In der Wüste der Wirklichkeit - Daniel Petersen - E-Book

In der Wüste der Wirklichkeit E-Book

Daniel Petersen

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Beschreibung

In diesem Band sind Texte zu diversen Filmen versammelt, die aus akademischem oder auch nur rein wissenschaftlichem Antrieb entstanden sind, vorwiegend unveröffentlicht. Wie in Band I.1 habe ich sie, bis auf orthographische Modernisierung, im Prinzip so gelassen. Mit den Fußnoten muss man dann leben, steht ja über Quellenangaben hinaus auch manchmal richtig was drin.

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Vorbemerkung

In diesem Band sind Texte zu diversen Filmen versammelt, die aus akademischem oder auch nur rein wissenschaftlichem Antrieb entstanden sind, vorwiegend unveröffentlicht. Wie in Band I⋅1 habe ich sie, bis auf orthographische Modernisierung, im Prinzip so gelassen. Mit den Fußnoten muss man dann leben, steht ja über Quellenangaben hinaus auch manchmal richtig was drin.

Über den Autor

Daniel Petersen wurde 1968 geboren. Er studierte Film an der New York University sowie Philosophie und Filmwissenschaft in Hamburg und Lüneburg. Nebenher vertrieb er sich die Zeit als Cinephiler, Drehbuchlektor, Übersetzer, Drehbuchautor, Filmkritiker, Filmmacher, Synchronschreiber und überhaupt Freier Autor. Selbstredend weitgehend erfolglos. Er lebt in Hamburg und auf dem Saturn.

Inhalt

Metropolis, erwache! (1994) Fritz Langs

Metropolis

als Ouvertüre des Faschismus

"Aber ich interessierte mich für Maschinen" (1999) − über die deutsche Anverwandlung des italienischen Futurismus in

Metropolis

.

Spiel dein Spiel und töte, Herkules! (1995) − über die Möglichkeit einer Wiederkehr des antiken Heroen im Italowestern

Überwachungsfilme (Fragment) (2002)

Verblendungszusammenhang: Reloaded (2002) − über das Kunstwerk im Zeitalter seiner digitalen Reproduzierbarkeit

Metropolis, erwache! (1994) Fritz Langs Metropolis als Ouvertüre des Faschismus

In der gängigen Sekundärliteratur ist es fast schon ein Gemeinplatz, dass Fritz Langs Metropolis ein zwar formal überwältigender aber inhaltlich schlichter bis politisch zweifelhafter Film sei. Ein ästhetischer Vorschein des Nationalsozialismus sei er gewesen und außerdem einer von Goebbels' erklärten Lieblingsfilmen.

Diese und andere Vorwürfe treffen zwar alle zu, doch beschränken sich die allermeisten Darstellungen zur Illustration auf die im letzten Teil betriebene Versöhnung zwischen dem Fabrikanten und dem Arbeiterführer, vermittelt durch ebenden herbeigesehnten "Mittler zwischen Hirn und Hand"1, in diesem Fall den Sohn des Fabrikanten, dessen Heraufkunft von einer Arbeiter-predigerin angekündigt wurde. Kurze Hinweise auf diesen Ausgang der Geschichte reichen den eifrigen Ideologie-kritikern meist, ihr Urteil zu untermauern: Der Schulterschluss von Arbeit und Kapital, die freundschaftliche Einigung "unter Umgehung von Tarifverhandlungen", wie Rudolf Arnheim schrieb,2 (und nicht etwa Béla Balázs, wie in der offensichtlich voneinander abschreibenden populären Sekundärliteratur so gern kolportiert wird,) ist wahrlich der künstlerische Ausdruck der später betriebenen Zusammenschweißung der antagonistischen Klassengesellschaft zu einer Volksgemeinschaft, die nur noch Deutsche kennt.

