meist in Gruppen über die belebten Plätze von Kaliningrad oder durch Museen schoben und deren Gesprächen sie zuweilen unbeabsichtigt lauschte.
Noch etwa anderthalb Kilometer sind es bis zum Dorfrand. Helene bleibt kurz stehen, um Atem zu holen, geht dann wieder zügig voran, das Denken mit Absicht ausgeschaltet, und meint die Stille im blätterlosen Birkenwald neben dem Weg zu hören, das stete Knistern in den Schneewällen. Sie hört, ohne wirklich zu hören, das gemächliche Dahingleiten des nahen Flusses unter der dicken Eisschicht, das Nagen der Strömung an den Uferrändern, sogar das leichte Stupsen einer Fischnase gegen das Eis. Sie sieht, obwohl die Dunkelheit zunimmt, den winzigen aufgeplusterten unbeweglichen Vogel im dürren Geäst, der ein Bein angezogen hat. Sie sieht das einzelne, von der Kälte zusammengerollte Blatt an einem fernen Baum. Sie riecht die vom Winter aufgebrochene helle, fast weiße Rinde der Bäume, den Atem des Frostes, der alles erstarren lässt. So geht sie und geht, setzt Fuß vor Fuß und spürt kaum noch das Gewicht an ihrem Arm, so konzentriert ist sie auf das, was sie umgibt.
Das Haus, ihr Haus, klein, kaum sichtbar mit seinem tief nach unten gezogenen Dach, steht vielleicht einen halben Kilometer vom Dorf entfernt, dort, wo der Wald sich hier und da ins offene Land streckt und nach den schneebedeckten Feldern und Wiesen fingert. Eigentlich ist es gar kein Haus, denkt Helene, während sie im Näherkommen das Gebäude betrachtet, dessen Konturen bereits in der Dämmerung verschwimmen. Eigentlich ist es nur eine einfache Hütte, aus dicken Holzstämmen grob zusammengefügt, die einst, als Nowgoje noch gar kein richtiges Dorf war, den Holzfällern oder dem einen oder anderen Jäger im Winter als Unterkunft gedient hatte. Mit Moospolstern, die bald spröde wurden und in jedem Herbst erneuert werden mussten, hat Helene damals die Ritzen zwischen den Stämmen ausgefüllt und zuerst alte Teppiche und Decken, die Katharina, Victors Frau, ihr gab, im Innern der Hütte aufgehängt, um die Kälte abzuhalten, bis Victor Holzbretter besorgen konnte und an die Balken nagelte. Und erst später hatte sie mit seiner und Onkel Wanjas Hilfe ebenso dicke Bretter über den festgestampften Boden gelegt und das vorher flache Wellblechdach, auf das im Frühjahr und im Herbst der Regen trommelte, durch ein schräges Schindeldach ersetzt.
Je näher sie dem Dorf kommt, desto schneller geht sie wieder, mit raumgreifenden Schritten eilt sie ihrem im trüben Grau des Tages düster wirkenden Haus zu. Als sie nach Atem ringend innehält und sich mit dem Handrücken übers Gesicht wischt, hört sie in der Ferne den Ruf eines Wolfes. Ohne Zögern, ohne Nachdenken reckt sie den Kopf und antwortet dem sonderbar dringlichen und melodischen Gesang, in dem sich Lust und Klage, Sehnsucht und das Gefühl von Einsamkeit vereinen. Plötzlich hört er auf, so plötzlich, wie er begonnen hat. Und die gefrorene Linie des Waldrands hinter und neben dem einsamen Haus beginnt in der diffusen Dämmerung zu zerfließen, bewegliche, Geistern ähnliche Schatten huschen geräuschlos über die stille Weiße, verharren kurz, um sich dann aufzulösen und in der Schwärze des Waldes zu verschwinden. Helene blickt ihnen nach, auch sie wieder still und plötzlich am ganzen Körper zitternd, nicht vor Kälte, nein. In diesem Moment möchte, will sie lächeln, vielleicht sogar lachen, ihre nach außen drängenden Gefühle in lautes, befreiendes Gelächter fassen. Doch ihre Lippen bleiben unbeweglich, eingefroren, und nur ein Seufzen entweicht ihrem Mund.
Der Frost sitzt im Türschloss, der Schlüssel lässt sich schwer drehen. Das Holz ächzt; es ist wohl lange nicht bewegt worden. Victor schrieb einmal, dass er von Zeit zu Zeit in ihrer Hütte nach dem Rechten schaue. Die Luft, die Helene jetzt aus dem dunklen Innern des Hauses entgegenschlägt, ist eisig und angefüllt mit Gerüchen und Schwingungen, die Abschiede und lange Abwesenheiten erzeugen. Sie riecht Staub und kalte Asche und Mäusedreck, schimmelnde Feuchtigkeit und Vergänglichkeit, doch sie ahnt auch den tröstlich-vertrauten Duft getrockneter Kräuter, die noch immer, wahrscheinlich spröde, zerbrechlich geworden mit der Zeit, in dichten Büscheln an den Balken unter dem Dach hängen. Und sie spürt Leblosigkeit und Einsamkeit, die verlassene Häuser überfallen und die sie nur zögernd und wie staunend wieder aufgeben, wenn jemand unvermutet über ihre Schwelle tritt. Es ist, denkt Helene verwundert, als würde dieses Haus die angehaltene Luft knisternd und ächzend ausstoßen und lange brauchen, um wieder frei atmen zu können.
Sie greift in die Wandnische gleich neben der Haustür, wo früher Kerzen und Zündhölzer aufbewahrt wurden, und ertastet auf dem schmalen Bord einen Kerzenstummel und eine feuchte kleine Schachtel. Während sie noch versucht, eines der Zündhölzer zum Aufflammen zu bringen, ist Victors dunkle Stimme hinter ihr, streift sein warmer, sein fast schon vergessener und auf einmal wieder so vertrauter und lebendiger Atem das bloße Stück ihres Nackens, da, wo es die kleine Lücke zwischen ihrem festen Haarknoten und dem Kragen ihrer wattierten Jacke gibt. Sie muss die Augen schließen, weil ihr schwindlig wird beim plötzlichen Rückwärtsrasen der Zeit und weil alles um sie herum sich verwandelt und verdrängte Schrecken und vergessene Freude Besitz von ihr ergreifen wollen und sie Stimmen und Geräusche vernimmt, die zur Vergangenheit gehören sollten. Sie hält den Atem an; sie hat nicht gewusst, nicht geahnt, dass die Erinnerungen, die mit diesem Ort und seinen Menschen verbunden sind, sie mit solch einer Wucht überfallen werden.
Victor hat ihr die Schachtel abgenommen, und Helene hört ein Streichholz aufflammen und dann das Knistern des Kerzendochts. Ihr Gehör ist plötzlich so geschärft, dass sie auch hört, dass er einige Wachstropfen auf den Boden der Nische fallen lässt und die Kerze darauf festdrückt.
»Ich habe die Wölfe gehört«, sagt er.
Sie spürt, wie er seine Hände, jetzt irgendwie zu groß und zu schwer für ihren mit der Zeit und dem Alter immer schmaler gewordenen Körper, auf ihre Schultern legt und sie zu sich herumdreht. Sie hat ihre Augen noch immer geschlossen, aber sie weiß, dass er sie ansieht; sie kennt diesen Blick, in dem Wärme ist, Erleichterung und Freude, vor allem aber Triumph.
