Die Schande von Bern - Daniel Petersen - E-Book

Die Schande von Bern E-Book

Daniel Petersen

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Beschreibung

Schleswig-Holstein. Nach einer fröhlichen Nacht wachen drei schon ältere Jungs am See auf. Zufällig ist der 70. Jahrestag des WM-Endspiels in Bern, und einem von ihnen fällt ein, dass es da ein Bismarck zugeschriebenes Bonmot gibt: "Sollte die Welt untergehen, ziehe ich nach Mecklenburg, denn dort passiert alles 70 Jahre später." Also organisieren sie sich einen tragbaren Fernseher und fahren nach drüben, um das Spiel aller Spiele live zu sehen. Doch wer den Fußball kennt, weiß, dass man sich auf keinen Spieler wirklich verlassen kann. Nicht mal auf Helmut Rahn. Und wer mühsam geflochtene Zeitlinien wieder aufdröselt, der verheddert sich schnell...

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"Some people think football is a matter of life and death.

I don't like that attitude.

I can assure them it is much more serious than that."

Bill Shankly, 1959 - 74 Trainer des FC Liverpool

Über den Autor

Daniel Petersen wurde 1968 geboren. Er studierte Film an der New York University sowie Philosophie und Filmwissenschaft in Hamburg und Lüneburg. Nebenher vertrieb er sich die Zeit als Cinephiler, Drehbuchlektor, Übersetzer, Drehbuchautor, Filmkritiker, Filmmacher, Synchronschreiber und überhaupt freier Autor. Selbstredend weitgehend erfolglos. Er lebt in Hamburg und auf dem Saturn.

Dieses Buch basiert auf dem Kurzfilm "Die Schande von München" desselben Autors, zu sehen auf seiner Vimeo-Seite.

Inhaltsverzeichnis

Indikativ Präsens

Indikativ Perfekt

Konjunktiv Präsens

Konjunktiv Imperfekt

Konjunktiv Plusquamperfekt

Futur III

Paralog

Indikativ Präsens

Eine Brise streichelt sanft seinen linken Nasenflügel, kühlt angenehm die Schweißperlen am Kopfhaaransatz. Seine Finger greifen in den kühlen Wüstensand, und ein schwellender Geschmack von verbrannter Wurst und Gorgonzola breitet sich in seinem trockenen Mund aus, als der Eisenhammer erneut auf seinen Stirnlappen niederfährt und einen sich pochend aufblähenden Wumms hinterlässt. Gerade als der riesenhafte Zwerg den schweren Hammer über seinen Kopf hievt, um ein weiteres Mal zuzuschlagen, dreht er seinen Kopf zur Seite. Mit einem abgemummten Wump schlägt der Hammer knapp neben seinem Ohr in den Sand. Aufsprengende Körner prasseln auf sein Haar, das Erzittern des Bodens durchweckt seinen Körper. Jan schlägt die Augen auf.

Ungelenk setzt er sich auf, sieht sich träge fokussierend um. Ein unbestimmt gekleideter, lässiger junger Mann, in seinen Dreißigern. "Alter Schwede!" entfährt es ihm. Ein Strand, ein See. Eine Feuerstelle. Seine Füße in einem Schlafsack. Drei Kästen Bier. Leere Flaschen. Eine abgegriffene Boombox liegt halb versunken im Sand, daneben eine Gitarre. Zwei dunkle Raupen liegen neben ihm. Eine grunzt. Der pochende Druck in seiner Stirn hält an.

Die grunzende Raupe rappelt sich auf, reibt sich die Augen, stöhnt markerschütternd, "Mannmannmann." Jan dreht sich um. Es ist Jörg, in seinem Schlafsack sitzend und verblasen dreinschauend. Ein lässiger junger Mann im Totenkopfpulli, unbestimmt in seinen Dreißigern.

"Dir kommen ja Blasen ausm Kopf," bemerkt Jan verblasen.

Jörg kuckt nach oben, sieht nichts. "Ich seh nix".

"Na, jetzt sind sie ja auch hinten."

Der See dümpelt stumm. In sich stöhnend blicken die drei darüber hinweg.

Jan rührt sich. "Ich hatte grade einen echt schrägen Traum mit einem Zwerg."

Jörg zweifelt. "Ach komm. Erzähl keine Soße. Niemand hat jemals von einem Zwerg geträumt. Noch nicht mal Zwerge träumen von Zwergen."

"Woher weißt du das denn?"

"Hat ein Zwerg gesagt. In sonem Film. Hab vergessen wie der heißt."

"Der Zwerg?"

"Der Film. Das war dieser Film über Dreharbeiten, und der sollte in einer Traumsequenz einen Zwerg spielen und hat sich beschwert, dass im Film in Träumen immer Zwerge auftauchen, obwohl eigentlich nie jemand von Zwergen träumt. Noch nicht mal Zwerge."

Jan kann seine Aufmerksamkeit nicht vom See abwenden. "Ein echter Zwerg?"

"Ja. Naja, ein Schauspieler halt. Ein kleiner. Der musste das sagen."

