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Vom Schicksal verbunden, vom Leben entzweit: Die geheimnisvolle Familiensaga „Die Bernsteinfrau“ von Jo Schulz-Vobach jetzt als eBook bei dotbooks. Seit Johanna denken kann, flammt zwischen ihr und ihrer Schwester Charlotte immer wieder Streit auf. Und immer wieder scheint dabei das kleine Schmuckstück aus Bernstein im Mittelpunkt zu stehen, das in der Familie seit Generationen weitergegeben wird. Für Johanna bewahrt der unscheinbare Anhänger die letzte Erinnerung an ihre verlorene ostpreußische Heimat. Und er erinnert auch an die Großmutter und ihre geheimnisvollen Geschichten von der „Bernsteinfrau“, die diese einst der Enkelin erzählte. Je intensiver sich Johanna mit dem Geheimnis ihrer Familie beschäftigt, desto deutlicher erkennt sie: Tief in das Schicksal ihrer Familie verwoben, stellt der Anhänger nicht zum ersten Mal die Verbundenheit von Schwestern auf die Probe. Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Bernsteinfrau“ von Jo Schulz-Vobach. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 626
Über dieses Buch:
Seit Johanna denken kann, flammt zwischen ihr und ihrer Schwester Charlotte immer wieder Streit auf. Und immer wieder scheint dabei das kleine Schmuckstück aus Bernstein im Mittelpunkt zu stehen, das in der Familie seit Generationen weitergegeben wird. Für Johanna bewahrt der unscheinbare Anhänger die letzte Erinnerung an ihre verlorene ostpreußische Heimat. Und er erinnert auch an die Großmutter und ihre geheimnisvollen Geschichten von der »Bernsteinfrau«, die diese einst der Enkelin erzählte. Je intensiver sich Johanna mit dem Geheimnis ihrer Familie beschäftigt, desto deutlicher erkennt sie: Tief in das Schicksal ihrer Familie verwoben, stellt der Anhänger nicht zum ersten Mal die Verbundenheit von Schwestern auf die Probe.
Über die Autorin:
Jo Schulz-Vobach arbeitet als freischaffende Journalistin und Schriftstellerin. Auch wenn die gebürtige Ostpreußin seit 1992 in Österreich lebt und schreibt, sind es die Landschaften der Ostsee, die sie dazu inspirieren, vergangenen Geschichten nachzuspüren. Ihre Romane »Meine Tochter verschwindet« sowie »Das Lächeln der Wölfin« und »Die Sanddistel«, die die leisen und unbekannten Spuren der deutschen Geschichte vor dem Vergessen bewahren wollen, sind ebenfalls bei dotbooks erschienen.
Die Autorin im Internet: www.joschulzvobach.jimdo.com
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eBook-Neuausgabe März 2016
Copyright © der Originalausgabe 2004 bei Knaur Verlag
Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Neijron Photo, Solodovnika Elena
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-384-2
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Jo Schulz-Vobach
Die Bernsteinfrau
Roman
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Für meine Enkelkinder Jonathan, Hannah und Emilia, für meine Schwester Barbara und in Erinnerung an unsere Großmutter Johanna, die tausend und mehr Geschichten über Ostpreußen und gegen das Vergessen zu erzählen wusste
Oft und dann unvermittelt überfallen sie jetzt, im Älterwerden, bittersüße Erinnerungen. Da tauchen Bilder, Stimmen und Geräusche und das Wissen um Berührungen, sacht und zärtlich, aus lange bewahrter Tiefe auf und drangen an die Oberfläche. Und sie sieht klar und deutlich die Föhrenwälder ihrer Heimat und die hellen Birkenstämme dazwischen. Sie sieht den altersschwachen, teilweise von Moos bedeckten Stamm eines Kirschbaums, in der Grasmücke und Fink singen zur Musik der Blätter im Wind, und der Specht hämmert den Takt dazu. Sie riecht den Frühlingswind, der den Geruch von Rinde und aufgebrochener Erde in sich trägt. Und vor ihr breiten sich blaue Lupinenfelder aus, so blau wie die vom leichten Wind geriffelte Ostsee, wenn sich der Himmel zitternd darin spiegelt. Sie sieht die über den Gartenzaun nickenden Malvenblüten und die Blutenden Herzen und gleich dahinter den Sand der Küste, fein und weich, ein sonnenwarmes, ein nachtkühles. Bett für Liebende und Ermüdete. Schimmernder Sand, fließend zwischen harten Gräsern und lilafarbener Sanddistel. In wilden Sturmnächten und im leisesten Windhauch türmt er sich auf zur Düne, hell und gewölbt wie der Rücken einer Frau, ihr Schoß bekränzt vom Schaum emsiger Wellen, die im Rhythmus von Sonne und Mond von Vergänglichkeit und von der Ewigkeit erzählen. Wellen, die den Bernstein, golden schimmernde Transparenz, aus der Tiefe ans Licht tragen.
Und sie sieht und hört und spürt die abgearbeiteten, harten und doch so weichen Hände von Omchen, der geliebten Großmutter, wie sie den Bernsteinklunker an ihren noch kindlich dünnen Hals legt, als wollte sie sich vergewissern, dass er da hinpasst. »Nu biste noch zu klein und zu majer dafier«, sagt Omchen in diesem breiten, rollenden, ein wenig rauen Ostpreußisch. »Musst erst wachsen und richtig jroß und ein bisschen mollicher werden fier die Bernsteinfrau, Marjellchen.« Und das Kind, vier oder fünf Jahre alt, hüpft vor Aufregung von einem Bein aufs andere, kann sich nicht satt sehen an dem Klunker, sich nicht satt fühlen an dem Glatten, dem Warmen und Schimmernden. Spürt ein Kribbeln, ein Rühren im ganzen Körper und bittet atemlos: »Erzähl, Omchen. Erzähl von der Bernsteinfrau!«
Und Omchen lacht. »Nu, was soll ich noch immer erzählen, weißt doch schon die janze Jeschichte, Marjell.«
Ihre Augen, so braun und dunkel wie die ganz dunklen Murmeln in Johannas Schatzkästchen aus duftendem Holz, funkeln und glänzen und lodern wie der Bernstein, der zuweilen glüht, oder wie glimmende Kohlen. Und sie sitzen, Omchen und das Kind, fest aneinander geschmiegt, im Gras unterm alten Kirschbaum am Brunnen und lassen die Haut saftig-praller Früchte zwischen ihren Zähnen aufplatzen und ihren Saft sich in ihren Mündern verströmen. Oder sie hocken auf der samtig-braunen Erde zwischen den dicht wachsenden Johannisbeersträuchern, knipsen mit ihren Fingernägeln die roten und die schwarzen Träubchen ab, schieben sie sich gegenseitig in den Mund – ach, so köstlich saure Süße, süße Säure, die den Gaumen mit Wellen überzieht. Und sie tauchen weg aus dem, was ist, tauchen in eine magische Welt, die erfüllt ist vom Summen der Insekten im riesigen Wald, der die große Senke, die später zur Ostsee werden wird, füllt und wo das Harz aus Rinden tropft und eine winzige Mücke, eine Blattspitze sorgsam umhüllt für die Ewigkeit. Und sie hören dem Brüllen, Keuchen und Brechen des zurückweichenden Eises zu.
»Wasser sammelt sich, so entstehen unsere Masurischen Seen und dann die große See«, erzählt Omchen. »Auf dem zurückbleibenden Land wächst zartrosa Heidekraut, im Moor der Schachtelhalm. Wieder tanzen Insekten in der wärmer werdenden Luft, der Elen pfeift, der Riesenwolf heult, das Mammut, der Urstier und der Bär brechen durchs dichte Unterholz. Aus dem Süden und später vom Norden kommen die ersten Menschen in unser Land – Jäger, Fischer und Nüssesammler. Ein Erster wird sesshaft. Er bearbeitet Steine, schleift sie, poliert sie. Schleift und poliert auch den Bernstein, das erhärtete Blut einstiger Bäume, den er an der Küste im Samland findet. Noch ruht die Bernsteinfrau am Boden der Ostsee. Heringsschwärme wirbeln den Grund auf, und das mächtige Haupt des Meeresgottes bedeckt sich mit feinem weißen Sand.«
»Erzähl weiter, Omchen, erzähl von Prinzessin Jurate!«
Und Omchen lacht und lässt ihre Kohleaugen lodern und erzählt und klappert ein bisschen mit ihrem falschen Gebiss bei all den rollenden und breit gezogenen Worten. »Eines Tages verliebte sich Jurate, die jüngste Tochter des Meeresgottes, den die heidnischen Pruzzen noch verehrten, in den ärmsten aller Fischer und nahm ihn mit sich ins Meer. Sie sammelte allen Bernstein, der auf dem Boden der Ostsee lag, und baute damit ein Schloss für sich und ihren Geliebten. Aber ihr Vater, der Meeresgott, war gegen diese Verbindung mit einem Menschen, und so zerstörte er das Schloss in einem schrecklichen Unwetter. Haushohe Wellen stürmten an die Küste, der Meeresgrund brach auseinander, Ungeheuer zerrissen die Netze der Fischer und verschlangen jedes Schiff auf See. Ganz zuletzt, als der Zorn des Meeresgottes am schlimmsten war, brachen auch die Mauern des Bernsteinschlosses, in dem Jurate mit ihrem Geliebten lebte, und die Trümmer verteilten sich im Meer. Und jeder Bernstein, der heute noch an die Küste gespült wird, ist ein Stück vom Schloss der Liebenden. In den ganz glatten und klaren Steinen aber, in den samtigen, den seidigen, in denen mit den kleinen Fliegen oder Blättchen, mit den Gräserchen, da sind auch die Tränen der Jurate eingeschlossen.« Und Omchen steckt dem Kind neben sich eine süße Kirsche nach der anderen in den Mund, die sie von den tief hängenden Zweigen des alten Kirschbaums am Brunnen gepflückt hat. Das Kind sperrt seinen Mund auf gleich einem hungrigen Vögelchen und kaut und schluckt und sagt: »Die größte und die schönste aller Tränen der Jurate, die ist in unserem Klunker drin, nich, Omchen?«
»Ja, in unserer Bernsteinfrau.«
»Erzähl weiter, Omchen!«
Das Kind nimmt den großen Bernstein in beide Hände und berührt ihn mit ihren Lippen, rot und klebrig vom Kirschsaft. Es schließt seine Augen und legt ein Ohr an Omchens Brust, um das Rollende, Raue in Omchens Stimme genauer zu hören. Das füllt sein Ohr wie das ferne Rauschen der Wellen oder wie der Wind, der die Kämme der Wellen glättet.
