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Ein bewegender Roman, der Mut macht: „Meine Tochter verschwindet“ von Jo Schulz-Vobach jetzt als eBook bei dotbooks. Es beginnt ganz harmlos: Die 16-jährige Theresa ist ein typischer Teenager, in sich gekehrt, ein paar Schulprobleme, etwas pummelig – und darüber sehr unglücklich. Ihre Mutter Anne merkt zunächst nichts von den Veränderungen, die ihre geliebte Tochter durchmacht: Immer öfter lässt Theresa ihr Essen stehen, starrt stundenlang in den Spiegel. Als sie beginnt, sich nicht mehr nur heimlich zu erbrechen, muss Anne schmerzhaft erkennen, dass sie hilflos ist: Hilflos gegenüber einer Krankheit, die sich leise und heimtückisch in das Leben ihrer Familie geschlichen hat. Schonungslos erlaubt dieser Roman der Autorin Jo Schulz-Vobach einen Einblick in die Welt einer oft tabuisierten Krankheit: eine flammende Liebeserklärung an das Leben! Jetzt als eBook kaufen: „Meine Tochter verschwindet“ von Jo Schulz-Vobach. Ein Roman, nicht nur für Menschen, die mit Bulimie oder Anorexie kämpfen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 454
Über dieses Buch:
Es beginnt ganz harmlos: Die 16-jährige Theresa ist ein typischer Teenager, in sich gekehrt, ein paar Schulprobleme, etwas pummelig – und darüber sehr unglücklich. Ihre Mutter Anne merkt zunächst nichts von den Veränderungen, die ihre geliebte Tochter durchmacht: Immer öfter lässt Theresa ihr Essen stehen, starrt stundenlang in den Spiegel. Als sie beginnt, sich nicht mehr nur heimlich zu erbrechen, muss Anne schmerzhaft erkennen, dass sie hilflos ist: Hilflos gegenüber einer Krankheit, die sich leise und heimtückisch in das Leben ihrer Familie geschlichen hat.
Schonungslos erlaubt dieser Roman der Autorin Jo Schulz-Vobach einen Einblick in die Welt einer oft tabuisierten Krankheit: eine flammende Liebeserklärung an das Leben!
Über die Autorin:
Jo Schulz-Vobach arbeitet als freischaffende Journalistin und Schriftstellerin. Auch wenn die gebürtige Ostpreußin seit 1992 in Österreich lebt und schreibt, sind es die Landschaften der Ostsee, die sie dazu inspirieren, vergangenen Geschichten nachzuspüren. Ihre Romane »Die Bernsteinfrau«, »Das Lächeln der Wölfin« und »Die Sanddistel«, die die leisen und unbekannten Spuren der deutschen Geschichte vor dem Vergessen bewahren wollen, sind ebenfalls bei dotbooks erschienen.
Die Autorin im Internet: www.joschulzvobach.jimdo.com
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Aktualisierte eBook-Neuausgabe März 2017
Dieses Buch erschien bereits 2002 unter dem Titel »Ich hab’ dich nie so lieb gehabt wie jetzt« bei Droemersche Verlagsanstalt, Th. Knaur Nachf., München
Copyright © der Originalausgabe 2002 by Droemersche Verlagsanstalt, Th. Knaur Nachf., München
Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Aleshyn_Andrei
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (er)
ISBN 978-3-95824-802-1
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Jo Schulz-Vobach
Meine Tochter verschwindet
Eine Mutter kämpft gegen die Magersucht
dotbooks.
Für meine Töchter
Vieles an der Geschichte von Anne und ihrer magersüchtigen Tochter Theresa ist autobiografisch, und ebenso vieles ist erdacht, hinzugefügt, verändert. Einiges ist so geschehen, wie es aufgeschrieben wurde, manches hat sich auf andere Weise zugetragen.
Die Romanform habe ich gewählt, weil sie mir diese Freiheiten erlaubt und weil sie mir eine gewisse Distanz zum tatsächlichen Geschehen ermöglicht.
In der Phase des Suchens nach einem Titel für mein Buch las ich in einem Gedichtband eine Zeile, die sich in mir festsetzte, mich nicht mehr losließ. In dem Satz »ich hab dich nie so lieb gehabt wie jetzt« fand ich die Summe all meiner Sorgen und Ängste, all meiner Gefühle für meine kranke Tochter.
Danken möchte ich jenen Menschen, vor allem aber meinen Kindern, die mir in den vergangenen Jahren durch Worte und Gesten zu verstehen gaben, nicht allein im Mit-Leiden mit meiner magersüchtigen Tochter zu sein.
Sommer 2001
Jo Schulz-Vobach
Manchmal, wenn sie den Kopf dreht, kann sie ihre Tochter sehen, die winzig wirkt in diesem hohen Bett mit den Apparaten am Kopfende, aus denen Schläuche sprießen und auf deren Monitoren grünliche Punkte und Kurven aufleuchten. Einer der Schläuche fährt in den Mund ihrer Tochter. Die Lippen sind blutleer und ausgetrocknet. Das Pflaster, mit dem der Schlauch befestigt worden ist, zerrt an der dünnen, papiernen Haut. Man hat ihr eines dieser weißen, gestärkten Flügelhemden angezogen, die in Krankenhäusern wohl üblich sind, darin sieht sie noch gespenstischer aus als sonst. Die Tür des Zimmers ist weit geöffnet, Leute gehen ein und aus, drehen an Knöpfen, prüfen Anschlüsse.
Niemand achtet auf sie, die Mutter, die im Flur wartet, worauf, sie weiß es nicht. Ihre Hände zerknüllen das dünne hellblaue Plastik in ihrem Schoß. Bevor sie die Station betreten durfte, hat sie sich eine Art Schürze aus Plastik umbinden und die Hände waschen müssen. Und sie musste ihre Handtasche in ein Schließfach stellen. Sie hat vergessen, sich ein Taschentuch mitzunehmen, und ihre Nase läuft. Vor den Fenstern ist Nacht, ein stockdunkler Himmel, ohne Sterne. Der Wind schlägt Regen gegen die Scheiben. Als sie herkam, war es noch hell. Mai, denkt sie; vor einunddreißig Jahren wurde diese Tochter geboren, auch im Mai, und es roch nach Jasmin. Ich erinnere mich, dass plötzlich irgendwo ein Fenster in der Klinik weit geöffnet wurde. Man hatte sie mir auf den Bauch gelegt. Sie zitterte ein wenig, vielleicht, weil ihr kalt oder weil das Neonlicht so grell war. Und ich wollte ihr alle meine Wärme geben, mein Leben lang wollte ich sie beschützen.
Jetzt riecht es nach Medikamenten, nach Desinfektionsmitteln, nach Krankenhaus. Auch ihre Hände riechen schon danach, obwohl sie nichts angefasst hat. Sie sitzt still da, ganz gerade, den Rücken nur leicht an die Stuhllehne gedrückt. Seit Stunden sitzt sie so da. Nur manchmal wendet sie den Kopf, um ihre Tochter über den Flur und durch das Zimmer anzusehen. Sie fühlt sich angreifbar, der Schutzpanzer ging ihr verloren in diesen Tagen. Es hat sie viel Zeit gekostet, ihn zu bauen, und auch viel Kraft. Im Wegnehmen warst du schon immer gut, meine Tochter, denkt sie und sieht erneut in den Raum, in dem Theresa liegt. Durch einen der Schläuche fließt eine violett-schwarze Flüssigkeit, die das Gift aus ihrem Körper holt.
»Wie viele Tabletten?«, wollte der Notarzt wissen. Anne zeigte ihm das leere Röhrchen; es wirkte entsetzlich groß auf ihrer Handfläche.
»Mein Gott!«, sagte der Arzt.
Sie stand dabei, gleichsam versteinert, als man ihre Tochter zu beatmen versuchte. Sie sah zu, wie sich auf der blassen Haut über den herausstehenden Schulterknochen blaue Flecken bildeten, wo die Sanitäter zugepackt hatten, sah zu, wie der Arzt nach der Vene in der Armbeuge suchte. Dann das Blut, dick wie Sirup. Nach einer Ewigkeit wurde dieser ausgemergelte Körper auf eine Bahre gelegt und aus dem Haus transportiert, fünf Stockwerke hinunter. Die Sanitäter stöhnten. Eine der Wohnungstüren öffnete sich, und jemand rief erschrocken: »Ist etwas passiert? Was ist passiert?«
Anne aber sah nur in dieses käseweiße, leblose Gesicht, auf diese geschlossenen, blauviolett schimmernden Augenlider. Sie wollte mit in den Krankenwagen steigen, ihre Tochter nicht einen Moment aus den Augen lassen.