Dieser dramaturgisch eher plump erzwungene Schlussgag ist aber keineswegs das einzige Moment, das den Film zu einem unrettbar und genuin nationalsozialistischen Werk macht. Vielmehr ist Metropolis − natürlich neben seiner unbezweifelten künstlerischen Meisterschaft − beinahe durchgängig ein Fanal für die nationale Erweckung, auf inhaltlicher wie auf bildlicher Ebene, eine mehr oder minder verschlüsselte Enzyklopädie faschistischen Gedankengutes, "randvoll an unterirdischem Gehalt, der die Grenzen des Bewusstseins unverzollt, wie Konterbande, überschritt.", so Siegfried Kracauer3. Hierfür sollen im folgenden anhand von Einzelanalysen Belege geliefert werden.4

Das Ambiente

Der unmittelbare Anfang verrät schon, womit wir es zu tun haben werden. Der dem Monumentalfilm vorangestellte "Sinnspruch: Der Mittler zwischen Hirn und Hände muss das Herz sein." verbindet bereits den folgenden technizistischen Größenwahn mit dem bodenständigen Waschküchendeutsch, das schon immer Probleme mit dem Dativ hatte.5 Marinettis Verdammung der "alten, von HOMER ererbten Syntax" klingt hier nach, sein "stürmisches Bedürfnis, die Worte zu befreien, sie aus dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus zu ziehen."6 Die Erlösung durch den Mittler verheißt mit der Befreiung von nationaler Knechtschaft auch diejenige von rationalen Sprachregeln. Der Volksgeist darf nun ungehemmt drauflosreden.

Darauf folgt eine futuristische Ouvertüre, die mit wirbelnden Spulen, stampfenden Bolzen und mahlenden Zahnrädern die Sinne einstimmt und aufnahmewillig macht für nachfolgende Apotheosen der Maschinenkraft, der Dynamik, der Geschwindigkeit, der Simultaneität. Dem Zuschauer wird die unerbittliche Kraft und Schnelligkeit der Maschinen anfangs noch mal in reiner Form nahegebracht, er erfährt die eigene Machtlosigkeit gegenüber der auftrumpfenden Technik, seine Sinne verwirren sich angesichts der pulsierenden Energie, wie ihm die Durchblendung verschiedener Maschinenbewegungen suggeriert. Die mechanisch-rhythmische Wiederholung immergleicher kraftvoller Bewegungen durchschüttelt selbst den passiven Rezipienten und präsentiert ihm eine Festigkeit und innere Kontinuität, die er als unvollkommenes Menschenwesen als ihm überlegen anerkennen muss. Zur Faszination für und späteren Selbstübergabe an das allmächtige Gegenüber ist es dann nur noch ein Schritt. Die Maschine marschiert und schleift den Menschen als Anhängsel mit.7 Diese futuristische Gestimmtheit verlässt den Film nicht mehr, auf diese Weise gleichsam präformiert und infragegestellt verfolgt der Zuschauer die ganze Handlung. Seine verunsicherte Identität bietet der Erzählung Raum, sie mit deren eigenem Material zu füllen.

Auch zeigen spätere Stadtansichten eine Stadt, die sich quasi verselbständigt hat, worin die Menschen allenfalls als Manövriermasse auftauchen, die von einem auf mehreren Ebenen stattfindenden metallenen Massenverkehr durch die Gegend bewegt wird. Die präzis-statische Bewegung der Modelle projiziert sich hier auf das vorgestellte Gesamtgefüge, der als Chaos erfahrene Verkehr moderner Städte erscheint aufgehoben in einem zwar schwerfälligen aber reibungslos ineinandergreifenden Uhrwerk zukünftiger Mobilität. Die Illusion der Verlorenheit in dieser perfekten Übermacht wird verstärkt einerseits durch schräge Winkel, andererseits durch futuristische Durchblendung verschiedener Ansichten. Das simultane Durcheinander einzelner Eindrücke in ungewöhnlicher Perspektive entzieht die Logik der Stadt der Erfahrung und damit dem Verständnis des Normalmenschen. Er ist konfrontiert mit einem riesigen Organismus, dessen innere Gesetze seinen Horizont übersteigen und der offensichtlich zugleich seinen Alltag blind zu regeln vermag. Es geht ja wieder drunter und drüber hier, aber die Züge fahren gottseidank pünktlich! − diese historische Feststellung spiegelt schon das wohlige Gefühl des Aufgehobenseins in einer Maschinerie, die das städtische Gewimmel im Minutentakt zu bändigen versteht.