»Am Anfang«, beginnt die rauchige Stimme, »am Anfang ist unsere Bernsteinfrau nur ein großer Klunker mit groben Umrissen. Dann schleifen und ritzen Millionen und Abermillionen glitzernder Sandkörnchen seine Oberfläche. In den winzigen Schrunden siedeln noch winzigere Meereslebewesen. Und dann sind es die Lippen eines Rotbarsches mit rot leuchtenden Kiemen und grauschwarzen Flecken auf seinem Silberleib, die den Bernstein prüfen. Doch der Brocken ist zu groß für das Fischmaul mit den spitzen Zahnreihen, und der Barsch spuckt ihn wieder aus. Sand wirbelt auf. Eines Nachts aber steigt die gewaltigste aller Wellen aus der Tiefe der Ostsee empor. Sie nimmt die Bernsteinfrau auf und trägt sie zur Küste unserer Heimat …«
»Weiter, erzähl weiter, Omchen!«, drängt sie, als die rauchige, rollende Stimme, als das Rauschen der See, als der Laut des Windes, der Ruf der Vögel, das Knistern im Sand und das Flüstern im harten Gras im Vergehen der Zeit verrinnen und langsam, ganz langsam auch die Bilder mit sich nehmen.
Sie schmeckt das Wort »Heimat« in ihrem Mund und in ihrer Seele, und ihr Herz füllt sich wieder mit großer Sehnsucht.
»Nein«, sagt Johanna. Sie nippt am Kaffee, der zu stark ist. Charlotte kochte auch früher, als sich die Schwestern noch öfter gesehen haben, zu starken Kaffee. »Lass ihn doch stehen, wenn er dir nicht bekommt«, meinte sie, wenn Johanna schon beim ersten Schluck die Magenschmerzen und die Schlaflosigkeit in der kommenden Nacht ahnte. Charlotte sagte es in diesem desinteressiert und ein wenig ungeduldig klingenden Ton, der Johanna seit jeher eine ärgerliche Röte in die Wangen treibt.
»Ich fahre nicht mit dir. Jetzt nicht und auch später nicht.«
Mit einer Mischung aus Neugier und Feindseligkeit betrachtet Johanna über den Tassenrand hinweg ihre Schwester, die ihr gegenüber auf der Couch sitzt, die Arme ausgebreitet und auf die Rücklehne gelegt. Sie sieht gut und gepflegt aus, trotz ihrer nun dreiundsechzig Jahre. Sie hat ihre Beine elegant übereinander geschlagen und sich lässig zurückgelehnt. So kommt der große schöne Bernsteinanhänger in ihrem tiefen Blusenausschnitt voll zur Geltung. Der Ausschnitt ist großzügig, wie alles an Charlotte irgendwie großzügig wirkt, angefangen bei diesem dunklen Haar, das sie trotz ihres Alters noch immer schulterlang trägt. Und das sie wahrscheinlich doch gefärbt hat, denn kein Mensch außer unserer nun schon seit über drei Jahrzehnten toten Großmutter hat in diesem Alter noch kein einziges graues Haar, denkt Johanna. Alles an Charlotte ist breit und groß und offen und attraktiv. »Der Herrgott wollte aus mir wahrscheinlich einen Kerl machen«, sagte Charlotte früher manchmal lachend. »Schau dir nur mein breites Kreuz, diese Schultern und meine knapp einsneunzig an. Ich bin ein Riesenmenschenweib!«
Wieder nippt Johanna am Kaffee. Er riecht gut, das muss sie zugeben, aber das wird sie nicht laut sagen. Stattdessen sagt sie: »Aber trotzdem danke für dein Angebot.«
Ihre Schwester lächelt fein und so, dass sich nur winzige Falten an ihren Mundwinkeln bilden. Johanna hat Mühe, ihr gleichmütig ins Gesicht zu sehen. Sie ist ärgerlich, und ihr Blick schweift schließlich ab. Johanna muss auf den Ausschnitt ihrer Schwester starren, obwohl es ihr selbst unangenehm ist. Das Goldgelb des Bernsteins mit den silbrig-dunklen Einschlüssen schimmert auf Charlottes noch immer schneeweißer Haut. Eigentlich ist es kein schönes oder besonders wertvolles Stück Bernstein, überlegt Johanna nicht zum ersten Mal. Es ist wirklich nur ein Klunker mit angedeuteten fraulichen Formen. Zu groß, zu klobig, um ihn zu einer Bluse aus derart zartem Stoff zu tragen. Auf einem dieser einfachen einfarbigen T-Shirts aus Baumwolle, wie Johanna sie liebt, ja, da würde er schon eher hinpassen und zur Wirkung kommen. So würde er wahrscheinlich auch Sophie gefallen. Ja, denkt sie, vor allem Sophie würde mit dieser Kombination einverstanden sein. Und wenn ich tatsächlich nach Königsberg fahre, dann mit meiner Enkelin.
Charlotte trägt keine einfachen T-Shirts, wahrscheinlich hat sie nie eines getragen. Und Johanna macht ihre Augen zu und schließt damit den neugierig-wissenden und wie gewohnt ein wenig spöttischen Blick ihrer Schwester und dieses aufdringliche Bild einer gepflegten, gut gekleideten, wenn auch schon älteren und trotz aller Üppigkeit auch wieder starkknochig wirkenden Frau auf einer eleganten Couch in einem eleganten Wohnzimmer weg.
Nur die Bernsteinfrau bleibt. Und die Bernsteinfrau ist nun einmal etwas Besonderes. Nicht vom materiellen Wert her gesehen, denn einen schönen Bernstein in silberner Fassung gibt es heutzutage schon recht preisgünstig. Sophie hat ein Gespür für Schmuck dieser Art. Zum Abitur, denkt Johanna, zum Abitur in zwei Jahren bekommt sie von mir ein kleines Schmuckstück mit einem Bernstein. Und später, irgendwann einmal, die Bernsteinfrau. Ein Andenken an mich. Obwohl ich nur ihre angeheiratete Großmutter bin.
Der Gedanke an Sophie lässt sie lächeln. Dieses Kind, das Maximilian, der Mann ihrer älteren Tochter, mit in die Familie gebracht hat, ist wirklich ganz anders als ihre anderen Enkel. Carla hat mit Maximilian noch eine Tochter, Marie, und zwei Jungen, Zwillinge. Anna, Johannas jüngere Tochter, hat ebenfalls zwei Jungen. Alle fünf sind in diesem teilweise lärmenden, teilweise komplizierten und selbstkonzentrierten Teenageralter zwischen zwölf und fünfzehn. Bei den gelegentlichen Besuchen ihrer Großmutter drängen sie sich um sie, bis sie ihren Koffer und die mitgebrachten Geschenke ausgepackt hat. Sophie aber, siebzehnjährig, vermittelt Johanna ein besonders warmes Gefühl. Mit Sophie kann sie über vieles reden. Sie ist ein junger Mensch, der sich nicht nur oberflächlich für die Vergangenheit interessiert.
Ein paar Tage bevor Johanna nach Hamburg fuhr, rief Sophie an. »Ich brauche deine Hilfe, Oma. Ich will genau wissen, wie das damals mit eurer Flucht aus Königsberg war.« Johanna kam sich überrumpelt vor und war gleichzeitig gerührt von dem Interesse ihrer Enkelin. Und irgendwie erschrocken. »Wozu brauchst du das?«, fragte sie. »Für ein ziemlich wichtiges Geschichtsreferat, eine Vorbereitung aufs Abi«, erklärte Sophie lebhaft. »Ich will über das Schicksal der Ostpreußen schreiben, nein, reden, die 1945 aus ihrer Heimat geflüchtet sind beziehungsweise verschleppt oder vertrieben wurden. Und du bist doch Zeitzeugin, sozusagen.« – »Mein Gott, ich war damals, als wir flüchten mussten, gerade sechs Jahre alt«, entgegnete Johanna. »Das ist schon so lange her. Was soll ich dir denn noch erzählen können?« Und sie dachte: Das ist doch längst vergessen, Gott sei Dank ist es vergessen. Warum also jetzt, sechzig Jahre danach, wieder darüber reden, davon berichten? Ich bin froh, dass ich überlebt habe. Und dass es gelungen ist, mir die guten und schönen Erinnerungen zu bewahren und das andere, das Schreckliche, das Grauen zu verdrängen. »Warum willst du ausgerechnet über dieses Thema referieren?«, hatte sie Sophie gefragt. Gleichzeitig war ihr durch den Kopf gegangen, dass bei vielen Menschen ihrer Generation irgendwie ein Knoten geplatzt sein muss, denn seit zwei oder drei Jahren gibt es im Fernsehen immer wieder einen Themenabend oder eine Dokumentation über das Schicksal der Ostpreußen und anderen Vertriebenen. Sie hat sich naturgemäß einige davon angeschaut, aber diese Konfrontation mit der Vergangenheit, diese schrecklichen Bilder von Gewalt und Zerstörung, von Elend und Not haben sie furchtbar aufgewühlt und sie am Schluss nur noch herzzerreißend weinen lassen. Und sie haben das schöne Erinnerungsgebilde, das sie sich im Lauf der Zeit errichtet und sich daran geklammert hat, zu zerstören gedroht.