"Und wie hieß der?"

Jörg, dessen Stirnhöhle schon jetzt von der Unterhaltung überfordert ist, stöhnt. "Keine Ahnung."

Jan untersucht seine Taschen, durchwühlt den Sand um sich herum. "Mein Handy ist weg." Neben ihm wühlt sich die dritte Raupe knarzend herum. "Frag ihn doch."

Jörg dreht sich zur Seite, stupst die Raupe sanft mit seiner Faust an. "Öööy. Wach ma auf." Die Raupe beginnt zu röcheln, zu knurren und sich zu winden.

Und zu sprechen. "Das war dieser Film mit Steve Buscemi. Aus den Neunzigern," brummt es noch ungestalt herauf. "Und der Zwerg war Tyrion Lannister." Ein kräftiger großer Körper hebt sich in die Senkrechte, verwuschelte dunkle Haare, zuppeliger Bart. Giovanni. Ein unbestimmt gekleideter, lässiger junger Mann, weitläufig in seinen Dreißigern. Er zieht die Gitarre über den Sand schleifend zu sich hin, greift in seine Jackentasche, holt eine Zigarette heraus, zündet sie an, nimmt einen Zug, atmet einmal tief durch. "Peter Dinklage."

"Ach," sagt Jan. "Ich dachte immer der heißt Peter Dinklage."

"Nee," stöhnt Jörg. "Das wird aber Dinklage ausgesprochen."

"Quatsch," sagt Giovanni. "Bei der Grammy-Verleihung haben die das Dinklage ausgesprochen."

"Die wussten das vielleicht nicht und haben das einfach so abgelesen wie sie das sagen würden. Er selber nennt sich jedenfalls Dinklage."

Jan überlegt. "Hat der dann auch den, äh, Kleinwüchsigen in dem einen Video von der Bloodhound Gang gespielt?"

"Ja," sagt Jörg wissend.

"Nee," sagt Giovanni wissend.

"Doch."

"Nö. Das dachten auch viele, aber er war das nicht. Sieht ganz anders aus. Jünger. Und das Video war später."

"Den erkennt man doch gar nicht, der hatte das Gesicht weiß geschminkt."

"Eben. Und Dinklage hat selber gesagt, dass er das nicht war."

"Dinklage!"

"Kaum spielt irgendwo ein Zwerg mit, denken alle er war das."

"Naja!" Jörg fühlt sich ertappt. "So viele kleinwüchsige Profischauspieler gibt es nun auch nicht."

"Aber schon ein paar," mischt Jan sich ein. "Z.B. den, der bei Harry Potter mitgespielt hat. Den Zwerg in der Bank."

"Kobold. Der musste aber auch zwei spielen," weiß Giovanni.

"Wie?"

"Griphook und Professor Flitwick." Er hustet knapp und schnorchelt seine Nase frei. "Soviele gibts halt doch nicht."

"Naja, aber wenigstens noch den, der in Infinity War diesen Riesenzwerg gespielt hat. Der Thor seinen neuen Hammer schmiedet."

"Das war allerdings Dinklage."

"Dinklage."

"Hm, stimmt," gibt Jan zu. Denkende Stille senkt sich. "Hatten wir diese Diskussion irgendwie gestern abend nicht auch schon mal?"

Giovanni kneift die Augen zu. "Kann sein."

"Vielleicht hab ich deswegen von nem Zwerg geträumt."

"War ich da auch schon meiner Meinung?" fragt Jörg vorsichtig.

"Weiß ich nicht mehr."

"Ganz sicher," sagt Jan bestimmt. Er pult sich beiläufig Sandkörner aus dem Mund, streift sie an seiner Hose ab. Dann kräuselt er die Stirn. "Haben wir heute noch was vor?"

Jörg war gerade froh, nichts mehr sagen zu müssen. "Welcher Tag ist denn heute?"

"Sommer. Eigentlich." Jan sieht nach oben, in den morgendlich trüben Julihimmel über Norddeutschland. "Keine Ahnung. Frag ihn, der weiß doch alles."

Jörg dreht sich zu Giovanni. "Welcher ist heute?"

"Wieso das denn?!"

"Sach einfach!"

Giovanni nimmt einen tiefen Zug und kuckt auf seine Armbanduhr. "4. Juli." Kratzend dengelt er auf der Gitarre wie Jimi Hendrix die amerikanische Nationalhymne. Dann betrachtet er den See.

Jörg dagegen lässt nicht locker. "Und welches Jahr?"

Giovanni zuckt beiläufig mit den Achseln. "Steht hier nicht." Er nimmt einen Zug. "Kuck doch aufs Bier." Jan versucht sichtlich, sich darauf einen Reim zu machen. Jörg dagegen nimmt stumm eine Bierflasche und liest vom hinteren Etikett ab: "Haltbar bis 6/25."

Giovanni nickt sinnierend. "Dann ist jetzt so 2024."