»Nein!«, sagte einer der Männer. Ein anderer nahm sie im Notarztwagen mit. Sie saß auf dem Beifahrersitz, mit angespanntem Körper, den Blick nur auf dieses blinkende Blaulicht am Fahrzeug vor ihnen gerichtet.
Von irgendwoher dringt ein anhaltender Piepston in ihren Kopf, jemand rennt über den Gang, rennt an der offenen Tür des Zimmers, in dem ihre Tochter liegt, vorbei. Annes Herz schlägt schmerzhaft. Vor Stunden hat man ihr gesagt, sie solle heimgehen.
»Sie können jetzt nichts für Ihre Tochter tun«, meinte jemand, »gehen Sie nach Hause, Frau Berger.«
Sie hatte genickt – und sich nicht gerührt. Ihr Körper war nicht fähig, aufzustehen und irgendwohin zu gehen. Er ist noch immer nicht fähig dazu. Sie sitzt da, die Füße ordentlich nebeneinander gestellt, die Hände im Schoß gefaltet, der Rücken gerade. Ob jemand dieses schreckliche Gefühl verstehen kann, nicht zu wissen, wie dem eigenen Kind zu helfen ist?
Wenn Anne den Kopf nicht dreht, um ihre Tochter anzusehen, dann starrt sie auf einen Riss in der Wand ihr gegenüber. Je länger sie ihn anstarrt, desto dringlicher wird das Gefühl, dass dieser Riss sich erweitert. Dass er zur Schlucht, zum Graben wird, in den sie sich stürzen kann. Wohin sollte sie sonst gehen, sie lebt nicht mehr in dieser Stadt. Zur Wohnung ihrer Tochter hat sie einen Schlüssel, aber sie kann sich nicht an die Adresse erinnern. Als sie nach dem Telefonbuch und der Notrufnummer suchte, war ihr auf dem Schreibtisch der große Umschlag mit der Aufschrift »Mein Testament« aufgefallen, daneben, fein säuberlich geschichtet, ein Stapel Briefe. An die Elektrizitätsgesellschaft, an die Post, an den Vermieter der Wohnung, an ihren Vater. Und sie las noch andere Namen, von denen Theresa ab und zu erzählt hatte. Etwas abseits war ein einzelner Brief an einen Stapel dicker Kladden gelehnt, auf dem stand: Für meine Mutter.
»Die Tagebücher sind für dich«, hatte Theresa gesagt. »Lies sie, vielleicht verstehst du dann.«
Anne könnte jetzt gar nicht in diese Wohnung zurückkehren.
Nicht die Tür öffnen und diesen unverkennbaren Geruch in der Wohnung, der seit vielen Jahren zu ihrer Tochter gehört, einatmen. Sie könnte jetzt nicht den an sie gerichteten Brief in die Hand nehmen, nicht das Blut auf dem Laken im Bett sehen, nicht die Plastikreste von Spritzen und was vielleicht sonst noch herumlag wegräumen.
»Ihre Tochter ist über den Berg«, sagt jemand.
Sie glaubt es nicht. Sie glaubt nichts mehr, sie weiß nicht, was sie denken soll.
»War es richtig, erst heute zu kommen?«, fragt sie den Mann, der neben ihr steht und auf sie herunterschaut; sein Gesicht wirkt müde. Die Hände hat er in den Taschen seines weißen Kittels vergraben. »War es ein Fehler, dass ich zu früh gekommen bin – oder zu spät?«
Er zuckt mit den Schultern. »Gehen Sie nach Hause.«
Sie wendet den Kopf und sieht ihre Tochter dort liegen, kaum noch da, die dünne Bettdecke ist nur unmerklich gewölbt über dem mageren Körper. Sie sieht zu, wie dieser Körper sich immer wieder aufbäumt, wie die knochigen Hände an den Schläuchen zerren, dann fällt er zurück, wirkt wieder leblos.
»Komm nicht zu früh«, hatte ihre Tochter am Telefon gesagt. »Versprich mir, dass du mich diesmal gehen lässt. Unternimm nichts, falls du zu früh kommen solltest – bitte, versprich mir das. Ich könnte eine geschlossene Klinik nicht ertragen, und dort würden sie mich einweisen, wenn es nicht klappen sollte. Ich bin nicht irre, ich bin nicht geisteskrank, und du weißt das. Lass mich sterben – versprich mir das.«
Anne hatte es versprochen, immer wieder. Was hätte sie anderes tun sollen. Dann war sie zu früh gekommen. Sie hatte das leere Tablettenröhrchen vom Fußboden aufgehoben, die Telefonnummer der Rettung gewählt, mit dünner Stimme Anlass und Adresse angegeben und während des Wartens auf das Läuten der Türglocke wortlos die eiskalte Hand ihrer Tochter gehalten. Dann war sie beiseitegetreten und hatte zugesehen, wie Leuchtpünktchen über Monitoren liefen, wie eine Spritze in den dünnen Arm ihrer Tochter gestoßen wurde, wie man einen Schlauch in ihren Mund zwängte und mit Pflaster verklebte. »Ich kenne Ihre Tochter«, sagte der Notarzt. »Ich habe sie schon in der Stadt bemerkt. Sie fällt auf, man kann sie nicht übersehen.«
Anne hatte ihn starr angeschaut und nichts von dem über die Lippen bringen können, was in ihrem Innern vor sich ging.
Sie will auch jetzt mit jemandem reden, ohne den Mund öffnen zu müssen. Sie möchte stumm gehört werden. Jemand muss doch die Fragen beantworten können, die sich in ihrem Kopf drehen, seit Jahren schon. Im Gang stehen zwei Schwestern nah beieinander. Eine lacht einmal leise auf, blickt kurz mit verlegenem Gesicht zu Anne, dann gehen sie wieder auseinander. Alle Räume der Intensivstation sind belegt. Die Ärzte und Schwestern haben es eilig. Manchmal quietschen die Sohlen ihrer Schuhe.
Anne denkt, dass sie zu Hause anrufen sollte. Lorenz wird auf ihren Anruf warten, dort, wo sie jetzt lebt.
»Ruf gleich an, wenn du angekommen bist«, hatte er gebeten, als sie in den Zug stieg. »Ich könnte es nicht aushalten, nichts von dir zu hören. Versprich mir, dass du dich meldest.«
Sie hatte durch die verschmutzte Fensterscheibe in sein Gesicht gesehen, als der Zug anfuhr. Später, als die Landschaft an ihr vorbeizog, war ihr die Antwort eingefallen: Ja, ich rufe dich an. Irgendwo in diesem Krankenhaus wird es ein Telefon geben, das sie benutzen kann. Aber sie ist nicht in der Lage, sich zu rühren. Sie wird hier sitzen und warten, bis ihre Tochter aus diesem Bett aufsteht, bis sie dieses Flügelhemd, das so sehr an die Hemden der Engel in Weihnachtsgeschichten erinnert, auszieht. Sie wird hier sitzen und warten, bis der ausgezehrte Körper ihrer Tochter wieder so aussieht wie der Körper anderer junger Frauen, lebendig, gesund und warm. Warten wird sie hier, bis das Düstere, das Verlorene aus den Augen ihrer Tochter verschwunden ist und sie wieder groß und schön sind. Bis dieser Panzer von Theresa abfallt, den niemand, nicht Anne, ihre Mutter, nicht ihr Vater, die Geschwister, den kein Therapeut bisher aufzubrechen vermochte.
Anne wird hier warten, bis ihre Tochter wieder so ist wie damals, bevor alles begann.
Aber sie weiß auch, dass dieses Warten nur ein Traum ist. Ein Traum, der seit Jahren da ist. Ein unerfüllbarer Traum.
***
»Es geht mir nicht gut«, sagte Theresa. Ihre Stimme war weit entfernt. Dann nur noch das Rauschen im Äther. Am anderen Ende der Leitung ihre Mutter. Die üblichen Alarmglocken im Gehirn. Es geht ihr nicht gut, es geht ihr nie gut. Dazu die Angst – alt und doch immer wieder neu. Enge in der Brust. Atemlosigkeit. Was ist es diesmal?
»Was ist passiert!?«
»Nichts, nicht mehr als sonst«, antwortete Theresa. »Es ist nur so, dass ich nicht mehr kann. Und nicht mehr will.«
In Annes Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie könnte den und den Termin absagen, die Tasche wäre schnell gepackt.
»Soll ich kommen? Ich komme sofort!«
»Nein!«, sagte Theresa. Immer wieder: »Nein!«
»Warum nicht?!«
»Ich mag nicht viel darüber reden«, erklärte sie tonlos. Dann wurde ihre Stimme aggressiv. »Ich will mich von dir verabschieden, endgültig, jetzt und am Telefon. Ich möchte nicht, dass du kommst, es gibt nichts mehr zu besprechen, mein Entschluss ist endgültig.« Wieder nur das Rauschen. Plötzlich redete sie weiter, ohne Pause. »Ich habe alles lange geplant, mir die Tabletten besorgt. Es war ganz leicht, der Arzt hat nicht viel gefragt. Ich habe sie gesammelt. Seit gestern habe ich offiziell Urlaub. In einer Woche«, erklärte sie, »am nächsten Freitag werde ich es machen. Ich brauche diese Tage noch, ich will alles in Ordnung bringen.
