"Es war einmal eine Zeit, da es noch Festungen zu erobern gab." - Daniel Petersen - E-Book

"Es war einmal eine Zeit, da es noch Festungen zu erobern gab." E-Book

Daniel Petersen

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Beschreibung

Dieses Büchlein ist unmissverständlich eine akademische Abschlussarbeit. Bis auf eine Angleichung der Rechtschreibung habe ich davon abgesehen, der Lesbarkeit halber diesen Umstand zu entschärfen. Manchmal müssen Sachen eben mal so bleiben wie sie sind.

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Vorbemerkung

Dieses Büchlein ist unmissverständlich eine akademische Abschlussarbeit. Bis auf eine Angleichung der Rechtschreibung habe ich davon abgesehen, der Lesbarkeit halber diesen Umstand zu entschärfen. Manchmal müssen Sachen eben mal so bleiben wie sie sind.

Es entstand als Magisterarbeit im Fachbereich Philosophie der Universität Hamburg, und an dieser Stelle möchte ich Dr. Harro Segeberg im nachhinein einen herzlichen Dank in den Himmel schicken, dass er sie trotzdem ohne irgendwelche Änderungen zu erwirken bedenkenlos in seinem Fachbereich Germanistik übernommen hat. Dass sie den Rahmen einer üblichen Magisterarbeit durchaus überschreiten würde, war mir auch irgendwann klar, aber am Ende egal.

Danken möchte ich auch Hermann Schweppenhäuser, wo immer er sich befindet, dass er die Arbeit als Zweitkorrektor angenommen hat, obwohl ich an der Uni Lüneburg gar nicht eingeschrieben war.

Über den Autor

Daniel Petersen wurde 1968 geboren. Er studierte Film an der New York University sowie Philosophie und Filmwissenschaft in Hamburg und Lüneburg. Nebenher vertrieb er sich die Zeit als Cinephiler, Drehbuchlektor, Übersetzer, Drehbuchautor, Filmkritiker, Filmmacher, Synchronschreiber und überhaupt Freier Autor. Selbstredend weitgehend erfolglos. Er lebt in Hamburg und auf dem Saturn.

Inhalt

Einleitung

Melancholie

2.1 Melancholie als Krankheit

2.2 Melancholie zwischen Genie und Wahnsinn

2.3 Melancholie als Temperament

2.4 Symptomatik als Steckbrief des Melancholikers

2.5 Saturn & Melancholie

2.6 Christianisierung der Melancholie

2.7 Renaissance des melancholischen Genius

2.8 Poetische und romantische Melancholie

Benjamin

3.1 Melancholie der Moderne

3.2 Exkurs: Freud & Melancholie, Trauer & Nostalgie

3.3 Geschlossene Gesellschaft & Romantik: kontemplative Durchdringung der irdischen Hölle

3.4 Am Läuterungsberg: durch das Niederste zum Höchsten

3.5 Himmelfahrt zur Wahrheit: die Welt als Konstellation

3.6 Melancholische Landschaften & dialektische Bilder

3.7 Allegorische Ruinenfelder & die bürgerliche Welt als Kristallpalast

3.8 Dramatis personae: Flaneur & Sammler

3.9 Politisierung der Kunst: Benjamins Manía

3.10 Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch: die Zerstörung der Aura in Kunst & Gesellschaft

Godard

4.1 Wo Rettendes ist, wächst die Gefahr auch: Kinematographie als Massenbetrug

4.2 "Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsre Enkel fechtens besser aus": materialistische vs. illusionistische Kinematographie

4.3 Godard & das Eintauchen in die Gegenständlichkeit

4.4 Post festum: die Aura der Dinge am Morgen danach

4.5 "De la rigoeur, Cécile!": Rückkehr nach Alphaville

Epilog

Hermann Schweppenhäuser gewidmet –

für die langen Jahre der Unterweisung in epischer Philosophie

"Wird nicht die Stimme unserer Freunde bisweilen vom Echo der Stimmen derer heimgesucht, die vor uns auf der Erde waren? Und die Schönheit der Frauen eines anderen Zeitalters, ähnelt sie nicht ein wenig der unserer Freundinnen? Folglich müssen wir uns bewusst werden, dass die Vergangenheit nach Erlösung verlangt, nach einer Erlösung, von der vielleicht ein winziger Teil in unserer Macht liegt. Es gibt geheimnisvolle Begegnungen zwischen den verstorbenen Generationen und derjenigen, der wir selbst angehören. Wir wurden auf der Erde erwartet."

Godard, Hélas pour moi!

Einleitung

Die Intention dieser Arbeit ist auf der einen Seite die Rettung Walter Benjamins für die Gegenwart. Damit ist weder gemeint, dass eine philosophische Richtung auf eine ihr grundverschiedene geschichtliche Situation mechanisch "angewendet" werden soll, um letzterer eine Offenheit, Vielschichtigkeit, gedankliche Reichhaltigkeit oder Traditionsverhaftung zu attestieren, die augenscheinlich den heterogensten Theorien einen begründeten Ansatzpunkt biete, noch soll einer so persönlich geprägten wie epochal weitreichenden Philosophie unterstellt werden, sie habe heute einzig noch gesellschaftliche Relevanz, wenn sie die philosophische oder überhaupt mediale Spielart der Saison bedienen darf. Die Absicht ist vielmehr, Benjamins Werk aus der luftdichten Kuriositätenvitrine des Museums für Ideengeschichte herauszuholen und für die Reflexion, vergangene wie zukünftige, fruchtbar zu machen. Es gilt die besondere Form der Originalität von Benjamins Denken herauszustellen, die es vermochte, eine eigene, vorher in dieser Weise unbekannte Herangehensweise an geschichtliche Realität ins Leben zu rufen, die seither in den unterschiedlichsten Medien der Wirklichkeitsvermittlung ein kleines Eigenleben ausgebildet hat, das darin seinen Ausdruck hat, dass die Benjaminischen Methoden und Gehalte vielfach zur Wirksamkeit kommen, ohne dass bewusst oder gar explizit auf ihren Urheber bezug genommen würde.1