Und deshalb hatte sie am Telefon zu Sophie gesagt: »Lies die Dönhoff oder den Grass, die sind auch aus Ostpreußen, das heißt, der Grass ist aus Danzig. Egal, jedenfalls gibt es unzählige Autoren, die unzählige Bücher über diese Zeit geschrieben haben. Du wirst genug Material für dein Referat finden, glaube mir.« – »Es ist etwas anderes, wenn du mir berichtest, wie es damals war«, entgegnete Sophie unbeirrt. »Ach, Kind«, seufzte Johanna, wirklich verstört. Lass mir meine guten Erinnerungen, hatte sie gedacht. Verdrängt haben wir doch nur, weil wir nicht wussten, wie wir sonst die Risse in unserem Leben kitten sollten. Nach vorn haben wir gesehen, nur nach vorn. Und weil wir nicht reden konnten, nicht reden durften, denn Berichte über unser eigenes Schicksal haben doch damals bei jenen Menschen, die den Krieg anders erlebt und die nun uns Flüchtlinge aufzunehmen hatten, eher Verdruss und schließlich sogar Argwohn erzeugt. Deshalb war es besser und leichter, sich anzupassen, nicht aufzufallen. »Bitte, Oma«, hörte sie Sophie sagen. »Ich brauche etwas Besonderes für mein Referat. Das muss einen authentischen Touch haben. Die Arbeit ist wichtig für mein Abiturzeugnis. Ich bin ziemlich gut in Geschichte, das ist ein wahnsinnig interessantes Fach. Ich will nach dem Abi Geschichte und Politikwissenschaften studieren. Ich hab schon mit Max und Carla darüber gesprochen, sie finden das in Ordnung.« Sophie nennt ihre Eltern natürlich beim Vornamen. »Willst du nicht für ein paar Tage kommen, damit wir ausführlich darüber quatschen können?«, fragte sie schließlich, als Johanna ihren Widerstand doch aufgab. »Oder soll ich über das nächste Wochenende zu dir kommen? Mein Referat ist zwar nicht ganz so eilig, aber ich bin selbst gespannt auf deine Erzählungen« Sie haben sich geeinigt, dass Johanna sich melden wird, sobald sie aus Hamburg zurück ist. »Ich bleibe nur ein paar Tage dort, drei, höchstens vier«, versprach sie ihrer Enkelin. »Und, wirst du diese Bernsteinfrau mitbringen, die dir so viel bedeutet?«, fragte Sophie zum Schluss noch. Und Johanna antwortete: »Wenn meine Schwester sie endlich herausrückt, bestimmt.«
Jetzt wandert Johannas Blick über den Tisch. Das Geschirr ist das von Tante Edith, und auch die Tischdecke hat wohl zu dem gehört, was die Verstorbene Charlotte vererbt hat. Vieles in der Wohnung ihrer Schwester erinnert an Tante Edith, ihre Pflegemutter, die vor einigen Wochen gestorben ist. Auch deshalb ist Johanna nach Hamburg gekommen. Sie will zum Grab gehen. Charlotte hatte in den vergangenen Wochen immer wieder angerufen. Warum sie nicht endlich komme? Herzlos sei sie. Habe sie denn gar keine Gefühle für sie in sich? Und Johanna dachte bei jedem dieser Anrufe: Nein, ich habe keine Gefühle für sie in mir. Ja, wahrscheinlich bin ich herzlos, aber das ist doch kein Wunder nach allem, was diese Frau mir angetan hat. Und dann rief sie ihre ältere Tochter in Stuttgart an, aber Carla war wie immer im Stress und hatte offenbar wenig Lust, sich auch noch mit den Sorgen ihrer Mutter zu belasten. »Wenn es dir wirklich wichtig ist, ans Grab von Tante Edith zu gehen, solltest du fahren«, meinte sie in ungeduldigem Ton. »Es ist nicht nur das Grab«, gestand Johanna. »Ich will mir die Bernsteinfrau holen, die mir gehört und die meine Schwester mir nicht freiwillig geben will.« – »Also wieder Kampf«, sagte Carla seufzend. »Hört denn das nie auf? Jetzt seid ihr beide schon so alt, aber anscheinend werdet ihr nie vernünftig!« Sie schwiegen einen Moment, dann beendete Carla das Gespräch. »Ich muss zur Arbeit. Grüß Tante Charlotte herzlich von mir, ich hab sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Das muss Jahre her sein. Eigentlich schade, denn ich mag sie ganz gern.« Anna, Johannas jüngere Tochter, die bei Frankfurt wohnt, reagierte ähnlich. »Das mit der Bernsteinfrau ist doch lächerlich. Such dir einen schönen Bernstein aus, wir schenken ihn dir zum Geburtstag oder zu Weihnachten.« Und Johanna hatte den Hörer aufgelegt und enttäuscht, ja, sogar verletzt gedacht: Da habe ich ihnen, als sie Kinder waren, immer und immer wieder die Geschichte von der Bernsteinfrau erzählt und was sie bedeutet und dass sie eigentlich mir gehört, der Älteren, und dass Clara sie einmal bekommen wird, und nun haben sie anscheinend alles vergessen und halten mich für eine streitsüchtige Alte.
»Hallo, wo bist du mit deinen Gedanken?« Charlotte wedelt mit ihrer Hand vor Johannas Gesicht herum.
»Lass das!«, sagt Johanna ärgerlich. »Und fahr doch, wenn du unbedingt nach Königsberg willst. Ich werde dich nicht daran hindern. Nimm doch deine Kinder mit.«
»Meine Kinder – ich nehme an, sie wissen nicht einmal, wo Königsberg liegt oder dass es heute Kaliningrad heißt.«
Wahrscheinlich hat sie Recht, überlegt Johanna, während sie wieder auf das Schmuckstück starrt. Unsere Kinder sind in Süddeutschland beziehungsweise in Hamburg aufgewachsen und haben ganz andere Erinnerungen als wir. Manchmal, als ihre eigenen Töchter noch jünger waren, hat sie ihnen von den goldgelben Stränden und Dünen ihrer ostpreußischen Heimat erzählt, von den Stunden oder manchmal auch Tagen, an denen ihr Vater, der Berufssoldat war, die Uniform ablegte und Johanna an die Hand nahm und mit ihr nach dem Bernstein im Sand suchte. Sie erinnert sich nicht mehr daran, wie sie ihren Vater nannte, vielleicht Papa oder Papschen, Vatchen oder Vati. Auch nicht daran, ob und wie sehr sie ihn lieb gehabt hatte. Er ist aus ihrem Leben verschwunden, bevor sie ihn richtig kennen gelernt hat. Bevor sie ihn so gesehen hat, dass Erinnerungen an sein Gesicht, an seine Stimme, an sein Lachen bleiben konnten.
Geblieben sind Fotos und Erinnerungsfetzen: Der Vater schiebt die Schaukel an, hoch, höher, fliegen und landen können ohne Angst Sauerampfer am Rand einer Wiese, Kaninchen im Stall, darüber Bienen. Ein Roller am Zaun, ein roter Roller mit Gummireifen; jemand wird ihn später stehlen. Heiß war dieser Frühsommer 1944 in Ostpreußen, und Charlotte war noch ganz klein und lag schlafend oder brüllend im Kinderwagen. Der alte Brunnen unterm Kirschbaum, in dem Omchen Butterstücke kühlte, war schon fast ausgetrocknet. Abends, Johanna war noch wach, der Großvater stellte eine dickbäuchige Flasche mit rotem Wein auf den Tisch. Großmutter und Mutter in blumigen Sommerkleidern, die Haare frisch onduliert. Ein Grund zum Feiern, Johannachen! Ein Soldat war für ein paar Tage auf Urlaub gekommen, zum letzten Mal, denn er starb ein halbes Jahr später in einem Gefangenenlager am Ural. Ernst, so ernst und dunkel und ahnungsvoll blieb sein Blick. Die Uniform hing überm Stuhl und roch nach brandigem Metall und nach Männerschweiß. Johanna berührte scheu die glänzenden Knöpfe auf dem Stoff.