Niemand soll mir etwas nachsagen können. Bankgeschichten, die Wohnung kündigen, Abschiedsbriefe schreiben und mein Testament machen. Du kannst meinen Computer haben und die Bücher.«
»Kind«, sagte Anne, immer nur dieses eine Wort: »Kind.«
»Ich muss das tun, es geht mir nicht gut. Ich kann auf dieser Welt nicht mehr bleiben. Ich muss das Ding loswerden, irgendwie. Und diesmal wird es klappen, ich weiß es. Diesmal will ich es wirklich.«
Sie schwiegen beide.
»Lass mich gehen«, bat Theresa nach einer Weile. »Ich gehe leicht und gern, du weißt das, du hast das immer gewusst, nicht wahr?«
»Kind – Kind.«
»Die Haare fallen mir büschelweise aus«, fuhr Theresa fort. »Ich verliere die Zähne. Ich habe massive Kreislaufbeschwerden. Und dann das Kotzen, ich komm nicht weg davon. Als müsste ich den letzten Scheiß dieser Welt aus mir kotzen, jeden Abend. Erst wenn ich das hinter mir habe, kann ich für ein paar Stunden schlafen. Du hast ja keine Ahnung, wie das ist, nicht mehr schlafen zu können.«
»Nein, ich habe keine Ahnung«, flüsterte Anne. Ihr war kalt, eisig kalt. Sie konnte ihre Lippen nur mit Mühe bewegen.
»Der Arzt«, war wieder Theresas Stimme zu hören, »er hat mich aufgegeben. Es liegt an mir, ich breche jede Therapie ab. Ich werfe alle Medikamente in die Mülltonne vor der Praxis. Die Rezepte lasse ich einfach irgendwo liegen. Niemand kann mir helfen.« Sie unterbrach sich. Anne hörte, dass sie an einer Zigarette zog. »Ich habe Depressionen, schlimmer denn je. Um mich herum gibt es nur noch Dunkelheit. Und ich wünsche mir so sehr Licht und Sonne. Aber ich habe Angst, diese Antidepressiva einzunehmen, die mir der Arzt verschrieben hat. Sie würden mich verändern, und ich weigere mich, nicht mehr ich selbst zu sein.«
»Das sind Vorurteile«, sagte Anne, »ganz blöde Vorurteile.« Wieder das schmatzende, saugende Geräusch.
»Ich bin auf dem Weg in eine hellere Welt«, redete Theresa weiter, als hätte sie Annes Worte nicht gehört. »In eine Welt ohne Schmerz und ohne den Drang, alles von mir zu geben. Eine Welt, in der mich niemand mehr anstarrt, als hätte ich Aids oder sonst etwas Schreckliches. In der niemand mehr etwas von mir erwartet. In der ich sein kann, wie ich bin. Endlich!«
Was sollte Anne darauf entgegnen? So horchte sie nur noch in sich hinein: Entsetzen, Angst, Verzweiflung, Mitleid, Liebe, Trauer, Hilflosigkeit, Schuldgefühle, Resignation – aber auch Wut und Aggression. Nichts davon war ungewohnt, seit Jahren schon. Doch diesmal ließ sie einen neuen Gedanken zu. Vielleicht ist es das Beste, wenn sie geht – das Beste für sie, für uns alle. Ein beängstigender, beklemmender Gedanke war das. Und sofort entstand ein neues Schuldgefühl. Wie kann ich so denken!
»Das kannst du nicht machen«, flüsterte Anne mit erstickter Stimme.
»Ich kann!«, sagte ihre Tochter in aufsässigem Ton. »Und ich will.« Sie akzentuierte jedes Wort genau.
»Warum?«, fragte Anne, die Hand um den Hörer geklammert, den Hörer ans Ohr gedrückt, dass es schmerzte, den Blick irgendwohin gerichtet, ohne wirklich etwas zu sehen. Sie hörte ihre Tochter heftig atmen.
»Du fragst noch?«
»Warum?«, wiederholte Anne.
Theresa lachte; das Geräusch tat Anne im Ohr weh.
»Weil ich, so lange ich zurückdenken kann, mit Schmerzen lebe!«, antwortete Theresa laut, fast schreiend. »Und damit meine ich nicht die körperlichen Schmerzen, wie du weißt. Ich leide an dieser Familie. Ich leide an dieser ganzen gottverdammten Welt. Ich gehöre einfach nicht hierher. Kapier das doch endlich!«
»Wie kannst du so etwas sagen.«
»Lass mich in Ruhe!«, brüllte Theresa am anderen Ende der Leitung. »Lass mich endlich einmal in Ruhe!«
Sie legte auf.
Anne rief zurück. Sie wählte die Nummer mit zitternden Händen, horchte mit flatterndem Atem auf das Geräusch, als der Hörer nach einer Weile abgenommen wurde.
»Ich komme sofort.«
Schweigen.
»Bitte«, sagte Anne, »melde dich, ich weiß, dass du dran bist. Lass mich zu dir kommen.«
Theresas Stimme war nun kaum hörbar. »Ich möchte nicht, dass du zu früh kommst. Versprich mir, nichts zu unternehmen. Versprich mir, dass du erst danach kommst. Bitte.« Als Anne nichts erwiderte, wurde ihre Stimme weich. »Versprich mir, mich endlich sterben zu lassen, Mutti.«
Anne schwieg. Schließlich sagte sie nur ein einziges Wort: »Ja.«
***
Als Anne wieder denken konnte, begann sie auch erneut zu überlegen: Warum hat Theresa diesmal angerufen? Warum hat sie nicht wieder einen Brief geschrieben – einen dieser unzähligen Briefe, die so unendlich schwer in der Hand wiegen, bevor sie geöffnet sind, und deren Inhalt sich seit Jahren gleicht? Es geht mir nicht gut, ich werde eine neue Therapie beginnen, gesundheitliche Probleme, wieder nicht geschlafen, Mobbing im Büro, man will mich los sein … Ich mag nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich will nur noch meine Ruhe.
Wenn Anne, den Brief noch in der Hand, dann bei Theresa anrief, hatte sich die Situation meist schon wieder geändert. Theresas Stimme klang nicht beängstigend schwach, ihr Gemütszustand war nicht düsterer als sonst auch. Fast munter berichtete sie von Umzugsplänen, vom Kauf eines neuen Möbelstücks, von Blumen oder neuen Büchern. Oder davon, dass sie Karten für eine Theatervorstellung, für ein Konzert oder eine Lesung habe. Dass das Wetter schön sei und sie gleich zu einem Spaziergang hinausgehen werde. »Ich muss an die Luft, ich ersticke hier!« Von kleinen Streicheleinheiten im Büro erzählte sie oder von gemütlichen Treffen mit ihren Freundinnen.
Und Anne vergaß von einer Sekunde auf die andere ihre Sorgen, ihre Befürchtungen, ihre Panik. Ihr Herz schlug normal, ihre Stimme kippte oder versagte nicht mehr. Sie war – wieder einmal – erleichtert, war froh, zuversichtlich.
Bis zum nächsten Brief.
Es war ein ständiges Wechselbad der Gefühle.
***
Unruhige Tage folgen diesem Anruf, dieser Ankündigung eines baldigen und ersehnten Todes, schlaflose Nächte. Wenn Anne morgens die Augen öffnet, sieht sie die Bilder ihrer Kinder an der dem Bett gegenüberliegenden Wand. Bilder aus frühen Zeiten. Aus glücklichen Zeiten.
Wirklich glücklich?
Alles wird seit Jahren in Frage gestellt.
Dort, Theresa als pummeliges Baby. Dann als Fünfjährige, schon mit der ersten der beiden jüngeren Schwestern. Dann alle drei Mädchen auf einem Bild. Da sind sie zehn, fünf und drei Jahre alt und lächeln in die Kamera. Theresa nur ein wenig, Barbara strahlend, Ulrike erwartungsvoll. Immer werden sie miteinander verglichen. Annes Älteste, Theresa, ein bisschen zu scheu, ein bisschen zu still, ein bisschen zu eifersüchtig auf die Schwestern. Aber auch stur, eigensinnig, widerborstig und trotzig. Sie weigert sich, in den Kindergarten zu gehen. Und sie mag nicht in der Gruppe spielen; sie sondert sich ab, hat von Anfang an nur eine bestimmte Freundin. Sie reagiert eifersüchtig, wenn sich andere anschließen wollen. Annes zweite Tochter dagegen keck, aktiv, laut, neugierig, wissbegierig von Anfang an und Vaters Liebling. Um sie scharen sich die Nachbarskinder. Sie ist immer unterwegs, hat viel zu berichten an den Abenden, wenn Anne auf den Bettkanten sitzt und selbst erdachte Gutenachtgeschichten erzählt oder sie zusammen diese kleinen einschläfernden Lieder singen. Ulrike, Annes Jüngste, nun ja, eben die Kleine, um die sich alles dreht, sie ist das letzte Kind in dieser Familie, denn nach ihrer Geburt hat Anne sich sterilisieren lassen. Drei Kinder sind genug, meinte ihr Mann. Also wird jeder Schritt dieser jüngsten Tochter von Anne besonders liebevoll und auch ein wenig wehmütig beobachtet und genossen.