Auf der anderen Seite ist die – in einiger Hinsicht aktuellere – Intention dieser Arbeit, mit Jean-Luc Godard einen Filmmacher zu würdigen, bzw. zu retten, um im Idiom zu bleiben, der als einer der wenigen seit inzwischen Jahrzehnten die Anstrengung unternimmt, die ästhetische Substanz der Kinematographie bis ins Extrem auszuloten und von Grund auf zu verstehen, wofür er seit ebensolanger Zeit und in den letzten Jahren nicht eben seltener von Kulturzuständigen sowohl der Faust als auch der Stirn in die Spinnertenecke abgeschoben wird.2 Es soll angedeutet werden, wie Godards konsequente und vor allem leidenschaftliche Verfolgung der Gestaltungsprinzipien seiner Kunst keine ästhetizistische Spiegelfechterei bzw. kein blutarmes Intellektuellenkino, wie ihm von Intellektuellen gern vorgeworfen wird, hervorbringen muss, sondern gerade in ihrer vermeintlichen hermetischen Weltferne eine höchste Weltnähe, eine sinnliche, historische und eben auch philosophische Reichhaltigkeit ins Werk setzt.

Im ersten Fall liegt es nahe, nicht ausschließlich eine Paraphrase der Philosophie Benjamins anzustellen, sondern zusätzlich einen Bereich zu untersuchen, worin sie in seiner Nachwelt fortwirkt, bzw. wo eine ihr vergleichbare Sinnkonstruktion stattfindet; im letzteren Fall wäre jeder explizite Bezug Godards auf eine Geistesgröße außer acht zu lassen, um mögliche Lippenbekenntnisse zu vermeiden und philosophische Substanz allein in der materialen Faktur aufzuweisen. Als Resultat sollten einerseits eine mannigfaltige Ausdruckswelt der Gegenwart, nämlich die Godards, auf ihren benjaminischen Stammbaum hin transparent gemacht, andererseits die interpretatorische Tiefe und fortdauernde Aktualität des Benjaminischen Ansatzes bei Godard erkennbar werden. Die Wahl Benjamins und Godards als jeweiliges Komplement des anderen ist natürlich aus persönlicher Neigung des Autors gefallen, doch weniger um die beiden mit beherztem Zugriff zusammenzubiegen, als vielmehr um eine geahnte Wesensverwandschaft begrifflich zu klären und zu untermauern: Zumindest in Godards Spätphase, seit Anfang der 80er Jahre, speziell jedoch in den wenigen Filmen der 90er hat sein Werk eine Richtung, einen Ton, eine Arbeitsweise, eine melancholische Gestimmtheit angenommen, die mit denjenigen Benjamins korrespondieren, ohne sich direkt auf ihn zu berufen, und wahrscheinlich sogar ohne sein Werk zu kennen. Die Tatsache, dass Godard im Gegensatz zu Benjamin vor allem Filmmacher und weniger Philosoph oder Kritiker ist, macht die Sache um so fruchtbarer, als deutlich wird, dass Benjamins methodischer Ansatz nicht primär ein literaturspezifisches Organon ist, sondern viel enger mit dem kreativ Tätigen und dessen persönlicher Haltung zusammenhängt und damit die bloße materiale Beschaffenheit seines Ausdrucks zu einem sekundären Faktor macht.

Die zentrale These dieser Arbeit ist daher, dass eine inhaltliche und methodische Gemeinsamkeit der genannten Werkkreise existiert und vor allem, dass diese Gemeinsamkeit kein Zufall oder reines Epigonentum ist, sondern auf einer objektiven Voraussetzung basiert, nämlich einer im Werk niedergelegten melancholischen Disposition ihrer Autoren, oder genauer: ihrer jeweiligen historisch indizierten auktorialen Subjektivität. Das Vorgehen der Schrift wird sein, der Bedeutung und Funktion der Melancholie in den Arbeiten Benjamins und des späten Godard nachzuspüren und sie darin, durch ihr Wirken in den unterschiedlichsten Formen der Reflexion und Aneignung von Welt – Philosophie bzw. Literatur und Film –, als eine allgemeine und überindividuelle, von jedoch eigenen Arbeitsweisen und Ergebnissen charakterisierte Disposition der Erkenntnis3 zu beschreiben, die es leistet, trotz des epochalen Abstands zweier kreativer Ingenien zwischen ihnen statt nur etwaiger oberflächlicher Ähnlichkeiten wirkliche substantielle Korrespondenzen zu stiften: Eine genuin philosophische Untersuchung Benjamins & Godards, im Gegensatz zur rein stilgeschichtlichen, kann es nicht bei der Ausweisung äußerlicher Übereinstimmungen belassen, sondern muss das Warum, den formgebenden inneren Antrieb, in ihre Überlegungen miteinbeziehen.

Im Zuge dessen würde die Würdigung Benjamins als genuinem Philosophen vorangetrieben werden, d.h. als jemandem, der wirklich so etwas wie Wahrheit, bzw. einen Zugang zu ihr, gesucht und gefunden haben könnte, insofern dieser an anderer Stelle und zu anderer Zeit ähnlich wirksam geworden wäre, ohne dass man sich auf seinen Urheber, oder eher: Entdecker, extra berufen hätte.4 Benjamin soll gegen seine feuilletonistischen Liebhaber verteidigt werden, die ständig den "Schriftsteller, Kritiker und Essayisten" oder gar "Theologen" in ihm rühmen, aber dagegen sich sträuben, ihn als Philosophen anzuerkennen, nicht zuletzt, um den wenigstens seinem späteren Denken eingeschriebenen Marxismus nicht für voll nehmen zu müssen. Ein philosophierender Schriftsteller nämlich mag sich eine Privatphilosophie ausdenken, die zusammen mit seinem biologischen Leben abstirbt, danach eher ein Fall für die Literaturwissenschaft ist und deren unbequeme Anteile man als persönliche Marotten aussortiert; ein Philosoph dagegen erschafft etwas von ihm Abgesondertes, mit eigenem Leben und eigener Geltung, das nicht veralten, sondern höchstens entkräftet werden kann.