Sie hörte die näher rückende Front im Osten der Stadt dröhnen. Das Nachbarhaus, in dem die Pfeiffers wohnten, war bereits verlassen, und Unkraut wucherte über den Zaun. Im Flur gepackte Koffer. Der Vater, der auf Besuch gekommen war, drängte zur Flucht von Frau und Kindern. Nachts Dunkelheit in Zimmern und fremde Geräusche in anderen Betten. Überwältigendes Gefühl der Einsamkeit, des Verlassenseins. Das weinende Kind allein im Gitterbett, das eigentlich schon zu klein für Johanna war, aber was sollte man in diesen unsicheren Zeiten noch ein großes Bett für das Kind bauen, wo doch immer öfter von Flucht geredet wurde. Denn draußen war Krieg, und der machte Angst und brachte alles durcheinander, auch die Gedanken, dass eine Fünfjährige zu groß war für ein Gitterbett. Vorm Fenster grelles Wetterleuchten. Donner, der sich an Wänden und an schattengleichen Möbelstücken stieß. Das kalte Porzellangesicht einer Puppe an den Leib gepresst, ohne Trost. Und dann, über das Kind gebeugt, etwas Dunkles, Großes, dunkler als die Nacht. Ruhig, Johannachen, sei ruhig. Atem anhalten vor Schreck, und die Decke zu kurz. Ruhig, Johannachen, alles ist gut, es ist doch dein Vater.
Nichts war gut, denkt Johanna jetzt, der Krieg ging weiter. Der Vater starb in einem russischen Gefangenenlager am Ural an Wundbrand. Er hat nicht gelitten, schrieb ein Kamerad zwei Jahre später an Johannas Mutter, da waren sie schon weit weg von Königsberg. Mamchen flüchtete mit ihren zwei kleinen Kindern. Omchen kam später nach und trug die Bernsteinfrau an der silbernen Kette zwischen ihren Brüsten unter einem wollenen Hemd. Manchmal musste Johanna den Bernstein unter ihren hochgebundenen Zöpfen verstecken. »Nu, damit die Russen den Klunker nich finden«, erklärte Omchen, seltsam heiser und leise geworden in dieser lärmenden, beunruhigenden Welt.
»Du bist schon wieder ganz weit weg«, drängt sich Charlottes gereizte, nun doch vorwurfsvolle Stimme in diese Erinnerungen. Johanna deutet auf die Bernsteinfrau. »Sie hatte mir den Anhänger versprochen.«
»Wer?«
»Omchen.«
»Der Schmuck gehörte nach Omchens Tod unserer Mutter.«
»Unsere Mutter ist vor zweiundfünfzig Jahren gestorben.«
»Ich weiß«, sagt Charlotte sanft lächelnd. »Ich meine auch nicht Mamchen, sondern ihre Schwester, unsere Tante Edith, die uns länger Mutter war, als unser Mamchen es sein konnte.«
Johanna presst ihre Lippen aufeinander.
»Aber jetzt bin ich da«, erklärt sie mit Nachdruck.. »Ich bin die ältere von uns beiden. Und immer hat die älteste Tochter in einer Generation die Bernsteinfrau bekommen.«
»Ach ja?« Charlotte hebt die Brauen. »Unser Omchen!« Sie lächelt fein. »Unser Omchen hat eine blühende Fantasie gehabt, nicht wahr? Ich nehme an, dass du sie von ihr geerbt hast, oder?« Als Johanna schweigt und irgendwohin blickt, wird ihre Stimme lauter. »Mutter hat ein Testament hinterlassen, in dem sie mir alles vermacht hat. Auch die Bernsteinfrau.«
Sie betont die Worte »alles« und »auch«. Johanna reagiert scharf: »Du meinst unsere Pflegemutter. Tante Edith. Sie war die jüngere Schwester. Und sie hatte kein Recht dazu, dir den Bernstein zu vermachen.«
Johanna merkt, dass ihre Stimme zittert, und ärgert sich darüber. Die Tante war nicht Mutter, obwohl auch Johanna sie manchmal so genannt hat, weil sie es wünschte. Als Mamchen im Sterben lag, hat sie ihrer jüngeren und einzigen Schwester und deren Mann das Versprechen abgenommen, sich um ihre Kinder, die ja schon Halbwaisen waren, zu kümmern. Also waren für Johanna und Charlotte plötzlich eine neue Mutter und ein neuer Vater da. »Du kennst Mutters Testament, Schwesterherz. Ich hatte dir eine Kopie zugeschickt«, sagt Charlotte, nimmt nun doch die Arme von der Couchlehne und beugt sich etwas vor, um sich noch eine Tasse Kaffee einzugießen.
»Ich habe diese Kopie des Testaments nie bekommen«, behauptet Johanna.
Charlottes Blick ist kühl. »Wir wollen uns nicht streiten, oder?« Johanna hebt in gespieltem Entsetzen beide Hände. »Nein! Ich würde dabei den Kürzeren ziehen – wie immer.«
Unauffällig betrachtet Johanna ihre Schwester, die jetzt irgendwohin blickt. Charlotte lacht selten, weil Lachen Falten erzeugt. Deshalb lächelt sie mehr, und dann ganz fein. Damenhaft eben. Und weil sie in Hamburg lebt, wo wahrscheinlich auch die älteren Frauen noch sehr auf sich achten, und nicht irgendwo in einem Bergkaff, wo der Wind einem die Haare kämmt und Sonne und raue Luft Gräben in die Haut prägen.
Johanna starrt wieder auf den Bernsteinklunker in Charlottes Ausschnitt und grübelt über ihre Schwester und das seltsame Verhältnis zwischen ihnen beiden nach. Wenn nicht Eifersucht und Rivalität zwischen ihnen stehen würden, könnte sie wahrscheinlich gar nicht behaupten, dass sie Charlotte nicht mag. Und sie kann auch nicht genau erklären, warum sie nicht mit ihr zusammen diese Reise nach Königsberg unternehmen möchte, die doch eigentlich so eine Art Suche nach den gemeinsamen Wurzeln sein könnte. »Vielleicht irre ich mich, was meine Schwester betrifft«, hatte sie einmal zu Sophie gesagt, die sie über Charlotte ausfragte. »Wahrscheinlich ist Charlotte sogar eine ganz passable Frau, mit der man Spaß haben könnte. Aber sie ist nun einmal meine Schwester. Und irgendwie können wir nicht akzeptieren, dass uns vieles verbindet – Freud und Leid.«
Wir wissen beide, dass es lächerlich ist, uns seit Jahren, nein, seit Jahrzehnten nur anzugiften, denkt Johanna auch jetzt. Was geschehen ist, ist eben geschehen. Man sollte es vergessen. Angeblich macht doch das Alter versöhnlich. Aber wir, wir müssen auf diesen alten Geschichten zwischen uns herumreiten. Wir müssen weiter vergleichen, abschätzen, abwägen. Wir könnten in Ruhe alt werden, jede für sich oder vielleicht sogar gemeinsam, jede auf ihre Art. Und diese Reise nach Ostpreußen – warum nicht gemeinsam?, überlegt sie. Wir, zwei Schwestern, auf der Suche nach unseren Wurzeln. Wir könnten zusammen über unsere Verluste weinen und über die Veränderungen in dieser Stadt staunen, in der wir geboren wurden und die mit uns, wie wir heute sind, nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun hat. Wir werden nichts in dieser Stadt, in diesem Land wiedererkennen, aber wir könnten unsere eigenen Erinnerungen, unsere Träume und Sehnsüchte über das Heute legen. Und vielleicht, vielleicht, wenn wir unsere Augen schließen und Nähe zwischen uns spüren, kehren die Gesichter, die Stimmen und Geräusche, die Gerüche und die Empfindungen von einst, als wir noch Kinder waren, für kostbare Augenblicke zu uns zurück.
Schon will sie sich vorbeugen, lächelnd und noch ganz verfangen in diesem schönen Bild der Zweisamkeit von zwei Schwestern, beide schon leicht ältlich, ihre Köpfe einander zugeneigt, ihre Hände ineinander gelegt, wie sie da vor einem Haus stehen und vielleicht das Butzenfensterchen in einer Haustür wiedererkennen oder den Kirschbaum neben einem Brunnen, den Kaninchenstall und daneben die Schaukel – da fällt ihr Blick wieder auf den Bernsteinklunker in Charlottes Blusenausschnitt. Und das Bild, das sie für einen Moment ganz weich und nachgiebig gemacht hat, löst sich sofort auf, und alle ihre guten Vorsätze gehen mit einem Schlag zum Teufel.
Johanna schließt ihre Augen und konzentriert sich auf das leise Ticken der Wanduhr im Flur – tick, tick, tick. Sie meint sogar das Vorrücken des Sekundenzeigers hören zu können. Und sie denkt plötzlich daran, dass auch diese Uhr Tante Edith gehört hat und in ihrer Wohnung ebenfalls im Flur hing. Bei dem Gedanken an jene Frau, die ihr Leben als Pflegemutter mitgeprägt hat, kehrt Johannas Fassung zurück. Unwillkürlich strafft sie ihren Rücken. Ja, Tante Edith. Mühsam hat sie gemeinsam mit ihrem Mann nach dem Krieg zusammengetragen, was ihr Freude bereitete und was für sie so etwas wie ein Ersatz für das im Krieg Verlorene und in ihren Gedanken und Erinnerungen Unschätzbare bedeuten konnte. Ihre Hände wurden hart dabei. Ihr Herz war es bereits, zumindest Johanna gegenüber. Noch heute hat sie die Stimme ihrer Tante im Ohr: »Was willst du noch, lass mich endlich in Ruhe!« Monate später rief Charlotte an. »Mutter liegt im Sterben. Willst du nicht kommen und sie noch einmal sehen?« – »Ich weiß nicht«, hatte Johanna zurückhaltend geantwortet. »Wir sind in der letzten Zeit nicht sehr gut miteinander ausgekommen.« – »Ich weiß davon«, bestätigte Charlotte. »Sie hat es mir erzählt und beklagt sich nun ständig bei mir über dich.« – »Das hätte ich mir denken können«, meinte Johanna spitz. Charlotte hatte wohl angefangen zu weinen. Johanna konnte ein leises Schniefen durchs Telefon hören.