Dieses Gewimmel kommt in Metropolis schon gar nicht mehr vor, zumindest nicht dort, wo alles seinen gewollten Gang geht. Abgesehen von den jeweiligen Hauptfiguren sind die Straßen, in der Unter- wie in der Oberstadt, meist leergefegt, die wenigen Passanten gehen gesittet ihres Weges, die Stadt selbst lässt schon niemanden mehr auf die Straße, den sie nicht selbst hinaus geschickt hat. Die befremdliche Abwesenheit einer jeglichen Ordnungsmacht in Metropolis klärt sich auf: Der Mechanismus der Stadt selbst schafft Ordnung, und zwar indem er sie weniger aufrechterhält denn überhaupt erst produziert. Metropolis kann auf eine Exekutive verzichten, da wie in jedem gesunden Organismus das Funktionieren des Ganzen vom Wohlverhalten all seiner Teile abhängt, welche wiederum auch durch es erst überlebensfähig sind. Jeden Verstoß gegen die Gemeinschaft ahndet sie mit ihrem beginnenden Zerfall, der zuerst die schwächsten Glieder ereilt. Man kann sich abends endlich wieder vor die Tür trauen.

Die organizistische Einrichtung von Metropolis ist verstärkt durch die zentrale Bedeutung der sogenannten Herzmaschine, betrieben vom obersten Werkmeister Grot, von der anscheinend das Funktionieren aller Maschinen der Stadt abhängt. Sie erhält und leitet den gigantischen Betrieb, weswegen sie oberstes Angriffsziel der maschinenstürmenden Arbeiter ist. Die Strukturiertheit der mechanisierten Stadt in organischen Kategorien, die explizite Gleichsetzung von Führung mit Hirn, Produktion mit Hand und gleichsam Verwaltung mit Herz (mit mechanischem Herz wohlgemerkt − das personifizierte Herz, das Verbrüderung zwischen "Hirn und Hände" stiften soll, wird ja erst herbeigesehnt) ist Indiz für eine zutiefst futuristische Sehnsucht nach Verschmelzung des Einzelnen mit der Maschine, mit dem Ensemble aller Maschinen, die, nunmehr durch einen organischen Aufbau beseelt, zum alles integrierenden mechanischen Volkskörper sich veredeln. Die Belehnung der Technik mit organischen, menschlichen Begriffen ist ein erster Schritt, ihre abweisende Spröde aufzulösen und gleichsam saugfähig zu machen, aufnahmebereit für menschliche Projektionen.

Freders Vision der Maschine, die sich in einen menschenfressenden "Moloch" verwandelt, ist unter diesem Gesichtspunkt keine Verurteilung der inhumanen Technik als solcher, eher das Entsetzen darüber, dass die Entwicklung zur Symbiose von Mensch und Maschine auf einer entarteten Vorstufe stockt, auf der die noch inkongruenten Arbeitsrhythmen beider Seiten in Konflikt geraten. Die an ihren Hebeln und Riesenzeigern aufgeregt bis schlapp im Takt zuckenden Arbeiter haben mehr vom überbeanspruchten Hilfsarbeiter, der für den Fachmann einspringen musste, als von Geknechteten. Vor das Mitleid mit den vom Produktionsprozess vergewaltigten Individuen schiebt sich das Mitleid mit den unvollkommenen Menschlein, die mit der Technik, sozusagen mit ihrer eigenen Größe, noch nicht Schritt halten können.

Im verheißungsvollen Ende des Films bleibt der Betrieb der Maschinen unangetastet, die Klassengesellschaft sowieso, das Dilemma erschien einzig in der dichotomen Segregation der Arbeitermassen von der Oberklasse, deren beider Ignoranz und Desinteresse keinen Sinn für das gemeinsame Projekt zuließ. Nach der Versöhnung durch den Mittler aber wissen alle um ihren Platz im organischen Ganzen und werden ihr möglichstes tun, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Dazu gehört dann auch, nicht gleich wie ein Schwächling zusammenzuklappen, wenn die Arbeit etwas anstrengender wird. Stählerne Maschinen einer stählernen Gesellschaft brauchen nun mal stählerne Operateure.

Zum organizistischen Charakter der Metropolischen Gesellschaft gehört auch ihre Aufspaltung in einen oberirdischen und einen unterirdischen Teil, dieser ein düsteres, leicht in expressionistischen Diagonalen beleuchtetes Proletarierreich, kalt und unbelebt bis auf die vegetierenden Bewohner, jener der Bereich, in dem das städtische Leben tobt, besser sich dahinwälzt, und in dessen Wipfeln die dekadente Oberklasse ein unbeschwertes Leben genießt. Diese Spaltung von lichter Oberwelt und ins Erdreich verbannter Unterwelt drängt den Vergleich zur menschlichen Psyche, zum Antagonismus von Bewusstsein und Unbewusstem auf. Tatsächlich rumort es im dunklen Untergrund, die Arbeiter treffen sich zu geheimen Zusammenkünften, spärlich nur gelangen Hinweise in Form von mysteriösen Karten an die Oberfläche. Die Mächtigen der Oberwelt sind beunruhigt darüber, was in den schwer auslotbaren "zweitausendjährigen Katakomben, tief unter den Tiefbahnen" vor sich geht und fühlen ihre Ordnung bedroht.