Um den Zentralbegriff der Argumentation zu klären, beginnt die Untersuchung mit einem kurzen Überblick über die wechselhafte Geschichte des Begriffes der Melancholie, woraus zuerst einmal eine Art Definition destilliert werden soll. Ihre begriffliche Bestimmung ist insofern schwierig, als die "zweitausendjährigen Metamorphosen der Melancholie" (Benjamin, s.u. Anm. 42) eine Vielzahl unterschiedlichster Formen hervorgebracht haben, die sich oft und gern widersprechen. Auch die Etymologie hilft nicht viel weiter, das Phänomen der "Schwarzgalligkeit" gehört dann doch zu den wenigen Bereichen der Medizin, die inzwischen mit gutem Gewissen als widerlegt bzw. überholt bezeichnet werden können.

Statt nun alle bisherigen Bestimmungen und Symptome der Melancholie aufeinanderzustapeln und einen begrifflichen Durchschnitt hindurchzupausen, geschweige denn sich eine besonders genehme Charakterisierung herauszufischen, sollte es vielmehr darum gehen, den Ursprung der Melancholie auszuloten, eben den Kern, der durch ihre Geschichte sich hindurchzieht und der doch, als selber übergeschichtlicher, mit den unterschiedlichsten Epochen die unterschiedlichsten Verbindungen eingeht.5 Ein solcher Ursprung müsste als ein Zentrum formuliert werden, das, obwohl als gleichsam geometrischer Punkt selber substanzlos und also nicht in dem Sinne wirklich herausschälbar, doch alle um ihn sich konzentrisch gruppierenden Figurationen im Innersten anordnet und zusammenhält.

Der folgende Hauptteil behandelt das Ausmaß und die Art und Weise, in denen das Denken Benjamins von einem melancholischen Impetus durchdrungen ist, sowie die eigene Form der Ergebnisse, zu denen dieser ihn geführt hat.

Zum einen soll nachvollzogen werden, inwiefern eine melancholische Disposition zur Kontemplation neigt, und genauer, inwiefern die spezifisch Benjaminische Art der Kontemplation mit ihr zusammenhängt.6 Dazu wird die Grundlage der Benjaminischen Erkenntnistheorie dargestellt werden, die um die Begriffe der zarten Empirie, der inneren Reflexion der Dinge, der Monadologie und der Konstellation herum sich anordnet, und wie sie vor allem im Ursprung des deutschen Trauerspiels und im Begriff der Kunstkritik der deutschen Romantik ausformuliert sowie im Passagenwerk und seinen Ausläufern inhaltlich näher bestimmt ist.

Ein weiterer Teil der Argumentation wird sein, die Gerichtetheit dieser kontemplativen Einstellung auf die Gegenstände der Geschichte mit ebenjener melancholischen Grundhaltung zu erklären, die in jedes Verhalten zu den Dingen eine geschichtliche Dimension einzieht. Der melancholische Blick nämlich, zumindest der moderne, ist retrospektiv, er zieht eher Bilanz als dass er in die Zukunft sieht.7 Wie Benjamins Engel der Geschichte hat er der Zukunft den Rücken zugewandt, vorangetrieben vom Wind vom Paradiese her, und erblickt den wachsenden Trümmerberg, den die Geschichte vor ihm aufhäuft. Auch Benjamin schöpft aus der Vergangenheit, und doch behandelt er sie als abgeschlossen, genau wie die Gegenstände, an denen sein Interesse sich entzündet. Denn im gleichen Maße, wie Benjamin direkt vor ihm liegende Gerätschaften aller Art bereits als vergangene zu erkennen vermag, so sind ihm die Dinge fernerer Vergangenheiten so zuhanden wie die gegenwärtigen. "Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist" (V, 588 f.) schrieb Horkheimer ihm einmal, und seine Methode des Eingedenkens kann die Erschlagenen zwar nicht wieder lebendig machen, wohl aber festhalten, dass der Grund ihres Todes nicht mit ihnen gestorben ist. Benjamin geht es um eine Rettung des Vergangenen, um die Mobilisierung derjenigen Elemente, die in der betrieblichen Geschichtsschreibung durch die Maschen der inventarisierten Fakten fallen. In der rückwärtsgewandten – doch keineswegs konservativen – Perspektive ist er durch keinerlei Aktualität gedrängt und kann seinen geduldigen, kontemplativen, nährenden Blick auf den Dingen ruhen lassen, bis sie, wie es einmal heißt, die Augen aufschlagen, bis sie sich entfalten und dem Philosophen das preisgeben, was sie sonst unter dem Sezierbesteck der Nutzbarmachung für sich behalten. Die Überbleibsel vergangener Zeiten – zu denen sich beizeiten auch Überbleibsel der Gegenwart gesellen – rekonstruiert der Materialist Benjamin in ihrer vollen Gestalt, als, wie er es nennt, dialektische Bilder, worin arabeskenhaft an ein und demselben Gegenstande nicht bloß sein Nutzen für Gebrauch und Überlieferung zur Ansicht kommt, sondern auch dasjenige aus den dunklen Gründen seines geschichtlichen Daseins hervorgespiegelt ist, was dem vom gesellschaftlichen Betrieb Erwünschten damals wie heute unbrauchbar ist, ihm entgeht oder gar zuwiederläuft. Dieses dialektische Bild, eine der Benjaminischen Erkenntnisweise zentrale Konzeption, soll in seiner ikonischen Stofflichkeit als Material ersten Ranges einer kritischen Philosophie beschrieben werden, die die inneren Widersprüche einer Epoche nicht primär aus ihren theoretischen Verlautbarungen, sondern vielmehr aus den unreflektiertmechanischen Stilisationen ihrer materialen Erscheinungsformen zu dekonstruieren sich vorgenommen hat.