»Und da wusste ich, dass du zurückgekommen bist.«
»Ja«, murmelt sie. »Die Wölfe. Sie haben mich verraten.« Sie macht die Augen auf. Das flackernde Licht erhellt Victors Gesicht, und Helene betrachtet es lange. »Du bist älter geworden«, sagt sie dann.
»Das Leben zehrt auch an mir.«
Er lacht breit, kehlig, vertraut. Seine weißen Zähne ziehen eine helle Furche in seinen Bart. Hier und da kann sie ein wenig Grau in dem braunen Gestrüpp erkennen. Das war noch nicht da, als sie sich damals auf dem Moskauer Flughafen von ihm verabschiedete. Sie legt ihre Fingerspitzen auf die tiefen Falten, die an Victors Nasenflügeln beginnen, sich um seine Mundwinkel biegen und im Bart verschwinden. Ihre Finger sind dünn, fast hager geworden, Spinnenbeinen gleich in diesem breitflächigen, ein wenig groben und dunkelhäutigen Gesicht mit den leicht schräg gestellten Augen über hoch angesetzten Wangenknochen und der kräftigen Nase über dem volllippigen Mund. Alles an diesem Gesicht erscheint ihr für einen Moment neu, weil Zeit und Erinnerungen die Konturen verwischt hatten, bis nur noch eine Fläche blieb. Doch auf einmal ist alles wieder da, und selbst im flackernden Licht einer einzigen Kerze kann sie jede Falte, jede Pore, jeden Fleck auf seiner Haut sehen, den leicht spöttischen Schwung seiner Mundwinkel und die vielen Fältchen unter und seitlich an seinen Augen, die vom Lachen kommen und haarfein sind und sich hell von seiner übrigen Haut abheben.
»Du bist lange fort gewesen, Wölfin«, sagt er.
»Ja. Jahre.«
»Aber nun bist du zurückgekommen.«
Seine dunklen, glänzenden Augen sind auf sie gerichtet, scheinen das flackernde Licht der Kerze einzufangen. Wie in einem Spiegel sieht sie sich in diesen Augen, klein und verzerrt, ihr seltsam verflachtes, großäugiges Gesicht ihm näher als ihr verkürzter Körper.
»Ich habe dich vermisst.«
»Ich gab mir Mühe, dich zu vergessen«, sagt sie. »Dich und die anderen hier in Nowgoje.«
»Ich habe nie verstanden, warum du gehen musstest.«
»Es genügt, dass ich es wusste.«
Victor greift nach ihren Händen. »Aber du bist zurückgekommen. Und du wirst bleiben.« Sie schweigt, und er beugt seinen Kopf über sie, um in ihrem ihm zugewandten Gesicht zu forschen. »Für immer. Ich spüre das.«
Sie hebt ihre Schultern. »Typisch Victor«, sagt sie, und in ihrem Mund ist auf einmal ein bitterer Geschmack. »Du stellst keine Fragen, du bestimmst einfach. Du hast dich nicht verändert. Du …«
Er hört ihr nicht zu, er hat ihr nie richtig zugehört. Seine Stimme ist lebhaft, als er sie unterbricht: »Die Familie wird sich freuen. Alle werden sie sich freuen, Katharina, Onkel Wanja, Olga, die Kinder, alle Nachbarn.«
Sie starrt auf die Kerze in der Nische. Es ist eine einfache Kerze, die Helene vor langer Zeit aus Wachsresten selbst gezogen hat.
»Wirklich alle, Victor?«, fragt sie, obwohl sie gerade das nicht fragen wollte. Lara, denkt sie, während ihr Herz zu klopfen beginnt. Was ist mit Lara? Warum nennst du, wenn du schon die anderen aufzählst, nicht auch den Namen meiner Tochter?
»Ja, auch Lara«, erwidert er in diesem heiteren Ton, der schon früher oft an ihren Nerven gezerrt hat. »Ich werde sie in Surgut anrufen und erzählen, dass du wieder da bist, gleich morgen früh. Sie kommt – sie kommt bestimmt!«, fügt er eifrig hinzu.
»Nicht einmal du bist dir dessen sicher, Victor.«
»Doch, doch! Ich bin mir sicher! Aber jetzt ist erst einmal wichtig, dass du wieder nach Hause gekommen bist.«
Er redet drauflos, drückt und reibt ihre eiskalten Hände, die plötzlich schmerzen. Der Schmerz strahlt in ihre Arme aus, umklammert ihre Brust, während sie ihre Ohren vor Victors Stimme verschließt, denn nicht nur ihr Verhältnis zu ihm und seiner Frau, auch das zu Lara gehört zu jenen Dingen, die sie in Ordnung bringen muss, bevor sie sagen kann: Ich bin zu Hause angekommen.
In der Nähe ruft wieder ein einzelner Wolf. Victor hört auf zu reden, und auch Helene lauscht dem lang gezogenen Ton. Sie spürt mit Erleichterung, dass die Anspannung in ihrem Körper sich zu lösen beginnt, und lehnt sich ohne nachzudenken gegen Victor.
»Die Wölfe«, flüstert er, seinen Mund sanft an ihre Stirn gelegt. »Damals hat man fast das ganze Rudel abgeschossen, erinnerst du dich? Die letzten verschwanden, nachdem du fortgegangen warst.«
»Die Leute werden viel zu reden gehabt haben, nehme ich an.«
Victor lacht; sein Atem ist warm auf ihrer Haut. »Du weißt doch, wie sie sind. Es gibt hier im Dorf nicht viel Abwechslung, da spricht man eben über alles. Dass du nach all den Jahren doch noch weggegangen bist, war lange Zeit Gesprächsstoff.«
»Sie werden sich die Mäuler über die Wölfin zerrissen haben.«
Er schiebt sie ein wenig von sich, um wieder in ihr Gesicht zu sehen. »Das klingt bitter.« Sie zuckt mit den Schultern. Victor will sie wieder an sich drücken, doch als ihr Körper sich versteift, lässt er sie los. »Ach was!«, meint er dann. »Du bist zu empfindlich. Du hast lange genug in Nowgoje gelebt, um zu wissen, wie die Leute hier sind. Die Stadt ist weit. Und wie überall auf dem Land sind wir hier oft noch abergläubisch und von dem Glauben besessen, dass Wölfe unser Vieh, unsere Vorräte und Kinder stehlen. Nicht nur die Alten glauben auch heute noch immer ein bisschen an Geister und Dämonen in den Wäldern.« Wieder lacht er, es klingt gutmütig und auch eine Spur spöttisch. »Und du kamst damals aus dem Wald, mitten im Winter und lautlos und in dieser seltsamen Kleidung und mit dem Wolfsfell darüber, sodass man nicht wusste, war das ein Mensch oder tatsächlich ein Geist.«
»Es waren Raissas Sachen, die ich trug«, sagt Helene in scharfem Ton. »Ich besaß nichts anderes.«
»Die Schamanin, ich weiß«, erwidert Victor, unbeeindruckt von ihrem Ton. »Die alte Hexe!«
»Ohne Raissa hätte ich nicht überlebt, damals – nach der Flucht aus dem Lager.«
Er legt erneut, vorsichtig jetzt, beide Arme um sie, und ein paar Herzschläge lang überlässt sie sich ihm, lässt sich wiegen, sachte hin und her, dann tritt sie zurück. Nun stehen sie wieder voneinander entfernt in dem engen Flur, dessen Decke so niedrig ist, dass Victors Haare fast den Querbalken streifen.