»Du könntest mit dem Zug kommen«, sagte sie. – »Dann bin ich mindestens acht Stunden unterwegs. Du vergisst, wo ich lebe.« – »Ich weiß, in einem Kaff am Arsch der Welt.« – »So kann man es auch ausdrücken«, hatte Johanna gesagt und aufgelegt.
Ihr war nicht wohl dabei gewesen, wie sie sich jetzt erinnert. Sie hatte sich gewünscht, sich überwinden und ihre Schwester anrufen zu können und zu sagen, dass sie mit dem nächsten Zug komme. Es war immerhin eine enge und eine ihrer letzten Verwandten, die da im Sterben lag. Aber sie hatte die letzten Worte von Tante Edith noch im Ohr: »Was willst du noch, lass mich endlich in Ruhe!« Da ließ Johanna sie eben in Ruhe.
Und dann war Tante Edith gestorben. Und jetzt habe ich Schuldgefühle, sagt sich Johanna erbittert.
Unvermittelt steht sie auf.
»Morgen werde ich auf den Friedhof zu Tante Ediths Grab gehen«, sagt sie.
»Selbstverständlich komme ich mit dir. Du willst schon gehen?« Charlotte schaut auf ihre Armbanduhr. »Es ist noch früh. Wir könnten …«
»Ich bin müde von der langen Fahrt«, unterbricht Johanna sie schnell. »Vergiss nicht, dass ich seit über zehn Stunden auf den Beinen bin. Und dass ich sechsundsechzig bin. Da hupft man eben nicht mehr wie eine Junge herum.« Sie nimmt ihre Jacke, die sie über eine Sessellehne gehängt hatte, und ihre große, schon ein wenig schäbig aussehende Handtasche. »Ich rufe dich im Lauf des Vormittags vom Hotel aus an.«
Sie gehen über den Friedhof, nebeneinander und doch nicht miteinander, eben wie zwei Frauen, die sich kennen und zufällig dasselbe Ziel haben. Wieder scheint die Sonne, es ist ein linder Frühling, und Johanna hat ihren Mantel geöffnet und den Schal gelockert und lässt sich von der Sonne wärmen. Sie hat schlecht geschlafen, das Bett war fremd, auch die Geräusche der Stadt waren es, und im Magen lag ein Druck, der sich erst im Morgengrauen zu lösen begann. An der Rezeption erkundigte Johanna sich nach den Busverbindungen zum Friedhof und meldete sich dann bei ihrer Schwester. Sie verabredeten sich am Friedhofseingang.
Nun wandern sie also die Wege zwischen den Grabreihen entlang.
»Das Grab ist gleich da vorn«, erklärt Charlotte.
Das Grab sieht nicht besonders aus. All dieses Marode, Krümelnde, nach Verderbnis Riechende passt nicht zu dem Bild, das sie von Tante Edith im Kopf hat. In ihrer Erinnerung war sie eine starke, fast schon korpulente Frau, die ihren Körper bis ins hohe Alter in ein altmodisches Korsett zwängte. Sie hielt sich sehr gerade, ihre Haltung war immer stolz und unbeugsam. Unnachgiebig wie die starren Löckchen auf ihrem Kopf. Johanna hatte ihre Tante nie unbekleidet gesehen; und falls an ihrem Leib doch etwas Weiches oder Warmes gewesen war, dann war es ständig in diesem Korsett gefangen geblieben. Sie ist die jüngere von zwei Töchtern gewesen. Die ältere, Johannas und Charlottes Mutter, ist mit noch nicht einmal siebenunddreißig Jahren elendig an Krebs gestorben. Omchen war da, ja, aber Omchens Rücken war krumm geworden unter der Last und der Verluste in zwei Weltkriegen, die ihr den Mann, einen Schwiegersohn und andere Lieben genommen hatten. »Das sind meine Flügelchen«, erklärte sie, wenn das Johannachen über diese nach außen gerundete Wirbelsäule strich und jammerte: »Tut das nicht weh? Das muss doch wehtun!« Auch Omchens Beine trugen schwer am Elend und Kummer; sie bogen sich mit den Jahren immer mehr nach außen. »Da kannst eine Kanonenkugel durchschießen«, sagte sie zuweilen lachend, aber das Lachen war in den Monaten vor Mamchens Tod kratzig und wurde rasch aufgesogen vom Leiden um die Lieblingstochter, die der Krebs unaufhaltsam von innen her auffraß, Stück für Stück. »Was könnt ihr hier auf dem Land schon werden«, sagte Omchen mit rauchiger Stimme und Todesmüdigkeit in den Augen zu den Enkelinnen, als sie das Begräbnis auf einem winzigen Stück Land, das in der katholischen Gegend im Rheinland den Evangelischen vorbehalten war und das weit außerhalb des Dorfes lag, hinter sich gebracht hatten und zuerst kilometerweit über die staubige Landstraße und dann über Feldwege in die kleine Wohnung neben dem Kuhstall eines Bauern zurückkehrten. »Ihr könnt in der Fabrik am Fließband arbeiten«, sagte sie, »und dann heiraten und Kinderchen kriejen wie alle die jungen Dingerchen hier. Ich wäiß nich, ob ihr das wollt oder ob es das Beste für euch is. Und ich bin jetzt nur müde, einfach müde. Also jeht zu Tante und Onkel, das Herrjottchen wird es für euch schon richten. Irjendwie.«
Und Tante und Onkel taten, vielleicht sogar mit Unterstützung von Omchens Herrgottchen, wirklich ihr Bestes für die beiden Vollwaisen, das muss auch Johanna zugeben. Sie bekamen von ihnen genug zu essen, sie waren sauber und ordentlich gekleidet, sie besuchten eine gute Schule und erhielten schließlich eine Berufsausbildung. »Seid wenigstens dankbar«, sagte Tante Edith. Und Onkel Herbert schwieg, lächelte und nickte aufmunternd zu ihren Worten, wie er jahrelang zu allem geschwiegen, gelächelt und genickt hatte.
»Zum Schluss war sie nur noch Haut und Knochen«, erzählt Charlotte und zieht und zerrt an dem Verwelkten auf Tante Ediths Grab. »Sie wollte nur noch sterben.«
Ihre Stimme klingt, als würde sie gleich anfangen zu weinen, aber als Johanna sie unauffällig von der Seite ansieht, sind ihre Augen trocken. Im Profil wirkt Charlottes Gesicht nicht ganz so attraktiv; ihre Nase ist etwas zu groß und nicht wirklich schön, wie auch Omchens Nase zu groß und nicht schön war. Das Schönste an Omchen waren ihre Augen unter den dichten kohlschwarzen Brauen; sie blickten lustig, liebevoll, kokett oder traurigbraun. Oder schwarzfunkelnd, wenn sie verzweifelt oder wütend war und dann auf einmal fast gar kein Gesicht mehr hatte, nur noch Augen. Das war, als die Russen die Flüchtlinge auf dem Weg nach Westen einholten und die älteren Mädchen und die jungen Frauen mit Pistolen oder Gewehren vor sich hertrieben, auch Mamchen, und mit ihnen im Feld oder im Stall oder hinter irgendeiner Ecke verschwanden.
Charlotte hat Omchens Augen, wie sie auch vieles andere von ihr geerbt zu haben scheint, zum Beispiel dieses prachtvolle Haar. Omchen trug es straff aus der Stirn gekämmt und in einem mit einem dünnen Netz gehaltenen Nackenknoten. Auf alten Fotos, die sie als Jungverheiratete und später als junge Mutter zeigen, ist eine schöne, stolze, etwas streng blickende Frau zu sehen. »Wäißt«, sagte sie damals zum Johannachen, »wäißt, Marjellchen, die alten Pruzzen, die einmal hier lebten, und dann die eine oder andere Verwandtschaft mit die Polen, das muss es sein, deshalb bin ich so schwarz jeworden.« Das Omchen rollte das »R« ganz herrlich in der Kehle, wenn sie so schabberte und schabberte, also erzählte, und sie hängte an alles das »chen«, wie das alle Ostpreußen machten, die länger als nur ein paar Kinderjahre in der Heimat verbracht hatten. Omchen sagte auch nicht: »weißt«, sondern »wäißt«, und statt »nichts« sagte sie »nuscht«. »Ach Jottchen, hat das Kindchen jebrillt, der Lorbass, das arme Lorbasschen!«, rief sie zum Beispiel immer wieder und ganz begeistert, wenn sie vom Kind des Bauern, bei dem sie auf der Flucht nach dem Westen eine Weile gewohnt hatten, erzählte. Der Lorbass, wie die kleinen Jungen in Königsberg genannt wurden, war damals beim Spielen in den Dorfteich gefallen, und Omchen hatte ihn gerettet, nachdem sie Rock und Schürze bis zur Taille hob, obwohl sie darunter »nuscht mehr, nich mal den Schlüpfer!« anhatte. Sie hatte auch die Schlorren von sich geschmissen und war mutig ins Wasser gewatet, um das brüllende Kindchen im letzten Augenblick am Kragen zu packen und ans Ufer zu schleppen. Im Dorf war das ein großes Ereignis, und vom Großvater des Geretteten bekam Omchen sogar ein halbes Huhn geschenkt. Doch aus Schlorren wurden bald Pantoffeln, aus Koddern alte Kleider, und Koffer und anderes Gepäck wurde kaum noch Pungel genannt. Mit den Jahren im Westen Deutschlands verlor sich das Ostpreußische in ihrer Sprache allmählich, und schließlich legte sie, die Belesene, sogar großen Wert auf das Hochdeutsche. Nur manchmal, wenn Johanna mit ihr telefonierte, dann brach es wieder raus aus dem Omchen, dann pladderte der Regen, dann war die Strickjacke zerpliesert und musste geflickt werden. Dann sagte sie: »Ach Jott, näi, hier jefällts mir nich, ich wäiß nich, die Leite sinn ja so weit janz natt, man erlebt allerhand hiä, aber manchmal krie ich doch mächtig Heimweh.« Für Johanna waren solche Ausbrüche wie eine Rückkehr in die längst vergangene, längst verlorene Kindheit, und die plötzliche Sehnsucht nach dem Verlorenen trieb ihr mehr als einmal die Tränen in die Augen.