Nun hat sich Benjamin nicht etwa in der Pose des Melancholikers gesonnt, der ja sowieso nichts mehr tun könne, im Gegenteil hat er sich schon mal eifrig über die melancholische Haltung erregt, nämlich dort, wo sie als untätige jammernde Reflexion nur Hemmschuh wäre. Sein melancholischer Sinn kam nicht in jeder Lebenslage zum Ausdruck; eben nur dort, wo der Kampf gegen den Weltenlauf schon verloren war. Die Bereiche der Lebenswelt hingegen, denen Benjamin einzig noch zutraute, die Wende im dahinrasenden Fortschritt herbeizuführen, waren der Kommunismus und der Film. Beides, die Massenbewegung der Arbeiterklasse und die auf technischer Apparatur beruhende Kunst, sind Phänomene, die von der bürgerlichen Industriegesellschaft nicht etwa überschwemmt, sondern überhaupt erst hervorgebracht wurden und konnten somit als die einzigen Kräfte identifiziert werden, die ihr grundsätzlich gewachsen waren. Es war die zum Teil äußerst emphatisch ausgedrückte Überzeugung Benjamins, mit Kommunismus und Film werde es möglich, die kapitalistische Industriegesellschaft mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.8

Mit dem Wissen des Späteren lässt sich leicht feststellen, dass diese Hoffnungen Benjamins, mögen sie theoretisch noch so fundiert gewesen sein, der historischen Dynamik nicht gewachsen waren. Anhand des Aufsatzes Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (bzw. des Kunstwerkkomplexes, der wiederum aus dem weit umfassenderen Passagenkomplex sich herausgebildet hatte) sollen die Potentialitäten, die Benjamin in der technischen Apparatur des Films wie in der Arbeiterbewegung angelegt sah, nachvollzogen werden. (Ebenso natürlich, warum die ästhetische (und politiktheoretische) Argumentation Benjamins in der gesellschaftlichen Praxis so ins Gegenteil ausschlagen konnte.) Als Zentralbegriff dieses Themenkreises verdient die Konzeption der Aura, und zwar im Stande ihres Zerfalls im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken, besondere Beachtung.

Godard nun, 1930 geboren, wäre demnach als Filmmacher und Marxist ein idealer Exponent der Befreiung gewesen. Genau wie Benjamin, zumindest der des Passagenwerks, arbeitete er in und an der Stadt Paris und erfuhr seine radikale Politisierung in Konfrontation mit ihr. Wie übrigens viele Filmmacher der Jahre vor '68. Godard ist jedoch beinahe der einzige jener Generation,9 der über bald 40 Jahre durchgehend und konsequent an seinem gesellschaftlichen – wie Freiheit und Tod, Lebensentwurf und Barbarei, Klassenkampf und Entfremdung – so sehr wie an seinem ästhetischen Material gearbeitet hat, wodurch sein Werk, das über die Jahrzehnte so viele Veränderungen und Brüche aufweist, gerade durch die Nähe zum jeweiligen Zeitgeist eine erstaunliche Kontinuität bewahrt hat.

Exemplarisch für alle damaligen Hoffnungsträger einer emanzipatorischen Kinematographie soll in Godards Spätwerk – in den Filmen seit 1980 (seit er anfing, wieder Kinofilme zu drehen), aber insbesondere in den Filmen der 90er –, in seinen Sujets wie auch im filmischen Material, in seiner Bildgestaltung wie dann auch in seiner besonderen Art der literarischen Montage, eine melancholische Grundstimmung aufgewiesen werden, seine Enttäuschung darüber, dass die einst selber geteilten Erwartungen an ein gesellschaftsveränderndes Potential von Politik und Film nicht erfüllt werden konnten, – eine Melancholie, die gerade darin der Benjaminischen verwandt ist, dass sie über den persönlichen Affekt hinaus in die Faktur des Werkes selber hineingegangen ist und eben dort, nicht im Seelenhaushalt der beiden historischen Persönlichkeiten, deren tiefere und substantielle Verbindung herstellt, selbst wenn zwischen beiden gleichsam der Abgrund eines kurzen Jahrhunderts liegt: Godard, gewissermaßen Benjamins letzte Hoffnung, steht 60 Jahre nach ihm ebenfalls vor den Trümmern eines Jahrhunderts, diesmal des Zwanzigsten, und hält noch weniger Tröstendes in der Hand als jener.

Das klingt nach viel Holz für den Umfang einer Magisterarbeit, insofern drei Themenkomplexe, über die allein schon genug zu sagen wäre, zusammengeführt werden sollen. Die Magisterarbeit jedoch, gleichsam die Novelle unter den akademischen Arbeiten, ist m. E. gut damit beraten, es dem monographischen Charakter ihrer fiktionalen Schwester gleichzutun und statt einer umfassenden Weltbeschreibung oder eines biographischen Charakterentwurfs ein einziges Problem, ein Ereignis, eine gezielte Fragestellung in ihren Mittelpunkt zu stellen und diesen konzentriert – in mehrfacher Bedeutung – zu bearbeiten. Von daher müssen wir uns darauf beschränken, alle drei Komplexe gezielt im Hinblick auf einen das auf den ersten Blick Auseinanderliegende – Philosophie und Film – vereinigenden und durch sich vermittelnden melancholischen Aspekt zu untersuchen und gar nicht erst den Versuch anzustellen, eine umfassende Geschichte oder gar die Idee der Melancholie, eine Gesamtdarstellung Benjamins oder eine Übersicht über Godards Lebenswerk aufzufahren. In der Verfolgung eines roten Fadens müssen notgedrungen unverzichtbare Aspekte übergangen werden, doch hege ich die Hoffnung, dass gerade durch eine solche perspektivische Beschränkung die monolithischen Einzelteile – als kongruente Silhouetten – in eine aussagekräftige Konjunktion rücken.10

1 Verwiesen sei neben diversen Formen der literarischen Collage oder der Bilddokumentation vor allem auf den Essayfilm, unter vielen anderen etwa bei Chris. Marker, Johan van der Keuken, Hartmut Bitomsky oder Harun Farocki. – Ganz abgesehen natürlich von den ausdrücklichen Epigonen Benjamins, Künstlern sowie Theoretikern, die gerade in der gründlichen Aneignung seiner eine unverwechselbare eigene Handschrift ausgebildet haben, wie z.B. Alexander Kluge oder John Berger.