Die Geheimtreffen aber sind keineswegs konspirativ, wie eine frühchristliche Sekte8 finden sich die Arbeiter zum gemeinsamen Gebet ein, vor Kreuzen und allem, während die echte Maria den Gläubigen zur Belehrung und Ermahnung die alte Geschichte des Turmbaus zu Babel erzählt, dessen anfängliche Energie und Begeisterung in Zerstörung umschlug, als die Arbeiter den Kontakt verloren zu ihrer Führung, die diese Großtat ersonnen: "Gleiche Sprache sprechend, verstanden die Menschen sich nicht." Längere Zeit schon predigt sie von klassenübergreifender Liebe und vom Mittler, der die neuerliche Kluft zwischen Arbeitern und Führung schließen werde und ferner, dass man schlicht auf seine Ankunft warten müsse.

Der Impuls zur glücklichen Erneuerung der Gesellschaft von Metropolis geht vom Untergrund aus, vom Rekurs auf das Ursprüngliche, das von der Moderne Verdrängte, das die in der Oberwelt Tanzenden längst vergessen haben. Der Konflikt von düster brodelndem Es mit der rationalistischen Oberwelt des Ich ist projiziert auf die antagonistische Gesellschaft, die Rettung wird gelegt in die dem technologischen Fortschritt geopferten Werte und Glaubensinhalte, die unverzerrt man nur noch im reinen Grund der erdverbundenen Volksseele vermutet. Das in der bürgerlichen Welt eingekerkerte Irrationale und Leidenschaftliche will endlich zu seinem modernsten Ausdruck hervorbrechen.

Auch ohne die Anreicherung dieses unterirdischen Kanons mit Vorstellungen mittelalterlicher Magie, wie es Langs ursprüngliche Intention war,9 wird die historische Ausrichtung der topographischen und somit sozialen Gegensätze deutlich.10 Als Königsweg erstrahlt die Kurzschließung der hochtechnisierten und überfeinerten Gesellschaft, die selber noch an eigenproduzierten Konflikten krankt, mit den grundguten Idealen einer vergangenen Epoche, deren Flamme gerade in den esoterischen Zirkeln der Ausgestoßenen am Leben erhalten wird. Diese Potenz artet ins Zerstörerische nur aus, als übelwollende Kräfte die geballte Energie der unterdrückten alten Wahrheit in die kämpferische Richtung lenken. Nur die friedliche Einigung der bewussten Gegenwart mit der in ihren dunklen Eingeweiden glimmenden Leidenschaft werde die messianische Gesundung der Schicksalsgemeinschaft herbeiführen, so die eindeutige Botschaft, einzig "das Uralte und das ganz Neue"11 in brüderlichem Zusammenschluss verheißten das Paradies. Uns Späteren kommt diese "Mischung von technologischer Besessenheit mit archaisierendem Romantizismus"12, deren der Film durchgängig huldigt, dann höchst bekannt vor.

Die Massen

Über die Inszenierung der Massen in Langs Film ist noch am meisten geschrieben worden.13 Haben Einzelpersonen nach den Nibelungen wieder eine gewisse emotionale und räumliche Bewegungsfreiheit erlangt − schließlich galt es nicht mehr, ein ewig waltendes Schicksal bis in persönliche Einzelregungen hinein gehorsam auszuführen, sondern einen als falsch erkannten Weltlauf durch spontane Reaktion umzubiegen − so bleibt die Masse, hier die der Arbeiter, in überindividuelle Formen gezwängt, angeordnet zu einem Ornament, das den einzelnen zum bloßen Baustein macht, zum Zuträger einer in Architektur und Bildaufbau manifestierten Idee. Ob sich die Arbeiter in einem exakt geschnittenen Rechteck im Gleichschritt zur Arbeit schleppen, ob sie noch schwacher, aber nichtsdestotrotz in Formation, von der Arbeit kommen, ob sie bei der Arbeit in geordneten Kleingruppen umhergehen, ob sie mit schlechtem Gewissen in Dreieckform die Treppe der Kathedrale hochschleichen, ob sie selbst in panischer Verwirrung noch zu Mustern sich zusammenfinden, sie bewegen sich einzig als geometrische Grundformen, die dem Auge eines distanzierten Betrachters gefällig sind. Die Ästhetisierung der Politik, die der Faschismus betreibe, wie Walter Benjamin schrieb, die Aufhebung des Gehaltes in der Oberfläche haben auch hier ihren Platz; wieder erfährt der Zuschauer eine wohlige Einschmelzung der Individuen samt ihren realen Konflikten zu einem über inhaltliche Kritik erhabenen ästhetischen Großgebilde.14