Und nun steht Johanna am Grab von Tante Edith und starrt auf den in sich zusammengesunkenen Hügel mit den verwelkten Kränzen und versucht sich an das Gesicht und an anderes ihrer Pflegemutter zu erinnern. Die Bilder bleiben vage, und sie denkt, dass es schon seltsam ist mit den Toten. An manche kann man sich nur dann genau erinnern, wenn man Fotos von ihnen ansieht, andere hat man nie wirklich gekannt, obwohl sie doch, wie ihr leiblicher Vater, nahe Verwandte waren. Aber an Omchen wird sie sich immer erinnern, sie lebt in ihr, sie spürt Johanna in sich. Und wenn sie einmal Kummer hat und ganz still ist und in sich hineinhört, dann grummelt, dann keckert und lacht dort ihr Omchen und sagt: »Nu heul man nich, Marjellchen, wird alles jut werden, wirst sehen, das Herrjottchen denkt auch an dich.« Omchens Herrjottchen musste für ziemlich vieles in ihrem Leben herhalten, und das, obwohl sie doch sehr selten in die Kirche ging.
»Was hast du wegen Tante Ediths Wohnung unternommen?«, fragt Johanna später auf dem Weg zurück zum Friedhofstor.
»Ich habe eine Entrümpelungsfirma angerufen, die haben alles erledigt.«
»Aber der Sekretär und die Couchgarnitur, das war doch Biedermeier, wenn ich mich richtig erinnere. Du wirst doch diese Sachen nicht …«
»Was von Wert war, habe ich selbstverständlich verkauft«, würgt Charlotte ihre Entrüstung ab.
»Für Geld, das du gut gebrauchen kannst, nicht wahr?«
Aber Johannas Spitze prallt diesmal an Charlotte ab. Sie lächelt nur, vielleicht, aber wirklich nur vielleicht eine Spur angestrengt. »Wir werden das Geld für unsere Reise nach Ostpreußen verwenden.«
»Nein danke!«, sagt Johanna scharf. »Ich brauche dein Geld nicht!«
»Ach, Johanna.« Charlotte sieht sie von der Seite an, nicht so wütend, wie Johanna das erwartet hat, sondern mit einer sie ärgernden Milde. »Ich weiß doch, dass du gern fahren möchtest. Du hast schon vor Jahren davon geredet.« Sie hakt sich bei ihrer Schwester ein. »Wir könnten an der Küste entlangfahren. Zuerst nach Rostock. Weißt du noch, das Haus, in dem wir damals wohnten?«
Der Ton ihrer Stimme ist jetzt versöhnlich, aber Johanna wartet ein Weilchen, bis sie darauf eingeht. Natürlich geht sie gern darauf ein, wie sie sich eben nur allzu gern auf alles stürzt, was mit der Vergangenheit zu tun hat. Als wäre es gestern gewesen, so genau sieht sie nun das graue Haus vor sich, sogar das düstere Treppenhaus mit den ausgetretenen Holzstufen und den nicht funktionierenden altmodischen Lampen auf jedem Treppenabsatz hat sie vor Augen. Sie hat auch den Geruch in der Nase, der in diesem Treppenhaus hing, wenn sie aus der Schule kam. Dörrgemüse! Eklig schlaffes Zeugs, das wie Gummi war und sich kaum kauen ließ. Und Kohl und eine Art Maggi. An jedem Tag in diesen drei Jahren, die Omchen, Mamchen und ihre Kinder in diesem Haus wohnten, roch es dort nach Dörrgemüse und nach Kohl und Maggi. Mamchen, schon gezeichnet vom Krebs und bereits Witwe, ohne es zu wissen, ging für russische Offiziersfrauen nähen, um die Familie erhalten zu können. Omchen flickte und nähte zu Hause für ein paar Leute aus der Nachbarschaft, die ihr dafür eine Tasse Mehl, einen Kanten Brot oder ein paar Kartoffeln gaben.
»Mir wird jetzt noch mehr als übel, wenn ich an den Geruch von Maggi und Kohl und Dörrgemüse im Hausflur denke«, sagt Johanna.
Charlotte lacht.
»Mir ist das nie aufgefallen, ich hatte immer Hunger, ich hätte alles essen können.«
»Hunger hatte ich auch, und was für einen!«
Einmal, erinnert sich Johanna, einmal hatte Mamchen Mehlklunkern für eine Suppe vorbereitet, bevor sie mit ihrer Jüngsten zum Impfen gegangen war. Damals, in der russisch besetzten Zone, wurden Kinder und auch Erwachsene ständig gegen irgendetwas geimpft. Und Johanna, allein in der Wohnung und getrieben vom nagenden Hunger, hatte den Klunkern nicht widerstehen können und zuerst einen, dann noch einen und schließlich alle aufgegessen. Sie lagen schwer im Magen, aber noch schwerer drückte das schlechte Gewissen, denn alles war knapp in dieser Zeit, die Lebensmittelkarten reichten nicht aus, um einmal richtig satt zu werden. Also stieg Johanna auf einen Stuhl, dann auf den Tisch und holte von ganz oben im Schrank die sorgsam gehütete Mehltüte, schüttete einen gehörigen Haufen in die Schüssel und mischte Salz und Wasser dazu, wie sie das beobachtet hatte. Aber entweder waren die Klunkern zu feucht, oder sie waren zu trocken, jedenfalls wurde nichts Rechtes aus dem Drücken und Kneten und Krümeln. Und dann log Johanna ihr Mamchen an. Nein, sie habe die Klunkern wirklich nicht gegessen, das könnten doch die Mäuse oder sogar die Ratten gewesen sein, die so frech über Regale und andere Möbelstücke spazierten und sogar das Brot angefressen hatten, oder? Johanna heulte und zitterte und jammerte vor lauter Elend, weil Mamchen so erschüttert ob der Lüge und ob der Mehlverschwendung guckte, aber sie blieb hartnäckig dabei, die Ratten hätten sich über die Mehlklunkern hergemacht.
»Erinnerst du dich noch an den Trümmerplatz neben dem Haus, wo wir Zirkus gespielt haben?«, hört sie von irgendwoher Charlotte sagen. »Wir haben oft Zirkus gespielt, weißt du noch? Alle Kinder aus der Straße waren dabei. Und manchmal hatten wir tatsächlich Publikum, Leute, die vorbeikamen, und jeder zahlte fünf Pfennige für eine Vorstellung. Und einmal habe ich mir den Arm gebrochen, als ich auf deine Schultern steigen wollte und gefallen bin.«
Johanna sieht ihre Schwester an und erinnert sich, natürlich erinnert sie sich auch daran, an das Schmerzensgeschrei der kleineren Schwester, in das die anderen Kinder, mit denen sie Zirkus spielten, einfielen, denn der verdrehte Arm sah wirklich beängstigend aus.
»Als du den Gips bekommen hast, hat Mamchen auch gleich das dicke Muttermal an ihrem Arm, das sie beim Baden aufgekratzt hatte und das immer blutete, untersuchen lassen. Zu Hause erzählte sie dann, dass das wohl Krebs war, und Omchen fragte: ›Krebs, was ist denn Krebs, ist das was Schlimmes?‹ Mamchen wurde operiert und mit Röntgenstrahlen behandelt. Diese Röntgenstrahlen waren das Schlimmste, weil sie falsch dosiert waren und alles verbrannten und alles nur noch schlimmer machten.«
Eine Weile schauen sie schweigend auf die Gräber rundherum. Auf manchen blühen Primeln und andere Frühlingsblumen, einige sind von Efeu oder Sträuchern überwuchert. Es ist ein sehr großer und sehr stiller Friedhof, obwohl er mitten in der großen, lärmenden Stadt Hamburg liegt.
»Mamchens Grab gibt es nicht mehr«, sagt Charlotte. »Sie haben den kleinen Friedhof eingeebnet und eine Parkanlage daraus gemacht. Der ganze Ort hat sich total verändert. Ich war einmal dort.« Sie lässt Johannas Arm los und macht eine weit ausholende Bewegung. »Einfach schrecklich. Der eine hier, der andere da begraben. Gräber in Russland, in Königsberg, in der Ostsee, im Rheinland, in Hamburg und anderswo. Dieser Krieg hat alles kaputtgemacht. Die Familien auseinander gerissen. Es gibt keinen Zusammenhalt mehr. Nicht einmal auf dem Friedhof.«
»Ich brauche keinen Friedhof, um mich an unsere Toten zu erinnern«, erklärt Johanna, die in Gedanken den Friedhof der kleinen Gemeinde vor sich sieht, in der sie jetzt lebt. Dort reiht sich ein Familiengrab ans andere. Und manchmal geht sie über diesen Friedhof und liest die Namen und die Jahreszahlen und fühlt sich seltsam verloren und einsam dabei.