2 Als ein Beispiel sei Günter Grass genannt, von dem interessanterweise auch in unserer Argumentation noch die Rede sein wird und der anlässlich von Allemagne neuf zéro sagte, Godard sei "Kitsch für Intellektuelle". (Zit. n. epd Film, 2/98, S. 13)

3 Inwiefern bei künstlerischen Erzeugnissen wie dem Film von Erkenntnis gesprochen werden kann, sei erst einmal dahingestellt. (Ebenso natürlich, ob die Kinematographie überhaupt eine Kunst ist. Als Arbeitshypothese soll dies jedoch erst einmal angenommen werden, um es dann während der späteren Erörterung von Benjamins Auffassung des Films als in der Tat auraloser Kunst im Vollzug zu untermauern.) Ein Ausweg wäre, beide Bereiche, Philosophie und Film bzw. Kunst, von vornherein mit Ernst Cassirer als symbolische Formen zu betrachten, die in ihrer je eigenen Art und Weise eine Anschauung von der Welt konstruieren. Um dies jedoch nicht nur als preiswerte Krücke heranzuziehen, die Löcher in der Argumentation zu überbrücken, wäre es allerdings unerlässlich, nicht nur die Ergebnisse, sondern zumindest im Überblick die Entwicklung und Argumentation der Cassirerischen Gedanken nachzuzeichnen. Da ein solches Vorgehen verständlicherweise den Rahmen dieser Arbeit übersteigen würde, kann nur dieser kurze Hinweis gegeben werden. Selbst auf eine Erörterung der Benjaminischen Zusammenfassung verschiedenster Ausdrucksarten wie menschlicher Sprache, Kunst, "Natursprache" etc. zu dem einen großen Komplex Sprache müssen wir verzichten, weil dieser Bereich seines Denkens nur marginal zu dem hier behandelten gehört. Die Arbeit selber – for the sake of the argument – muss mit der Unterstellung auskommen, dass Philosophie und Film als Formen der subjektiven Rekonstruktion der Welt (im Gegensatz zu Konstruktion der Welt) zumindest einen gemeinsamen Kern haben, und dass dieser Vorgang im weiteren Sinne Erkenntnis genannt werden kann.

4 Natürlich gibt es eine so fundamentale wie ausdrückliche Nachwirkung seines Denkens in der Kritischen Theorie, speziell bei Adorno, die aber von den Zweiflern selber wiederum als eitle Gedankenspielerei im Grand Hotel Abgrund abgetan werden kann. Noch die originärste Form von Epigonentum oder expliziter Gedankenverwandschaft ist von der Gegenseite als rein willkürlicher oder interessenbestimmter Theorieklüngel denunzierbar, dem die Zuständigkeit für das Objektive abzusprechen sei.

6 Natürlich immer bedenkend, dass nicht eine melancholische Gestimmtheit Benjamins bekannt wäre, aus der sich dann auf seine Art der Erkenntnis würde schließen lassen, sondern dass umgekehrt aus dieser, und deren Früchten, eine tieferliegende melancholische Grundhaltung heraufscheinen soll.

7 Der melancholische Blick in die Zukunft heißt Pessimismus und hat eine von jenem etwas abweichende theoretische Struktur. Er soll an anderem Orte untersucht werden.

8 Natürlich nicht explizit im Verbund miteinander. Trotz einiger Überschneidungen in der Praxis, etwa in der Würdigung des sowjetischen Films, erschienen ihm beide Momente der gesellschaftlichen Tätigkeit für sich als eigenständige Herde der Emanzipation, der eine im Bereich der Politik, der andere im Bereich der Kunst. (Vgl. z. B. u. Anm. 162) Die tatsächlich existierenden inneren Korrespondenzen zwischen dem Filmapparat & der vorgestellten emanzipierten Gesellschaft einerseits, und dem selbstbewussten Proletariat & dem Kinopublikum andererseits werden in der genaueren Erörterung der Benjaminischen Filmtheorie nachvollzogen.

9 Alexander Kluge gehört, auf seine Weise, auch dazu. Aber über den & Benjamin habe ich schon geschrieben.

10 Trotz allem übersteigt auch bei der notwendigen Beschränkung des Materials der Umfang dieser Arbeit den gewöhnlichen einer Magisterarbeit. Dies ist zu einem großen Teil den längeren Originalzitaten geschuldet, speziell in den Abschnitten über Benjamin, deren Wortlaut ich nicht unterschlagen mochte. Wem sie geläufig sind, der wird sie schnell wiedererkennen und darüber hinweglesen können, und wem sie nicht geläufig sind, dem wird lästige Blätterei in Originalwerken erspart.

Melancholie

"Ist doch die Einsicht ins Vergängliche der Dinge und jene Sorge, sie ins Ewige zu retten, im Allegorischen eins der stärksten Motive. (..) Die Allegorie ist am bleibendsten dort angesiedelt, wo Vergänglichkeit und Ewigkeit am nächsten zusammenstoßen." (I, 397)

Melancholie als Krankheit

Die Vier-Säfte-Lehre selber entwickelte sich aus der Zusammenfügung verschiedener Vorstellungskreise antiker Naturphilosophie zu einer systematisierten Theorie für alles. Zum einen gab es die pythagoräische Zahlensymbolik, deren besondere Hervorhebung der Vierzahl als Grundstruktur alles Seienden eine Reihe universaler tetradischer Zuordnungen (vgl. KPS, 41) entstehen ließ, wie Feuer, Wasser, Erde und Luft; Frühling, Sommer, Herbst und Winter oder auch Gehirn, Herz, Nabel und Phallus. (vgl. ebd.) Die Vierheit war, noch als abstrakte Aufteilung aller Naturdinge, als weltformendes Verhältnis etabliert, doch galt es nun sie mit einem Inhalt zu füllen, der den einzelnen Vierheiten ein gemeinsames Fundament gab und so deren Abhängigkeit untereinander systematisierte und quasi hierarchisierte.