Schwierigkeiten? Nicht mehr und nicht andere als in anderen Familien auch – oder? Dass ein Kind, das fünf Jahre älter ist als das nächstgeborene, irgendwie immer Einzelkind ist, wird von Anne und ihrem Mann und auch von den beiden Großmüttern mit einigem Bedauern gesehen. »Die beiden Kleinen spielen so toll miteinander«, wird gesagt, »aber Theresa, ich weiß nicht, sie gefallt mir gar nicht.« Theresa ist plötzlich die Große unter Annes drei Kindern. Da klingt auch Stolz mit. Sie darf Verantwortung übernehmen und auf die Kleinen beim Spielen im Garten und sogar außerhalb des Zauns aufpassen. Einmal ist Barbara verschwunden, gerade drei Jahre alt. Stundenlang suchen Theresa und Anne nach dem Kind, und die Polizei fährt in der Siedlung herum. Anne hat Theresa an die Hand genommen. Sie sagt kein Wort, drückt nur unentwegt diese schweißfeuchte Kinderhand. »Ich hab doch auf sie aufgepasst!«, jammert die Achtjährige. »Und auf einmal war sie weg.«
Anne bringt kein Wort heraus, ihre Stimme erstickt in Angst, in Mitleid und auch im Zorn.
***
Schwierigkeiten? Probleme?
Mag sein, dass sie begannen, als ihr Vater sich beruflich veränderte und die Familie mit ihm vorübergehend ins Ausland zog. Plötzlich wurde die Schule für Theresa zum großen Problem. »Sie hat genug Grips im Kopf, sie schafft es, sie ist auch meine Tochter!«, meint ihr Vater.
Sicher hat Theresa genug Grips im Kopf – aber sie schafft es nicht. Nicht ohne Nachhilfe. Tagtäglich hockt sie mit einer älteren Schulkameradin in ihrem Zimmer. Die eine büffelt, die andere strickt. Tagtäglich, zuweilen sogar am Wochenende. Barbara und Ulrike gehen mit Anne ins Theater, sie gehen in die Malstunde, zum Musizieren, zum Sport. Theresa aber muss lernen.
Manchmal macht die Familie gemeinsam einen Spaziergang. Der Vater, beruflich meist auswärts unterwegs, hält sich an seine Älteste.
»Wie läuft es in der Schule, welche Noten, Erfolge? Du weißt, was die Nachhilfe kostet, also streng dich an.« Von Misserfolgen will er nichts hören. »Du musst nur endlich deine grauen Gehirnzellen einsetzen.«
Die Zeugnisse bleiben trotzdem schlecht.
Als Theresa zum ersten Mal ihre Monatsblutung bekommt, gehen ihre Eltern mit ihr aus, nur mit ihr allein.
»Jetzt bist du eine junge Frau. Erwachsen.«
Theresa fragt nichts, sagt nichts, isst ihren Teller nur halb leer. Und sie wirkt auf Anne rührend, irgendwie verloren und verwirrt – eben wie ein verlegenes junges hübsches Mädchen im Alter von etwas mehr als vierzehn Jahren.
»Schon vierzehn!«, sagt der an diesem Abend stolze Vater.
Das ist die Zeit, in der eine Freundin der Familie, eine Therapeutin, wie nebenbei meint: »Ihr solltet aufpassen, sie ist am Rande einer Neurose, eure Theresa.«
Unglauben beim Vater und auch bei Anne. »Neurose – was heißt das? Und warum ausgerechnet Theresa?«
Aber sie lassen sich überzeugen und stimmen einer Behandlung zu. Immerhin deutet tatsächlich manches im Verhalten ihrer Tochter auf eine Verstörung hin.
»Marotten!«, wie ihr Vater das bezeichnet. »Aber wenn ihr meint, dass es hilft …«
Theresa schwärmt von ihrer ersten Therapeutin.
»Was macht die mit dir?«, will die jüngere Schwester wissen.
»Das verstehst du doch nicht«, antwortet Theresa in leicht arrogantem Ton. »Das erkläre ich dir, wenn du größer bist!« Plötzlich gibt es in Theresas Leben eine erste Ersatzmutter. »Warum brauchst du eine zweite Mutter?«, fragt Anne betroffen. »Du hast doch mich. Ich bin deine Mutter.«
»Ja, aber die Gisela habe ich ganz für mich allein«, erklärt Theresa unbeirrt.
Nach zwei Jahren vergeblicher Nachhilfestunden ist ihr Vater damit einverstanden, dass Theresa die Schule wechselt. Die neue ist weniger anspruchsvoll, die Atmosphäre ist locker – zumindest nach Ansicht ihres Vaters. »Hier wird Theresas Faulheit gefördert!« Das Thema bleibt Zündstoff für Streitereien zwischen Anne und ihrem Mann. In Fragen der Kindererziehung gibt es eben unterschiedliche Meinungen, da können sie sich oft nicht einigen.
Theresa entwickelt sich, vor allem körperlich. Jetzt hat sie Zeit für Freundinnen und Freunde, für Geburtstagsfeste und Ausflüge. Barbara und Ulrike betrachten sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid. Theresa wird sogar zu Feten eingeladen, auf denen getanzt wird. Das macht sie in ihren Augen zu etwas Besonderem. Und lässt eine neue Fassette im Wetteifern der drei Mädchen um die Gunst des eher selten anwesenden Vaters entstehen. Theresas nach wie vor mäßigen Schulerfolgen setzt Barbara glänzende Ergebnisse entgegen. Ulrike kann mit Schulnoten noch nicht mithalten, sie ist gerade erst eingeschult worden, aber sie malt und bastelt immer wieder Sachen für ihren Vater.
Während Annes Familie nach drei Auslandsjahren erneut den Umzugswagen packt, in Deutschland wieder auspackt, Möbel und anderes an gewohnte Plätze im ehemaligen Haus stellt, darf Theresa den Sommer bei Freunden ihrer Eltern in Amerika verbringen. Als sie zurückkommt, sind Anne und ihr Mann entsetzt. Die Fünfzehnjährige berichtet stockend von ihrem ersten Liebeskummer:
»Er hat mich einfach übersehen!«, klagt sie in einem dieser immer seltener werdenden Augenblicke der Nähe zwischen Mutter und Tochter. Dieser Junge fand sie zu dick, er nannte sie Koloss. »Gemein!«, sagt das unglückliche Kind, das dem Äußeren nach doch schon Frau ist, und heult sich in Annes Armen aus. »So gemein!«
Das Unglück erzeugt Gelüste auf Süßes, auf Salziges, Gelüste auf Unmengen von Essbarem. Es erzeugt Kummerspeck.
»Der muss wieder weg«, sagen Anne und ihr Mann. Die Worte sind dieselben, nur der Ton ist unterschiedlich.
***
Und damit, denkt Anne jetzt, festgenagelt auf einem harten Plastikstuhl in diesem endlosen Krankenhausgang, damit und wahrscheinlich noch aus vielen anderen Gründen geriet etwas in Gang, das bei dem Satz »Ich bin zu dick« und einer ersten Diät beginnt und oft in einer dieser beiden Krankheiten endet, die Bulimie und Magersucht heißen, Begriffe, die am Anfang dieses Dilemmas in ihrer Familie und noch lange danach nur vage deutbar blieben. Niemand wusste Genaues über ihre Ursachen und Folgen, und auch in keinem der Nachschlagewerke älteren Datums fand Anne entsprechende Erklärungen.
Anne hatte in dieser Zeit bloß ein Bild klar vor Augen, ganz bestimmte Geräusche in den Ohren und einen bestimmten Geruch in der Nase: Wie ihre Tochter die Mahlzeiten verweigerte und wie sie, vom Hunger schließlich überwältigt, heimlich alles, was ihr in die Finger fiel, in sich hineinschlang – den Inhalt einer Pralinenschachtel, die Pfundtüte Bonbons, das halbe Brot, den Bratenrest aus dem Kühlschrank, die halb aufgetauten Buletten aus der Tiefkühltruhe, die Familienpackung Eiscreme. Und dann das Würgen in der Toilette. Der Geruch nach Erbrochenem. Das todesbleiche, verschlossene Gesicht, wenn Theresa im Haus herumwankte. Schlaflose Nächte oder ein todesähnlicher Schlaf, aus dem Theresa mit Mühe erwachte. Der Rückzug ins eigene Zimmer, die Tür von innen verriegelt. Verdrossenheit, Missmut, Ekel vor sich selbst im Gesicht. Gemeinsamkeiten mit der Familie gab es immer seltener.