An dieser Stelle kann man mit Frieda Grafe einwenden, dass darum es Lang gerade ging, nicht die dünne Kruste der physischen Realität zu zeigen, sondern ihren inneren Aufbau, ihre Formationsgesetze, den Prozess ihrer Entstehung anzuhalten kurz bevor der unterirdische Strom, der sie speist, an die Oberfläche tritt und sich in spezifischer Ausformung verliert.15 Dem humanistischen Ideal der Persönlichkeit und Individualität werde man um so gerechter, je weniger man zugunsten eines heuchlerischen Oberflächenrealismus ihre Prä- und somit Uniformiertheit im Spätkapitalismus verleugnet. Den in geometrische Formen gezwängten Menschen wird hiernach keine Gewalt angetan, es wird nur diejenige herausgestellt, die die Gesellschaft ihnen sowieso schon antut. Schließlich handelt es sich um Repräsentationen und nicht um wirkliche Individuen, deren letzterer wirkliche Unterdrückung wiederum in solch abstrahierender Repräsentation um so reiner zur Darstellung kommt.

Vor allem aber verläuft die Trennungslinie nicht zwischen Inhalt und Oberfläche, zwischen Arbeitern und Bildaufbau. Die Gruppierung zum Ornament stellt eine dramatische Möglichkeit dar, den jeweiligen Kollektivcharakter der zugerichteten Menge zum Ausdruck zu bringen. Auch in dieser Perspektive besteht das Volk nicht aus Einzelwesen, die zu einem Gesamtwillen sich zuarbeiten; das abstrakte "Volk" selbst ist Subjekt bzw. Objekt des Geschehens, eine schwammige amorphe Masse namens "die Arbeiter", die die einzelnen Arbeiter in sich aufhebt und je nach Situation über sie ihre Gestalt bildet. Je nach ihrem momentanen geistigen und physischen Zustand, eben je nach der Art der gesellschaftlichen Formierung bildet die Masse ein Muster in visueller Entsprechung. Oder allgemeiner eine charakteristische Anordnung im Raum, denn die eingegangenen "Ornamente" beruhen nur zum Teil auf Ordnung, Symmetrie und Ebenmäßigkeit, die geometrischen Grundformen bilden nur einen Teil der Varietäten des kollektiven Ausdrucks. Es stimmt nämlich schlicht nicht, dass die Arbeiter andauernd und unterschiedslos in solchen Mustern auftreten, wie beispielsweise Kracauer beobachtete16, jedenfalls nicht in Ansicht der mir vorliegenden Version. Die unterirdisch betenden Arbeiter befinden sich selten in systematischer Anordnung, gerade ihre Zusammenkunft in keiner erkennbaren Einförmigkeit bedeutet auch gleichsam performativ eine Subversion des oberirdischen Formzwangs. In genau ihrem Abstieg zu den Höhlen vollzieht sich die Auflösung des industriellen Gleichmaßes, auf den Treppenstufen, im Durchgangsreich, schleppen sich die erschöpften Arbeiter teils noch annähernd im Gleichschritt, teils bereits formlos hinunter, bis zur Einstellung ihrer Ankunft, die fast den Eindruck der inszenierten Uneinheitlichkeit erweckt. Selbst die geordnete Unordnung während des ersten Auftretens der Predigerin verliert sich später in fast aggressivem Chaos, in einem Durcheinander wütender Gesichter und sich reckender Fäuste, als die falsche Maria die unruhige Masse zur Revolution anstachelt.