»Für die Leute in Nowgoje warst und bist du die Wölfin. Die Frau, die mit den Wölfen redet und singt. Und sie haben nach wie vor Respekt vor dir.«
»Warum nennst du es nicht beim richtigen Namen, Victor?«
Er zuckt mit den Schultern und grinst sie vielsagend an. »Nun ja – sogar ich war erschrocken, als ich dich in diesem komischen Aufzug so plötzlich aus dem Wald kommen sah.«
»Aus einem ganz bestimmten Grund, nehme ich an«, sagt sie bitter. »Du hattest nicht damit gerechnet, dass ich dich suchen und nach Nowgoje kommen könnte.«
»Richtig«, gesteht er. »Aber dann habe ich …«
»Ach, sei doch ruhig!«, unterbricht sie ihn. »Für dich und die anderen bin ich doch noch immer die Deutsche, die Faschistin, obwohl ich seit fast fünf Jahrzehnten in Sibirien lebe, vierzig Jahre davon in Nowgoje.«
»Du selbst hast das gewollt, Jelena, vergiss das nicht«, erinnert er sie in versöhnlichem Ton. »Du hast nie viel für das Anpassen übrig gehabt. Wir Nowgojer haben das respektiert, und ich denke, das ist auch eine Art von Akzeptanz.«
Als er seine Jacke auszieht, wendet sie ihm den Rücken zu und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Du brauchst dich nicht auszuziehen«, sagt sie böse. »Du solltest nach Hause zu deiner Katharina gehen und mich in Ruhe lassen.«
Einen Moment lang schweigt er, dann fragt er leise: »Meinst du nicht, dass dein Urteil zu hart ist? Vergiss nicht die Menschen, die dir sehr zugetan sind. Katharina zum Beispiel.«
Sie spürt ihn dicht hinter sich und hebt abwehrend die Schultern.
»Einsamkeit kann einen Menschen bitter und ungerecht machen, weißt du.«
»Du hättest nicht einsam sein müssen, Jelena. Meine Familie, die auch deine Familie ist, von Anfang an gewesen ist, war für dich da – wenn du Nähe zugelassen hättest. Sie ist es immer noch, aber das scheint dir nicht wichtig zu sein.«
»Ach Victor, wir beide wissen es besser, denke ich.« Sie dreht sich wieder zu ihm um. Sein Gesicht liegt im Schatten. Sie kennt es gut genug, um zu wissen, dass auf seiner Stirn mit dem tiefen Haaransatz Falten entstanden sind. Es sind keine freundlichen Falten, sie machen sein Gesicht streng, seine Miene vorwurfsvoll. »Ich werde nie vergessen, was ihr, du und Katharina, für mich getan habt«, sagt sie schnell und horcht wieder nach draußen.
Er öffnet den Mund, zögert dann aber und lauscht ebenfalls nach draußen. Der vorher eher leichte Wind des Nachmittags hat sich, ohne dass sie es bemerkt haben, in einen Sturm verwandelt, der die Zweige der Birke neben dem Haus gegen das Dach schlägt. Von weit her, dann wieder von nah ist Wolfsgeheul zu hören.
Helene geht an Victor vorbei zu dem kleinen Flurfenster und zieht die alte, schon etwas löchrige Gardine zur Seite. »Sie sind ganz in der Nähe. Ich kann sie sehen – drüben, am Waldrand.«
»Der erste Wolf tauchte im Oktober auf, eine große Wölfin«, berichtet er, während er neben sie tritt. »Dann kamen die anderen, alte und junge. Seit ein paar Tagen bleibt das Rudel in der Nähe des Dorfes.«
Sie nickt. »Ich habe sie auf dem Weg hierher gezählt. Es sind mehr als zwanzig Tiere. Und die Leute haben bestimmt schon wieder Angst und reden vom Abschießen.«
»Es liegt in ihrer Natur, die Wölfe zu fürchten und sie zu jagen«, erklärt er. »Aber für einen Abschuss brauchen sie seit einiger Zeit eine offizielle Genehmigung.« Er wirft ihr einen raschen, undeutbaren Blick zu, bevor er weiterredet. »So ziemlich alles ist inzwischen gesetzlich geregelt. Wer gegen eines dieser Gesetze verstößt, der wird bestraft.«
»Falls er beim Abschuss eines Wolfes erwischt werden sollte«, fügt Helene sarkastisch hinzu. »Ach Victor«, sagt sie dann, als er schweigt, »mach mir doch nicht weis, dass die Menschen hier jetzt anders leben oder denken als seit jeher.«
»Nein«, stimmt er ihr ärgerlich zu. »Aber ich finde es nicht richtig, wenn du nur an die negativen Seiten deines Lebens in Nowgoje denkst. Du tust gerade so, als hätte es hier nie etwas anderes als Schmerz, Enttäuschung und Kummer für dich gegeben. Verdammt noch mal, erinnere dich wenigstens einmal an die guten Seiten deiner Zeit bei uns.«
Helene sieht ihn von der Seite an. Wütend denkt sie: Dein Dorf, dein Sibirien, dein Land – das ist nicht mein Leben. Dieses Leben wurde mir aufgezwungen.
Schweigend stehen sie da, so dicht nebeneinander, dass sie sich atmen hören, und doch weit voneinander entfernt. Und plötzlich erinnert Helene sich an ein Gespräch, das sie vor ein paar Monaten mit einem älteren Türken in einem Café in Berlin in Deutschland geführt hat. Der Mann war in den sechziger Jahren als Gastarbeiter in die Bundesrepublik gekommen. Es hatte angefangen in Strömen zu regnen, und Helene war, auch angelockt durch die fremdartige Musik und die vielen Stimmen und lautes Lachen aus dem Innern, hineingegangen. Als sie merkte, dass es eine geschlossene Gesellschaft war, wollte sie wieder gehen, doch einer der älteren Männer hielt sie auf und lud sie zum Mitfeiern ein.