Jörg denkt weiter. "4. Juli 2024…"

Giovanni rappelt sich hoch, wandert mit Gitarre nach vorne zum See und strullt in den Schilf. Irgendwo ertönt dumpf der Ritt der Walküren. "Mein Handy!" ruft Jan und wühlt sich durch den Sand. Das Klingeln hört auf. "Scheiße! Das war Carmen!"

"Dann ruft sie auch wieder an," meint Jörg. "Die lassen nicht locker."

Jan ist nicht im mindesten beruhigt, Jörg dagegen ganz woanders. "Wisst ihr was heute ist?"

"Der Tag, an dem mir der Himmel auf den Kopf fällt?" bemitleidet sich Jan, den Jörg souverän überhört.

"Heute vor siebzig Jahren was das Endspiel."

Giovanni, am Ufer harrend, fühlt sich wieder herausgefordert. "Welches!"

"Na das Wunder von Bern," doziert Jörg eher leidenschaftslos. "Unser Nationalfeiertag. Wir wurden Weltmeister und waren wieder wer."

Giovanni bleibt unbeeindruckt, während er abschüttelt und sich die Hände mit Seewasser abspült. "Na und? Trotzdem hatte euer Herberger unrecht. Kein Spiel dauert neunzig Minuten. Und erst im Sozialismus wird der Ball wirklich rund sein." Er dengelt die deutsche Nationalhymne über den stillen See.

"Ich hab es!" ruft Jan plötzlich, schüttelt den Sand aus seinem Handy und steckt es ein.

Der See plätschert kontemplativ vor sich hin. Giovanni dreht sich auffordernd zu ihm. "Wolltest du nicht eigentlich deine Freundin anrufen?"

Jan, verwundert dass ihm jemand zugehört hat, fühlt sich ertappt. "Naja, dann hatte ich überlegt… Was machen wir eigentlich hier?"

"Junggesellenabschied" bescheidet Jörg knapp.

Jan ist interessiert. "Echt? Wem seiner denn?"

"Na deiner." Jörg zögert kurz, aber es muss sein. "Du willst aus dem Hafen der Freundschaft ausfahren auf die sturmgepeitschte See der Ehe!"

Die beiden sehen sich an, als wäre es ein altes Thema zwischen ihnen. "Mannmannmann," windet Jan sich heraus. "Deswegen. Und wann?"

"Nächsten Freitag."

"Und was war heute nochmal?"

"Donnerstag."

"So'n Scheiß"

"Das kannst du aber laut sagen."

"Neiiiin!" Jans Augen weiten sich im Schrecken. "Ich glaub wir waren gestern abend noch verabredet!" Verzweifelt und in Erwartung des drohenden Unwetters sackt er in sich zusammen. Giovanni wandert zurück und lässt sich sackend fallen.

Jörg kommt aus dem Sinnieren nicht heraus. "Sagt mal, ihr kennt doch den Satz: Wenn die Welt untergeht, dann geh nach Mecklenburg, denn da passiert alles siebzig Jahre später?"

Jan und Giovanni sehen sich fragend an. "Nee."

Das ficht Jörg nicht an. "Egal. Ist ein Zitat von Bismarck. Und da dachte ich, wir könnten mal rüberfahren."

Jan sieht einen Silberstreif am Horizont. "Du meinst damit ich erst in siebzig Jahren heirate? Auch ne Variante." Er hält ihm sein Handy hin. "Erklärst du ihr das?"

Jörg geht nicht auf ihn ein. "Nee, wir kucken das Spiel aller Spiele! Live!"

"Ich denk das war in Bern," mischt Giovanni sich ein, doch Jörg wird für seine Begriffe beinahe aufgeregt.

"Ja. Nein. Im Fernsehen! Wir nehmen einen Fernseher mit, setzen uns da ans Meer oder so und kucken das Spiel!"

Das muss erstmal einsinken. "Genau siebzig? Ich mein, fünfzig, hundert oder so, fünfundsiebzig, klar," grübelt Jan. "Aber siebzig? So krumm?"

"Naja, besser als 9-einhalb, 33-eindrittel oder 42." Giovannis Miene freundet sich mit der Idee an, Jan bleibt skeptisch.

"Klingt ja super, aber… ich kann nicht. Ich muss nach Hause."Er hält sein Handy hoch. "Ich war jetzt verabredet."

Die drei sitzen im Sand. "Hatten wir nicht Saft dabei?" fragt Jan.

"Wolltest du nicht Carmen anrufen?" fragt Jörg.

"Ja. Aber erstmal brauch ich Saft." Jan dreht sich zu Giovanni. "Kuck doch mal im Rucksack." Jan wartet. "Giovanni?"

Giovanni, der seinen Namen hört, erwacht brummend wieder zum Leben. Er durchsucht den Rucksack neben sich. "Nix."

"Und daneben?"

"Auch nix. Ah. Da." Giovanni nimmt einen Tetrapak Grapefruitsaft, der neben dem Rucksack liegt, und beäugt ihn skeptisch. Er schraubt ihn auf, nimmt einen tiefen Schluck, setzt ihn wieder ab und schraubt zu. "Warm. Lecker." Er sieht rüber zu Jan. "Willst du?"