Auch während der unterirdischen Überschwemmung flieht niemand im Dreieck, jeder läuft wild durcheinander wie man es in Panik eben tut, erst als die Menge sich beschwörend um Maria schart, sie sehnsüchtig um Rettung vor dem Chaos anfleht, findet sie zurück zum Ornament der mythischen Überhöhung. Offensichtlich befindet sich die Masse dann nur in räumlicher Ordnung, wenn sie sich auch in der Ordnung der Gesellschaft befindet, die Auflösung der Muster bezeugt einen schwindenden Zugriff der Herrschaft.

Nun bedeutet dies keineswegs, dass hier kein regressives Menschenbild gepredigt wird, die Darstellung der Massen in verschiedenen Graden der Geordnetheit ist nämlich alles andere als rein dramatisch und wertfrei. Deutlich werden auch die Grenzen von Grafes Kritik. Es mag stimmen, dass nur ein solches Massenornament die institutionelle Gewalt über die Individuen an die Oberfläche zerrt und die Darstellung einer ausschließlich frei waltenden, individuell differenzierten Menge eine Lüge wäre. Langs amerikanische Filme zeigen z.T. vorbildlich die Verlorenheit des Individuums im Würgegriff eines übermächtigen verselbständigten Systems, das ursprünglich zu seinem Vorteil erdacht war. Problematisch wird es, wenn die strukturelle Beherrschung der Individuen, wie sie in den Nibelungen und besonders in Metropolis visuell zum Ausdruck kommt, zu guter Letzt als die wünschenswerteste Daseinsform angepriesen ist. Es ist schon abschreckend, die geschundenen Arbeiter in genau proportionierten Quadern im Gleichschritt wanken zu sehen, und deren Horizont auf den Rücken des Vormannes eingeschränkt ist. Am glücklichen Ende aber sieht die Sache schon anders aus, zur Versöhnung mit den Herrschern schreiten die Arbeiter, ebenfalls im Gleichschritt, in perfekter Dreiecksform, nun weniger geschunden denn gesittet. Reuevoll in die Arme der gesellschaftlichen Ordnung mit ihrer geometrischen Harmonie zurückgekehrt, strahlen sie nun Würde aus.

Dazwischen liegen einige gefährliche Versuche der Herausforderung dieser Ordnung. In diesen Momenten der Revolte verwandelt sich die genormte Masse in irrwitzig umherrasende Einzelwesen, die schon durch ihre schiere Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit bedrohlich wirkten, und die zu beschreiben der verschreckte Bürger am ehesten Analogien zur Insektenwelt heranziehen würde. Was gleich eine Lösungsmöglichkeit nahelegt: das Zertrampeln. Hilflos und voller Ekel wünscht man insgeheim, den wild durch die Gitter des Fahrstuhls greifenden Tieren möge dieser die zappelnden Arme abrasieren. Den Umschlag ins wahnhaft Tierische der Rebellierenden zeigen auch die Einzelwesen, vorher demütig leidende und betende Menschengesichter verzerren sich zu starren hasserfüllten Fratzen, wild gestikulierend unterstreichen sie den Eindruck des krabbeligen Ungeziefers, eines zur Unmenschlichkeit entarteten Menschenschlages, dessen wimmelndem Umsturzeifer nichts Menschengebautes standhält. So sieht also Revolution aus, schüttelt sich der Bürger. Die musikalischen Anklänge an die Marseillaise, die in Anlehnung an die Originalmusik von Gottfried Huppertz diese Szenen untermalen, sagen ihm den Rest. Nur nicht, dass dieses Lied ihn erst hervorgebracht hat.

Nach all dieser Aufregung ist man doch froh, wieder friedlich im Dreieck zu sein. Unrecht und Mühsal hin und her, aber das haben wir nicht gewollt. Die Aufgabe der eigenen Individualität und die devote Einpassung in die Ordnung derer, die es besser können, erscheinen letzten Endes doch als Weg zum Glück. There's no place like home.

Am Rande: Die rechtzeitig zu sich gekommene Menge, die mit gleichem Eifer die falsche Maria auf dem Scheiterhaufen verbrennt, diesmal mit dem Segen der Handlung und dem Recht auf ihrer Seite, konnte zu keiner Zeit wissen, dass die böse Prophetin kein Mensch ist. Sie ist ein positiv besetzter Lynchmob, das Gegenstück zu jenem, den Lang später in Fury so verdammt. Wie schnell doch die Wertung des kopflosen Arbeiterpöbels zum Guten umschlagen kann.