»Sie müssen sich damit abfinden, dass Ihre Tochter schwer krank ist«, meinte einer der Ärzte, zu denen Anne mit oder ohne Theresa ging. Das war vor einigen Jahren. Und er sagte, was viele andere Ärzte in den vergangenen Jahren wiederholt haben: »Der entscheidende Schritt bei der Behandlung von Magersüchtigen besteht darin, sie zu bewegen, ihre Krankheit als solche zu erkennen und medizinische Hilfe anzunehmen. Tun sie das nicht, dann können wir nur zuschauen, wie sie sterben. Sie sterben an Unterernährung, an Wärmeverlust oder an Entwässerung. Sie werden schwer depressiv. Und irgendwann einmal bringen sie sich wahrscheinlich um.«
Inzwischen leidet Theresa seit sechzehn Jahren an den Krankheiten Bulimie und Magersucht.
»Es ist«, sagen Ärzte, Freunde und manchmal auch Anne und ihr Mann, »es ist ein Wunder, dass sie noch lebt.«
Anne hat an einem Kloß im Hals zu schlucken, wenn sie an die vielen Klinikaufenthalte, an diverse frühzeitig abgebrochene oder erfolglose Therapien ihrer Tochter denkt. Sie weiß inzwischen und aus bitterer Erfahrung, dass Bulimie und Magersucht hartnäckige Krankheiten und ihre Heilungschancen mehr als gering sind.
Dann, mit den Jahren, gab es entsprechende Literatur, die Anne wie unter Zwang verschlang. Sie las alles, was sie in die Finger bekam, Bücher und Artikel in Fachzeitschriften. Sie wurde auf seltsame Art und Weise hellhörig, wenn über Abnehmen und Diät geredet wurde. Sie stellte sich neben ihre Tochter, wenn diese sich vor dem Spiegel drehte und klagte: »Schau dir diesen Bauch, schau dir diesen Hintern an, diesen Busen!«
Dann sagte sie manchmal: »Ja, schrecklich!« Und beschrieb damit alles, vor allem aber dieses Bild im Spiegel, das zwei Frauen zeigte, die nichts mehr gemeinsam zu haben schienen.
»Einmal«, berichtete Anne einer Freundin, »einmal bat Theresa mich, sie nackt zu fotografieren. Das hatte ihr die Therapeutin geraten. Also stellten wir uns vor den Spiegel. ›Schau‹, sagte sie, ›wie dick dieses Ding ist!‹ Ich konnte nur Haut und Knochen sehen und dachte: Ich blicke ein Bild von einem Menschen aus einem Konzentrationslager an. Ich zeigte auf mich und fragte: ›Und ich – bin ich in deinen Augen auch zu dick?‹ Sie lachte ein bisschen und schüttelte den Kopf. ›Vielleicht‹, meinte sie dann, »vielleicht kann ich mich auf einem Foto doch anders sehen.«
Der Film wurde entwickelt. Anne war nicht in der Lage, die Fotos zu betrachten, ohne in Tränen auszubrechen. Theresa ließ Film und Bilder verschwinden.
»Es funktioniert nicht«, erklärte sie verdrossen. Und: »Ich muss dieses Ding loswerden, irgendwie. Und bald.«
***
Theresa sagt seit Jahren »das Ding«, wenn sie ihren Körper meint. Sie wiederholt in verschiedenen Tonlagen: »Ich muss dieses Ding loswerden, irgendwie.« Und sie schüttelt sich vor Ekel, als Barbara herzerfrischend offen von ihren ersten sexuellen Erfahrungen erzählt. »Wie kannst du nur – igitt!«
Theresa möchte nur noch Geist sein. Seele. Befreit von allem Körperlichen.
»Das Ding«, erklärt sie, »das ist nur eine unnötige Last, die Beschwerden verursacht.«
Damit meint sie Widerwillen, Aggression, Wut. Alles gegen sich selbst gerichtet.
Sie hüllt »das Ding« in weit geschnittene Kleider, trägt Pullover in Übergrößen und hält die zu weiten Hosen und Röcke in der Taille mit zusammengezurrten Gürteln fest. Ihre einst jugendlich erblühte Brust ist verschwunden, über den herausstehenden Rippen spannt sich die bleiche, von blauen Adern durchzogene Haut, von bräunlichen Flecken übersät. Und immer wieder sind es die Zähne, die ihr zu schaffen machen. Vor allem an den Wochenenden leidet sie entsetzlich. Vom ständigen Erbrechen sind ihre Lymphdrüsen angeschwollen, und das Gesicht wirkt – trotz aller Hagerkeit – viereckig.
»Vom langsamen Sterben gezeichnet«, sagt Anne weinend.
***
Wie es begonnen hat – vor sechzehn oder noch mehr Jahren? Gestank im Zimmer ihrer Tochter. Lüften. Alle Fenster aufreißen. Nach der Ursache suchen. Schließlich im Schrank nachschauen – der Gestank wird intensiver. Oben, hinter einem unordentlichen Wäschestapel, eine volle Schüssel. Erbrochenes, wimmelnde Maden darin. Im nächsten Fach eine Plastiktüte, ebenfalls voll. Anne hält Theresa die Schüssel und die Tute vor die Nase.
»Warum machst du das??? Warum sammelst du das???« Theresa blickt zur Seite. Schulterzucken.
Noch weiß man nichts von Bulimie oder Magersucht.
Nur Kopfschütteln. Arger, Entsetzen, Unverständnis.
Theresa sitzt mit der Familie am Esstisch; es wird jetzt nicht mehr viel geredet, es wird mehr beobachtet. Nach dem Essen verschwindet sie in der Toilette. Anne rüttelt an der von innen verschlossenen Tür.
»Warum???«
Schulterzucken. Düstere Blicke irgendwohin. Der Kopf ein wenig gebeugt.
»Erst fett, faul und gefräßig – und jetzt auch noch das!«, sagt ihr Vater ärgerlich. Doch auch er macht sich Sorgen. »Bist du krank, dann musst du zum Arzt. Und was ist mit der Schule?« Dort, in der Schule, soll es angefangen haben.
»Auf dem Klo«, berichtet Theresa widerwillig, von den endlosen Fragen ihrer Mutter schließlich doch in die Enge getrieben. »Da haben sich zwei andere unterhalten, wie leicht es ist mit dem Erbrechen und dass man dadurch abnehmen kann. Einfach eine Menge Salz in Wasser auflösen und trinken, das kommt dann ganz von selbst hoch, haben sie gesagt. Oder den Finger in den Hals stecken.« Sie bricht in hektisches, in triumphierendes Gelächter aus. »Das haben doch schon die alten Römer gemacht – den Gaumen mit einer Pfauenfeder gekitzelt! Haben wir in Geschichte gelernt.«
Ihr Lachen wird immer weniger mit der Zeit.
»Ich will nicht dick sein«, sagt sie, noch in der Anfangsphase, »ich will nicht ausgelacht werden. Ich will, dass mir meine alten Jeans wieder passen. Ich möchte auch einmal neue Jeans, in einer kleineren Größe. Ich möchte so aussehen wie die anderen, die Schlanken in der Schule.«
Sie liest keine Bücher mehr, sie blättert in den Frauenzeitschriften. Sie kommt damit zu Anne und zeigt ihr Fotos von Frauen und Mädchen, so klapperdürr, dass ihre Schlüsselbeine und anderen Knochen fast durch die Haut stechen. »So schlank, das wäre mein Traum!«
Anne redet mit ihr über eine sinnvolle Diät.
»Von allem etwas weniger. Nichts nebenbei. Viel Gemüse und so. Du wirst sehen, es funktioniert. Ich helfe dir.«
Ein paar Tage geht es gut, dann erwischt sie ihre Tochter mit einer Riesenpackung Eiscreme aus der Tiefkühltruhe im Keller. »So geht das nicht! So kannst du nicht abnehmen!«
»Aber wenn ich doch Hunger habe!«
Anne nimmt sie in den Arm.
»Ich verstehe, dass du bei dieser Diät manchmal Hunger hast. Du bist noch in der Entwicklung, dein Körper braucht noch eine richtige Ernährung.«
»Es dauert doch so lange, das Abnehmen«, klagt Theresa und schmiegt sich fest an sie.