"Danke", sagt Jan. "Ruf ich sie halt später an."

Jörg runzelt die Brauen. "Was hat das damit zu tun?"

"Ey, ich riech doch bestimmt nach Alkohol und Zigaretten," sagt Jan. "Dann merkt sie sofort was los ist."

"Hast recht," raunt Jörg. "Versteck dich lieber noch ein paar Tage!"

Es fängt an zu regnen. Giovanni sieht nach oben. "Es fängt an zu regnen."

Die Jungs fahren in Jans uraltem Ford Fiesta durch die Stadt. Bis auf Jan, der immer mal hustet und stöhnt, sind alle still und sehen sich die vorbeihuschenden Häuser an. Und die Läden, Vorgärten, Baustellen, bemalten Hauswände. An einer Ampel starrt Jörg minutenlang auf die monochrome Seite eines Lastwagens. Oder so ungefähr, jedenfalls wird von hinten gehupt. Jan schreckt hoch und fährt wuppend weiter.

In einer ruhigen Nebenstraße hält Jan an. Nach kurzer Pause fragt er, "Jörg?"

Jörg sieht aus dem Fenster. "Hier wohn ich nicht." Er kuckt unschuldig. "Hier wohnen meine Nachbarn."

Die Zeit für schlaue Witze ist vorbei. "Steig aus!"

Jörg steigt aus, Giovanni, mit der Gitarre ächzend, ebenfalls. "Ich geh noch ein paar Schritte."

"Na denn. Bis nachher!" Jan fährt wieder los. Die beiden sehen ihm bedrömelt hinterher.

Jörg schüttelt den Kopf. "Wieso bis nachher?"

Giovanni auch. "Und wieso kann der einglich schon wieder fahren?" Er geht los. "Kommst du?"

"Ich denk du gehst nach Hause?" fragt Jörg verwirrt.

"Quatsch. Sonst wär er doch mitgekommen. Aber er muss erstmal nach Hause, sonst wird das nie was."

Jan schlurft die Treppe zu seiner Wohnung hoch. Zwei langhaarige Schluffis kommen ihm entgegen, ein paar Jahre jünger als er. Philipp und Jonas. Carmens Brüder.

"Moin. Was macht ihr denn hier?" wundert sich Jan und macht ihnen Platz. Im vorbeigehen tappt Philipp ihm mit der Hand auf die Schulter. "Alter, du will ich jetzt echt nicht sein," und geht ansonsten wortlos weiter. Jonas hinter ihm schüttelt warnend den Kopf. "An deiner Stelle würd ich sowas von nicht nach oben gehen!", und folgt Philipp. Auf dem Treppenabsatz dreht Philipp sich nochmal um. "Aber ruf immer an wenn du Stress hast. Wir kennen ja meine Schwester. Nur weil sie dich jetzt in Ketten legt heißt es ja nicht, dass du ihr ausgeliefert sein musst."

Jan, der noch dort steht, nickt etwas verstört. "Alles klar, äh, danke…"

Jonas reckt die Faust zum Gruße. "No pasaràn!" Die Brüder tappen die Treppe hinunter.

Jan reckt beiläufig zurück, murmelt "venceremos". Ein paar Stufen später dreht er sich um. "Warum wart Ihr gestern eigentlich nicht dabei?"

"Da waren wir bei Korn und Static-X im Stadtpark!" sagt Philip ohne nachzudenken oder sich umzudrehen.

"Das war vor über einer Woche. Da waren wir zusammen!" mäkelt Jan.

"Echt? Stimmt," meint Jonas versonnen. "War aber geil." Und schlurft weiter.

Jan grübelt, setzt an, sackt wieder zurück. Setzt wieder an. "Sagt mal, kennt ihr eigentlich auch diesen Spruch von Bismarck…" Da klappt die Haustür unten ins Schloss. Vermutlich nicht.

Vorsichtig, als würde er einbrechen, dreht Jan den Schlüssel in seiner Wohnungstür. Sie klappt auf und knarrt nur ganz wenig, als er sie aufdrückt. Beinahe erhaben betritt er den Flur, sieht sich um. Nichts. Nur Sonnenblumen in einer großen bunten Vase im Durchgang und Poster an den Wänden, die von grünem Aufbruch und Demonstrationen gegen Kriege in Kosovo, Irak und Afghanistan künden. Ein paar Schritte weiter fällt die wiederauflebende Sonne durchs Fenster herein und wärmt ein stilles Wohnzimmer. Dieser Augenblick friedfertiger Gestimmtheit, wünscht er sich, möge verharren.

Jan öffnet den Mund, räuspert sich kurz, und dann. "Schatz! Ich bin wieder da!"

Aus der anderen Richtung rauscht ein Wust an Ungebärdigem heran, farbenfrohe Kleidung, lange wuschelige Haare, klappernde bunte Armringe. Öko, aber ohne trutschig zu sein. Carmen. Sie fliegt ihm in die Arme.

"Du Penner! Warum hast du nicht zurückgerufen!? Langsam hab ich mir echt Sorgen gemacht!"