»Wissen Sie«, sagte er, »jeder, der aus seiner Heimat verschleppt oder vertrieben wurde oder geflüchtet ist oder sie aus anderen Gründen verlassen musste, hat doch den Wunsch, seine nationale Identität zu bewahren und seine familiären und kulturellen Wurzeln nicht zu verlieren.« Er zeigte auf die Anwesenden, unter ihnen viele Frauen mit Kopftüchern. »Aber es ist nicht leicht, sich diesen Wunsch in der Fremde zu erhalten. Unsere Kinder und sogar schon viele Enkelkinder sind hier in Deutschland geboren worden, sie sprechen die Sprache, sie verstehen die Kultur dieses Landes besser als die ihrer Väter. Und unser Wunsch erzeugt Entfremdung – in unseren eigenen Familien und vor allem im Zusammenleben mit den Menschen dieses Landes. Wir alle, ob jung oder alt, befinden uns in einer Art Niemandsland und wissen nicht recht, wohin wir uns wenden sollen.«
Daran muss Helene jetzt denken, und sie fragt sich wie damals in Berlin und inmitten dieser fröhlichen, warmherzigen und ihr dennoch fremden Menschen, ob sie nicht doch etwas falsch gemacht hat in all den vergangenen Jahren, in denen sie darum kämpfte, in Nowgoje Helene Wolf zu bleiben. Aus Trotz, geradezu verbissen sprach sie mit ihrem Kind nur Deutsch, hielt es dazu an, ihr in dieser Sprache zu antworten – so lange jedenfalls, bis ihr dieses Kind weggenommen wurde. Nein, man nahm mir Lara nicht weg, sie wollte von sich aus gehen, korrigiert sie sich in Gedanken. Aber die Tatsache, dass ich mich weigerte, meine Tochter zur Russin zu erziehen, hat Victor darin bestärkt, den Wunsch einer knapp Zwölfjährigen, bei ihm und Katharina und damit in der Gemeinschaft statt bei einer Außenseiterin zu leben, zu unterstützen.
Sie wendet sich wieder Victor zu. Er hat sie etwas gefragt, irgendetwas, dem sie nicht zugehört hat. Jetzt sagt er: »Ich wusste, dass die Wölfe aus einem ganz bestimmten Grund zurückgekommen sind. Deshalb habe ich Ausschau nach dir gehalten. Jeden Tag.«
»Ja.«
»Bist du heimgekehrt?«
»Ich kann nicht heimkehren«, erklärt sie. »Sibirien ist nicht meine Heimat. Ich kann höchstens nach Hause kommen.«
Sie hört ihn dramatisch seufzen, dann entgegnet er: »Das ist eine deiner typischen Spitzfindigkeiten, meine Liebe.«
»Ach, lass mich doch in Ruhe, Victor Litowski!«
Sie nimmt die Kerze aus der Wandnische und geht an ihm vorbei in die Wohnküche, wo sie die dicke verstaubte Kerze auf dem Tisch anzündet und eine andere auf dem Regal über dem alten Eisenherd. Dann lässt sie ihren Blick durch den Raum wandern, auf dessen Wände das flackernde Kerzenlicht flüchtige Schattengebilde malt. Die meisten Leute in Nowgoje haben ihre Gespenster, denkt sie. Sie fühlt, ihre eigenen sind schon bereit, über sie herzufallen. Sie wird sich mit ihnen auseinander setzen müssen, wenn sie bleibt – in diesem Land, in diesem Dorf, in diesem Haus. In Victors, Katharinas und in Laras Nähe. Aber das wusste sie schon, bevor sie sich auf den Weg zurück nach Nowgoje machte.
»Kalt ist es hier, ich werde dir den Ofen anzünden«, hört Helene Victors Stimme.
»Ich weiß nicht, ob ich länger bleiben werde«, sagt sie unvermittelt. »Vielleicht gehe ich doch zu meiner Verwandten nach Kali…«
»Kaliningrad?«, unterbricht er sie. »In diese Exklave zwischen Polen und Litauen? In die Armut, während du den Kapitalismus direkt vor deinen Augen hast? Nun ja«, meint er dann, »dieses Kaliningrad ist von Nowgoje jedenfalls nicht so weit entfernt wie dein New York in Amerika.«
»Es ist nicht mein New York!«
»Ach ja?« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Warum bist du dann zwei Jahre bei … bei diesen Goldbergs geblieben? Und hast auch noch einen von ihnen geheiratet!«
Sie weiß, es hat keinen Sinn, diese Tatsache zu leugnen. Sie wundert sich auch nicht oder fragt, woher er von ihrer Heirat weiß. Victor hat schon immer seine besonderen Verbindungen gehabt, schon immer mehr gewusst als andere.
Eine Weile ist nur das Toben des Windes draußen, ein leises Knacken im alten Holz und der auf- und abschwellende Gesang der Wölfe am Waldrand zu hören. Irgendwo trippelt etwas, vielleicht eine Maus, die über einen der Deckenbalken läuft, vielleicht ein Marder oder ein Wiesel oder ein anderes kleines Raubtier, das unter dem Dach Schutz vor dem Sturm sucht.
»Ja«, sagt Helene schließlich. »Es gibt in New York tatsächlich einige Menschen, die mir wichtig sind und denen ich viel zu verdanken habe. Heshel Goldberg und seine Familie haben mir ermöglicht, in Amerika zu bleiben und mir durch Arbeit meine Unabhängigkeit zu erhalten.« Sie starrt ihn an, und als er schweigt, fügt sie schnell hinzu: »Mit meinem Touristenvisum hätte ich das Land nach spätestens sechs Monaten wieder verlassen müssen.«
»Willst du damit sagen, dass diese Verbindung lediglich eine Zweckheirat war?«, fragt er gespielt ungläubig. Diesmal ist sie es, die schweigt. Victor wartet eine Weile, dann fragt er: »Und, besteht diese Ehe noch?«
»Ja und nein«, antwortet Helene. »Heshel, mein Mann, ist vor acht Monaten gestorben.«
»Oh, das tut mir Leid.«
»Warum sollte es dir Leid tun, du kanntest ihn doch gar nicht«, sagt sie. »Heshel war schon über achtzig und ein schwer kranker Mann, als wir heirateten. Seine Frau, Menuchah, war zwei Jahre vorher gestorben, seine Töchter und Söhne haben ihre eigenen Familien, denen er nicht zur Last fallen wollte. Wir brauchten beide einen Halt, und den haben wir uns gegenseitig geben können – zumindest für ein paar Monate.« Sie sieht Victor an, aber sie sieht nicht sein Gesicht, sondern das von Heshel, alt, von den Monaten in einem Konzentrationslager des Naziregimes für immer gezeichnet und doch voller Güte, Verständnis und Dankbarkeit, wenn sie die Kissen in seinem Rücken richtete oder seine hageren, immer kalten Hände in ihren wärmte oder voller Zweifel und voller Fragen an ihn war. Ein gutes Gesicht war es, in dem die Augen bis zum Tod hellwach waren, voller Interesse und Anteilnahme an Helenes Schicksal, an ihrem Leben in Sibirien, ihren Plänen, ihren Träumen.
Victor schweigt, und Helene ist erleichtert darüber, denn die Erinnerung an Heshel und seine große Familie, die jahrelang nach ihr gesucht hatten, nur weil ihre Großmutter und ihre Mutter ihnen dabei geholfen hatten, Hitlers Schergen zu entkommen, die gehört nur ihr, die will sie nicht einmal mit Victor teilen.
Sie wendet sich von ihm ab und lehnt sich mit dem Rücken an das halb hohe offene Geschirrregal, während sie die Erinnerungen an die Zeit in Heshels Familie zurückdrängt. Sie zwingt sich dazu, wieder an den Besuch bei ihrer Cousine Henriette in Kaliningrad zu denken.