Weiterhin gab es die pythagoräische Auffassung des Arztes Alkmaion von Kroton, dass die Gesundheit mit der Abstimmung der "Qualitäten" im Körper zusammenhänge. Dort seien Gegensatzpaare wie das Warme und das Kalte, das Feuchte und das Trockene, das Bittere und das Süße etc. am Wirken, und nur deren ausgewogene Mischung ("Krasis") garantiere Wohlbefinden, das Überwiegen einer Qualität mache krank. Die Anzahl der möglichen Qualitäten blieb im Unklaren, der Punkt war, dass das quantitative Verhältnis bestimmter Eigenschaften über den physischen Charakter ihrer Trägersubstanz bestimmt, die Beschaffenheit dieser Substanz selber aber nicht von belang ist. (vgl. KPS, 41 f.)

Empedokles vereinigte zunächst die pythagoräische Zahlenspekulation mit der Annahme der älteren Naturphilosophie eines die Welt und alle Einzeldinge durchsetzenden Urelements zu seiner Theorie der vier Elemente. Damit war die Urtetrade formuliert, nämlich Luft, Feuer, Erde und Wasser, die alle weiteren weltbildenden Tetraden durch Entsprechung bzw. durch Anwesenheit der vier Elemente in den unterschiedlichsten Stoffen auf sich bezog und aus sich hervorgehen lassen konnte. Doch zur Vier-Säfte-Lehre, die die ureigenen Stoffe des menschlichen Körpers mit dem gesamten Kosmos in Verbindung brachte und so eine umfassende Einheit der Natur stiftete, fehlte es noch an einem vermittelnden Moment zwischen den einzelnen Bereichen; die Projektion jener vier Elemente in Welt und Mensch gleichermaßen war eine zu direkte Analogisierung, als dass jeder beliebige Stoff auch seiner eigenen Stofflichkeit nach darin aufgehoben sein konnte, schließlich war die Anwesenheit der vier Elemente in Himmel, Sonne, Erde und Meer noch nachvollziehbar, im Menschen hingegen waren Luft, Feuer, Erde und Wasser in ihrer stofflichen Form beim besten Willen nicht aufzuweisen. (vgl. KPS, 42 f.)

Die von Empedokles begründete Sizilische Ärzteschule ging einen Schritt weiter und hob an den Elementen nicht deren bloße Stofflichkeit, sondern deren Haupteigenschaften bzw. Qualitäten als maßgeblich und allesdurchwaltend heraus. Statt als bloße Attribute unter anderen fungierten Wärme, Kälte, Feuchtheit und Trockenheit von nun an als festgeordnete Entsprechungen der Elemente – als reine Eigenschaften auf keinen Stoff mehr beschränkt – und dadurch als Brücken in die belebte Natur (- überhaupt dorthin, wo die Elemente nicht in ihrer reinen Materialiät auftraten). Im Gegenzug wurde die Qualitätenlehre in der Kanonisierung jener vier Qualitäten der Tetradik der Elementenlehre eingemeindet und auf diese Weise systematisiert. Die Krasenlehre besaß jetzt zwar nur noch diese vier, doch dafür festumrissene Qualitäten zur Messung des Wohlseins, welche wiederum den Kreis der dahingehend zugänglichen Dinge über die reinen Elemente hinaus auf den reichhaltigen und prinzipiell offenen Bereich der Qualitätenlehre ausdehnten. (vgl. KPS, 44 f.)

Gegen 400 v. Chr. entstand schließlich die Vier-Säfte-Lehre im eigentlichen Sinn, als die pythagoräischempedokleische Naturphilosophie mit dem Menschenbild der empirischen Medizin in Einklang gebracht wurde. Ähnlich wie die Naturphilosophie war diese auf der Suche nach einem Urstoff des menschlichen Körpers, und schon lange ging sie von dem Vorhandensein verschiedener Säfte im Körper aus, denen eine Reihe von (Geschmacks-) Eigenschaften zugeschrieben war und die als Krankheitserreger bzw. - symptome (bei Austritt aus dem Körper) galten. Doch erst der Verfasser der Schrift Über die Natur des Menschen (Perì physios anthropou), Hippokrates oder sein Schwiegersohn Polybos, fügte die kosmologische Spekulation mit der medizinischen Säftelehre zu einer systematischen Einheit zusammen, indem er gegenüber der Einzahl, Zweizahl oder auch Vielzahl die Vierheit der Körpersäfte als fundamental behauptete, sie als Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Phlegma sortierte und mit der Tetradik der Naturphilosophie verknüpfte. Dabei ließ er es nicht etwa bei den vier Elementen bewenden, sondern brachte die vier Säfte, denen eine Ausrichtung nach den Kombinationen der vier Qualitäten beigestellt war (warm-feucht, warm-trocken, kalt-trocken und kalt-feucht), in Verbindung mit den vier Jahreszeiten, in deren Abfolge jeweils ein Element, und damit einer der Körpersäfte, zur Vorherrschaft kommt. Dieses Schema war nun beliebig ausbaubar, und in der Folge erfuhren die vier Säfte ihre Zuordnung u.a. zu vier Lebensaltern und vier Tageszeiten. (vgl. KPS, 45 ff.)

Mit den Körpersäften fand auch die Pathologie selber ihren Ort innerhalb des Vierersystems, insofern – wie in der früheren Qualitätenlehre – die ausgewogene Mischung der nun mit vier festgelegten Urstoffe Gesundheit bedeutete, bzw. das Überwiegen eines der Säfte Krankheiten hervorrief. So formierten sich die bis dato mannigfaltigen und ungeordneten Krankheiten und deren Symptome zu einem System von vier Krankheitsbildern, die dem jeweiligen Charakter der sie hervorrufenden Säfte entsprachen.12

Von da an gab es den medizinischen Komplex der Melancholie und den Melancholiekranken, dem ein Übergewicht an schwarzer Galle alle möglichen melancholischen Krankheiten bescherte. Krankheiten, die natürlich schon vorher bekannt waren, jedoch erst jetzt auf eine gemeinsame Ursache zurückgeführt und mit einem kategorialen Namen belegt werden konnten.