Jan fängt sie auf, sichtlich erleichtert, vorerst anscheinend keine gescheuert zu kriegen. "Ich bin doch jetzt da!"

Carmen drückt ihn von sich, hält ihn mit beiden Armen fest auf Abstand, um ihm direkt ins Gesicht sehen zu können. "Ja! Jetzt! Euer 'Iron-Boy-Rennen' war gestern nachmittag! Ich dachte schon Ihr wärt von nem Tiger gefressen oder so. Ich hab auch Hangover gesehen!"

Jan stutzt. "Du wusstest davon?"

Sie versucht, nicht zu abschätzig zu klingen. "Jaaa, das hattest du mir erzählt…" Sie hebt die Augenbrauen. "Einen Kasten leeren, kiffen, und was war das dritte noch?"

Jan fühlt sich verstanden. "Dabei um den See laufen." Carmen gestikuliert, 'eben!' Er ringt um eine passende Reaktion. "Und wenn du das gewusst hast, warum bist du dann sauer??"

"Bin ich doch gar nicht. Nicht in dem Sinne…" Ihre Augen verengen sich. "Aber wieso hat das so lange gedauert!? Du hattest versprochen, nicht so spät zu kommen!"

Jan fühlt sich wieder in die Defensive rutschen. "Naja, du weißt doch wie das ist. Eins kommt zum anderen…" Er sieht sie dringend an, aber sie erlöst ihn nicht. "…und dann sind zwei da." Sie ist weiterhin nicht überzeugt. Jan gibt auf. "Naja. Als wir das erste Mal im Ziel waren, haben wir festgestellt, dass wir nur einen Flensburger-Kasten hatten. Und keinen Jever. Das Rennen musste wiederholt werden!"

Für Jan liegt der Fall auf der Hand. Für Carmen nicht. Unwissen schwächt, er sieht sich wachsen. "24 gegenüber 20 Flaschen? Klare Wettbewerbsverzerrung!"

Carmen erkennt widerstrebend die zwingende Logik in dem Ganzen. "Und du hast es nicht für nötig gehalten, mir bescheid zu sagen? Auf die Gefahr hin, dass ich es nicht verstehen könnte, wolltest du mich nicht überfordern?"

"Naja, hab ich ja. Wollte ich. Aber im Laden war kein Empfang. Und dann doch, aber dann ging's wieder los. Dann verstehst du es also?" wagt Jan eine vorsichtige Ereichterung.

"Dann kann ich ja froh sein, dass Ihr das rechtzeitig wieder hingekriegt habt!"

Jan erkennt die Tragweite, wiegelt ab. "Carmen, die Trauung ist Freitag!"

"Das heißt, die Polizeihunde hätten eure Leichen noch vorher gefunden? Mit 4,0 Promille und dem Gesicht im Matsch?"

"Naja, es gab mal einen Russen, der mit über –" Reaktionsschnell erkennt Jan an Carmens Miene, dass ihr derzeit nicht an Korrekturen liegt, und wird süßlich, eine Hintertür in Sicht. "Es tut mir so leid, mein Schlänglein! Und wie war dein Jungfernabschied? Oder wie das dann heißt?"

"Och ganz, ganz schön," schwärmt Carmen abrupt. "Wir haben den ganzen Nachmittag Birkenstocktee getrunken, Friedenslieder gesungen und Topflappen gehäkelt."

"Wie schön. Zeig doch mal!"

Ebenso abrupt verfinstert sich Carmens Miene, und sie schubst Jan sportlich gegen die Wand. "Hast du sie noch alle!? Das glaubst du auch noch?! Was glaubst du Penner wen du heiratest, Katrin Göring-Eckardt??"

"Aber das hast du doch früher auch gemacht?"

"Stricken für den Frieden? Ja! Mit dreizehn! Arschloch!"

Jan sieht Land. "Ja, das weiß ich noch. Das war echt süß."

"Weißt du überhaupt nicht mehr!", watscht Carmen mit sanfter Verachtung zurück. "Du hast mich in der ganzen Schulzeit nicht einmal mit dem Arsch angesehen. Ihr wart viel zu cool für die Ökos aus der Parallelklasse!" Und piksend, "wo war dein Club der toten Hosen eigentlich gestern?"

"Also, Jörg war da!", rechtfertigt sich Jan, weiß aber was sie meint.

Sie auch. "Der war ja auch Punk und kein Schnösel."

"Ich war kein Schnösel!", versucht es Jan.

"Klar. Und ich kein Öko. Aber wo waren die nun?"

"Die anderen… pfft. Ist ja nicht so einfach. Die sind irgendwo und haben viel zu tun."

Langsam lässt Carmen locker. "Naja, genau wie wir." Sie tippt auf die Hochzeitsanzeige an der Pinnwand: Fotos von Jan und Carmen, jetzt und früher. Darunter steht in Schreibmaschinenlettern: 12 Jahre Widerstand gebrochen – Carmen und Jan werden zusammengelegt!