Theresa kaschiert ihre Molligkeit mit übergroßen Pullovern. Schlabberlook.
»44, was ist das schon«, tröstet Anne, die selbst in Größe 40 passt. »In deinem Alter und bei deiner Größe ist das doch fast noch normal.«
»Und du?«, meint Theresa. »Und du mit deinen ewigen Schlankheitskuren?«
»Ich kann mir das leisten«, erklärt Anne. »Ich bin eine erwachsene Frau.«
Sie reden jetzt öfter miteinander, das heißt, Anne redet auf Theresa ein, ihre Tochter zieht sich eher zurück.
»Lass uns miteinander reden – ganz gemütlich«, schlägt Anne vor, wenn Theresa aus der Schule kommt. Dann steht schon der Tee bereit, und Barbara und Ulrike werden in ihre Zimmer geschickt.
»Macht eure Schularbeiten. Geht spielen.«
Barbara protestiert: »Ich will mitreden!«
Theresas Augen werden gläsern. »Du nicht – nur ich und die Mutti.«
Anne und ihre Tochter sitzen in Theresas Zimmer auf dem Fußboden. Theresa mag das, und ihre Mutter macht mit, obwohl sie einen Stuhl vorziehen würde. Sie hört von anderen, dass sie jünger aussieht, als sie ist. Sie hält auf sich, pflegt sich, achtet auf ihre Linie. Sie möchte ihren Töchtern ein Vorbild sein. Die Mädchen sollen sich an ihr orientieren können, sollen von ihr und mit ihr lernen, Frau zu sein. Anne selbst hat ihre leibliche und früh verstorbene Mutter vor allem während der Pubertät sehr vermisst. Und deshalb wünscht sie sich nun, mehr Vertraute als Mutter, vielleicht sogar Freundin für ihre älteste Tochter sein zu können. Gespräche zwischen Mutter und Kind enden in Vorwürfen und Trotzhaltung, das weiß sie aus Erzählungen ihrer Freundinnen, die ebenfalls Mütter von Töchtern sind. Und sie weiß es auch aus eigener Erfahrung.
»Deinen Vater lassen wir in Ruhe, das versteht er sowieso nicht, das klären wir unter uns Frauen«, sagt sie zu Theresa. »Gemeinsam schaffen wir es. Wir wissen doch meistens, worum es geht.«
Anne hat sich fest vorgenommen, sich sachlich und objektiv mit Theresas Schlankheitsproblem zu befassen. Sie sieht selbst, dass ihre Tochter zu sehr in die Breite gegangen ist. Sie versteht, dass Theresa darunter leidet, und will ihr helfen, das in den Griff zu bekommen. Und sie möchte die Kontrolle über das Abnehmen behalten.
»Ich helfe dir dabei, lass uns zusammen kochen. Wir machen deine Lieblingsgerichte. Ich passe auf, dass du nicht übertreibst.«
Sie berechnen Kalorien. Sie reden über dies und das. Eine Kerze brennt stundenlang. Theresa pult an ihren Zehen- und Fingernägeln herum und reißt an der Haut, bis es blutet. Wenn sie sich die Nägel schneidet, dann so knapp, dass die Finger immer wund wirken. Anne schaut zu, schaut weg, bis sie es nicht mehr aushalten kann. In dieser Zeit kann sie auch den leidenden Blick ihrer Tochter, die sichtbar geschwollenen Lymphdrüsen und vor allem den Geruch, der Theresa umgibt, nicht mehr aushalten.
»Lass das!«, sagt sie in scharfem Ton.
»Was?«, fragt Theresa verwundert. »Ich mach doch gar nichts!« Anne zeigt auf das Blut.
»Ach so, das«, meint Theresa mit hochgezogenen Brauen. »Ich habe gar nicht gespürt, dass ich zu viel weggeschnitten habe.« Sie reden über Gesundheit und davon, wie wichtig sie ist.
»Du hast dein Leben noch vor dir. Dein Körper braucht entsprechende Nahrung.«
Und Anne spricht davon, wie sie als Jugendliche gelebt hat. »Wir hatten nichts nach dem Krieg, nach der Flucht, wir waren froh, wenn wir eine Suppe aus Dörrgemüse zu essen bekamen. Wir waren froh, dass wir überhaupt noch lebten.« Sie erzählt von der Krankheit ihrer Mutter. »Krebs, nach der Flucht in den Westen entdeckt und immer wieder operiert. Als sie knapp ein Jahr darauf starb, war sie fünfunddreißig. Sie war so lebensfroh, trotz allem. Sie wollte nicht sterben, sie hat sich lange dagegen gewehrt.« Die Erinnerung bringt sie zum Weinen. »Und du«, sagt Anne unter Tränen zu Theresa, »du wirfst alles, was du hast, einfach weg. Du weißt überhaupt nicht, was Leben bedeutet.«
Anne weint und weint, wenn sie an das schreckliche Sterben ihrer Mutter denkt. So hat sie in früheren Jahren nicht weinen können. Da hat sie darunter gelitten, tränenlos inmitten der Trauergäste am Grab ihrer Mutter gestanden zu haben. Man hat doch zu weinen, wenn die Mutter stirbt.
»Ich war gerade zwölf, als sie starb. Meinen Vater, der Berufssoldat war, habe ich gar nicht richtig gekannt. Der Krieg begann, als ich gerade neun Monate alt war. Mein Vater starb Weihnachten 1944 in Russland, im Ural in einem Gefangenenlager. Wir erfuhren es erst zwei Jahre nach seinem Tod durch einen Brief eines Kameraden. Jahrelang«, erzählt Anne ihrer ältesten Tochter, »und noch in deinem Alter habe ich anderen Männern in die Gesichter gesehen und mich danach gesehnt, in einem von ihnen meinen richtigen Vater zu erkennen. Noch mehr, viel mehr habe ich meine Mutter vermisst. Du weißt gar nicht, was das bedeutet, keine Mutter zu haben, die dir zuhört, die auf deine Fragen antwortet, die dir zeigt, was Liebe ist. Ich hatte keine Mutter, die sich um mich sorgte und mir sagte, wie sehr sie sich freut, dass es mich gibt. Und ich hatte keinen Vater, der mich in den Arm nahm, wenn es mir schlecht ging. Ich konnte mich an keiner Schulter ausweinen. Du!«, sagt sie unvermittelt heftig zu Theresa, die ihr stumm gegenüberhockt, den Kopf zur Seite gewandt, diesen leicht verunsicherten, aber auch ablehnenden Ausdruck im Gesicht, die Augen auf irgendetwas gerichtet. Der ganze Körper vermittelt Desinteresse. »Du hörst mir nicht einmal zu. Du lebst im Überfluss. Du hast alles, du weißt überhaupt nicht, was Not ist. Du hast Eltern, die dich lieben und sich um dich sorgen, die dir eine gute Ausbildung ermöglichen. Du«, sagt sie leise, als Theresa endlich, endlich ihren verdüsterten Blick auf sie richtet, einen Blick, in dem so viel Erschrecken, so viel Qual, aber auch Kälte liegen, dass Anne erschauert, »du hast alle Chancen im Leben, du sollst es doch besser haben als ich.« »Warum redest du nicht mit mir?«, schreit Anne in einer anderen Situation. »Antworte! Sage, was du denkst!«
Theresa gibt schließlich einsilbige Antworten. Die konzentrierte Salzlösung und die Magensäure haben die Mundschleimhaut angegriffen.
»Das tut weh, da kann man nicht so einfach reden!«
»Warum tust du es dann?«
Schulterzucken – was weißt denn du von diesen Dingen?
Anne kocht Kamillentee zum Mundausspülen.
***
Zuweilen keimt ein bisschen Hoffnung.
»Theresa wird schon wieder zur Vernunft kommen«, meint ihr Vater. »Sie muss – schließlich ist sie unsere Tochter, hat Intelligenz mitgekriegt, wird normal erzogen, lebt sorgenlos.«
Hat sie nicht tatsächlich alles: Eltern, fröhliche Geschwister, ein Zimmer für sich allein, einen Schallplattenspieler, Taschengeld, wenige Pflichten, Zeit für sich selbst?
Doch dann, ein knappes Jahr später, ist nichts mehr zu übersehen, auch nicht unter der Schlabberkleidung.
»Wie schmal Ihre Tochter geworden ist«, meint eine freundliche Nachbarin.
Eine Freundin fragt besorgt: »Ist eure Theresa krank? Sie hat abgenommen, nicht wahr? Meiner Meinung nach viel zu viel. Sie ist ja kaum noch wieder zu erkennen.«
Halb ausgesprochen bleiben andere Fragen in der Luft hängen. In dieser Zeit, Anfang der achtziger Jahre, gibt es erste beunruhigende Berichte über eine Krankheit, die Aids genannt und durch Geschlechtsverkehr übertragen wird.