»Dieses Kaliningrad«, sagt sie, als Victor sich nach den Holzscheiten bückt, sie in den Ofen schichtet und anzündet, »das ist nicht mehr das Königsberg meiner Kindheit.«
Sie versucht sich das Gesicht von Henriette in Erinnerung zu rufen, doch es gelingt ihr nicht. Sie hat nur die Schimmelflecken an den Wänden ihrer winzigen Wohnung im fünften Stock eines grauen Plattenbaus in der Nähe des Hafens vor sich und die ärmliche Einrichtung und entsinnt sich der Fremdheit zwischen ihrer Cousine und ihr, obwohl sie deutsch miteinander sprachen, und des überwältigenden Gefühls der Verlorenheit, als sie nach der Gasse suchte, in der Großmutter Emmas Haus einmal gestanden hatte. Aber Henriette ist eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit, und aus diesem Grund hat sie ihr beim Abschied nach ein paar Tagen gemeinsamer Tränen über das Verlorene, das Unwiederbringliche und langen Gesprächen über eine Möglichkeit, den Rest des Lebens zusammen in Kaliningrad zu verbringen, versichert: »Ich werde darüber nachdenken.« – »Ich warte auf dich, egal wie lange es dauert«, hatte Henriette entgegnet.
»Und trotzdem«, sagt Helene jetzt. »Meine Cousine und ich, wir sind beide allein, sie ist ein paar Jahre jünger als ich, zusammen hätten wir es wahrscheinlich einfacher mit dem bisschen Rente. Vielleicht …«
Sie verstummt, weil sie selbst bemerkt, wie falsch und hohl ihre Worte klingen, und weil ihr umherschweifender Blick plötzlich an dem alten Medizinbeutel hängen bleibt, der auf dem Schemel gleich neben der Tür liegt, da wo er auch früher immer lag, damit sie ihn, wenn sie in Eile war, nicht lange suchen musste. Sie betrachtet das Leder, an dem noch einige Fellreste jenes Tieres, von dem es stammt, sind, es wirkt brüchig und ist fast schwarz und fleckig vom Alter. Sie denkt daran, was Raissa ihr erzählte, dass nämlich schon lange vor ihr heilkundige Frauen aus Sibirien diesen Beutel mit sich getragen oder auf den Rücken ihres Rentieres gelegt hatten. Wie Raissa hatten sie ihn mit den unterschiedlichsten Kräutern und Geräten gefüllt, hatten farbige, seltsam geformte Steine, bunte Federn, Tierknochen und andere Sachen hineingelegt, die schwangere Frauen oder Neugeborene als Amulette bei sich trugen.
Schon will Helene ihre Hand ausstrecken und das vertraute Leder berühren, da schiebt sich vor den Beutel unerwartet das Bild, das sie bis in ihre Träume verfolgt, das immer dann präsent ist, wenn sie es nicht erwartet oder sich vor ihm fürchtet. Es zeigt Nicolai, Laras Sohn, ihren Enkel, der wie schlafend zwischen den Decken auf seinem Lager liegt und tot ist und tot bleibt, obwohl Helene wie wild in diesem Beutel wühlt, auf der Suche nach einem geeigneten Instrument, nach einer Medizin, die Wunder bewirken und den Kleinen zurückholen wird aus diesem endgültigen Schlaf, während Lara sie in diesem Bild von irgendwoher anstarrt, ihr bleiches, versteinertes Gesicht ein Oval vor dunklem Hintergrund und ihr Zeigefinger, ohne eine Verbindung zu einer Hand, einem Arm, einem Körper, gleich einem flammenden Speer auf Helene gerichtet.
»Ich habe doch alles versucht«, hat Helene zu ihrer Tochter gesagt, als Schmerz und Verzweiflung schon zwei Jahre zurücklagen und doch so frisch waren wie in jener Nacht, obwohl sie Härte und Kälte darüberzulegen versucht hatte. Doch Lara hat sich, erbarmungslos schweigend in ihrer Abwehr und ohne ihre Mutter noch einmal mit ihren schönen und gleichzeitig so grausamen graugrünen Augen anzusehen, von ihr abgewendet und ist gegangen. Und auch Helene ging; sie wollte Nowgoje für immer hinter sich lassen.
Helene, in dieser schmerzhaften Erinnerung verfangen, hält still, einen Herzschlag, vielleicht auch eine Ewigkeit lang, als Victors Fingerspitze sanft ihre Wange berührt.
»Kein Problem ist so groß, als dass man es nicht lösen könnte, Jelena.«
Vielleicht ist es seine Stimme, vielleicht diese Berührung, vielleicht dieses vertraute »Jelena«, das sie zum Zittern bringt.
Später, viel später an diesem Tag, da ist Victor endlich gegangen, es ist schon fast Nacht, und der Wintersturm heult ums Haus und rüttelt an Fenstern und Tür, und Ofen und Herd, von Victor bei seinem zweiten Besuch noch bis oben hin mit Holz gefüllt, bevor er wieder zu seiner Frau ging, verstrahlen erste Wärme, da setzt Helene sich neben den alten Lederbeutel auf die Bank, öffnet den Verschluss und betrachtet lange seinen Inhalt. Dann legt sie alles vor sich auf den Tisch, die Leinensäckchen mit getrockneten Kräutern und Teemischungen, die Zange, das Stethoskop und andere Geräte, schließlich auch die Tuben und Fläschchen, deren Inhalt eingetrocknet ist, die bunten Kiesel, die Tierknochen und Amulette, die noch von der Schamanin stammen. Stück für Stück holt Helene diese Sachen aus den Falten des Beutels und breitet sie vor sich aus, und manchmal meint sie im Knistern und Fauchen des Feuers in Herd und Ofen den Klang von Raissas Trommel und den heiseren Gesang der alten Schamanin zu vernehmen, mit denen sie sich den Geistern und den durch die Welt wandernden Seelen ihrer Ahnen näherte.
Ganz zum Schluss, ganz unten im Beutel, wo die Schicht aus Staub und zerbröselnden Blütenblättern das Leder grau verfärbt hat, ertasten Helenes Finger etwas, das nicht in diesen Beutel gehört. Und als sie nachsieht und es herausholt, da ist es ein Bündel vergilbter Schulhefte, zusammengehalten von einem jener Bänder, mit denen sie vor vielen, vielen Jahren die Zöpfe ihrer Tochter gebunden hatte. Sie kann sich nicht erinnern, dass sie jemals Hefte dieser Art für ihre Aufzeichnungen benutzt hat. Sie hat eine Art Tagebuch über ihre Arbeit geführt, das ist richtig, doch diese unförmige Kladde aus billigem Papier, die sie zu Beginn ihrer Arbeit in Nowgoje von Victor geschenkt bekommen hatte, hat sie verbrannt, bevor sie wegging. Es gab niemanden im Ort, der sich für ihre in deutscher Schrift gehaltenen Notizen hätte interessieren können, auch ihre Tochter nicht.
Vorsichtig löst Helene nun das schmale Band und blättert in dem Heft, das oben liegt. Auf den Linien stehen kleine, mit rotem Stift korrigierte Texte in kyrillischer Schrift. Die Schrift kennt sie, so zügig, so schwungvoll schreibt nur Lara.