Halb leutselig, halb versonnen streicht er über die Fotos. "Ach siehst du, grad war mir gar kein Unterschied aufgefallen. Du warst damals genauso schön wie jetzt..."

Carmen fühlt sich fast geschmeichelt, kann sich aber gerade noch zusammenreißen. "Genau," grient sie. "Deswegen hast du mich damals in Dänemark auch links liegen lassen und stattdessen Katrin Wichsmann umschwänzelt."

"Wichmann."

"Ach wirklich?" Sie hat sich wieder im Griff. "Das weißt du ja noch ganz genau!"

Mist, denkt Jan eindeutig. "Naja, du warst halt immer so forsch, und ich hatte mich lange nicht getraut dir –"

"Forsch?" Sie lässt ihn vom Haken. "Na dann komm mal mit, Stierchen, wir haben vor der Trauung noch einiges zu erledigen!" Versöhnlich lächelnd geht sie ins nun sonnendurchstrahlte Wohnzimmer.

Das Gewitter im Flur ist weitergezogen, Jan dackelt erwartungsvoll hinterher. "Äh, sehr gern, aber ich dachte man soll so kurz vor der Hochzeitsnacht nicht…"

Carmen grinst amüsiert. "Was?? Naja, poppen für den Frieden ist auch lange vorbei. Nix da, wir müssen die Absagen durchgehen, die endgültige Sitzordnung machen und dem Catering die korrigierte Bestellmenge durchgeben! Und danach den Rest! Na los!"

"Das hast du noch nicht gemacht?"

"Nein, das habe ich noch nicht gemacht," pikst Carmen. "Wer sonst?" Sie lässt sich aufs Sofa fluffen, nimmt einen Stapel Zettel vom Tisch und flattert auffordernd mit ihnen herum. "Na los, setz dich! Keine Ausreden mehr!"

Jan setzt sich widerstrebend linkisch daneben, als hätte er Rücken. "Also," doziert sie und zeigt dazu diverse Skizzen. "Wie die siehst – und sowieso weißt – ist die Scheune sehr rechteckig, also hätten wir für die Tischanordnung folgende Varianten… das Schachtelkino… oder das lange Hufeisen."

Plötzlich ist Jan in seinem Element, stimmt freudig ein. "Der Hufeisenplan! Es hieß doch immer den gab's gar nicht, aber du hast ihn!"

Obwohl sie es versucht, kann Carmen ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Jan grinst in ein unsichtbares Publikum. "Ich liebe es wenn ein Hufeisenplan funktioniert! Das war doch Scharping, mit einer dicken Zigarre im Mund…"

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. "Aber glaub ja nicht dass du dich damit aus der Affäre scherzen kannst!" Sie wiegt provokant den Stapel Papiere in den Händen. "Hätten wir gestern angefangen, wären wir jetzt bald durch, aber so…"

Jörg und Giovanni liegen auf einem durchgelegenen Sofa und einem durchgesessenen Sessel herum, jeder mit einer warmen Knolle Astra auf der Lehne. Jörgs Wände sind voll mit historischen Postern: Irakkriegsdemo, Occupy Wallstreet, Tourneeplakate: UK Subs, New Model Army, Bad Religion. Und groß in der Mitte, wie das große Kreuzigungsbild über einem Altar, das Plakat von dem Fan, der verzweifelt auf den vollgemüllten Stufen des Stehplatzbereichs sitzt und von seinem Kumpel getröstet wird, darunter der Satz: Der FC St. Pauli ist schuld, dass ich so bin. Ein Bücherregal an der Nebenwand quillt auf den Boden über, wo schon CDs und Vinylplatten umherliegen. Giovanni zupft gedankenverloren aber virtuos auf seiner Gitarre.

"Und, was machen wir jetzt?" bricht Jörg die Stille.

Giovanni dengelt einen Riff zuende. "Ne Runde Skat?"

"Har har," lacht Jörg nicht. "Wenn Jan in Ketten liegt und du irgendwann abhaust, muss ich ja sowieso bald Patiencen legen. Warum kann nichts mal so bleiben wie es war?"

Weiß Giovanni auch nicht. "Wenn Inter in der Champions League dann gegen euch spielt, komm ich auf Besuch!"

"Bist du bescheuert? Und dann gehen wir zusammen hin und jubeln wenn der andere verliert?" Jörgs Kopf qualmt. "Dieses hirnverbrannte Konzept kann sich nur ne Frau ausgedacht haben! Ne verheiratete Frau."

"Dann komm ich halt wenn der HSV gegen uns Champions League spielt."

"Das ist ja noch unwahrscheinlicher. Wie lang ist das jetzt her? Über 20 Jahre?"

Giovanni nickt und nimmt einen Schluck. "Scheiß Inzaghi."

Mit mehr Elan wäre Jörg entsetzt. "Du warst für den HSV?"

"Na klar." Dreht sich die Erde um die Sonne? "Ich war zwar noch jung, aber gegen Juve…?"

"Aber nee, Alter, und dann trampen wir raus nach Stellingen oder was?" resigniert Jörg. "Das ist doch am Arsch der Welt. Dann tramp ich lieber nach Mailand."