Maria

Das Motiv der guten und der bösen Maria reiht sich ein in die Weimarer Tradition der seelenlosen Kunstmenschen, der Doppelgänger und Alraunen, deren schiere Existenz, wie Georg Seeßlen meisterlich darstellte, als physische Bedrohung der "'mythologischen Identität' des bürgerlichen Individuums" wahrgenommen wurde.17 Die oberflächliche Gleichheit zweier grundverschiedener Dinge, wie hier der beiden Marias, ist darüber hinaus wunderbar geeignet, auch dem schlichten Zuschauer den ideologischen Begriff der Entartung greifbar zu machen. Die bis in die Fingerspitzen positive Darstellung Marias18 erhält in der Entwicklung des Roboters nicht ihr notwendiges metaphysisches Gegenstück, die Verkörperung des Bösen an sich, das man zwar bekämpfen kann und muss, dessen völlige Vernichtung aber der Auflösung der eigenen Existenz gleichkäme, welche erst in der ewigen Auseinandersetzung mit dem Feind zu ihrer Größe findet. Das Prinzip des Guten, das dem Bösen vollkommen inkommensurabel sein muss, um nicht Gefahr zu laufen, durch etwaige punktuelle Ähnlichkeit mit ihm nicht das Eigene denunzieren zu müssen, zeigt sich auf jeder Ebene, in jeder Darstellungsform vom Bösen wesenhaft verschieden.

Das Entartete jedoch ist nicht das Böse, sondern die Ähnlichkeit zu ihm im Eigenen. Das Entartete ist immer eigen Fleisch und Blut, sei's im Geiste, sei's im Physischen, sei's in jeder möglichen Hinsicht, und daher, da es gleichsam auch besser könnte, ist es vollkommen überflüssig wenn nicht schädlich. Die strahlende Existenz des Guten legt seinen Gliedern den Maßstab vor, und alles was ihm nicht gereicht, sich etwa abwendet oder gar negiert, sprich aus der Art schlägt, ist nicht primär Gegner denn Parasit, Schmarotzer am eigenen Körper. Als rein Zerstörerisches hat es keinen eigenen Wert. Dem Entarteten fehlt die Weihe des ganz Anderen, der absoluten Negation, woran das Positive sich emporschwingt und an der eigenen Größe sich berauscht, vielmehr ist es bösartige Wucherung, Hemmnis im eigentlichen Kampf und innere Bedrohung, ewig zum Dolchstoß bereit. Wo immer es vorkommt, existiert auch gleichzeitig seine bessere, gesunde Version, es gehört daher vernichtet und ausgerottet, restlos entfernt aus dem Wirtsorganismus.

Die falsche Maria ist Modell dieser Entartung, auf mehreren Ebenen stellt sie dessen erwünschte Verabscheuungswürdigkeiten heraus. Ein Ebenbild der wahren Maria, vereint sie jedes Gegenstück ihrer guten Eigenschaften zu einem konsistenten Feindbild, das der Bürger gern als hassenswert anerkennt. Eine agitatorische, undisziplinierte, keifende, die Massen aufwiegelnde, zu roher Gewalt aufrufende Revoluzzerin stellt eine Gefahr für das Gemeinwesen dar und muss weg. Noch dazu windet sie sich in expressionistisch grotesker Körperhaltung, verfremdet ihr an anderer Stelle sanftes Gesicht zu irren Fratzen und betört die vergnügungssüchtige Oberschicht mit offensiv obszöner Weiblichkeit. Der Kontrast zur guten friedlichen und keuschen Maria, die noch dazu in romantischem Realismus ihre Mission aufführt und der diese Kreatur doch aufs Haar gleicht, macht den Zuschauer zusätzlich rasend. Die visuelle Idylle der lieben Frau darf von keiner bösartigen Kraft entweiht werden. Als späte Genugtuung wurden bald darauf neben den Inhalten auch der expressionistische und ähnliche Ausdrucksstile offiziell verboten.

Das Schamgefühl, mit den bald wieder liebgewonnenen Arbeitern mitzufiebern, obwohl sie auf dem Scheiterhaufen trotz allem ein (vermeintliches) Lebewesen töten, stellt sich nicht ein. Die falsche Maria erscheint einzig als gefährliche Verzerrung ihres engelgleichen Zwillings, ihre fehlende äußerliche Originalität tilgt in der öffentlichen Wahrnehmung jeden Restanspruch auf physisches Dasein. Das Feuer als Mordwaffe tritt ganz zurück hinter seine mythische Bedeutung als reinigende Kraft.