Und dann, als Helene Heft für Heft aufschlägt, sind es keine Schulaufgaben mehr, sondern fortlaufende Texte, die Seite um Seite füllen. Sie muss zweimal, dreimal hinsehen, bis sie endlich begreift, dass diese Worte und Sätze aus anders geformten Buchstaben bestehen. Deutsch, denkt sie verwundert, Lara hat das auf Deutsch geschrieben! Hastig, immer schneller blättert sie weiter und weiter, liest hier und da einen Satz, einen Absatz, manchmal eine ganze Seite. Was ist das?, fragt sie und weiß doch schon, von wem und wovon diese Texte erzählen, weil sie selbst diese Geschichten erzählt hat, vor langer, sehr langer Zeit und immer wieder, weil dieses wissbegierige, neugierige, maßlose Kind, das Lara einmal war, alles wissen wollte, was es über die Wölfinnen zu berichten gab. Helene hat diese Geschichten in jener Sprache erzählt, in der sie selbst sie gehört hatte, damals, in diesem friedlichen Haus in Königsberg – in keiner anderen Sprache hätten sie sich erzählen lassen, jede Übersetzung hätte diese Nähe, diese Wärme, die während des Erzählens zwischen ihr und Lara und der Vergangenheit entstand, nur zerstört. Die deutsche Sprache war ein Zauber, denn Nähe und Wärme waren auch in ihren anderen Gesprächen spürbar geblieben. Sie verschwanden, als Lara ihr plötzlich auf Russisch antwortete. Da wurde ihr das eigene Kind fremd.
Helenes Hände zittern, als sie die Hefte, eines nach dem anderen, aufeinander schichtet. Sie hat bis zu dieser Nacht nicht gewusst, noch nicht einmal geahnt, dass Lara, ausgerechnet Lara, die trotz ihres blendenden Schulabschlusses nicht nach Moskau oder wenigstens nach Omsk auf die Universität ging, um dort Medizin zu studieren, wie Victor und Katharina und auch Helene sich das wünschten, sondern aus Trotz gleich nach der Schule diesen einfachen Jungen Ilja Nefremow geheiratet hatte, diese Erzählungen aufgeschrieben hat, mit ihren eigenen Worten, naturgemäß, aber in der Sprache ihrer Mutter.
Eine Weile starrt Helene wie blind auf den Heftstapel vor sich und horcht auf die Stimmen der Vergangenheit in ihrer Hütte, die das Rad der Zeit zurückdrehen, behutsam zunächst, dann schneller und schneller, bis nur noch der Dampf aus dem zerbeulten Wasserkessel auf der Herdplatte an die Gegenwart erinnert. Sie steht auf und gießt ohne hinzusehen das Wasser in die vorbereitete Teekanne und stellt sie und einen Becher auf den Tisch. Sie setzt sich auf die Bank. Langsam, behutsam nimmt sie das oberste Heft vom Stapel und beginnt zu lesen.
(um 1670)
Lisbeth war ein furchtloses Kind, und auch als junges Mädchen durchstreifte sie trotz ihres missgebildeten Fußes oft tagelang allein und ohne jegliche Angst die dunklen, einsamen, von Bär und Wildschwein, Wolf, Luchs und dem mächtigen Elch mit seinem riesigen Schaufelgeweih bewohnten Wälder ihrer samländischen Heimat. Sie war ein wissbegieriges Kind, das schon früh die Gestalt und die Lebensäußerungen aller Pflanzen und Tiere genau kennen lernen wollte, auch die Triebkräfte der Jahreszeiten, die Zusammensetzung des Wassers, des Schnees und der Wolken, selbst die Flugformation der Zugvögel über dem Moor. Lange und mit gespannter Aufmerksamkeit konnte sie einen im Wind schwankenden Halm Strandhafer oder eine emsige Hummel auf einer lilafarbenen Stranddistel betrachten, um dann plötzlich aufzuspringen und davonzuhüpfen gleich einem übermütigen Zicklein.
In den Wäldern, die zumeist aus Föhren, Buchen und Birken bestehen, sammelt sie schon zu Beginn des Herbstes Holz für den Ofen in der winzigen Hütte, in der sie mit der alten Hedwiga Wolf lebt, die Heilkundige und Hebamme ist. Die Leute im Dorf und in der Umgebung bis hin zur Küste schätzen die Hilfe der Alten, die keinen Weg, kein Wetter scheut, wenn man nach ihr rufen lässt. Aber sie begegnen ihr, die sie »die Wölfin« nennen, auch mit einer gewissen Vorsicht, denn man sagt Hedwiga nach, nicht nur in einer geheimnisvollen Verbindung zu den Wölfen in der Umgebung zu stehen, sondern auch in die Zukunft sehen zu können und wahrscheinlich auch etwas von der Magie zu verstehen, weswegen die eine oder andere Frau noch in der jüngsten Vergangenheit sogar auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war.
Lisbeth nennt Hedwiga Wolf Großmutter, obwohl sie nicht verwandt mit ihr ist. Ihre Eltern kennt Lisbeth nicht, denn sie ist ein Findelkind. Manchmal erzählt Hedwiga von jenem Abend im Winter, an dem sie ihre neue Hebammentasche aus Schweinsleder, die sie bei einem Mann, der sich auf die Anfertigung von Zaumzeug und Sätteln für die Pferde versteht und in einem entfernteren Dorf lebt; abgeholt hatte. Unterwegs hatte sie noch bei einer schwierigen Geburt im Haus eines Köhlers geholfen und war dann durch den düsteren Wald nach Hause zurückkehrt. Unweit ihrer Hütte wurde sie auf das laute Heulen und Knurren eines Wolfsrudels ganz in ihrer Nähe aufmerksam. Sie hatte keine Angst, wollte aber trotzdem eilig weitergehen. Da spürte sie, wie einer der Wölfe nach ihrem Rock schnappte und daran zerrte.
»Ich weiß nicht, warum, aber ich ließ mich von ihm direkt zu diesem dichten Brombeergestrüpp ziehen.« Hedwiga lächelt bei der Erinnerung und lässt ihr lückenhaftes Gebiss sehen. »Vielleicht dachte ich, dass es schon einen Grund für dieses ungewöhnliche Verhalten des Wolfes geben müsse. Vielleicht wollte ich aber auch nur meinen Rock retten, denn es war der einzige, den ich damals besaß. Und es war ein guter Rock, einer aus dem festen Wollstoff, den mir unsere Fürstin persönlich aus Königsberg mitgebracht hatte.«
»Doch dann hörtest du mich, Großmutter.«
»Ja. Als der Wolf mich schließlich losließ, da ich ihm ohne Gegenwehr folgte, hörte ich ein kleines Kind kichern und lachen. Die Dornen rissen mir die Haut auf, aber ich achtete nicht darauf. Und dann sah ich dich. Du lagst in einer Erdmulde mitten zwischen dornigen Ranken und lachtest. Neben dir lag ein Wolfsjunges. Es leckte dein Gesicht, und sein Fell kitzelte dich«, erzählt Hedwiga weiter.