»Theresa hat doch nicht…?«
Der Hausarzt untersucht, winkt ab, bleibt geduldig, redet zu, verschreibt Stärkungsmittel, gibt gute Ratschlage. Über Bulimie oder Magersucht weiß er nicht viel.
»Eine Modekrankheit, kommt aus Amerika.«
Damals, 1983, gibt es noch keine entsprechende Literatur in Deutschland, in der man nachlesen, nachschlagen kann. Wen soll man fragen, an wen sich wenden? Wen um Hilfe bitten? So weit ist sogar Annes Mann, dass man um Hilfe von außen bitten möchte.
Die Endlos-Gespräche zwischen Anne und Theresa münden nun in Vorhaltungen, in hilflos-trotzigem Schweigen. In der zunehmend blutigen Verstümmlung von Zehen und Fingern. Vorwürfe stoßen auf Mauern. Theresa verschließt Augen, Ohren und Mund.
Ratlosigkeit und Verzweiflung wechseln sich in Anne ab mit Zorn und Aggression. Voller Liebe in den Arm nehmen will sie ihre Tochter und sie gleich darauf anschreien: »Was ist nur mit dir los?«
Theresas Gesicht wird immer schmaler, wirkt vergeistigt, die Augen werden immer größer. Männer drehen sich nach ihr um. »Deine Tochter ist ein interessanter Typ«, sagt ein Kollege zu ihrem Vater. Als er das Anne erzählt, ist sie entsetzt, erschrocken und zornig. »Das könnte diesem alten Knacker so passen! Sie ist doch noch ein halbes Kind!«
Aber Theresa ist längst kein Kind mehr, sie ist achtzehn Jahre alt, eine sehr schlanke junge Frau mit einer ganz besonderen Ausstrahlung. Noch vor anderthalb Jahren war sie ein gut entwickeltes junges Mädchen, jetzt trägt sie keinen BH mehr. Ihre Menstruation kommt nur noch unregelmäßig, wie Anne nach drängenden Fragen erfährt. Theresa ist erleichtert.
»Gott sei Dank hört das auf!«
Sie geht sehr aufrecht in dieser Zeit, mit leichten, fast schwebenden Schritten. Sie ist zum Mittelpunkt der Familie geworden; sie ist etwas Besonderes, das Interesse von Eltern und Geschwistern dreht sich um sie. Am frühen Morgen und an jedem Abend macht sie Gymnastik in ihrem Zimmer, stundenlang, exzessiv. Sie geht auch viel spazieren. Manchmal begleitet Anne sie und kann kaum Schritt halten mit ihrer Tochter.
»Renn doch nicht so!«
»Ich muss, ich kann nicht anders! Es gefällt mir. Ich spüre, dass ich noch lebe!«
Anne wagt hin und wieder ein Lachen. Irgendwie hat sich Theresa doch verändert, und nicht nur zum Negativen, oder? »Auch wenn sie immer magerer wird«, erzählt Anne einer Freundin, »sie hat etwas ganz Besonderes an sich.«
***
Anne hat seit einigen Tagen keine Salzpackung mehr entdeckt. Dann ist das Döschen mit dem Abführmittel aus dem Arzneischrank im Bad verschwunden, und auch eine neue Packung ist gleich wieder weg. Noch bleibt der Verdacht unausgesprochen, aber Annes Blicke sind voller Misstrauen.
Theresa verliert das ätherische Strahlen und wirkt wieder apathisch.
Das ist die Zeit, in der das morgendliche Aufwachen mühsam wird, in der ihre Mutter immer öfter in der Schule anrufen muss. »Ich möchte meine Tochter entschuldigen – Kreislaufprobleme, Magenbeschwerden …«
Und so weiter. Auch die neuen Jeans, jetzt Größe 36, schlottern schon wieder. Knochen werden spitz, das bisschen Fleisch empfindlich gegen Stöße an Türklinken oder Schrankecken. An manchen Tagen schlägt Theresas Stimmung von Düsternis in hektische Betriebsamkeit um. Dann kocht sie für die Familie, erprobt stundenlang neue Rezepte, backt Unmengen von Kuchen. Anschließend sitzt sie mit am Tisch und schaut zu, wie die anderen essen, und hört ungerührt zu, wie sie ihre Kochkünste loben.
»Du kannst doch, wenn du willst«, sagt ihr Vater.
Theresa sitzt da, den nun wieder leeren Blick irgendwohin gewendet. Sie stochert mit der Gabel in ihrem Essen herum.
»Der Teller wird leer gegessen!«, befiehlt ihr Vater, schnell wieder ärgerlich. »Du stehst erst auf, wenn dein Teller leer ist.«
Der Geruch im Haus ist zuweilen unerträglich.
»Putz wenigstens nach!«, fordert Anne zornig.
Sie ärgert sich darüber, dass ihre Vorräte so einfach verschwinden, dass Lebensmittel vergeudet werden.
»Dein Vater ist kein Dukatenesel, mein Haushaltsgeld ist knapp bemessen!«
Sie ist des endlosen, des fruchtlosen Redens müde. Sie weiß nicht mehr, wie sie ihre Liebe, ihre Sorge, ihre Angst, ihre Ohnmacht gegenüber dieser physischen Zerstörung noch ausdrücken soll. Am liebsten würde sie Theresa packen, sie schütteln, all dieses Unverständliche aus ihrer Tochter herausschütteln. So komm doch endlich zur Vernunft! Sie ertappt sich dabei, dass sie hinter der Toilettentür steht und horcht. Wenn Theresa herauskommt, geht Anne hinein und kontrolliert die Kloschüssel auf Spuren von Erbrochenem.
Ulrike verplappert sich. »Ich muss in die Apotheke, für Theresa eine große Packung von den Abführdingern holen.«
Wozu braucht Theresa Abführmittel, wenn sie nichts isst?, fragt sich Anne voller Entsetzen.
Theresa soll in zwei Jahren das Abitur machen. Sie verlässt das Haus am Morgen zusammen mit ihren Schwestern, steigt in den Schulbus und an der Schule wieder aus. So berichten es jedenfalls Barbara und Ulrike. Dann ruft die Schulleitung bei Anne an. »Ihre Tochter Theresa ist seit Tagen unentschuldigt dem Unterricht ferngeblieben.«
Mittags wartet Anne an der Haltestelle vom Schulbus. Theresa steigt hinter den anderen aus. Sie sieht ihre Mutter nicht. Auf dem Stoff ihrer Jacke kleben zerdrückte Grashalme und Blätter. Anne folgt ihr eine ganze Weile. Sie hat nur Augen für ihre Tochter, die allein geht, mit schleppenden Schritten, während die anderen, Mädchen und Jungen, in Gruppen, über den Weg schlendern, lachend, quatschend. Schließlich legt Anne ihre Hand auf Theresas Arm.
»Wo warst du? Nicht in der Schule, oder?«
Schulterzucken.
»Warst du in der Schule?«
Der Blick wird noch blasser, noch lebloser. Der Rücken versteift sich. Anne starrt in Theresas Gesicht.
»Rede mit mir darüber.«
Theresa zuckt erneut mit den Schultern. »Worüber soll ich mit dir reden? Ich habe nichts zu sagen. Du verstehst doch nichts.«
***
Es ist die Zeit, in der die Worte Bulimie und Magersucht immer deutlicher ausgesprochen werden. Anne und auch ihr Mann sind jetzt öfter in der Schule, der Direktor und einige Lehrkräfte zeigen sich ehrlich beunruhigt: »Schade, wirklich schade, so ein intelligentes Mädchen.«
Man sucht gemeinsam nach Erklärungen, klammert sich an jeden Strohhalm. Man spricht von Spezialkliniken, die hier und da eingerichtet werden, von Psychotherapien. Und davon, dass Theresa auch dieses Schuljahr nicht schaffen wird. »Leider. Aber wir können keine Ausnahme machen.«
In dieser Zeit schluckt Theresa hundert und mehr Abführtabletten auf einmal, jeden Abend; das erzählt sie später ihrer Mutter. Sie windet sich in Krämpfen. Anne und hinter ihr Barbara und Ulrike stehen ratlos an ihrem Bett. »Wovon hat sie nur diesen Durchfall? Hat sie etwas Verdorbenes gegessen?«
Anne erinnert sich an das Verschwinden der Tabletten. Von denen nimmt sie ab und zu eine. Sie liest den Beipackzettel, auf dem steht: Bei Überdosierung kann starker Durchfall entstehen. Aber was heißt das, Überdosierung? Sie geht zurück in Theresas Zimmer, wäscht das magere Körperchen und hüllt es in Decken.