Mit einer Auflistung all dieser möglichen Krankheiten, die sich wie ein pathologischer Kranz um die schwarze Galle legten, war schon vorbereitet, dass diese einzelnen virtuellen Dysfunktionen in ihrer Gesamtheit bald zur Beschreibung einer Charakterveranlagung kristallisieren würden, mit der Überfunktion der schwarzen Galle in ihrem Zentrum. Und in der Tat brachte die Pathologie der ungleichmäßigen Mischung einige logische Probleme mit sich, denn da Gesundheit nur durch eine genaue Abstimmung der Säfte garantiert war, wurde der medizinische Normalfall zum Idealfall stilisiert, der keine großen Differenzen in der äußeren Erscheinung zuließ. Die empirischen Menschen aber, so verschieden sie waren, mussten hinter diesem Idealfall zurückbleiben, konnten jedoch nicht allesamt kurzerhand für krank erklärt werden, wenn der Krankheitsbegriff als zu kurierende Normabweichung beibehalten werden sollte; ganz abgesehen davon, dass der Lehre nach pro Jahreszeit eine der Qualitäten und damit einer der Säfte die Oberhand bekam und damit notwendig saisonal grassierende Krankheiten hätte hervorrufen müssen, was das Vorkommen einer gleichmäßigen Mischung glattweg ausgeschlossen hätte. (vgl. KPS, 50)

Im Laufe der Zeit wandelten sich die alten Krankheitssymptome langsam zu Veranlagungstypen, die zwar von der Vorherrschaft jeweils eines Saftes bestimmt waren, doch deswegen noch lange nicht krank sein mussten. Die ausgewogene Mischung blieb das Ideal, doch ließ sie gleichsam relative Gesundheit zu, insofern das Vorwalten eines Saftes beim Individuum eine bestimmte physische Disposition und Veranlagung zu charakteristischen Krankheiten festlegte, diese Krankheiten aber nicht selber zum Ausbruch brachte. So galten die Körpersäfte lange Zeit sowohl als Auslöser pathologischer Affektionen, als auch als Grundlage konstitutioneller Beschaffenheiten körperlicher wie geistiger Art, bis diese letztere Funktion schließlich (gegen 200 n. Chr.) zur Lehre der vier Temperamente systematisiert wurde. (vgl. KPS, 50 f.) Mit dieser Entwicklung war der Melancholiker, der den Melancholiekranken ersetzte, endgültig als Charakterbild etabliert. Die Auswirkungen für das Individuum waren zwiespältig: Einerseits musste es sich nicht mehr für krank halten wenn eine kleine Besonderheit sich bemerkbar machte, sondern durfte sie zu seiner Persönlichkeit zählen, andererseits war es dazu verdammt, ein Leben lang mit dieser Persönlichkeit zurechtzukommen; ein Melancholiekranker war zwar krank, konnte aber morgen wieder gesund sein, während der Melancholiker als solcher sich durchaus gesund fühlen durfte, seiner Melancholie selber aber nicht entkommen konnte. Zwar mochten seine Leiden, wenn sie denn Auftraten, mit verschiedensten Therapien, Verhaltensweisen und Diäten gelindert werden, der Disposition zu diesen Leiden blieb er jedoch verfallen, ohne je die ideale Gesundheit der richtigen Mischung erreichen zu können.

Unter den vier Charaktertypen nahm der Melancholiker – neben Sanguiniker, Choleriker und Phlegmatiker – eine Sonderstellung ein, genau wie die vier Säfte keineswegs als gleichwertig galten. Die schwarze Galle hielt man schon früh für eine böse Entartung der gelben Galle oder auch des edlen Blutes; so war das Krankheitsbild der Melancholie – lange vor den anderen – festumrissen und eindeutig negativ besetzt. Entsprechend wurden der Melancholie, verglichen mit den anderen drei Erkrankungstypen, verhältnismäßig viele seelische Defekte zugerechnet, die Physiopathologie der alten Vier-Säfte-Lehre neigte sich als Charaktertypologie immer weiter zur Psychologie und Physiognomik herüber: Furcht, Menschenscheu, Niedergeschlagenheit, Depression und Wahnsinn wurden der Melancholie genauso zugeschlagen wie Lispeln, Stottern, Kahlköpfigkeit oder dichte Behaarung. (vgl. KPS, 53 f.) Überhaupt hatte man im Laufe der Jahrhunderte dem Melancholiker von rein physischen Leiden und körperlicher Erscheinung bis zu psychischen und sozialen Missbildungen alles angehängt, was das Air des Düsteren, Mürrischen und Menschenfeindlichen an sich hatte.13

Melancholie zwischen Genie und Wahnsinn

Die Betonung der seelischen Erkrankungen gibt schon einen Hinweis auf die irgend geartete geistige Besonderheit oder gar Genialität, die dem Melancholiker in späteren Zeiten als ein Hauptattribut eignete. Indes, während der Antike war von derartigen oder überhaupt positiven Aspekten fast gar nichts zu hören. Einzige Ausnahme ist ein Aristoteles zugeschriebener Text, das Problem XXX,1, der das erste und für lange Zeit letzte Mal erwähnte, dass der Bereich des Geistigen, gar die geistige Größe untrennbar zur Melancholie gehöre. Dem vorausgegegangen war die Vereinigung zweier Entwicklungslinien des antiken Denkens. Auf der einen Seite gab es die medizinische Melancholiekonzeption, die, wie schon erwähnt, die schwarze Galle als Quelle des Wahnsinns, der Tollheit und Raserei identifizierte. Auf der anderen Seite stand Platon, der den Begriff der Manía (gr. Raserei, Wut, Wahnsinn, Begeisterung) umwertete bzw. bereicherte um das Element einer geistigen Ekstase, die in letzter Konsequenz die Seele zur Schau der Ideen erhebt. Doch so wie jener die Vorstellung, dass der melancholische Wahn eine gesteigerte Erkenntnisfähigkeit hervorbringen könne, so abwegig erschien der Platonischen Anschauung jeglicher Zusammenhang der abgründigen, aber gottnähernden Mania mit der in Vernunft und produktiver Willenskraft trägen Melancholie. Gar hielt Platon sie für eine der Ursachen der Tyrannis. (vgl. KPS, 55 ff.)