Lisbeth lehnt sich dichter an sie. »Und keiner der Wölfe hat uns beiden etwas angetan.«
Die Alte streicht mit knotigen Fingern das Blondhaar aus der Stirn des Mädchens. »Kein Mensch, der die Tiere liebt und achtet, muss sich vor Wölfen fürchten, wenn er ihnen aus dem Weg geht. Weißt du, man muss nur sie und ihr Recht respektieren, in dieser Welt so frei und unabhängig leben zu können, wie wir Menschen es als unser natürliches Recht ansehen.«
Eine Weile sitzen sie schweigend nebeneinander auf der schmalen Bank vor der Hütte. Die schon schräg stehende Sonne lässt die Blätter der Birke am Zaun flirren und malt zittrige Kringel auf den schmalen Weg, der zur Pforte führt, vorbei an üppig blühenden Blumenbeeten auf der einen Seite und Hedwigas von Bienen und anderen Insekten umsummten Kräutergarten auf der anderen. Lisbeth kennt alle diese Kräuter, die ihre Großmutter im Herbst bündelt und trocknet, mit Namen. Sie erkennt sie an der Form ihrer Blüten und Blätter und an ihrem Geruch und weiß genau, gegen welches Leiden sie helfen.
»Und dann hast du mich in deine große neue Tasche gelegt und mit zu dir nach Hause genommen«, nimmt sie ihr Gespräch wieder auf.
Hedwiga lächelt sie von der Seite an. »Jaja, meine Tasche. In sie wollte ich an diesem Abend, als ich dich fand, eigentlich alles, was ich für die Geburtshilfe benötige, einräumen. Du weißt schon, die Schere und das scharfe Messerchen zum Durchtrennen der Nabelschnur und einen leinenen Faden zum Abbinden, das Klistier, ein wenig Essig, ein wenig Laudanum für die, denen die Schmerzen zu sehr zusetzen, Melissenwasser zur Beruhigung und das Fläschchen mit Weihwasser für eine Nottaufe und die eine oder andere selbst bereitete Salbe für Komplikationen bei einer Geburt. Und dann natürlich meine selbst gesammelten und getrockneten Kräuter, dazu ein bisschen gutes Öl, Knoblauch und Zwiebel, um die Lebensgeister einer von den Wehen geschwächten Frau wiederzubeleben, und …«
»Aber das weiß ich doch alles, Großmutter!«, unterbricht Lisbeth sie ungeduldig und wackelt mit ihren nackten Zehen. »Erzähl lieber weiter von mir!«
Die Alte seufzt ein bisschen, doch in ihren Augen glimmt ein seltsam fröhliches Funkeln.
»Ich hatte keinen Platz in meiner Hütte, an dem du hättest sicher schlafen können. Also legte ich dich weiterhin in die Tasche, wenn du müde warst. Es schien dir zu gefallen, denn du hast nie geweint. In dieser Tasche habe ich dich sogar mit mir genommen, wenn ich zu einer Geburt gerufen wurde.« Sie lacht keckernd. »Du wurdest mit der Zeit ganz schön schwer. Und du weißt doch, wie lang die Wege manchmal sein können.«
»Und deine Instrumente und Arzneien musstest du weiterhin in deinen alten zerrissenen Beutel tun, damit du ein weiches Kissen und mich darauf in deine neue Tasche legen konntest.«
»Schlimm, wirklich schlimm war das mit dir!«
Lisbeth zieht die Nase kraus. »Aber du hast es getan, weil du mich von Anfang an liebtest, nicht wahr? Du hast mir sogar deinen Namen gegeben. Wolf. Ich bin Lisbeth Wolf.«
»Meine kleine Wölfin bist du.«
Hedwiga wiegt das Mädchen, das sich in ihre Arme geschmiegt und seinen Kopf auf den hageren, knochigen Brustkorb ihrer Großmutter gelegt hat. Lisbeth stellt sich vor, dass die Worte irgendwo tief im Innern von Hedwigas Brust geformt werden, dann grummeln und rollen sie mit sonderbaren, fernem Donner ähnlichen Geräuschen hoch, bis sie endlich aus ihrem Mund springen.
»Erzähl weiter, Großmutter!«
Und Hedwiga erzählt: »Ein hübsches Kindchen warst du, mit schneeweißer, zarter Haut und Goldflaum auf deinem Köpfchen und mit einem Spitzenhemdchen bekleidet und eingehüllt in feinstes Linnen. Ich sah sofort, dass du etwas Besonderes warst.«
»Aber mein Fuß«, unterbricht Lisbeth sie. »Mein Fuß war hässlich. Er ist noch immer hässlich.« Sie streckt ihren nackten Klumpfuß in die Höhe. »Die Leute zeigen auf mich, wenn ich durchs Dorf gehe. Und sie sagen, dass meine Mutter eine der feinen Damen ist, die mit dem Fürsten in jedem Herbst in unser Dorf kommen. Und weil sich meine Mutter schämte, ein Kind mit einem Klumpfuß zu haben, wurde ich im Wald ausgesetzt. Die Wölfe oder ein Bär sollten mich töten.«
»Du musst nicht alles glauben, was die Leute erzählen.« Hedwiga schiebt das Mädchen von sich. »Vergiss nie, dass es nicht Menschen, sondern Wölfe waren, die dich fanden und mich zu dir führten. Weißt du, Tiere haben oft einen viel besseren Instinkt als unsereiner für etwas, das besonders wichtig oder wertvoll ist.«
»Bin ich wichtig oder wertvoll, Großmutter?«
Hedwiga gibt der Kleinen einen freundschaftlichen Klaps aufs Hinterteil. »Ja, ja, du bist eine Wölfin. So, und jetzt lauf. Wir brauchen frischen Portulak, Kamille und Minze. Und bring auch Wurzeln und Blätter vom Huflattich, die ich für die Wundbehandlung brauche, sowie die Spitzen junger Himbeerblätter für unseren Wintertee mit.«
Im Frühjahr, Sommer und Herbst läuft Lisbeth also bloßfüßig durch die Wälder und sucht nach Beeren und Pilzen. Sie hält Ausschau nach heilsamen Kräutern, die ihre Großmutter bündelt und zum Trocknen an den schweren Balken in der Wohnküche hängt. Sie gräbt mit ihrem Messerchen nach essbaren Wurzeln und fängt mit der Schlinge ab und zu sogar einen Hasen oder ein fettes Eichhörnchen, obwohl die Jagd in den Wäldern des fürstlichen Gutsherrn streng verboten ist und dessen Verwalter aufpasst wie ein Luchs. Die Winter sind frostig und lang, und manchmal kommen die Wölfe auf der Suche nach Nahrung bis in die Nähe des Dorfes. Schnell lernt Lisbeth, auf ihre Rufe zu antworten. In manchen mondhellen Nächten, wenn sie nicht schlafen kann und die Wölfe hört, tritt sie vor die Tür der Hütte, um mit ihnen gemeinsam den Mond anzusingen.
In einem dieser Winter, da ist Lisbeth etwa sieben Jahre alt, findet sie ein verlassenes, dem Tode nahes Wolfsjunges. Der linke Vorderlauf ist bis zum Kniegelenk abgerissen, die Schulter ist ausgerenkt. Wahrscheinlich ist der junge Wolf in ein Fangeisen geraten und hat sich nur unter Aufbietung all seiner Kräfte daraus befreien können. Auf drei Beinen versucht er zunächst vor Lisbeth zu fliehen, legt sich dann aber bald erschöpft auf den Rücken, winselt und bietet ihr seinen weichen, pelzigen Bauch dar. Als sie ihn krault, zieht er die winzigen Lefzen über den spitzen Zähnchen hoch. Es sieht aus, als würde er lächeln. Das Herz wird Lisbeth warm bei diesem Lächeln, und sie erwidert es freudig.