»So kalt«, flüstert Theresa, »mir ist so kalt!«
An einem Wochenende übernachtet Theresa bei einer Schulfreundin, die vor kurzem von zu Hause ausgezogen ist und gerade ihre erste eigene Wohnung einrichtet. Am Montagmorgen geht die Freundin wie gewohnt zur Schule. Ohne Theresa. Als Theresa später ihre Mutter anruft, kann sie sich nur mühsam verständlich machen.
»Ich verstehe dich nicht!«, ruft Anne verzweifelt in den Hörer. »Sprich deutlicher, Kind! Wo bist du, was ist mit dir?«
»Ich kann mich nicht mehr bewegen, ich habe Krämpfe – ich sterbe!«, schreit Theresa plötzlich. »Meine Beine – meine Hände! Komm bitte«, wimmert sie ins Telefon.
»Ich komme!« Anne wünscht sich Flügel. »Wo bist du!«
»Ich weiß nicht, irgendwo …«
Über die Mutter der Freundin erfährt Anne die Adresse. Zum Glück hat ihr Mann an diesem Tag das Auto stehen lassen. Sie rast los. Als Theresa nach endlos langem Läuten schließlich die Wohnungstür öffnet, als Anne das verzerrte Gesicht, die zu Klauen geformten Hände, die verkrüppelt wirkenden Füße sieht, da wird sie auf einmal ganz ruhig. Sie hüllt Theresa in dicke Decken, stützt sie auf dem Weg zum Auto und fährt mit ihr in die Klinik.
»Ich dachte, mehr kann nicht passieren«, erzählt sie später. »Ich dachte, jetzt ist die Grenze erreicht, schlimmer kann es nicht mehr werden. Ich dachte wirklich, jetzt kann es nur wieder aufwärts gehen mit meiner Tochter.«
Die Hoffnung zerbrach jedoch schnell.
***
Nach diesem Vorfall wird Theresa zum ersten Mal auf die Intensivstation gebracht.
»Das kriegen wir bald wieder in den Griff«, verspricht einer der Ärzte und redet weiter über starken Kaliumverlust, von Elektrolyten und anderem, was Anne nicht versteht. Sie sieht nur das bleiche Gesicht ihrer Tochter und wie die Adern an den mageren Armen hervortreten. Wie harte Stränge. Irgendwie ist sie erleichtert darüber, dass es so gekommen ist. Nun ist Theresa in den Händen von Leuten, die wissen müssen, wie man ihr helfen kann. »Wir hängen sie ein paar Tage an den Tropf«, erklärt eine Ärztin geduldig, »dann geht es ihr wieder besser.«
Sie tätschelt kurz die Hand der Patientin und dann auch Annes Hand.
Nach einigen Tagen wird Theresa auf eine andere Station verlegt und zunächst künstlich ernährt.
»Ab einem Körpergewicht von sechsunddreißig Kilogramm wird es kritisch«, sagt man Anne, »da müssen wir künstlich ernähren.«
Und Theresa – Theresa lässt alles mit sich machen. Sie behält den Schlauch in der Nase, sie lächelt sogar ein wenig, wenn Anne das Zimmer betritt. Auf dieser Station sind nur Mädchen und junge Frauen mit Essstörungen. Ihre Gespräche drehen sich ums Essen, ums Erbrechen, um Kalorien, um das Wiegen am Morgen und darum, wie man zu Zigaretten oder Bohnenkaffee kommt.
»Kraftfutter«, erklärt Theresa einmal und deutet auf die Flaschen mit konzentrierter Nahrung, die sie jetzt zu bestimmten Zeiten austrinken soll. Sie schüttet sie weg, wenn niemand zusieht, wie ihre Mutter später erfährt.
»Das machen die alle so. Sie haben ihre Tricks. Wenn es auf die Waage geht, dann trinken sie vorher zwei Liter Wasser, damit wir denken, sie haben zugenommen«, berichtet eine Krankenschwester fröhlich. »Aber«, sagt sie, »wir passen schon auf. Es ist nur so, dass wir hier unterbesetzt sind, und deshalb haben wir manchmal nicht alles unter Kontrolle.«
Auf Theresas Patientenkarte ist eine stetig steigende Kurve zu erkennen.
»Wir werden Ihre Tochter demnächst entlassen können«, sagt der Arzt in der vierten Woche von Theresas Krankenhausaufenthalt. »Wir haben das Mögliche versucht, und außerdem brauchen wir das Bett. Sie verstehen?«
Anne versteht nicht.
Wie soll es denn jetzt weitergehen, will sie fragen, verstummt aber angesichts der Eile, mit der sie aus dem Besprechungszimmer geschoben wird. Sie hatte auf Ernährungspläne gehofft, zumindest auf Hinweise, was und wie sie reden sollte.
Am Entlassungstag wirkt Theresa gelöst, sie ist gesprächig, kann ihren Eltern wieder in die Augen sehen.
»Mir geht es besser, glaubt mir!«, bittet sie mit strahlendem Lächeln und verhangenem Blick. »Und«, sagt sie, »nie wieder in so eine Scheißklinik!«
Anne und ihr Mann glauben es, nur zu gerne glauben sie es. Bevor sie und Theresa die Klinik verlassen, werden sie zu einem Gespräch mit einem Psychotherapeuten der Klinik gebeten. »Ihre Tochter braucht mehr als medikamentöse Hilfe, und zwar dringend«, erklärt er und schlägt dann einen Aufenthalt in der psychosomatischen Abteilung vor.
»Wie lange?«, fragt ihr Vater entsetzt.
»Mindestens ein halbes Jahr.«
Anne und ihr Mann sehen sich ratlos an, dann Theresa, die nicht gesund wirkt, nein, das wirklich nicht, aber irgendwie doch anders als noch vor zwei Wochen zum Beispiel.
»Im nächsten Jahr soll sie ihr Abitur machen«, entgegnet ihr Vater schließlich und fügt an Theresa gewandt zuversichtlich hinzu: »Das mit der Klinik müssen wir uns noch überlegen. Wir glauben nicht, dass eine Einweisung jetzt noch nötig ist. Sie wird vernünftig sein, unsere Tochter.«
»Danke, Papa«, sagt Theresa strahlend draußen vor der Tür.
***
Wie wir uns täuschten, denkt Anne und starrt auf den Riss in der Wand gegenüber, wie wir uns immer wieder täuschten und täuschen ließen. Ein paar Tage lang ging es stets gut, auch nach diesem Klinikaufenthalt. Doch schon bald fand sie wieder aufgerissene und leere Salzpackungen in der Toilette und erbrochene Teile von Abführtabletten in der Schüssel. Sie hörte das Keuchen und das Würgen. Und dieser Geruch, denkt Anne, er wird mich mein Leben lang verfolgen.
Sie hebt die Hände und riecht daran. Jetzt riechen sie etwas nach Krankenhaus, nicht stark genug, um die anderen Gerüche zu überdecken, die ihre Hände während der Zugfahrt und anderswo angenommen haben. Ich hätte sie irgendwo waschen müssen, denkt Anne, im Zug oder bei Theresa. Aber als sie in der Wohnung ihrer Tochter nach dem Tablettenröhrchen suchte, roch es schon in der Nähe des Badezimmers nach Erbrochenem. Alles an Theresa riecht so, seit Jahren, denkt Anne. Oft ist ihr selbst übel geworden von diesem Geruch. Eine Zeit lang konnte auch sie nichts essen, hat das Essen heimlich in die Toilette geschüttet, allerdings aus einem anderen Grund. Wie kann eine Mutter essen, wenn sie Zusehen muss, wie ihre Tochter verhungert? Auch Annes Kleidung begann zu weit zu werden. Sie spürte ihre Knochen, ihr Herz, ihren Kopf, ihren Magen tagtäglich, jeden Morgen, jeden Abend, und fühlte sich ausgelaugt, ausgezehrt, ausgehöhlt. Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, wälzten sich die Fragen in ihrem Kopf: Warum? Was tun? Was passiert noch? Wie ein Alb drückten ihr die Sorgen die Luft ab.
***
Die zwei, drei Kilo, die man Theresa in der Klinik aufgezwungen hatte, sind bald wieder verloren. Noch weigert sie sich, mit ihren Eltern über eine Einweisung in die psychosomatische Klinik zu reden.
»Ich bin nicht verrückt, ich brauch keinen Arzt, es geht mir gut.« Der Hausarzt stellt sie in Annes Gegenwart auf die Waage – knapp achtunddreißig Kilogramm bei einer Größe von einssiebzig. Er kennt Theresa seit ihrer Geburt.
»So geht das nicht, Kind«, sagt er vorwurfsvoll. »Du machst dich kaputt damit, du musst nur wieder richtig essen, dann kommt alles in Ordnung.«
»Ich bin kein Kind mehr!«, erwidert sie trotzig. »Mir geht es gut, ich fühl mich wohl so, wie ich bin.«
Seitdem meidet sie diesen Arzt.