Die Wende folgte mit Aristoteles, bzw. mit dem als Aristoteles apostrophierten Autor des Problems. (Die Autorschaft ist unklar, vgl. KPS, 81 f.) Er vereinigte beide Linien, indem er die divergierenden Bestimmungen und Quellen des Wahns als verschiedene Seiten und Erscheinungsformen einer Sache betrachtete und zu einem einzigen Begriff zusammenfasste. Der Melancholie wurde, vermittelt durch ihr Symptom des Wahnsinns, auf einmal ein Fenster zum Reich des Geistes, der Vortrefflichkeit und der höheren Wahrheit aufgestoßen, durch das ein göttlicher Lichtstrahl auf den Melancholiker fiel, der ihn unter den Charaktertypen als etwas Besonderes und Auserwähltes aufscheinen ließ. Das ging so weit, dass "Aristoteles" sich fragte, warum "alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen (seien.) Und zwar einige in solchem Maße, dass sie sogar unter den von der schwarzen Galle verursachten krankhaften Anfällen litten, wie in der Heroensage von Herakles berichtet wird." (zit. nach KPS, 59) Die Melancholie – die "Krankheit der Heroen", wie Aulus Gellius sie später nannte (zit. n. KPS, 56) – wird hier zum Signum bzw. gewissermaßen zur conditio sine qua non der herausragenden Persönlichkeit, ob es sich um die Helden der mythischen Vorzeit oder auch die Großen der Geschichte handelt: Herakles, Lysander, Ajax und Bellerophon, welchletztere in den Wahnsinn bzw. in die Einsamkeit getrieben wurden, zählt der Autor ebenso dazu wie Empedokles, Sokrates und Platon. Das Zitat verdeutlicht, dass zur Zeit der Niederschrift im 4. Jh. v. Chr. beide Auffassungen der Melancholie, die krankhafte und die natürliche bzw. konstitutionelle, noch nebeneinanderher oder gar ineinander verschränkt existierten. Laut "Aristoteles" konnten alle Menschen Anfälle der Melancholie bekommen, die einen durch eine nur zufällige und vorübergehende unproportionierte Mischung der Säfte, etwa durch übermäßigen Weingenuss, die anderen durch natürliche Veranlagung, erzeugt durch eine permanente Prävalenz der schwarzen Galle. Weiterhin konnte Melancholie die unterschiedlichsten Formen ausbilden, ganz abhängig vom Zustand der jeweilig ursächlichen schwarzen Galle. Die nämlich bestand aus einer Mischung aus Wärme und Kälte und konnte daher sehr heiß wie auch sehr kalt werden. In ihrem Normalzustand, nämlich kalt, rief sie das bekannte Krankheits- und Stimmungsbild hervor, erhitzt dagegen versetzte sie in Hochgefühl, Ekstase und Sangesfreude; entsprechend verteilten sich die von Natur aus melancholischen Menschen auf jene, deren schwarze Galle übermäßig kalt war, was sie tendenziell schlaff und stumpfsinnig machte, oder jene, die zuviel warme Galle besaßen und so zu Verzückung, Raserei oder Wollust neigten. Nur der Melancholiker, dessen kalte und warme Anteile der schwarzen Galle sich die Waage hielten, war besonnen und vernünftig und daher zu den großen Leistungen fähig, die ihm nachgesagt wurden. Selbst das Ausmaß der überwiegenden Menge an schwarzer Galle war dazu von Belang: Zu wenig verlieh eine nur schwach ausgeprägte und nicht über die Mehrheit der Menschen heraushebende Melancholie, zu viel Übermaß an schwarzer Galle ließ in zu tiefer Melancholie versinken; nur ein gleichsam ausgewogenes Ungleichgewicht zugunsten der schwarzen Galle garantierte die besonnene Außergewöhnlichkeit des Melancholikers. (vgl. KPS, 59 ff.)

Es fällt auf, dass in dieser Ausdifferenzierung der Melancholie eine Charakterologie im kleinen beschlossen lag, die auf der schwarzen Galle und ebenfalls auf der im idealen Fall ausgewogenen Mischung von Qualitäten beruhte; "da (die schwarze Galle) aber den Charakter bestimmt – denn das Warme und das Kalte in uns ist das, was am meisten unseren Charakter bestimmt". (zit. n. KPS, 75) Ob den anderen Temperamenten eine ähnliche Komplexität zugesprochen wurde, oder ob sie der Melancholie als eindimensionale Charaktereigenschaften beigeordnet waren, sprich ob die Vier-Säfte-Lehre kurzzeitig einer Temperaturlehre Platz einräumen musste, ist aus diesem Text nicht zu beurteilen.14 Andererseits betonte "Aristoteles" einen ausdrücklichen Unterschied zwischen den nur Melancholiekranken und den genuinen Melancholikern (welche natürlich auch akut den melancholischen Krankheiten verfallen konnten, nach ihrer Kurierung aber weiterhin Melancholiker waren.) Schwarze Galle war in jedem Menschen vorhanden, und konnte somit auch in jedem Menschen ihre Wirkung tun, sei es durch quantitative (vorübergehendes Übermaß), sei es durch qualitative Veränderung (Erhitzung bzw. Abkühlung), ohne deshalb alle Menschen gleich zu Melancholikern zu machen. Bei solchen nämlich, die Melancholie nur als krankhaften Anfall mit anschließender Heilung, nur als auszutreibende Abnormität erfuhren, konnten die besonderen Fähigkeiten des natürlichen Melancholikers gar nicht zur Ausbildung kommen, die eben bei diesem vor allem wirkten, wenn er gerade an keiner akuten melancholischen Krankheit litt. Andere, normale Menschen konnten nur als Kranke melancholisch werden, während die wahren Melancholiker ihre überlegene Begabung nur als gleichsam gesunde zur Vollendung bringen konnten; natürlich ausgenommen die Sibyllen, Wahrsager und einige Dichter, die ihre größten Leistungen nur in einem Zustand der schöpferischen Ekstase oder rasenden Verzückung erbrachten. Doch auch bei diesen ist ausdrücklich darauf hingewiesen, dass deren Tätigkeit nur den melancholisch Veranlagten möglich war, nicht den Kranken (vgl. KPS, 68 + 76 f.)