Die Arbeiter hingegen, die ebenfalls rasend und expressionistisch geifernd die Ordnung bedrohten, kommen noch mal davon, die begeisterte Verbrennung des falschen Messias ist ihre Rehabilitation. Entgegen ihrer temporären Verwirrtheit ist die Entartung nämlich eine fast ontologische Kategorie und somit unwiderruflich. Die Verirrung kann geheilt werden, dem Entarteten bleibt einzig die Vernichtung.

Freder

Freder ist groß und blond und gesittet und gutherzig und außerdem der Held, auf den alle gewartet haben. Beste Voraussetzungen für eine Führungskraft. Ob er malen kann ist nicht bekannt.

Grot

Der Werkmeister ist das Vorbild des linientreuen, obrigkeitshörigen Arbeiters, in der Rebellion behält er als einziger einen "klaren" Kopf, verteidigt die für Metropolis lebensnotwendige Herzmaschine mit Klauen und Zähnen und klärt die Aufrührer noch rechtzeitig auf über ihr zerstörerisches Tun. Sein kindischer Freudentanz bei Verbrennung der bösen Maria bezeugt weniger, dass er verrückt geworden ist, als die unhinterfragbare Rechtmäßigkeit dieser Art der Problembeseitigung.

Im übrigen ist die vielbesungene Versöhnung zwischen Kapital und Arbeiterschaft ein Schwindel sondergleichen, da, abgesehen von der Tatsache, dass an der realen Situation der Arbeiter sich nichts ändern wird, der "Arbeiterführer" Grot während der Revolte zu keiner Zeit auf Seiten der Arbeiter gestanden, geschweige denn vor Fredersen für sie eingetreten ist. Lieber denunzierte er die geheimen Zusammenkünfte seiner Kollegen. Der mit viel Überwindung erkaufte Handschlag wäre also keiner zwischen antagonistischen Klassen, vielmehr beglückwünscht der Herrscher seinen Vertrauten im feindlichen Lager zu dem Geschick, die revoltierende Masse unter dessen Führung zur Ordnung vereint zu haben, offenbar in dem Glauben, er sei ein ernsthafter Vertreter ihrer Interessen.

Fredersen

Der offensichtliche Einzelherrscher von Metropolis ist eine durchaus zwiespältige Figur. Einerseits ist er natürlich ein (positiv besetzter) patriarchalischer Produktionskapitalist, der seine starke Hand schützend über sein Volk hält, das er ernährt und mit wertvollen Gütern ausrüstet. Zum anderen aber, besonders in seinen verschwörerischen Händeln mit Rotwang, wirkt er als Statthalter und Sinnbild eines internationalen jüdischen Finanzkapitals, das nach der Volksmeinung einzig um Kapitalakkumulation bemüht ist und skrupellos das Leben der verelendeten Arbeiter riskiert, um seine Macht zu halten. Seine Ranküne macht nicht mal vor den Nächsten halt, ihm geht es nicht um die verantwortungsbewusste Aufrechterhaltung der Volksgemeinschaft sondern allein um sein Finanzimperium. Währenddessen die übrige Oberschicht quasi seinsvergessen dem seichten Spiel und allen Lastern frönt und einer überfeinerten und dekadenten Zivilisation den letzten Rest Wertebewusstsein austreibt. Das schüttelt den Kleinbürger mit dem Herz am rechten Fleck.

Rotwang

Die durchsichtigste Schlüsselfigur des Films ist der durchgedrehte Wissenschaftler. Rotwang, das klingt wie Goldstein oder Birnbaum und ist mit Sicherheit auch so gemeint. Bis auf die äußere Erscheinung vereint er in sich einen Großteil der schlechten Eigenschaften, die Juden je angehängt wurden. Außerdem tut Rudolf Klein-Rogge sein Bestes, den urdeutschen Eindruck seiner Gestalt mit durchaus expressionistischem Körper- und Mienenspiel zu entarteter Verschlagenheit umzudeuten. Er schafft es im nachhinein, Dr. Mabuse mit seiner internationalen Verbrecherorganisation aufs Judentum abzuschieben.

Rotwang ist als Wissenschaftler von vornherein ein dubioser Außenseiter in Metropolis; wie Seeßlen beobachtete, "begleitete im deutschen Film den dämonischen Wissenschaftler der Ruch usurpatorischer politischer Macht".19