Giovanni nimmt einen tieferen Schluck. "Ich weiß doch auch nicht was ich machen soll! Vielleicht brauchen die einen italienischen Liedermacher in Italien ja genausowenig wie in Deutschland. Aber vielleicht wartet da mein Riesenpublikum, und ich weiß es gar nicht?" Er trinkt die Flasche aus. "Jovanotti hätte genausogut ich sein können!"

"Als Schulkind? Und Rap?" Jörg zieht eine Augenbraue hoch.

"Dann halt Litfiba!"

"Als die anfingen warst du noch kleiner."

"Du weißt was ich meine. Man kann doch nicht ewig hier rumsitzen und drauf warten dass nichts passiert!" Wie du, fügt Giovannis Gesichtsausdruck hinzu, den Jörg ignoriert. "Und diese Revisionisten da unten sind solche Weicheier! 'In Gefahr und grosser Noth, Bringt der Mittel-Weg den Tod!'" fügt er entnervt hinzu. Da klingelt Jörgs Handy. Auf dem Schreibtisch.

Jörg stöhnt, rappelt sich auf und schlurft hin. "Hallo?" Er wirft einen vielsagenden Blick zu Giovanni. "Och, dies und das. Wie immer… Ja, Giovanni ist auch noch da. Noch." Sein Blick zu Giovanni wird dunkler. "Was ist denn?" Jörgs Züge hellen sich abrupt auf. "Was willst du??... Jetzt doch rübermachen, oder was?... Okay. Cool. Geht los, bis gleich!"

Jörg legt auf. "Er fängt an durchzuknallen. Seine Alte will ihn schon festschnallen, bevor sie offiziell seine Alte ist, er gibt uns in allem recht und will nochmal solange er noch darf!" Er strahlt. "Wir werden gebraucht!"

Giovanni legt die Gitarre beiseite. "Ein letztes Mal spontan sein? Geil!"

Tatendurstig trinken sie die warmen Knollen aus, verziehen das Gesicht, springen aus dem Sessel und rutschen an einer imaginären Stange ins Erdgeschoss.

Und sitzen wieder in Jans Fiesta, durch norddeutsche Landschaft donnernd. Links und rechts huschen Bäume vorbei, plattes Land dreht sich langsam in Gegenrichtung, sanfte Hügel in der Ferne lassen Hügelland erahnen. Giovanni starrt vor sich hin, ins Land hinter dem Hügelland. Jörg auch, nur in das andere.

"Sind wir nicht bald mal im Osten?"

"Weiß ich aunich. Die alten Grenzübergänge sehen ja alle aus wie ne pleitegegangene Tanke."

"Ja schon. Aber in den pleitegegangenen Tanken ist doch überall n Getränkemarkt eingezogen."

"Da sind die meisten aber auch schon pleite."

"Aber dann sehen die wenigstens aus wie n pleitegegangener Getränkemarkt."

"Und habt ihr schon einen gesehen?"

"Einen alten Grenzübergang?"

"Nein, einen pleitegegangenen Getränkemarkt."

"Nee."

"Nee."

"Na dann sind wir ja noch im Westen."

"Nee, wieso? Die alten Grenzübergänge sehen doch nur aus wie ne pleitegegangene Tankstelle, das heißt ja aber nicht, dass da auch ein Getränkemarkt eingezogen ist. Auch wenn der jetzt pleite ist."

"Ich würd sogar sagen, dass man einen alten Grenzübergang daran erkennen könnte, dass kein Getränkemarkt eingezogen ist."

"Eben. War ja auch keine Tanke."

"Aber warum sollten da nicht auch Getränkemärkte eingezogen sein?"

"Also, ich glaub das hätten die wegen der Pietät nicht gemacht."

"Die Getränkehändler?"

"Nein. Die zuständige Gewerbeaufsicht oder so. Das wär denen gar nicht erlaubt worden."

"Und wegen was für ner Pietät?"

"Naja, wegen Grenzübergang und so. Mauertote, Selbstschussanlagen, Todesstreifen, der ganze Kram. Dann hätten doch alle geweint, dass man jetzt da sein Bier kauft, wo Millionen, naja, Zehntausende… oder halt so zehn, zwölf Leute im Kugelhagel des Regimes ihr Leben gelassen haben."

"Am Grenzübergang? Ich denk die wollten über die Mauer oder sonstwo übern Zaun."

"Trotzdem, wahrscheinlich mehr so symbolisch."

"Und wenn die dachten das wär nur ne pleitegangene Tanke? Sieht doch genauso aus. Dann hätten die da einziehen können. Und wenn dann die Gewerbepolizei kommt, hätten die sagen können, ach, ich wusste ja gar nicht, dass hier früher Menschen erschossen wurden."

"Oder eben nicht."

"Genau. Denen war nicht bewusst, dass da keine Menschen erschossen wurden. Dachten sie auch gar nicht. Denn warum sollte man an einer Tankstelle Menschen erschießen?"

"Kommt aber vor."

"Stimmt. Immer wieder. Überfall und so."