»Du könntest nach Hamburg ziehen«, sagt Charlotte. »Hier hättest du wenigstens ein Grab.« Sie lächelt ihre Schwester von der Seite an. »Und mich, deine einzige Schwester und noch lebende Verwandte. Vielleicht schaffen wir es doch. Zusammen. Irgendwie.«
»Ich denke nicht, dass ich das möchte«, entgegnet Johanna schnell. »Ich fühle mich wohl dort, wo ich jetzt lebe. Ich lebe allein, aber nicht einsam.«
»Wir werden beide nicht jünger, wir könnten es zumindest versuchen«, meint Charlotte ungewohnt sanft. Sie bleibt stehen und fasst erneut nach Johannas Arm. »Ich verstehe dich manchmal nicht«, fährt sie fort, schon wieder im gewohnten Ton, der stets etwas herablassend klingt. »Im Grunde genommen haben wir doch vieles gemeinsam.«
Johanna, die ebenfalls stehen geblieben ist, mustert sie von oben bis unten und wieder zurück und zieht dann die Augenbrauen fragend hoch.
»Was denn gemeinsam?«
Dann sind sie wieder in Charlottes Wohnung, und noch immer tanzen einige wenige Staubkörnchen in den Sonnenstrahlen zwischen ihnen.
Charlotte sitzt Johanna gegenüber auf der Couch; sie zieht die Bernsteinfrau aus dem Seidenrolli. Der honigfarbene Anhänger passt gut zu dem schwarzen Pulli. Und Johanna sieht zu, wie die Bernsteinfrau an der Kette hin und her schwingt. Irgendwie werden alle Sonnenstrahlen von dem Bernstein eingefangen. Er schimmert von innen. Wirkt fast lebendig, als wollte die winzige Mücke ihre Flügelchen bewegen.
»Gib sie mir, Charlotte. Nur einmal.«
Charlotte ist in großzügiger Stimmung. Ohne Zögern, ohne Misstrauen öffnet sie den Verschluss der Kette. Und Johanna streckt über den Glastisch hinweg und mitten in die Sonnenstrahlen hinein ihren Arm aus, öffnet ihre Hand, und Charlotte lässt die Bernsteinfrau langsam auf ihre Haut gleiten.
Es ist, als würde bei der ersten Berührung ein Blitz durch Johannas Körper fahren. Sie muss ihre Augen schließen. Alle Geräusche, alle Gerüche um sie herum lassen nach, so als wären sie plötzlich in Watte gepackt. Sie bewegt sich nicht. Gefühle und Erinnerungsfetzen stürmen auf sie ein, sie muss rascher atmen, und ihr Herz klopft hoch bis zum Hals. In ihren Ohren rauscht und dröhnt es, und sie hat das Bild von an den Strand stürmenden und wieder zurückdonnernden Wellen vor Augen. Sie riecht das Salzige in der Luft, das Trockene des Sandes, sie riecht den wilden Thymian, der sich an einen Stein klammert, das feuchte Moos an einem Stamm.
»Ich habe dich oft beneidet, Schwesterherz«, hört sie Charlotte von irgendwoher sagen.
Verdammt! Johanna fühlt sich gestört, sie fühlt sich betrogen. Sie macht ihre Augen wieder auf, und das Rauschen in ihren Ohren verebbt, die Gerüche verwehen, und die Bilder, gerade noch schön und wild in ihren Farben, verblassen.
»Beneidet?«
»Weil du die Geschichten von Omchen hast. Und weil deine Erinnerungen an Ostpreußen aus diesem Grund ganz andere sind als die, die ich habe.«
Sie sieht, dass Charlotte auf den Bernstein in ihrer geöffneten Hand deutet.
»Vielleicht ist mir die Bernsteinfrau deshalb so wichtig. Sie ist für mich so etwas wie ein Pfand.«
»Wieso Pfand?«, fragt Johanna verwirrt.
Charlotte lächelt fein und vielsagend. »Lass es mich anders ausdrücken, Schwesterherz, die Bernsteinfrau ist anscheinend das Einzige, was uns, dir und mir, noch gemeinsame Berührungspunkte vermitteln kann.« Mit ihrer Fingerspitze berührt sie sacht den Bernstein auf Johannas Hand. »Und wahrscheinlich würden wir diese ohne sie nicht mehr erkennen können. Das wäre doch schade, sehr schade, oder?«
»Quatsch«, murmelt Johanna, aber so leise, dass Charlotte es nicht gehört haben kann.
Sie schauen nun beide auf das Schmuckstück. Johanna dreht es unbewusst ein wenig hin und her, und die Sonnenstrahlen lassen das winzige Insekt in seinem Innern leicht seine Flügelchen bewegen.
»Es sieht aus, als wäre die Mücke lebendig, nicht wahr?«, sagt Charlotte im Flüsterton.
»Aber sie ist doch lebendig, schau!«
Und Johanna, gerade noch ärgerlich, gerade noch auf Abwehr und Distanz, auf Abschied und Rückzug bedacht, beginnt plötzlich und ohne Stocken zu erzählen. Sie erzählt von den dichten Wäldern in der Senke, in der sich später die Ostsee bildete, und von der kleinen Mücke, die sich auf einem Baumast sonnt, und von dem Harztropfen, der langsam, ganz langsam über den Stamm rollt und ein Rindenstückchen, eine zarte Blattspitze und schließlich die kleine Mücke mit sich nimmt. »Im Augenblick ihres Todes bewegt die Mücke noch einmal und ganz zart ihre Flügelchen, und zwei winzige rundliche Lufttropfen bilden sich im erstarrenden Gold«, erzählt Johanna.
»Weiter, weiter!«
Und Johanna erzählt vom langen Schlaf der Bernsteinfrau auf dem Meeresgrund, bis die Hände der liebenden Meeresprinzessin Jurate sie finden und sie zum Teil der Mauern eines prachtvollen Schlosses aus Bernstein wird. Vom Wüten des Meeresgottes berichtet sie und vom Donnern und Getöse, das die fallenden Mauern im Meer erzeugen. »Als sich der Sturm endlich legt, sind die Bernsteine über den ganzen Meeresboden verstreut. Manchmal hebt eine Welle einen von ihnen auf und trägt ihn an den Strand. Andere werden vom Tang überwachsen, von hungrigen Fischen verschluckt.«
»Nicht unsere Bernsteinfrau«, hört sie die Stimme von Charlotte flüstern.
»Ein Fisch mit rotem Maul kostet auch unsere Bernsteinfrau«, erzählt Johanna weiter, denn auf einmal fügt sich der verhaltene Klang von Charlottes Stimme in die vielen sanften und Bilder erzeugenden Geräusche in ihrem Kopf. »Aber sie ist zu groß für ihn, und deshalb spuckt er sie wieder aus. Ein samländischer Fischer findet sie im feuchten Sand – Skurdas.«
»Weiter, erzähl weiter, Johanna!« Und Johanna, ganz erfüllt von dem Warmen, dem Glatten, dem schimmernd Goldenen in ihrer Hand, erzählt.
(um 1400 n. Chr.)
Es gibt nichts, was so lebendig ist wie der Sand, den Skurdas, der Fischer, auf dem Weg zum Wasser unter seinen bloßen Füßen, nein, am ganzen Leib spürt. Der kalte Wind, der von Norden kommt, trägt nadelscharfe kleine Geschosse heran, die seine Haut ritzen, in seinen Augen brennen und sich in seinem Bart verfangen. Der Mann zieht den Kittel aus grobem Leinen am Hals enger zusammen und dreht dem Wind den Rücken zu. Dieser Sand, denkt er, gibt nicht einmal dann Ruhe, wenn der Wind im Meer schläft und die Sonne glüht und der Himmel blau über dem Sand liegt. Seine Körnchen rollen fort und fort, er fließt zwischen die harten Gräser und unter das struppige Strauchwerk gleich einem Schleier. Er legt sich in Wellen kreuz und quer und zieht sein helles Tuch bis in den Föhrenwald hinter den Dünen, wo die Baumstämme manchmal leuchten wie der Bernstein vom Grund des Meeres.
In Skurdas' Ohren dröhnen der Wind und das Meer. Der Wind schlägt schaumige Wellen gegen die Küste. Sie belecken emsig den Strand und lassen silbrig schillernde Quallen und stinkendes Grünzeug auf dem Sand zurück. In einer Mulde, vom Wind gegraben, entdeckt Skurdas eine blühende Sanddistel, eine verzauberte Blume, eine blaue Blüte wie ein Mädchenauge zwischen blassblauen Blättern, die breit sind und glatt und Dornen tragen. Und er denkt an Jenna, sein junges Weib, deren Leib sich zum ersten Mal wölbt und die in der Hütte auf ihn wartet. Er denkt auch an Nuscha, Jennas ältere Schwester, die er mitgeheiratet hat, um den Ältesten im Familienverband nicht zu verärgern. Und weil fast jeder Samländer zwei Frauen hat, heimlich naturgemäß, denn die Priester in den Kirchen und die Herren Ordensritter auf den Burgen mit der vom schwarzen Kreuz geteilten weißen Fahne an den Türmen reden schnell von Sünde und Gotteslästerung. An Nuscha denkt Skurdas also, die er nicht anrührt, auch wenn sie ihm schöne Augen macht, denn er liebt doch nur Jenna, sein Weib.