Sie trägt das kleine Tier in ihrer Schürze nach Hause und zeigt es ihrer Großmutter. Als sie ihre Schürze öffnet und sie sich beide über ihn beugen und ihn schweigend betrachten, guckt der kleine Wolf zunächst ebenso ernsthaft zurück. Dann verzieht er plötzlich wieder seine Lefzen.
»Schau nur, er lächelt!«, ruft Lisbeth begeistert, während ihre Großmutter vorsichtig den Körper des Tieres betastet. »Nicht er, sondern sie«, sagt Hedwiga barsch. »Und rede nicht so – ein Wolf, der lächelt, ha! Bilde dir nur nichts ein. Ein Wolf zeigt seine Zähne, weil er Angst hat oder drohen will.«
Lisbeth will so manches fragen, doch sie schweigt lieber. Zuweilen kann ihre Großmutter sehr launisch sein, und da ist es besser, man widerspricht ihr nicht. Stumm beobachtet sie die Alte, die nun den verletzten Lauf untersucht und dann mit ihrem Fingernagel vorsichtig das schon eiternde Fleisch vom zersplitterten Knochen schabt. Das Tier winselt, doch es hält still. Als Hedwiga die Wunde gesäubert hat, hält sie inne und betrachtet das Kind neben sich eine Weile unter halb gesenkten Lidern. Auch Lisbeth sieht sie an. Sie erschauert unter diesem merkwürdig prüfenden Blick. Die Großmutter hat nämlich zwei verschiedenfarbige Augen – das eine ist dunkelbraun und liegt tief in seiner Höhle, das andere schimmert grüngelb und steht etwas vor. Beide lodern zuweilen in einem seltsamen Feuer, das Lisbeth gleichzeitig fasziniert und ängstigt. Auch jetzt sieht sie dieses Glühen in Hedwigas Augen.
»Warum darf ich nicht sagen, dass meine Wölfin lächelt?«, wagt das Mädchen schließlich zu fragen.
»Ach, ich weiß nicht«, winkt Hedwiga mürrisch ab und wendet sich wieder dem verletzten Tier zu. »Man sollte nicht auf alles hören, was die Leute so sagen.«
»Und was sagen die Leute, Großmutter?«
Doch Hedwiga presst nur ihre Lippen zusammen.
Oft begleitet Lisbeth ihre Großmutter auf den großen Hof des Fürsten. Und weil Hedwigas Tasche dann prall gefüllt ist mit Flaschen und Tiegeln und anderem, wechseln sie sich auf dem Weg mit dem Tragen ab. Während der Fürst und Hedwiga nach der Untersuchung und Behandlung im Salon des Herrenhauses Tee trinken, kleine Ingwerkuchen dazu knabbern und über die Politik im Lande reden, darf Lisbeth in der großen warmen und gut duftenden Küche bei der dicken Köchin Marthe sitzen und heiße Schokolade oder verdünnten Himbeersaft trinken und mit braunem Zucker bestreute Butterbrote oder dicke saure Milch mit einer Zuckerkruste auf der Rahmschicht dazu essen. Bei fast jedem dieser Besuche kommt eine der vornehmen Damen der Fürstin in die Küche, eine immer ein wenig traurig wirkende Frau mit prachtvollen blonden Locken, die ein wenig Lisbeths Locken ähneln, unter ihrer Haube. Sie fragt das Kind über alles Mögliche aus, will genau wissen, wie Lisbeth lebt und ob sie es im Dorf auch gut hat, und steckt ihr ab und zu sogar ein paar Münzen in die Schürzentasche, die Lisbeth später ihrer Großmutter gibt. Einmal erzählt Lisbeth, dass Hedwiga ihr ein wenig lesen und schreiben beigebracht hat. Von da an hat die Dame zu diesen Treffen in der gemütlichen Küche meist eines der Bücher aus der Bibliothek des Fürsten dabei, um Lisbeth daraus vorlesen zu lassen. Sie schenkt Lisbeth sogar ein dünnes Heft, ein Fässchen mit Tinte und einen Federkiel dazu und trägt ihr auf, das Gelesene schriftlich nachzuerzählen und ihr das Heft beim nächsten Besuch zu zeigen. So kommt es, dass Lisbeth bald das einzige Kind im Dorf ist, das flüssig lesen und schreiben und sogar etwas rechnen kann. Dass die anderen Kinder, die vom Dorfpfarrer unterrichtet werden, weil man sich keinen Lehrer leisten kann, sie deshalb hänseln und niemand mit ihr spielen will, stört sie nicht, denn ihre langen und einsamen Streifzüge durch die Natur und das Leben mit der alten Hedwiga, die sie zu ihren Krankenbesuchen mitnimmt, bieten ihr Anregendes genug.
Sie nennt die Wölfin Lupa und lässt sie mit auf ihrem Strohlager schlafen; eines wärmt das andere in kalten, stürmischen Winternächten. Doch eines Tages läuft Lupa fort und kommt nicht mehr wieder. Lisbeth weint bitterlich.
»Sie musste dich verlassen und wieder in der Wildnis leben, damit auch ihre Seele frei bleiben kann«, erklärt Hedwiga. Lisbeth ist nur wenig getröstet und sucht lange nach der Wölfin. Manchmal findet sie die unverkennbaren Spuren ihrer dreibeinigen Wölfin in der Nähe der Hütte. Und sie erkennt mühelos Lupas Ruf im vielseitigen Wolfsgeheul der klaren Winternächte. Oft, wenn sie in der einfallenden Abenddämmerung mit schwerem Korb oder mit Hedwigas alter Hebammentasche nach Hause wandert, begleitet sie der vertraute Schatten, dem zuweilen noch andere folgen, nicht weit entfernt von ihr zwischen den Bäumen.
Als Lisbeth vierzehn Jahre alt ist, freit Miesko, der Schmied ihres Heimatdorfes, um sie. Er ist nicht der einzige Mann in der Umgebung, der sie trotz ihrer körperlichen Behinderung zur Frau nehmen will. Sie hat von der alten Hedwiga alles gelernt, was sie als Heilkundige und Hebamme wissen muss. In Hedwigas Fingern wütet nun die Gicht, und das Rheuma lässt die alte Frau ganz krumm gehen. Sogar ihre seltsam zweifarbigen Augen wollen nicht mehr so recht sehen, obwohl Lisbeth sie täglich mit einer Tinktur aus Kamille und Augentrost wäscht. Hedwiga liebt es jetzt, vor der Hütte in der Sonne zu sitzen und die tägliche Arbeit ihrer Enkelin zu überlassen.
Am Anfang will Lisbeth dem Schmied Miesko eine gute Frau sein. Auch sie will viele gesunde und starke Kinder gebären und ihren Haushalt ordentlich führen, wie alle Ehefrauen im Dorf das tun. Daneben will sie ihrer Großmutter weiterhin zur Hand gehen und dafür sorgen, dass die Kranken in der Umgebung wieder genesen und Kinder gesund auf die Welt kommen. Doch der gute Wille vergeht ihr bald.