"Dann hätten die Getränkehändler doch lieber in einen alten Grenzübergang einziehen sollen, denn da hätten sie sicher sein können, dass da keine Menschen erschossen wurden."

"Wurden ja aber vielleicht auch. Waren dann halt keine Mauertoten, sondern Grenzübergangstote."

"Aber die Getränkemärkte sind ja auch in pleitegegangene Tankstellen eingezogen, auch wenn da vielleicht jemand erschossen wurde. Dann ginge ja auch Grenzübergang."

"Aber das wären doch zwei ganz verschiedene Arten von Erschossenen. Die einen –"

"Alter Schwede!" entfährt es Giovanni gereizt. "Wie weit ist euer Osten denn noch?!"

In dem Augenblick passiert das Auto ein Schild. Auf Wiedersehen in Schleswig-Holstein! Und kurz dahinter eine komplett überwucherte Tankstelle, die die Natur sich zurückgeholt hat. Dann noch ein Schild.

Indikativ Perfekt

"Na bitte!", sagte Jörg entspannt. "Willkommen in Mecklenburg-Vorpommern, Land der tausend Seen!"

"Na dann festhalten!" warnte Jan noch, aber da rumpelte das Auto schon unbarmherzig los, die Straße schüttelte es durch und schlug es mit den Seitenfensterscheiben gegen Stirne und Nasen.

"Aua! Kannst du nicht langsamer fahren?!" beschwerte sich Giovanni.

"Wer rechnet denn mit sowas…?!" rechtfertigte sich Jan, wohlwissend halbherzig, und drosselte die halsbrecherische Geschwindigkeit von über 70.

"Daß wir in den Osten fahren, wenn wir Richtung Osten fahren?" meckerte Jörg. "Und daß die Landstraßen im alten Grenzgebiet immer noch so aussehen wie 1945?" Er rieb sich die gerötete Stirn und richtete behutsam knackend seine Nase. Offensichtlich war sie mit dem Schrecken davongekommen. "Na denn," entspannte er sich. "Gänsefleisch moh n Göfferraum üffmachen!"

"Also ich hab nichts gesehen!" wunderte sich Giovanni. "Keine Tanke, kein Getränkemarkt, nicht mal ein verlassener Getränkemarkt. Nur wilde Natur."

"Und ist hier nun früher? Ich meine, sind wir hier im Jahr 1954?" Jan guckte sich um, den Schlaglöchern ausweichend.

"Keine Ahnung. Sieht irgendwie aus wie immer," sagte Jörg.

"Mußt du doch aber wissen! Du hast das doch gesagt! Für mich sieht das ja auch aus wie immer. Sah es hier aber immer schon, also hat das auch nichts zu sagen."

"Naja, wenn ich das gesagt habe, muß es ja stimmen. Würde ich es sonst sagen?" versicherte Jörg. "Fahr einfach weiter. Dann werden wir schon irgendwann feststellen wo wir sind. Und wann."

Das Auto verschwand im Dunst des östlichen Horizonts. Die beiden Grenzsoldaten, die in seiner staubigen Heckwolke auf die Straße traten und ihm ausreichend verwirrt hinterhersahen, bemerkten die drei nicht. Ein Funksprechgerät knarzte, und einer der beiden stammelte sächselnd Befehle hinein.

Die drei zuckelten gemächlich durch menschenleere Landschaft, weitab jeder Spur irgendeiner Art von Besiedlung. Oder Ackerbau oder Viehzucht. Jörg und Giovanni betrachteten aufmerksam die Szenerie. Jan auch, denn was sollte schon passieren. Auf den Feldern liegend waren hier und dort bleiche Rinderschädel zu sehen, im Hintergrund, am Rande eines riesigen Ackers, ein ausgebrannter Sowjetpanzer. Die Landstraße, so man sie so nennen mochte, war gesäumt von großen Tafeln, auf denen diverse Männer mit Bärten abgebildet waren, darunter Schriftzüge wie Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist!, oder Von Moskau lernen heißt siegen lernen! Dazu an einer Abzweigung ein Straßenschild, das die eher ungefähre Richtung nach Moskau und die grobe Entfernung anzeigte. "Ich glaub wir sind tatsächlich da," sagte Jan ungläubig und hielt instinktiv an, obwohl nicht mal er wußte warum. "Sieht schon aus wie DDR, und 1954 paßt auch."

"Lebten da überhaupt schon Menschen hier?" Giovanni sah sich verloren um.

"Na dann mal los," meinte Jörg. "Wir sind ja nicht zum Spaß hier. Fernseher!" Giovanni holte einen alten kleinen Röhrenfernseher aus dem hinteren Fußraum und reichte ihn Jörg durch, der setzte ihn auf das Armaturenbrett und steckte den Stecker in den Zigarettenanzünder.

"Geiler alter Klumpen. Wo hast du den so schnell her?!" fragte Giovanni ungläubig.

"Den hatte ich mal von meiner Oma mitgenommen. Für die Küche. Sportschau und so."

"Den hab ich aber nie bei dir gesehen."