Er nähert sich dem Wasser, und der Sand unter seinen nackten Füßen wird kühl und feucht. Er weicht geschickt den angeschwemmten Quallenkörpern aus. Manche von ihnen sind auch im Tod noch giftig und treiben ihre schleimig-klebrigen Fäden in die Haut. In seinen Augen brennen vom Wind getriebene Sandkörner, und vorsichtig reibt er seine Lider, bis der Schmerz sich auflöst. Aufmerksam blickt Skurdas sich um. Das Meer hebt an solch einem stürmischen Tag nicht nur Wogen, Quallen und Schlangenähnliches an den Strand, sondern auch den Bernstein. Es wirbelt ihn vom Meeresboden auf, trägt ihn hoch und höher, trägt ihn durchs grüne Unterwasserlicht und durch Heringsschwärme ins Lichte und Blaue und spuckt ihn zusammen mit rosa gefärbtem Muschelgehäuse und sterbenden Seesternen aus.
Skurdas sieht zweierlei gleichzeitig – ein großes Bernsteinstück, das seine Hände magisch anzieht, mattgelb, seltsam geformt, von zerplatzenden Schaumblasen bedeckt, vom auflaufenden Wasser bespült, im Sand zu seinen Füßen, und zwei Reiter am Rand der brausenden, tosenden See rasch auf sich zukommen. Ihre weißen Mäntel blähen sich im Wind über den Kutten mit dem schwarzen Kreuz, unter denen sie ihre Kettenhemden verbergen. Und obwohl er weiß, dass die Ordensritter auch ihn sehen und ihn als Dieb, dem lange Strafe droht, überführen werden, muss er sich einfach nach dem Bernstein bücken und ihn aufheben und in die Tasche seines Kittels stecken. Schon sind die Reiter bei ihm und lassen ihre Pferde mit nervös schlagenden Hufen steigen, bevor sie aus dem Sattel gleiten. Was er da gefunden und versteckt habe, wird Skurdas gefragt. Er holt mit einer Hand aus seiner Tasche ein Messerchen, eine Spindel, mit der er seine Netze flickt, ein ledernes Band, ein gebogenes Stück Metall, eine schöne Muschelschale, ein zerfetztes Tuch, das er sich bei sonnigem Wetter um den Hals bindet, damit es den Schweiß auffängt, und noch einige andere Sachen. Das alles breitet er auf dem feuchten Sand vor den beiden Ordensrittern aus. Den Bernstein aber verbirgt er in seiner anderen Hand. Skurdas ist ein großer und starker Mann mit großen, groben Händen, die fest zupacken können und das, was sie halten, nicht so schnell wieder loslassen. Diese Stärke wissen vor allem die Frauen auf dem Hof des letzten samländischen Fürsten zu schätzen, der im Wald in der Nähe seines Dorfes liegt und auf dem seit langem die Männer fehlen.
Der ältere der beiden Ordensritter zeigt mit der Schwertspitze auf Skurdas.
»Was hast du da in deiner Hand?«
»Nichts, Herr.« Skurdas blickt zu Boden, blickt auf die Habseligkeiten, die er aus seinen Kitteltaschen auf dem Sand ausgebreitet hat. »Ich besitze nichts, ich bin ein einfacher Fischer.«
»Mach deine Hand auf, Mann!«
»Es ist nichts«, versichert Skurdas noch einmal und presst die Finger noch fester zusammen.
»Warum machst du dann deine Hand nicht auf?«
Skurdas zerbeißt sich die Lippe; er spürt das warme Blut an seinem Kinn.
»Es ist nur eine große Muschel, eine schöne Muschel. Ich will sie meinem Weib bringen. Sie erwartet ein Kind und wird sich über die Muschel freuen.«
Sie glauben ihm nicht. Wie könnten sie das auch, haben sie doch gesehen, wie er den Bernstein aufhob.
Der größere der beiden Ritter versucht vergeblich Skurdas’ Finger um das Bernsteinstück zu lösen.
»Wir nehmen dich mit.«
Sie binden ihm die Hände auf dem Rücken zusammen, befestigen das Seil am Sattel und lassen ihn bis nach Lochstedt auf die Burg des Ordens hinter ihren Pferden herlaufen. Klotzig, erbaut aus Feldsteinen, erhebt sie sich über dem Meer. Ihre Kellergewölbe, in die man den Bernsteindieb führt, sind kalt und abweisend trotz der zahlreichen Fackeln, deren Licht sich in hoch aufgehäuftem Bernstein verfängt. Auch da wollen sich die Finger des Fischers nicht öffnen lassen. Er stöhnt oder schreit nicht, als sie ihm schließlich sogar einen Knüppel zwischen die Finger zu zwängen versuchen. Er sitzt stumm auf dem Schemel, den sie ihm untergeschoben haben, und starrt auf den Bernsteinmeister des Deutschritterordens, der einen Bernstein nach dem anderen von den verschieden großen Haufen auf dem Tisch nimmt, sie zwischen seinen Fingern dreht und wendet und auf eine Waage legt und dann Zahlen in ein großes Buch einträgt. Der Bernsteinmeister ist ein kräftiger Mann mit einem langen Bart und buschigen Augenbrauen unter dem haarlosen Schädel. Auch er trägt die weiße, vom schwarzen Kreuz geteilte Kleidung der Ordensritter, aber kein Panzerhemd darunter. An seinem rechten Zeigefinger funkelt ein großer ovaler, in Silber gefasster, fast roter Bernstein, der, wie Skurdas weiß, Zeichen seines hohen Amtes im ganzen Land ist.
»Du wirst mir den Stein geben müssen«, hört der Samländer den Mann gleichmütig sagen. Er streift den Fischer mit einem kurzen Blick. »Und wenn ich dir die Hand abhacken muss.«
Und Skurdas denkt an Jenna und ihren sanften Körper mit den rundlichen Formen, denen ähnlich, die er jetzt klein und ein wenig rau in seiner Hand spürt. »Also wird mein Kind lange ohne seinen Vater aufwachsen.«
»Ich fürchte keine Strafe und auch den Tod nicht«, erklärt er mit fester Stimme. Kein Samländer fürchtet den Tod noch, nachdem sich ihr letzter Fürst lieber selbst mitsamt seinen Söhnen und Enkeln und den Männern auf seinem Hof getötet hat, als sich den Christenmenschen zu ergeben.
»Ich weiß, was eure Götter euch Heiden versprechen.« Der Bernsteinmeister schiebt die weiten Ärmel seiner weißen Kutte noch mehr zurück und wiegt einen Bernstein nach dem anderen ab. Die Haut seiner Arme ist blass und fast haarlos, die Handrücken sind von dicken blauen Adern durchzogen. »Aber auch du wirst nur vor einem einzigen, dem wahren Gott Rechenschaft über dein Leben ablegen müssen, vergiss das nicht.«
Er dreht abermals den Kopf, um Skurdas anzusehen. Furchtlos erwidert der Samländer den prüfenden Blick aus Augen, die die Farbe von brüchigem Eis haben.
»Ihr Pruzzen seid doch die schlimmsten und unbändigsten Heiden, denen ich je begegnet bin. Und von all den Gauen in eurem Land ist das Samland eines der widerspenstigsten Gebiete.« Er beugt sich erneut über den Bernsteinhaufen auf dem Tisch. »Aber wir werden euch das Kreuz bald endgültig brechen.« Skurdas erinnert sich an das, was die Alten, die noch den Fürsten gedient haben, und die Priester in den Dörfern erzählen. Und er denkt daran, dass er eine Strafe auferlegt bekommt, ob er nun schweigt oder redet. An Mut hat es ihm noch nie gemangelt.
»An unserem Glauben sind die Missionare Eures Ordens schon vor langer Zeit gescheitert, Herr. Und solange es uns Samländer gibt, wird kein Mann, kein Weib, kein Kind unsere Priester und Alten Haine gegen Eure Ordensritter und Kirchen eintauschen.«
Kalt ist der Blick des anderen Mannes.
»Auch dein heidnisches Volk wird lernen müssen, dass es nur eine einzige und gültige Religion auf dieser Welt gibt. Und nur einen Gott.«
Skurdas ist ein friedliebender Mann, aber jetzt spürt er, glühenden Zorn in sich aufsteigen. Der große Bernstein, den er fest umklammert hält, scheint diese Glut mit ihm zu teilen. Er wird heiß und heißer, ohne aber die Haut seiner Hand zu verbrennen.
»Warum wollt Ihr, dass wir unseren Glauben gegen den Euren eintauschen?«, fragt Skurdas scharf. »Wir sind einfache, friedliebende und gastfreundliche Menschen. Wir waren bis zur Ankunft Eurer Ordensritter freie Bauern, Händler oder Fischer. Unsere Äcker, Wiesen und Netze haben uns gut ernährt. Wir lebten im Einklang mit der Natur unseres Landes.« Seine Stimme wird rau. »Ja, wir lebten gut mit unseren eigenen Gesetzen und mit unseren Göttern. Nun nehmt Ihr uns im Namen Eures Gottes alles – unsere Freiheit, unser Leben und sogar unsere Götter.« Und den Bernstein, denkt er und umklammert das glühende Stück in seiner Hand noch fester.